7 KRAFT UND BEGRIFF
Als Nachtrag zu dem Exkurs über die mathematische Methode, insbesondere zu den Ausführungen über Descartes am Ende, muß ich eine kleine Warnung anbringen: Wir sind nicht dazugekommen, die Philosophen zu besprechen, die für Kant wirklich und bewußt relevant waren in diesen Fragen, Wolff, Lambert zb. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund möchte ich ausdrücklich betonen, daß Sie keine allzu direkten Zusammenhänge herstellen dürfen zwischen den Positionen von Descartes und Kant. Das geht schon allein deshalb nicht, weil die entsprechenden Schriften des Descartes, insbesondere die "Regulae ad directionem ingenii", gar nicht ausreichend bekannt waren. Die waren nach seinem Tod für lange Zeit so gut wie verschwunden, Leibniz hatte viel Mühe darauf verwendet, anläßlich eines Paris-Aufenthaltes, eine Abschrift der Regulae zu ergattern. Der Sinn dieses Exkurses war vielmehr, Sie ein wenig zu sensibilisieren für die Komplexität und Bedeutungsvielfalt, die generell hinter dem scheinbar so unschuldigen Begriffspaar von Synthese und Analyse, Zusammensetzung und Zergliederung sich verbirgt. Und ich hoffe, daß Sie verstehen, was ich am Ende der letzten Stunde in einer kleinen Zusammenfassung gesagt habe: Daß vor allem auch Kant diese Komplexität keineswegs überblickt hat, daß aber nun für uns sichtbar ist, auf welche Elemente, welche Pointen gewissermaßen, er in welchen Zusammenhängen jeweils gesetzt hat.
In den nächsten Stunden wenden wir uns zwei oder drei Sachproblemen zu, die Kants Philosophie, insbesondere aber auch seine methodologische Position, im weitern Verlauf der sechziger Jahre und noch darüber hinaus geprägt haben. Zuallererst und auch als Leitfaden für das Weitere wollen wir uns da auf Probleme konzentrieren, die mit seiner Vorstellung von Begriff und Urteil zusammenhängen.
Wir haben dafür gute inhaltliche Gründe, die Preisschrift weist starke Ambivalenzen im Begriff des Begriffes auf, und zwar sowohl in den Zusammenhängen, die die Mathematik betreffen, wie auch in den direkt philosophischen. Da, in diesem zweiten Fall, ist es so, daß uns Begriffe gewissermaßen begegnen oder bekannt werden durch gewisse Merkmale; aber wie verhalten sich die Begriffe zu diesen Merkmalen? Wie geht das vor sich, daß man aus einem Begriff "folgert"? Und bei der Mathematik wieder haben wir das Problem, daß nicht ausreichend klar ist, was eigentlich zusammengesetzt wird, etwa in einem Beispiel wie dem mit dem Kegel; und wir haben gesehen, daß vor allem die Abgrenzung dieses Zusammensetzens vom Folgern unscharf bleibt.
7.1 Ursprüngliche logische Auffassungen
Es ist klar, daß die Frage nach dem Begriff ihren Platz in der Logik hat. Auch nach Kants eigenem Verständnis zu jener Zeit war das eine logische Frage. Ich habe ja schon in einer früheren Stunde darauf hingewiesen, wie Logik und Methodologie aneinander grenzen, und daß man das wunderbar sehen kann an den ersten Sätzen der Preisschrift, die sagen, wie und daß man Begriffe aus Begriffen erzeugt, aber nicht: was Begriffe sind. Ich gehe aber so vor, daß ich Ihnen jetzt Kants hochinteressante logische Theorien in den Jahren um 1763 nicht direkt vorstelle, sondern ich gebe nur eine ganz kurze Skizze von der alten Auffassung, also von dem, wovon er ausgegangen ist, und erläutere Ihnen die Dynamik und die wesentlichen Neuerungen dann am Fall eines einzelnen Begriffes, der freilich wie kein anderer geradezu als Auslöser jener Veränderungen angesehen werden kann. Das ist der Begriff der Kausalität, das, was wir heute Kausalität im weitesten Sinne nennen. Aber zunächst diese ganz kleine Skizze.
