Einführung
Platons
Höhlengleichnis scheint auf den ersten Blick eine ausgezeichnete Grundlage
für eine heutige Medienkritik zu sein. Es beschreibt nämlich
die Lage der an einer medialen Pseudorealität hängenden Menschen
und den Weg ihrer Befreiung. Inwieweit ist aber diese Verwendung tatsächlich
tauglich? Diese Frage führt mich zu einer Kritik des platonischen
Höhlengleichnisses als Metapher der Medienkritik.
Im
Folgenden kommt zunächst Platon ausführlich zu Wort. Sodann wende
ich mich dem Film Bennys Video des österreichischen Regisseurs
Michael Haneke (1992) zu und stelle Zusammenhänge zwischen Platons
Höhlengleichnis und der heutigen Medienwelt. In einem dritten Schritt
widme ich mich einer Kritik der platonischen Medienkritik. Zunächst
aber zu Platon. Wir befinden uns im siebten Buch seines Dialogs Politeia
(514ff). Sokrates und Glaukon sprechen miteinander. Zunächst spricht
Sokrates.
I.
Platons Höhlengleichnis
"- Dann, sprach ich, vergleiche unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung
mit folgendem Zustand. Stelle dir nämlich Menschen in einer unterirdischen
höhlenartigen Wohnung vor, die einen gegen das Licht geöffneten
Zugang längs der Höhle hat. In dieser sind sie von Kindheit an
gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie an derselben Stelle bleiben
müssen und nur nach vorne sehen, ohne sie ihre Köpfe umdrehen
zu können, da sie gefesselt sind.
Sie
haben Licht von einem Feuer, das von oben und von ferne hinter ihnen brennt.
Zwischen dem Feuer und den Gefangenen läuft oben ein Weg; längs
diesem, so stelle dir das vor, ist eine niedere Mauer gebaut gleich den
Schranken, die sich die Gaukler vor den Zuschauern bauen, um über
sie ihre Kunststücke zu zeigen.
-
Ich sehe, sagte er.
-
Sieh nun längs dieser Mauer Menschen, die allerlei Gefäße
tragen, die über die Mauer vorbeitragen, und Bildsäulen sowie
Bildwerke aus Stein und Holz und allerlei vom Menschen künstlich Erzeugtes.
Einige der Vorübertragenden unterhalten sich dabei, wie zu erwarten,
die anderen schweigen.
-
Du stellst da, sagte er, ein außergewöhnliches Bild und außergewöhnliche
Gefangene vor.
-
Sie sind uns ganz ähnlich, erwiderte ich. Denn was glaubst du wohl?
Solche Menschen haben von sich selbst und von einander, nie etwas anderes
zu sehen bekommen als die Schatten, die das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende
Wand der Höhle wirft.
-
Wie sollte es anders sein, sagte er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens
den Kopf unbeweglich zu halten?
-
Und von den in ihrem Rücken vorbeigetragenen Dingen, sehen sie nicht
eben auch die Schatten?
-
Was sonst?
-
Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß
sie das, für das Wirkliche halten, was sie sehen und benennen?
-
In der Tat.
-
Wie aber, wenn dieses Gefängnis auch einen Widerhall von der ihnen
gegenüberstehenden Wand hätte? Wenn einer von den Vorübergehenden
sprechen würde, würden sie nicht denken, daß der vorübergehende
Schatten spricht?
-
Nichts anderes, beim Zeus!
-
Auf keine Weise also können sie etwas anderes für das Wahre halten
als die Schatten jener künstlichen Dinge?
-
Notwendigerweise, sagte er.
-
Betrachte jetzt, erwiderte ich, wenn die Gefangenen gelöst und geheilt
von ihren Fesseln und ihrer Einsichtslosigkeit, was ihnen dann zustoßen
würde. Wenn einer entfesselt wäre, und gezwungen würde sogleich
aufzustehen, den Hals umzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen,
dann hätte er immer Schmerzen, und wegen des Geflimmers könnte
er jene Dinge nicht recht erkennen, wovor er vorher die Schatten sah.
Was
meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihn einer versicherte, damals
habe er nur Nichtigkeiten gesehen, jetzt aber wäre er dem Seienden
näher und indem er sich dem Seienderen gewendet hätte, würde
er auch richtiger blicken?
