Frank Stäudner

Krücken für die Moralität? Skeptische Annäherungen an die Kantische Religionsphilosophie

Willst du die reine Wahrheit erfahren,

Dann sorge dich nicht um Recht und Unrecht.

Der Gegensatz zwischen Recht und Unrecht

Ist die Krankheit des Geistes.

Seng Ts'an

Einleitung

Immanuel Kant entwirft in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 eine Vernunftreligion, in deren Kern das Sittengesetz (das ist der Kategorische Imperativ) steht - genauer: wo die aus völliger individueller Freiheit geborene Einsetzung des Kategorischen Imperativs als oberste Maxime des Handelns durch den einzelnen Menschen diesen für das Gute empfänglich macht.

Dieser freie Entschluß reicht aber allein noch nicht aus. Denn damit die "Revolution der Denkungsart" (RS Ak. 6, 47) Bestand haben kann, bedarf sie der beständigen Unterstützung durch äußere Statuten. Kant verwendet einige Anstrengung auf den Nachweis, daß im Christentum, wie es zu seiner Zeit praktiziert wurde, genau der geeignete Rahmen (mit Kirchgang, Privatgebet, etc.) im Prinzip bereits angelegt ist. Der Status jener Statuten ist aber durchaus zwiespältig. Zwar sind sie notwendig, um den Einzelnen in der menschlichen Gemeinschaft zu leiten, wo ihm durch den Umgang mit seinen Mitmenschen und daraus erwachsenden Versuchungen beständig der Abfall vom Sittengesetz droht. Andererseits setzt die Existenz dieser Statuten den Menschen ebenso beständig der Gefahr aus, das lediglich als Hilfsmittel gedachte Werkzeug zum Zweck selbst zu machen. Hofft der Mensch, durch bloße äußere Befolgung der Statuten bereits auf das Erreichen von Glückseligkeit, dann mißbraucht er diese beim Streben nach wahrer Moralität prinzipiell nützlichen Werkzeuge, und die so verstandene "Religion" verkommt zu Götzendienst, Idololatrie, Afterdienst Gottes. Gerade den Katholizismus seiner Zeit sieht Kant durch dieses Mißverständnis gekennzeichnet.

Bei einer näheren Betrachtung der Kantischen Religionsphilosophie, die im Kern auf einem Vermögen der Vernunft und der Absicherung dieses Vermögens durch äußere Hilfen beruht, stellen sich drei Probleme.

Problem 1: Die politische Dimension der Religionsschrift

Mit dem ersten Problem wurde Kant bereits selbst konfrontiert. Er geriet wegen der Schrift in Konflikt mit der staatlichen Obrigkeit, vertreten durch den preußischen Oberzensor Johann Christoph Wöllner (1732-1800). Wöllner erkannte die politische Dimension der Religionsschrift und wollte sie verbieten lassen. Nur das erste Stück der Schrift (von vieren) konnte in der Berlinischen Monatsschrift 1792 erscheinen. Um weitere Eingriffe zu verhindern, gab Kant die Schrift 1793 als Ganzes heraus und stellte die Zensur vor vollendete Tatsachen. Es war wohl unter anderem diese Unbotmäßigkeit, die ihm ein zeitweiliges Publikationsverbot eintrug. Durch den Inhalt der Schrift war der Konflikt vorprogrammiert: Die Religionsphilosophie bezieht das gesamte menschliche Handeln ein. Da hierzu auch politische Aktivitäten und Handlungen gehören, kommt es geradezu zwangsläufig zu Interferenzen mit dem Herrschaftsanspruch des Fürsten, wenn dieser die Verfügungsgewalt über seine Untertanen beansprucht, die Bürger sich aber das Recht vorbehalten, die herrschaftlichen Gebote an ihrem eigenen sittlichen Horizont zu prüfen.

Wenn Kant 1784 in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit "vorzüglich in Religionssachen" (WA, Ak. 8, 33) fordert, weil diese die "schädlichste, als auch entehrendste" (ebd.) sei, dann geschieht dies vor allem deswegen, weil das Feld der Religion für den uneingeschränkten Vernunftgebrauch ein Betätigungsfeld darstellt, wo dieser Gebrauch mit dem weltlichen Herrschaftsanspruch des Fürsten nicht kollidiert. Gerade auf dem Gebiet der Religion fehlt also der äußere Zwang, der als letzte Entschuldigung für die eigene Unmündigkeit angeführt werden könnte.