Die Logik, mit der der junge Kant an den Start ging, war eine intensionale. Jeder Begriff ist gekennzeichnet durch seinen Inhalt, und dieser Inhalt selbst ist wieder begrifflicher Natur. Wir können sagen, wenn wir einen bestimmten Begriff hernehmen, daß sein Inhalt aus bestimmten Merkmalen zusammengesetzt ist, aber wenn wir ein einzelnes solches Merkmal hernehmen, dann ist es auch wieder ein Begriff, hat seinerseits einen Inhalt und kann genau so analysiert werden wie der ursprünglich gegebene Begriff. In dem Begriff "Autobus" denken wir --- inhaltlich --- die Merkmale Kraftfahrzeug, Massenbeförderungsmittel etc. "Kraftfahrzeug" ist aber selbst auch ein Begriff etc. Die logischen Beziehungen zwischen verschiedenen Begriffen sind beschreibbar danach, ob der erste im zweiten oder der zweite im ersten enthalten ist in diesem Sinne, bzw ob es dritte Begriffe gibt, in denen der eine, aber nicht der andere enthalten ist etc.
An dieser Stelle möchte ich doch zu einem Punkt etwas dazusagen, nämlich zu der Art, wie das Wort "Merkmal" hier verwendet wird. Auf eine sehr spezielle Art nämlich, die einem leicht entgehen kann. Normalerweise, in unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch, reden wir ja von Merkmalen hauptsächlich als von Eigenschaften der Dinge. Also wenn im Paß oder sonst einem Ausweis steht: "Besondere Merkmale", zb in meinem Paß: "Besonderes Merkmal: O-Beine", dann ist das eine Eigenschaft, die ich selbst als solcher habe, und die man mir ansieht. Das mit dem Ansehen ist zwar vielleicht nicht entscheidend, aber auch nicht völlig unwesentlich, denn ich habe ja noch eine Menge andere Eigenschaften, die für mich sehr charakteristisch sind, viel charakteristischer sogar als die O-Beine, eine sehr eigenartige seltene Sehstörung zb. Aber weil die nicht nach außen hin erkennbar ist, zumindest nicht so ohne weiters, nennt man sie auch nicht als Merkmal. Wenn wir aber nun vom Inhalt eines Begriffes sprechen, und sagen, daß der aus gewissen Merkmalen besteht, dann handelt es sich um genau das nicht. Dazu muß man natürlich immer berücksichtigen, daß der Begriff Autobus etwas ganz anderes ist als ein Autobus. Ein Autobus rollt auf vier Rädern, der Begriff "Autobus" rollt überhaupt nicht; ein Begriff ist auch kein Kraftfahrzeug etc. Dh wenn wir sagen, daß auf vier Rädern zu rollen ein Merkmal eines Autobus ist, und wir sagen zugleich, daß dieses Merkmal zum Inhalt des Begriffs Autobus gehört, dann müssen wir uns sozusagen extra untersagen, daraus zu schliessen, daß es ein Merkmal des Begriffes "Autobus" ist, auf vier Rädern zu rollen. In einer intensionalen Logik ist es so, daß sich im Inhalt eines Begriffes keine konkreten Eigenschaften befinden können. Alles, was im Inhalt eines Begriffes ist, ist auf jeden Fall allgemeiner, als dieser Begriff selbst. In einer intensionalen Logik dieser Art ist ein Begriff ausschließlich durch Verhältnisse des Enthaltenseins bzw der Über- und Unterordnung gegenüber anderen Begriffen bestimmt. Wenn Sie jetzt beunruhigt sein sollten und sich fragen, worauf denn dann letztlich die Unterschiede zwischen den einzelnen Begriffen beruhen, wie die jeweils zu den für sie maßgeblichen Merkmalen kommen: dann muß ich Sie darauf verweisen, daß das wiederum eben keine Frage der Logik, sondern des Erkennens, der Methode vielleicht, ist. Ich will Ihnen mit dieser Notiz nicht gesagt haben, daß das die einzigen Weise ist, wie man sich die Dinge vorstellen kann, ganz und gar nicht. Es hat schon seine Gründe, daß es noch andere Auffassungen von Logik gibt, als diese. Aber diese wollte ich kurz charakterisieren.
Zu dieser Auffassung gehört dann natürlich noch ein Urteilsbegriff: Ein Urteil ist eine besondere Beziehung zwischen zwei Begriffen. Ein Paar von zwei Begriffen, das nach W und F bewertbar ist. Das Urteil ist W, wenn der Prädikatbegriff im Subjektbegriff enthalten ist. Ein (jedes!) Urteil sagt also aus, daß zwei Begriffe in einer bestimmten Beziehung des Enthaltenseins stehen. Partielle Identität kann man das nennen. Das Prädikat ist natürlich allgemeiner (übergeordnet). Eine intensional-analytische Identitätstheorie des Urteils. Der Grund für die Wahrheit des Urteils ist eben diese (partielle) Identität, die man durch eine analysis notionum aufweisen kann.