Und
wenn jener ihm jedes Vorübergehende zeigend ihn fragte und ihn zwänge,
auf die Frage, was es sei, zu antworten, glaubst du nicht, daß er
da weder ein noch aus wüßte und überdies dafür hielte,
das, was er vormals gesehen hatte, sei wahrer als das jetzt Gezeigte?
-
Allerdings, sagte er.
-
Und wenn ihn einer nötigte, in den Feuerschein selbst zu sehen, würden
ihm dann nicht die Augen schmerzen und würde er nicht fliehen und
zu jenem zurückkehren, was er anzusehen im Stande ist, fest überzeugt,
dies sei weit gewisser als das, was ihm jetzt gezeigt werde?
-
So ist es, sagte er.
-
Wenn ihn aber einer mit Gewalt von da weg durch den holprigen und steilen
Aufgang schleppte, und nicht losließe bis er ihn an das Licht der
Sonne hinausgezogen hätte, wird er nicht Schmerzen haben und sich
ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Sonnenlicht kommt und die
Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem was ihm
nun für das Wahre gegeben wird?
-
Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht plötzlich.
-
Er wird also, meine ich, eine Gewöhnung nötig haben, um das Obere
zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten sehen, danach
Bilder der Menschen und der anderen Dinge, wie sie sich im Wasser widerspiegeln,
und dann erst diese Dinge selbst. Und davon was am Himmel ist und den Himmel
selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das Mond-
und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht.
-
Wie sollte er nicht?
-
Zuletzt aber, denke ich, wird er auch in den Stand kommen, die Sonne selbst,
nicht ihre Bilder im Wasser oder sonst wo, sondern sie selbst an ihrer
eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten, wie sie beschaffen sei.
-
Notwendigerweise, sagte er.
-
Und dann wird er herausbringen, daß sie es ist die alle Jahreszeiten
und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raum, und auch von
dem was sie dort in der Höhle sahen gewissermaßen die Ursache
ist.
-
Offenbar, sagte er, würde er über jene hinausgehend zu diesem
gelangen.
-
Und wie, wenn er sich wieder seiner ersten Wohnung, der dortigen Weisheit
und der damaligen Mitgefangenen erinnert, meinst du nicht er werde sich
selbst glücklich preisen über die Veränderungen und jene
bedauern?
-
Ganz gewiß.
-
Und wenn sie dort, in der Höhle, unter sich Ehre, Lob und Belohnung
für den bestimmt hatten, der das Vorübergehende am schärfsten
sah und am besten im Gedächtnis behielt, was zuerst zu kommen pflegte
und was zuletzt und was zugleich und daher also am besten vorhersagen konnte,
was am ehesten künftig eintreten könnte: glaubst du es werde
ihn danach noch groß verlangen, und er werde die bei jenen geehrten
und Machthabenden beneiden?
Oder
wird er nicht das viel lieber wollen, wovon Homer sagt:
"das
Feld eines unbegüterten Mannes als Tagelöhner bestellen"
und
lieber alles über sich ergehen lassen als wieder solche Ansichten
zu haben und so zu leben wie früher in der Höhle?
-
Ich glaube, sagte er, er würde lieber alles über sich ergehen
lassen als so zu leben wie früher.
-
Und nun bedenke auch dieses, erwiderte ich. Wenn ein solcher wieder hinabstiege
und an denselben Platz sich niedersetzte, würden ihm die Augen nicht
ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt?
-
Ganz gewiß, sagte er.
-
Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte
mit jenen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor
den Augen flimmert eher er sich wieder angepaßt hat, was nicht geringe
Zeit der Eingewöhnung verlangte, würde man ihn nicht auslachen
und von ihm sagen, da er hinaufgestiegen sei, sei er mit verdorbenen Augen
zurückgekommen, und es lohne sich nicht, daß man versuche hinaufzukommen,
sondern man müße jeden, der sie lösen und hinaufbringen
wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte,
auch wirklich umbringen? - So sprächen sie, sagte er."
Platons
Gleichnis ist ein Bildungsgleichnis (paideia). Wir stehen zunächst
und zumeist unter der Macht der Sinne. Der Sinn der sinnlich wahrnehmbaren
Dinge und der Sinn des Sinnes, der den Sinn der sinnlichen wahrnehmbaren
Dinge vernimmt, der Sinn der Vernunft (nous) also, bleibt verborgen.
