Stuart Harris, ein englischer Schauspieler, der nun in Kalifornien lebt, hatte bereits 1993 das dramatische Potential des IRC erkannt und damit das Konzept von Internet - Theater bestens demonstriert.
Im Dezember 1993 führten Stuart Harris und seine Gruppe zum ersten Mal ihren Hamnet auf. Dieses Stück ist eine experimentelle Performance einer Parodie auf Shakespeares Hamlet im IRC. Achtzehn Akteure und vielleicht noch einmal so viele Zuschauer hatten sich zu einer vereinbarten Zeit auf dem Kanal #hamnet eingefunden.
Stuart Harris hatte Shakespeares Stück auf 80 Zeilen verkürzt. Dazu reduzierte er die Nummer der handelnden Personen und die Rolle des Polonius war beispielsweise zu einer einzigen Zeile verkürzt worden (seinem Todesruf):
<Polenius> Arrghhhhh!
Das Skript ist von einem sehr comic-haften Charakter gezeichnet. Die Sätze sind durchgehend kurz und witzig. Dieser Charakter wird durch die im Internet üblichen Smileys noch verstärkt. Harris setzt diese Smileys bewußt an den Stellen ein, wo sie dazu dienen können, um die Emotionen der Protagonisten zu unterstreichen. Er nutzte seine genaue Kenntnis dieser online-Umgebung - eine rein textbasierte Übertragung mit Hilfe des IRC - Protokolls - sowohl für die Sprache des Stücks als auch für Inszenierung und Realisierung des Textes. Nur zwei Originalzitate Shakespeares sind in diesem Skript enthalten, der Rest ist der Umgangssprache im IRC (dem IRCese) angepaßt.
<Ophelia> Here's yr stuff back [22] <Hamlet> Not mine, love. Hehehehehe ;-D [23] <Ophelia> O heavenly powers: restore him! [24] <**<<Action>>** Ophelia thinks Hamlet's nuts [25] <Hamlet> Make that "sanity-deprived", pls.... [26]
Shakespeares Original zu dieser Stelle würde so aussehen
OPHELIA: My lord, I have remembrances of yours,
HAMLET: No, not I;
OPHELIA: My honour'd lord, you know right well you
did;
That I have longed long to re-deliver;
I pray you, now receive them.
I never gave you aught.
And, with them, words of so sweet breath composed
As made the things more rich: their perfume lost,
Take these again; for to the noble mind
Rich gifts wax poor when givers prove unkind.
There, my lord.
(Hamlet, Act III, Scene 1: 93-102)
Stuart Harris erweiterte aber das Skript auch gegenüber dem Original. Er fügte zum Beispiel zusätzliche Protagonisten ein, wie <Drum>, <Colours> und <Exit>, um Aktionen und Bühnenbilder dem Medium entsprechend setzen zu können. Diese zusätzlichen Personen können so in Textzeilen das ausgeben, was im traditionellen Theater gezeigt werden würde.
Im Dezember 1993 fand die erste Aufführung von Hamnet statt, im Februar 1994 folgte eine zweite. Die Schauspieler kannten sich nicht - Harris hatte sie über das Internet, also an den verschiedensten Orten der Welt, ausfindig gemacht und gebeten, einen Part in dem Stück zu übernehmen. Der Vorteil daran, sich die Schauspieler direkt über das Medium IRC zu suchen, war, daß die meisten von ihnen im Umgang mit IRCs vertraut waren.
Während der Aufführungen begann sich Harris' Skript zu verselbständigen. Das war auch von ihm so gewünscht worden und wurde durch die Spontanität der Vorstellung noch verstärkt, da erst am Aufführungsabend selbst die Teilnehmer ihren Text bekommen hatten. So wurde das Geschehen aus der Improvisation heraus entwickelt. Stuart Harris empfahl zwar, die einzelnen Zeilen bereits getippt vorzubereiten, so daß sie nur mehr eingefügt werden mußten, betonte jedoch, daß seine Worte nur als Grundlage für das Spiel gedacht seien.
Weiters erhielt jeder Schauspieler nur seinen eigenen Part, als Stichwort für die anderen Akteure galt jeweils die Zahl am Ende der Zeile. Um den anderen Mitspieler dieses Zeichen zu geben, mußte man also unbedingt die Zahl am Ende des Textes in den Computer eingeben.
