Im Gegensatz zu Film und Fernsehen ist Theater ein interaktives Medium, das synchrone Aktionen verlangt. Auf dem Weg ins einundzwanzigste Jahrhundert, in der Einbeziehung des Internet in das künstlerische Konzept, müssen die einzelnen Elementen einer Theaterproduktion noch gründlicher ausgearbeitet werden.
Ein Grund für die Unsicherheit und die Ängste im Verhalten gegenüber einer Cyberaudience beispielsweise ist, daß die Theaterschaffenden selbst noch kaum daran gewöhnt sind, Publikum im virtuellen Raum zu sein. Weil es so unvorhersehbar erscheint, wie dieses Auditorium reagieren wird, scheint es nicht leicht zu sein, die Rolle Publikum in Theater Skripten und Konzepten zu definieren. Dieses Publikum ist wie der Raum neu und unbekannt, vergleichbar übrigens mit jener Entwicklung, die im Theater in Rußland nach der Revolution 1917 beobachtet werden konnte. Stanislavsky meinte dazu:
We were forced to teach this new spectator how to sit quietly, not to talk, to come to the theatre at the proper time, not to smoke, not to crack nuts
Im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen wußte er nicht wie er mit solch einem Publikum, das sich in einer für ihn ungewohnten Art und Weise verhielt, umgehen sollte. Er hatte zuvor noch nie Zuschauer sich so unbedarft in Theaterräumen bewegen sehen. Sein Lösungsansatz bestand darin, jene wie Kinder, die zu ihrem ersten Theatererlebnis geleitet werden, zu behandeln. Wie am Wiener Theater der Jugend gut zu beobachten, besteht ein großer Teil jener Erziehungsarbeit darin, die Kinder während einer Vorstellung zur Ruhe anzuhalten, und sie davon zu überzeugen, daß das Essen von Popcorn aus raschelnden Tüten die Konzentration der Schauspieler stört. Später im traditionellen Theater findet man kaum mehr die Angst der Theatermachenden, daß jemand aus dem Publikum durch Rufe oder ähnliches stören würde. Üblicherweise - wenn nicht gewollt oder provoziert - würde das nicht passieren, denn das Publikum von dem ich hier spreche ist an die Konventionen und Regeln eines Theaters von Kindheit an gewöhnt und würde kaum aus Bosheit oder Unvorsichtigkeit stören.
Ähnliche Basisregeln für ein Publikum, das über die Leitungen des Internet an einer Theateraufführung teilnimmt, müssen noch festgelegt werden: ein Leitfaden, wie man sich generell im Internet zu verhalten habe, und eine Leitlinie, die klar macht, wie man sich in der für die Aufführung gewählten Umgebung bewegen und agieren kann. Zusätzlich sind dann vielleicht spezielle Informationen für die Intention, die die bestimmte Aufführung verfolgt, und für die Software, die benutzt wird, nötig.
Die ethischen Grundlagen sind in der sogenannten Netiquette festgelegt. Das ist die Etikette des Internet, vergleichbar mit den bekannten Richtlinien der zivilisierten Gesellschaft. Wie oben beschrieben scheint es im Internet leichter zu sein, jemanden bösartig zu kritisieren. Es ist dort leichter, ein kreatives Werk, einen Vortrag oder eine Vorstellung zu verurteilen, als wenn man Angesicht zu Angesicht mit dem Künstler stünde. Es ist nicht leicht, solch destruktives Verhalten zu verhindern, es gab eine Zeit, da das Internet durchaus selbstregulierend war, als die Anzahl der Benutzer so gering war, daß Störenfriede kein leichtes Leben hatten. Im gegenwärtigen Boom der neuen Medien, in dem die Zahl der User täglich steigt, wird über neue Regelungen nachgedacht, die hier genau aufzuführen nicht der Platz ist. Die Forderung zu tolerieren, was die anderen leisten, und Pionierarbeit zu unterstützen mag nicht fundamental neu und vielleicht idealistisch klingen, aber aus der zivilisierten Gesellschaft bekannte Regeln müssen nun für das neue Medium adaptiert werden und genauso in das Konzept eines neuen Publikums inkludiert werden.