7.2 Kraft, Wirkung, Folge
Wir können durchaus dort ansetzen, wo wir vor der Preisschrift aufgehört haben, bei Kants ursprünglichen Theorien über die wirkenden Substanzen, über die innerlichen Kräfte, den Raum und die Bewegung. Sie erinnern sich, daß in der "Monadologia physica" die Wirkung einer Substanz bereits als äußerlich gedacht wird (Fortschritt gegenüber der Position in der "Wahren Schätzung..."). Das ging über diesen "kleinen Raum der Gegenwart". Anderseits sind die Zustände der Substanz selbst noch völlig innerlich, also zb das Attribut der Kraft, die ihrer äußeren Wirksamkeit zugrundliegt, ist selbst ein innerliches. In einem gewissen Sinn ist es nun freilich so, daß aus der Setzung so einer Substanz mit einem spezifischen Kraftattribut folgt, daß diese Substanz auf die entsprechende Weise wirkt --- nämlich begrifflich folgt das, ganz im Sinne der logischen Annahmen, die ich vorher skizziert habe. Es handelt sich um eine Teilidentität des Prädikats zum Subjekt. "Folgen" ist hier also ein logischer Ausdruck. Das aber, was so ein Satz behauptet, ist zwar auch eine Relation, und sie wird auch mit dem Wort "Folge" bezeichnet --- aber es ist ein grundsätzlich anderes Verhältnis, nämlich ein Verhältnis von Verschiedenem. Die Wirkung ist etwas anderes als die Ursache. Ihre Beziehung ist eine nicht-propositionale.
Man kann das Problem, das hier enspringt, in zwei Teile teilen. Erstens muß man für terminologische Ordnung sorgen. Kausalität als konkrete Ursache-Wirkungs-Relation und logische Folge dürfen nicht mehr verwechselt werden. Kant versucht eine solche Bereinigung, indem er "Grund" als Oberbegriff nimmt, und darunter die Differenz ansetzt von logischem Grund und Realgrund (Kausalität). Also ein Satz, der sagt, daß eine Substanz durch eine bestimmte Kraft etwas bewirkt, hat eine ganz andere Struktur als der entsprechende Sachverhalt. Die logische Analyse solcher Sätze kann prinzipiell nie Aufschluß darüber geben, was die Relation der Kausalität konkret ist. So kommt man zum zweiten Teil des Problems, dem sachlichen: Was ist Wirkung? Im Grunde ist die Antwort recht einfach, schwer erscheint sie nur in dem Sinn, daß man von alten Vorurteilen schwer Abschied nimmt. Man muß einsehen, daß die Beziehung, die durch den Begriff "Kausalität" gedacht wird, nicht gleichsam innerlich durch oder in weitere Begriffe analysiert werden kann. Das liegt ganz einfach daran, daß Kausalität nicht eine Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat ist oder, anders ausgedrückt: zwischen dem Begriff Ursache und dem Begriff Wirkung. Sondern Kausalität ist ein Begriff, kompakt. Diese Kompaktheit bedeutet nicht, daß der Begriff strukturlos wäre: es ist der Begriff einer zweistelligen Relation. Entscheidend ist allerdings, daß die Terme der Relation nicht ihrerseits als selbständige Begriffe, als S und P eines Satzes, aufgefaßt werden können.
Wir haben hier also eine relativ einfache Bereinigung, freilich ist sie rein negativ. Wir wissen noch immer nicht, was Wirkung ist. Was sich gewissermaßen abspielen muß zwischen zwei Dingen oder Zuständen, damit wir sagen können: das erste ist die Ursache, das andere die Wirkung. Und hier, an diesem Punkt, kann man sich nun eine Antwort vorstellen --- ich sage das absichtlich so vorsichtig ---, die lautet: Das kann man überhaupt nicht so im vorhinein sagen, das kann man nur sehen an dem betreffenden Sachverhalt. An dieser Antwort kristallisiert sich dann möglicherweise eine richtiggehende Position, die man Empirismus nennen könnte. Ich möchte die beiden Dinge ein wenig auseinanderhalten, die Antwort, und die empiristische Position, die sich an sie anlehnt. Der springende Punkt bei der Antwort ist: Kausalität ist eine konkrete Relation im Sachverhalt selbst, und daher kann man nicht im vorhinein und allgemein sagen, was Wirkung ist. Eine Empiristin könnte auf dieser Basis weiter gehen und sagen: Was es heißt, daß ein Ereignis aus einem anderen folgt (im Sinne der Kausalität), das kann man nur dadurch wissen, daß man solche Ereignisse und Vorgänge beobachtet. Aufgrund von Beobachtung kann man dann eventuell einen Begriff bilden: zunächst den Begriff einer speziellen Wirkungsbeziehung, schließlich auch den ganz allgemeinen des Ursache-Wirkung-Verhältnisses als solchen. Und wenn man diesen Begriff hat, kann man durch Abstraktion noch einen weiteren bilden, den eines Etwas das genau diese Wirkung tut. Das ist dann der Begriff "Wirkursache", und den kann man dann als Merkmal einer Sache zukommen lassen etc --- wir sind wieder am Anfang.