Knapp zehn Jahre später löst Kant das Versprechen der Aufklärung in Religionssachen ein. Herausgekommen ist dabei eine im herkömmlichen Sinne kaum religiöse, dafür aber eminent politische Schrift. Denn wenn im Kern der Religion das Sittengesetz steht, das durch eine statutarische religiöse Praxis unterstützt wird, dann reicht die so gestaltete Religionsphilosophie weit über den Bereich des Glaubens hinaus. (Nebenbemerkung: Im Zeitraum, der seit der Veröffentlichung der Kantischen Schrift verstrichen ist, hat das Adjektiv "statutarisch" aus irgendwelchen Gründen sein drittes t eingebüßt. Der Autor des vorliegenden Aufsatzes fühlt sich - allerdings nur in diesem besonderen Fall - zur Benutzung der antiquierten Schreibweise verpflichtet.) Das Sittengesetz ist die oberste Maxime des gesamten menschlichen Handelns. Das heißt, daß es nicht zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen des Politischen, Religiösen, Kulturellen, etc. differenziert. Wie müßte sich wohl ein Beherrschter entscheiden, der eine befohlenen Handlung als unmoralisch beurteilt? Muß er etwa gehorchen und dadurch seine Hoffnung auf Glückseligkeit aufgeben? Die Entscheidung zugunsten der eigenen Moralität wäre zwingend. Mit der spätabsolutistischen Vorstellung der uneingeschränkten Verfügungsgewalt des Herrschers über seine Untertanen ist das nicht verträglich. Die Konsequenz für Kant war, daß er es mit dem Zensor Friedrich Wilhelms II. zu tun bekam.

Zu dieser politischen Dimension bekennt sich Kant auch ganz dezidiert, wenn die Kirche (der Rahmen, in dem die Vernunftreligion gepflegt wird) als Vorstufe einer weltumspannenden staatlichen Gemeinschaft beschrieben wird:

"...und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem (nicht statutarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß, der alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarer Weise in einem Staate verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war." (RS Ak. 6, 122)

Als menschliches Werk kann ein solcher Weltstaat nicht durch eine Revolution, sondern bloß durch beständige Reform errichtet werden, wie Kant gleich darauf betont. Kant scheut den Aufruf zur Revolution. Aber die herausgehobene Position des Fürsten als Weisungs- und Erziehungsberechtigter seiner Untertanen wird verneint und ersetzt durch die bürgerliche Autonomie des Einzelnen. Kurzum: Die Religionsschrift ist eine politische Schrift. Das wurde zu einem Problem für den Bürger Kant; für die Schlüssigkeit der Religionsphilosophie, wie sie in der Schrift entwickelt wurde, ist es unerheblich.

Problem 2: Die Existenz Gottes

Aus heutiger Sicht ist eine Religionsphilosophie, die auch politische Implikationen hat, vielleicht sogar wünschenswert, auch wenn manche politischen Stellungnahmen des Klerus der christlichen Kirchen besser unterblieben. Das zweite Problem betrifft ihren systematischen Aufbau, und Einwände gegen diesen können durchaus geeignet sein, die Kantische Konstruktion zu Fall zu bringen. Die Religionsphilosophie erweist sich schnell als verkappte Moralphilosophie und umgekehrt. Kants Moralphilosophie gibt Antwort auf die Frage "Was soll ich tun?" Der Schlüssel zur Antwort ist eine Selbstanalyse der Vernunft, bei der sich der Kategorische Imperativ als unaufhebbares (eben kategorisches) Gebot der Vernunft erweist. Wenn ich weiß, was ich tun soll, muß ich mich aber noch zweier Dinge versichern, damit die Moralphilosophie echte Substanz gewinnt: Zum einen muß ich wissen, daß ich auch tun kann, was ich tun soll; zum anderen muß klar sein, daß mein Bemühen, dem Gebot der Vernunft gemäß zu leben, nicht sinnlos ist. ("[W]enn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen?" (KrV: B 833, A 805.) Beides soll der Satz "Es sei ein Gott" garantieren und stellt dadurch den Zusammenhang und die wechselseitige Abhängigkeit von Moral- und Religionsphilosophie her. Wenn aber, wie es im Moralischen Gottesbeweis geschieht, sich die Vernunft gewissermaßen einen Gott macht, um die geschilderten Schwierigkeiten aufzuheben, dann haben wir uns nicht von der Substantialität Gottes, sondern nur von der Notwendigkeit überzeugt, an die Substantialität Gottes zu glauben. Und wenn der Schritt vom Satz "Es sei ein Gott" hin zu "Es ist ein Gott" nicht gelingt, und er ist nicht zu schaffen, wie Kant selbst bemerkt, dann hat der Schluß vom Sollen auf das Sein nur den Rang einer Selbstüberredung. Wir können also niemals sicher sein, daß das Streben nach Glückseligkeit durch stetes Bemühen unter der Anleitung durch das Sittengesetzes mehr ist, als das vergebliche Strampeln eines Hamsters im Laufrad.