Im Höhlengleichnis ist die Vernunft und ihr Sinn paradoxerweise wiederum
sinnlich durch Sonne und Licht versinnbildlicht.
Mathematik,
Geometrie und Astronomie sind für Platon jene abstrakten Disziplinen,
die den Blick nach oben lenken. Sie haben den Vorzug gegenüber
Musik, Gymnastik oder Ökonomie.
Am
Schluß des Dialogs kritisiert Platon die herstellenden und darstellenden
Künste. Die herstellenden Künste, wie am Beispiel eines Bettmachers
oder Tischlers ersichtlich, richten sich nach einem vorausgehenden Begriff
vom Bett oder Tisch. Die Idee des Tisches wird wiederum durch den Gott
hervorgebracht. Sie hat den Vorrang gegenüber den beiden Tätigkeiten
der Werkbildner (demiourgoi ) und der Nachbildner (mimeten),
die sich um die Ausstattung der Höhle kümmern.
Platon
schwächt seine Kunst- und Medienkritik ab, indem er den Künstlern,
nach angemeßener Eigenverteidigung, eine pädagogische und politische
Beteiligung zugesteht, allerdings unter Klarstellung ihres untergeordneten
Status und nur sofern sie den höheren Erkenntniszielen dienlich sind
(Pol. 607-608).
II.
Bennys Video
Bennys
Video ist ein österreichischer Film des Regisseurs Michael Haneke
aus dem Jahre 1992. Benny, ein zwölfjähriger Junge, wird von
Arno Frisch, seine Eltern von Angela Winkler und Ulrich Mühe gespielt.
Benny lebt in der Höhle der neuen Medien. Sein Zimmer im Appartment
der wohlsituierten Eltern ist mit elektronischen Geräten aller Art
vollgepackt. Besonders auffallend ist, daß der Blick aus dem Fenster
zur Straße hinunter nur durch einen Bildschirm möglich ist,
der das Fenster ausfüllt und den Straßenverkehr wiedergibt.
Im Zimmer sind Videokammeras installiert, die die Vorgänge nachbilden.
Der
Film erzählt die Geschichte eines tödlichen Spiels. Als Benny
eines Tages ein Mädchen zum Besuch seiner Medienwelt einlädt,
spielen beide mit einer zur Tötung von Schweinen verwendeten Pistole.
Benny hatte sie von seinem Onkel, bei dem er entsprechende Szenen gedreht
hatte. Zunächst fordert Benny das Mädchen spielerisch auf, auf
ihn zu schießen. Dieses weigert sich und wird von Benny als 'feige'
apostrophiert. Als sich das Spiel umkehrt, hat es für das Mädchen
tödliche Folgen. Die Szene wird von den im Zimmer befindenden Kammeras
aufgenommen. Sie zeigt auffällige Parallelen mit dem anfangs gezeigten
Video über die Schweinetötung.
Man
kann zunächst die medienkritische Schlußfolgerung ziehen, daß
die Medienhöhle zum Verlust des Realitätssinns und letztlich
zum tödlichen Unfall geführt hat. Es handelt sich aber dabei
nicht um den oft beklagten Einfluß von Gewaltdarstellungen in den
Medien und ihre passive Aufnahme. Benny geht offenbar sehr kreativ mit
der elektronischen Medienwelt um. Man kann lediglich sagen, daß die
ständige Umsetzung von Realität in Bild den Sinn für die
Realität abschwächt oder sogar umkehrt. Die Medienhöhle
macht Benny wiederum nicht ganz stumpf für das, was geschehen ist.
Es sind Bennys Eltern, die alles versuchen, um die Tat zu kaschieren und
es ist Benny, der zum Schluß zur Polizei geht und die Tat gesteht.
Bennys Eltern leben zwar nicht in einer elektronischen Medienhöhle,
wohl aber einer ganz konventionellen Kunsthöhle: Ihr Wohnzimmer ist
mit Bildern tapeziert! Und sie leben ferne in der zur Höhle gewordenen
Konventionen ihres sozialen Status.