Neben einer generellen Netiquette müssen den Verhaltensmaßnahmen eines Cyberpublikums also noch weitere Regeln hinzugefügt werden. Die Rollen für jene Personen, die Schauspieler und Zuschauer im Internet darstellen, verlangen für jede Produktion spezielle Abwandlungen, je nach Software, Umgebung und Intention des Konzepts. Die synchrone Verbindung, die zwischen Darsteller und Betrachter hergestellt wird, erzeugt die Einheit von Zeit und Raum. Im realen Theater wird dies üblicherweise durch die Architektur des Theatergebäudes geschaffen, die Spieler und Zuschauer in den selben Raum zur selben Zeit bringt und dadurch eine Möglichkeit zur Kommunikation herstellt. Diese Aufgabe kann genauso von den Internetleitungen ausgeführt werden, die jene in einem virtuellen Raum zusammenführt. In beiden Fällen sieht der Zuschauer die Aufführung zur selben Zeit, zu der sie durch den Schauspieler ausgeführt wird, so, wie der Schauspieler auch den Zuschauer sehen fühlen und hören kann, der ihn oder sie beobachtet.
Kulturell interessierte Personen, Leute die aus Interesse am Theater and solchen Aufführungen teilnehmen, sind kaum an die online Umgebungen gewöhnt. Man muß jenen also zeigen, wie sie Reaktionen und Gefühle passend ausdrücken können. Nur so kann man verhindern, daß der Zuschauerraum stumm bleibt. Denn selbst wenn die Software Möglichkeiten zu jeder Reaktion zu Verfügung stellt, diese jedoch nicht genutzt wird, ist das Resultat das selbe, als ob sie einfach nicht da wären oder man ihnen die Möglichkeit zur Reaktion erst gar nicht gegeben hätte.
Einige Zeit mit einem solchen Training seines Publikums zu verbringen, kann im Ende in einem weiteren Feld der Möglichkeiten während der Aufführung enden. Mit genug Vertrauen in die Geschicklichkeit des Publikums kann man dann jeden gewünschten Effekt inkludieren, der von Online Umgebung und Software zu Verfügung gestellt wird. Durch die (aktive) Gegenwart der Zuschauer ist keine Reduktion mehr nötig, man kann das Publikum zur weiteren Interaktivität ermutigen, es sind dem Aufführenden keine Grenzen zur Inkludierung der Zuschauer mehr gesetzt. Die oben demonstrierte Beispiele zu einer solchen Inkludierung zeigen, daß jene Versuche dann Erfolg hatten, als die Teilnehmenden mit dem Medium und den Verhaltensweisen vertraut waren, so daß sie den Ansprüchen, die an sie gestellt wurden, genügen konnten.
Durch das Publikum und seine Teilnahme lebt das Theater. Im gegenwärtigen Stand von Theater in einem neuen, virtuellen Raum brauchen wir in erster Linie die Gegenwart dieses Publikums. Wir wollen sichergehen, daß das Ereignis, das wir stattfinden lassen, wirklich seine Rezipienten erreicht. Aber dann muß das Publikum die Möglichkeit haben, diese Aufführung zu beeinflussen.
Unbestritten, daß noch lange nicht alle Experimente im Bereich des virtuellen Theaters getätigt worden sind. Glücklicherweise wächst nicht nur das technische Potential unaufhörlich, sondern auch die Anzahl der Theaterproduktionen, die im oder mittels des Internet stattfinden. Während der schriftlichen Ausformulierung der hier dargestellten Projekte sind weitere interessante Produktionen entstanden, die ich hier bereits unerwähnt gelassen. Und laufend folgen Projekte, die neue Arten zeigen, mit traditionellen Theatermitteln umzugehen und jene mit den Mitteln der Telekommunikation zu verbinden. Im Zuge meiner Arbeit und den Gesprächen, den ich mit Leuten aus aller Welt zu diesen Entwicklungen im Theaterbereich geführt habe, würde ich sagen, daß es jetzt (noch) gerechtfertigt ist den Theaterbegriff für jene neuen Projekte beizubehalten. Es ist natürlich durchaus möglich, daß sich in näherer Zukunft diese neue Form als eigenständige Kunstform ablösen wird. Ich habe aber versucht hier zu zeigen, daß die Weiterentwicklung und die Nutzung der neuen Möglichkeiten durchaus in der bekannten Neugier von Theater und Theaterschaffenden begründet ist. Der aktuelle Stand ist bei der Drucklegung dieser Seiten bereits wieder Geschichte und ist am besten in den Hypertextdokumenten des World Wide Web selbst dokumentiert.
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