Betrachtet man die einzelnen Bausteine der Vernunftreligion näher, dann erkennt man in ihrem Kern den Gedanken, daß die Hinwendung zum Guten nur durch einen individuellen und aus völliger Freiheit geborenen Entschluß erfolgen kann, nämlich die freiwillige Einsetzung des Sittengesetzes als oberste Maxime des Handelns. Dies geschieht nicht auf dem Wege einer schrittweisen Besserung in der Befolgung der Sitten - d. h. "gutes Benehmen" -, sondern erfordert eine radikale "Umwandlung der Denkungsart" (RS, Ak. 6, 48). Andernfalls kommt das Individuum in seinem moralischen Status nicht über den Stand bloßer äußerlicher Gesetzlichkeit (Legalität) hinaus.

"Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch [...] werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmähliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden:" (RS, Ak. 6, 47)

Diese Passage drückt wiederum nur aus, was wir tun müssen, um moralisch gut zu werden, nicht jedoch, ob wir auch so handeln können. Die Existenz des fraglichen Zusammenhangs zwischen dem Gebot der Vernunft und der Fähigkeit, es zu befolgen, wird wenig später versichert. Die Argumentationsfigur tritt auch an anderen Stellen des Kantischen Werkes auf. Der moralische Gottesbeweis in _87 der Kritik der Urteilskraft bedient sich ihrer (UK Ak. 4, 447). Und im zweiten Abschnitt des zweiten Hauptstückes der Transzendentalen Methodenlehre in der Kritik der reinen Vernunft, Von dem Ideal des höchsten Guts..., findet sie sich ebenfalls (KrV: B 838f., A 810f.). In der Religionsschrift liest sich diese Argumentationsfigur, wo aus dem Sollen ein Können gefolgert wird, so:

"Denn ungeachtet jenes Abfalls [vom Guten], erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können, sollte auch das, was wir tun können, für sich allein unzureichend sein, und wir uns dadurch nur eines für uns unerforschlichen höheren Beistands empfänglich machen." (RS Ak. 6, 45)

In der Argumentation ist die Idee eines Gottes von doppelter zentraler Bedeutung: Kant zufolge verbürgt sie zum einen den Übergang von dem Gebot der Vernunft zum Handeln nach diesem Gebot, zum anderen nährt sie, wenn nach dem Gebot tatsächlich gehandelt wird, die Hoffnung auf das Erreichen von Glückseligkeit, ohne welche der moralisch gute Mensch verzweifeln müßte.

Das Prinzip, Sollen setze Können voraus, ist aus sich heraus nicht einzusehen. Der Übergang von dem Vermögen der Vernunft, ihre Pflicht zu erkennen, hin zu einem nach dieser Pflicht gelebten Leben, setzt völlige menschliche Freiheit voraus. Den Menschen von der Kausalität der Natur zu lösen und ihm diese Freiheit zu geben, ist die Funktion Gottes. Im moralischen Gottesbeweis ist dieser Gedanke wirksam:

"Also stimmt der Begriff von der praktischen Notwendigkeit eines solchen Zwecks [gemeint ist der moralische Endzweck], durch die Anwendung unserer Kräfte, nicht mit dem theoretischen Begriffe, von der physischen Möglichkeit der Bewirkung desselben, zusammen, wenn wir mit unserer Freiheit keine andere Kausalität (eines Mittels), als die der Natur, verknüpfen.

Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns, gemäß dem moralischen Gesetze, einen Endzweck vorzusetzen; und, so weit als das letztere notwendig ist, so weit [...] ist auch das erstere notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott." (UK, Ak. 5, 450)

In der Interpretation Reiner Wimmers wird diese erste Funktion Gottes, die darin besteht, die Freiheit des Menschen zum Guten und zum Bösen zu sichern, besonders deutlich:

"Der Mensch bedarf nicht etwa nur der göttlichen Mitwirkung mit seinem Tun, sondern zuvörderst des Handeln Gottes, um überhaupt damit beginnen zu können, das Gute zu tun - der böse, unfrei gewordene Mensch bedarf der Wiederherstellung seiner Freiheit. Nur so läßt sich auch die Realgeltung der Forderung des Sittengesetzes und des Grundsatzes, daß Sollen Können voraussetze, begreifen. Insofern der Mensch sich als moralisches Wesen versteht und sich zugleich als jemand erkennt, der das Böse will (und tut), "muß" er, um nicht in Verzweiflung zu geraten, an die Wirklichkeit göttlicher Befreiung glauben, die ihn wieder instandsetzt, das Gute zu wollen (und zu tun)." (Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, S.158)

Die zweite Funktion ist die einer Tröstung. Da das menschliche Bemühen um wahre Moralität zwangsläufig immer endlich und damit unvollkommen sein muß, benötigt der Mensch den Glauben an ein höheres Wesen, um die Hoffnung auf Glückseligkeit zu bewahren. Denn auch nach der Umwandlung der Denkungsart und dem steten Bemühen um guten Lebenswandel fehlt noch ein Stück. Aus eigener Kraft kann sich der Mensch nicht zur Glückseligkeit würdig machen. Aber er darf hoffen, das fehlende Stück noch geschenkt zu bekommen:

Die Vernunft läßt uns erstlich in Ansehung des Mangels eigener Gerechtigkeit (die vor Gott gilt), nicht ganz ohne Trost. Sie sagt: daß, wer in einer wahrhaften der Pflicht ergebenen Gesinnung so viel, als in seinem Vermögen steht, thut, um [...] seiner Verbindlichkeit ein Genüge zu leisten, hoffen dürfe, was nicht in seinem Vermögen steht, das werde von der höchsten Weisheit auf irgend eine Weise, (welche die Gesinnung dieser beständigen Annäherung unwandelbar machen kann), ergänzt werden, ohne daß sie sich doch anmaßt, die Art zu bestimmen, und zu wissen, worin sie bestehe,..." (RS, Ak. 6, 171)

Das Postulat "Es sei ein Gott" ist Kant zufolge für das menschliche Streben nach Moralität zwar von besonderer Bedeutung. Zentral ist aber das Sittengesetz. Die Kantische Religionsphilosophie ist daher eigentlich eine Moralphilosophie, in die Gott nur über die funktionale Bedeutung eingeführt wird, die das Gottesbild für die Beförderung der Moralität besitzt. Ob diese Moralphilosophie mit ihrem "Sahnehäubchen aus Glückseligkeitshoffnung" allerdings auch lebbar ist, bleibt offen. Der Schritt von dem Satz "Es sei ein Gott" zu seinem substantiellen Gegenstück "Es ist ein Gott" wurde nicht vollzogen. Kant sieht das klar: Einen "objektiv-gültigen Beweis vom Dasein Gottes" (UK Ak. 5, 450) haben wir nicht bekommen. Es wurde lediglich gezeigt, daß ein moralfähiges Wesen, wollte es wirklich moralisch handeln und nicht in Verzweifelung geraten, sich einen Gott selbst machen muß.

Was Kant ausführt, ist eine Explikation von Bedingungen der Möglichkeit einer auf Freiheit gründenden Moralphilosophie, um eine vertraute Diktion abzuwandeln. Wenn es Gott gibt, dann ist der Mensch frei und kann auch ein moralisch guter Mensch werden. Aber diesen Gott, der den Menschen aus der mechanischen Kausalität der Natur befreit, hat sich der Mensch gerade zu diesem befreienden Zweck selbst gemacht. Genauer gesagt, hat sich der Mensch eine Vorstellung von der Existenz Gottes gemacht. Aber die "höhere Weisheit" tatsächlich in die Welt zu bringen, geht über seine Fähigkeiten. Aus dem Zirkel der Vernunft gibt es kein Entrinnen Die Frage, ob die Moralphilosophie unter den konkreten Bedingungen der menschlichen Existenz tatsächlich gelebt werden kann, bleibt offen. Daß die Bedeutsamkeit der Kantischen Moralphilosophie für die menschlichen Existenz gerade durch die Idee Gottes gewährleistet sein sollte, worin sich die Funktion der Idee dann aber auch bereits erschöpft hätte, hat manche Kritiker amüsiert. Albert Camus formuliert es so: "Es gibt nur noch einen Scheingott, der in den Himmel der Prinzipien verwiesen wird." Und er fügt in der zugehörigen Fußnote an: "Das wurde der Gott Kants, Jacobis und Fichtes" (Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 141).