Diese sog empiristische Position enthält also eine Theorie über das Verhältnis von logischem Grund und Realgrund. Ich will überhaupt nicht gesagt haben, daß Kant irgendwann in seinem Leben diese Position vertreten hat. Ich habe sie jetzt nur erwähnt, weil sie an jener Stelle naheliegend ist, wo die Kausalität als konkrete, nicht-propositionale Relation erkannt und die Frage nach ihrem allgemeinen Begriff abgewiesen wird. Und ich habe sie auch erwähnt, weil sie in der nächsten Stunde im negativen Sinn noch eine Rolle spielen wird.
7.3 Vorblick auf "Negative Größen"
Wir können nach diesen Überlegungen den Unterschied von logischem und realem Grund noch auf eine andere Weise und noch knapper ausdrücken: die logische Folge geschieht durch Identität, die reale nicht. Ich bemerke nebenbei, daß es eine wichtige Eigentümlichkeit der Sprache Kants ist, daß er diese Terminologie in der Urteilstheorie auch tatsächlich anwendet: Das Subjekt als Grund, das Prädikat als Folge. Auch in der kritischen Zeit gibt es immer wieder die Formulierung, daß das Subjekt als "Bedingung" bezeichnet wird.
Am ausführlichsten hat Kant sich in der Abhandlung über die "Negativen Größen" über diese Fragen Rechenschaft gegeben. Im Zentrum dieses Aufsatzes steht das Problem von Identität und Widerspruch, genauer gesagt die Frage, ob jede Entgegensetzung eine logische ist. Und da wir nun gesehen haben, daß die sog logische Folge auf gar keinem anderen Prinzip beruht als der Identität, so ist ziemlich klar, wie die Dinge ineinander spielen: Das übergeordnete Problem ist die Frage der konkreten, von den propositionalen unterschiedenen Relationen. Sie können das gleich im ersten Absatz der Abhandlung verifizieren:
LIES Negat.Gr., A3:
Einander entgegengesetzt ist: wovon eines dasjenige aufhebt, was durch das andre gesetzt ist. Diese Entgegensetzung ist zwiefach; entweder logisch durch den Widerspruch, oder real, d.i. ohne Widerspruch.
Reale Entgegensetzung und Realgrund stellen beide dieses Problem der konkreten Relation. Ich zitiere Ihnen jetzt etwas ausführlicher gleich die Fortsetzung, da sehen Sie worauf er hinauswill im speziellen Fall der Entgegensetzung:
Die erste Opposition, nämlich die logische, ist diejenige, worauf man bis daher einzig und allein sein Augenmerk gerichtet hat. Sie bestehet darin: daß von eben demselben Dinge etwas zugleich bejahet und verneinet wird. Die Folge dieser logischen Verknüpfug ist gar nichts (nihil negativum, irrepraesentabile), wie der Satz des Widerspruches es aussagt. Ein Körper in Bewegung ist etwas, ein Körper, der nicht in Bewegung ist, ist auch etwas (cogitabile); allein ein Körper, der in Bewegung und in eben demselben Verstande zugleich nicht in Bwewegung wäre, ist gar nichts.
Die zweite Opposition, nämlich die reale, ist diejenige: da zwei Prädikate eines Dinges entgegengesetzt sein, aber nicht durch den Satz des Widerspruchs. Es hebt hier auch eins dasjenige auf, was durch das andere gesetzt ist; allein die Folge ist etwas (cogitabile). Bewegkraft eines Körpers nach einer Gegend und eine gleiche Bestrebung eben desselben in entgegengesetzter Richtung widersprechen einander nicht, und sind als Prädikate in einem Körper zusammen möglich. Die Folge davon ist die Ruhe, welche etwas (repraesentabile) ist.
Also dabei möchte ich es für heute bewenden lassen, nächste Stunde sprechen wir über diesen Text noch ein wenig weiter.