So wurde anhand der durch Shakespeares Hamlet bekannten Figuren im IRC improvisiert. In der zweiten Aufführung beispielsweise veränderte <Ophelia> ihre von Stuart Harris vorgeschlagenen Zeile wie folgt und paßt die Charaktere dadurch noch mehr der Gegenwart an: anstatt
<Ophelia> Here's yr stuff back [22]
schrieb sie nun:
Line 2287: <Ophelia>: Here's yr crap back, babe: your Mac, your WP 51.a, amd your dirty mags [22]
Die Darstellerin der <Ophelia> beschreibt mit ihrer Veränderung des Textes sowohl Hamlet wie auch seine Besitztümer näher. Sie nennt seine Sachen "crap, was soviel heißt wie "Gerümpel, Scheiße, das von Harris vorgesehene "stuff wäre eine neutralere Bezeichnung gewesen. Weiters nennt sie Hamlet "babe" - ein zeitgemäßer Ausdruck, der im Zusammenhang mit einem Prinzen sehr familiär erscheint. Der traditionelle Stereotyp der Ophelia wird zu einer modernen, unabhängigen Frau. Sie stellt aktuelle Bezüge her, indem sie die Idee erweckt, Hamlet sei beispielsweise ein Student mit einem Macintosh - Computer (womit sie vielleicht auf die Rivalität zwischen PC und Mac anspielt, in der der PC besser dasteht), einer veralteten Version von Word Perfect und pornographischen Magazinen.
Das Stück von Stuart Harris enthält einige obszöne Vokabeln und Passagen. Der Ton, in dem die Dialoge geführt werden, ist sehr locker. Das kommt unter anderem daher, daß im IRC die Teilnehmer anonym auftreten. Das beeinflußt Verhaltensweisen und die Sprache, die im IRC an den Tag gelegt werden. Die Umgangsformen scheinen dort oft frei von Hemmungen jeder Art zu sein - und man kann sich aussuchen, wer man sein möchte. Genau diese Verhaltensweisen hat Stuart Harris in seinem Stück bestens inkludiert und dargestellt.
**<< Action >>** : _The CURTAIN RISES to reveal the stage set... <_Set> : <_Set> ______* ______* *______ *______ <_Set> < | < | | > | > <_Set> <______| <______| |______> |______> <_Set> | | | | <_Set> ^^^^^^^^^ ^^^^^^^^^ ^^^^^^^^^ ^^^^^^^^^ <_Set> | + | | + | | + | | + | <_Set> | + |________| + |________| + |________| + | <_Set> | | <_Set> | + + + + + + + | <_Set> |___ ___| <_Set> | + + + + + | <_Set> | | <_Set> | + + __________ + + | <_Set> | |########| | <_Set> / | + + |########| + + |\. <_Set> / | | | | \. <_Set> / |_____________________ | |||||| |____________________| . \. <_Set> /. . . |||||| . .\. <_Set> _______________________________|||||| ______________________________ <_Set> <_Set> W E L C O M E T O E L S I N O R E!!! <_Set> ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ <_Set> [0]
Das Skript beginnt mit einer großen ASCII-Zeichnung des Schlosses Elsinore. Das bleibt jedoch die einzige Visualisierung diese Art, die in dem Stück vorkommt. Stuart Harris hat sein Skript, wie oben erwähnt, auch mit Aktionsrollen ausgerüstet. So war es die Aufgabe von <Action>, Regieanweisungen, wie beispielsweise Auftritte, neue Szenen oder ähnliches, anzugeben. Das demonstriert, wie in diesem Medium nur mittels Text Bilder gemalt werden können. Szenenwechsel und Bewegungen werden in diesem Beispiel dem Zuschauer durch eine eigenen Rolle mitgeteilt:
<Hamlet> Ooops, here comes Ophelia [20] **<< Action >>** : _Enter Ophelia [21] <Ophelia> Here's yr stuff back [22] <Hamlet> Not mine, love. Hehehehehe ;-D [23] <Ophelia> O heavenly powers: restore him![24] **<< Action >>** Ophelia thinks Hamlet's nuts[25]
Abgesehen von der Improvisationskunst der Darsteller werden also nicht nur Bilder, sondern auch die Emotionen der Rollen, die sich am traditionellen Theater in Mimik und Bewegungen niederschlagen, von <Action> dem Publikum mitgeteilt.
Es zeigt, daß Stuart Harris ahnte, wie er mit diesem Medium umzugehen hatte und genau um die visuellen Grenze eines IRC - Kanals Bescheid wußte. Trotz dieser offensichtlichen Grenzen zeigte er so viel Vertrauen in die Imaginationsgabe seiner Zuschauer, daß es ihm möglich war, eine Bühne auf einem IRC - Kanal zu errichten.
©1997 Mohnstrudel. |