Problem 3: Das anthropologische Element der Religionsschrift - Tierheit versus Vernunft

Neben der Idee Gottes, die Kant als ein wichtiges Element im individuellen Streben der Menschen nach Moralität ansieht, gibt es noch einen weiteren Zusammenhang zwischen Moral- und Religionsphilosophie. Das Streben nach Moralität muß durch praktische Leitlinien - einen Rahmen der Legalität - unterstützt werden. Die sittlichen Statuten, die diesen Rahmen bilden, sieht Kant in der statutarischen Praxis der christlichen Religion verwirklicht.

Die Notwendigkeit eines statutarischen Rahmens, der die Befolgung des Sittengesetzes erleichtert, ergibt sich für Kant aus einer anthropologischen Betrachtung. In der Religionsschrift unterscheidet Kant drei Anlagen des Menschen: zur "Thierheit", "Menschheit" und "Persönlichkeit" (RS Ak. 6, 26), wobei auf die erste und zweite "allerlei Laster gepfropft werden" (RS Ak. 6, 27) können. Die Anlage zur Persönlichkeit kann als Anlage zur Vernunft verstanden werden, die - das liegt im Begriff der Vernunft beschlossen, welche den Kategorischen Imperativ beinhaltet - den Menschen zum Guten hinzieht. Kant ist optimistisch hinsichtlich der Entwicklung unserer Persönlichkeit und der Kontrolle der aufgepfropften Laster. Er hält die Überwindung der Anlage zur Tierheit durch ein kombiniertes Zusammenwirken aus einer Besinnung auf die Vernunft und der Absicherung durch den legalen Rahmen für möglich.

Daß Kant sich in seiner Moralphilosophie auf anthropologische Betrachtungen stützt, macht die Moralphilosophie dann allerdings auch von neu gewonnenen Erkenntnissen in der Anthropologie (und der Psychologie und Soziologie) abhängig, die das Bild des Menschen verändern.

In den zwei Jahrhunderten seither sind von wissenschaftlicher Seite vor allem durch Darwin und Freud Zweifel an der Kraft der Vernunft genährt worden. Die zweite und dritte sogenannte Demütigung des Menschen sind mit diesen beiden Namen verbunden: Darwin machte den Menschen zu einem, wenn auch hochentwickelten, Tier; Freud zeigte die Macht des Unbewußten und der Triebe. Weiter liefern gerade die gewissenhaft organisierten Massenmorde dieses Jahrhundert schlimme Beispiele für eine Tierhaftigkeit, die gerade durch ihre Leidenschaftslosigkeit und ihr rationales Kalkül nichts (im herkömmlichen Sinne) Bestialisches hat. So ist eine Situation entstanden, in der die Fähigkeit zur Überwindung der Tierheit neu befragt werden muß. Dies ist das dritte Problem.

Formt der Mensch sich selbst? Ob der Mensch ein Kulturwesen ist, das die Kraft besitzt, diejenigen Naturanlagen zu überwinden, die ihn zum Bösen verleiten - im besonderen eine unselige Disposition, sich äußeren Autoritäten sklavisch zu unterwerfen und daraus eine Tugend zu machen (vgl. Eichmann in Jerusalem) -, muß in diesem Essay nicht beantwortet werden. Die skeptische Annäherung an die Kantische Religionsphilosophie suchte Probleme, nicht Antworten.

Auch ohne konkrete Antworten gilt: Von den beiden Problemen der Existenz Gottes und des Verhältnisses von Tierheit und Vernunft ist das zweite für die Kantische Moralphilosophie das weitaus gravierendere. Wie die Frage nach der Existenz Gottes entschieden wird, muß für ihre praktische Seite keine Bedeutung haben: Ohne Gott wäre ein Mensch, der das Sittengesetz als verbindliche Maxime seines Handelns akzeptiert, zwar verzweifelt, weil er nicht mehr auf Glückseligkeit hoffen dürfte. Dem Sittengesetz würde er aber trotzdem weiter folgen. Wenn hingegen gezeigt werden sollte, daß die Anlage zur Tierheit grundsätzlich über die Anlage zur Vernunft triumphiert, dann wird jede Moral- und Religionsphilosophie hinfällig, die wie die Kantische auf die Kraft der Vernunft setzt.

Literaturverzeichnis

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Piper, München 1986

Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Rowohlt, Hamburg 1997

Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe), Berlin 1902ff.

-Kritik der reinen Vernunft (1781 u. 1787, zit. als KrV A bzw. B)

- Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784, zit. als WA)

- Kritik der Urteilskraft (1790, zit. als UK)

- Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, zit. als RS)

Reiner Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, de Gruyter, Berlin 1990