Aus
Platonischer Sicht sind nicht nur Benny, sondern ebensosehr die Eltern
als die Gefesselten anzusehen. Benny erfährt eine Läuterung,
indem er nicht an der Video-Vorstellung seiner Tat verhaftet bleibt, sondern
sich dem Sinn dieser Tat öffnet. Über die schwierige Loslösung
von den medialen Fesseln erfahren wir anhand von Andeutungen: Er läßt
sich die Haare abrasieren - ein Zeichen von Scham -, und er verliert seinen
Frohsinn und seine lebhafte Art.
Allerdings
ist die Welt des Sinns der Sinne für Benny keineswegs göttlich,
sondern zutiefst menschlich. Das Nicht-rückgängig-machen-können
seiner Tat öffnet ihm die Augen der Vernunft. Führt diese Erfahrung
notwendigerweise zu einer Abwertung der (elektronischen) Medien?
III.
Zur Kritik der platonischen Medienkritik
In seinem
Aufsatz Auf den Weg zur mediengesteuerten Gesellschaft schreibt
Walther Zimmerli, daß Platon und Aristoteles:
"über
die Wirkung der Medien in einer Art gestritten, die bis heute unverändert
fortgilt, wenn man sie nur vom Beispielsfeld des Theaters auf das Beispielsfeld
des Fernsehens überträgt: Platon hatte in seiner staatsutopischen
Schrift "Politeia" die These vertreten, daß Schlechtes und Verbrecherisches
auf der Bühne zu sehen, die Menschen ihrerseits schlecht und verbrecherisch
mache. Aristoteles hatte hingegen eingewendet, daß das Gegenteil
der Fall sei. Platons Angst vor der negativen Medienwirkung setzte er die
Hoffnung auf eine rationale Bewältigung und daher positive Medienwirkung
entgegen: Die Menschen würden dadurch, daß sie sich mit dem
Schwierigen und Problematischen auseinanderzusetzen haben, nicht selbst
schwierig und problematisch, sondern geübt im Umgang mit Schwierigem
und Problematischem." (Zimmerli 1990)
Für
Aristoteles - im Gegensatz zu Platon - sind wir ursprünglich im offenen
und sinnlich-sinnhaften Weltbereich, wie das von Cicero tradierte weniger
bekannte Aristotelische Höhlengleichnis zeigt:
"Wenn
es Menschen gäbe, die stets unter der Erde gewohnt hätten, in
gut eingerichteten, herrlichen Wohnungen, geschmückt mit Statuen und
Gemälden, ausgestattet mit allem, was Menschen, die als glückllich
gelten, in Fülle besitzen, die jedoch noch nie auf die Erde hinaufgekommen
wären, aber durch Hörensagen etwas vom Walten einer Gottheit
und von einer göttlichen Macht erfahren hätten, und dann, da
sich irgendwann die Schlünde der Erde geöffnet hätten, jene
verborgenen Wohnsitze hätten verlassen und zu den Orten, die wir bewohnen
hätten herauskommen können: wenn sie nun plötzlich die Erde,
die Meere und den Himmel gesehen, den Umgang der Wolken und die Gewalt
der Winde kennengelernt, die Sonne erblickt und deren Größe
und Schönheit, besonders auch ihr Wirken erkannt hätten, weil
sie durch die Verbreitung ihres Lichtes am ganzen Himmel den Tag bringt,
und wenn sie andererseits, sobald die Nacht die Länder beschattet,
dann den ganzen Himmel sähen, von Sternen besät und geschmückt,
und den Lichtwechsel des Mondes, wie er bald zu-, bald abnimmt, und der
Auf- und Untergang all dieser Gestirne und ihre in alle Ewigkeit festgesetzten
und unverdänderlichen Bahnen - wenn sie dies alles sähen, würden
sie gewiß glauben, daß es Götter gibt und daß diese
gewaltigen Werke göttlichen Ursprungs sind." (Cicero, nat.deor. II,
95).
Die Medien
sind grundsätzlich positiv zu beurteilen. Allerdings müssen wir
lernen - im Sinne einer Lebenskunst - selektiv mit ihnen umzugehen, wenn
wir sie produktiv nutzen wollen (Capurro
1995). Ich schließe mich der Aristotelischen Kritik der Platonischen
Medienkritik an, indem ich Blumenbergs Erörterungnen über die
Geschichte der Höhlenmetaphorik miteinbeziehe (Blumenberg 1989).
Die
Speleologie, die Wissenschaft von den Höhlen, hat als philosophische
Metapher für die Beschreibung des Weges zur wahren Erkenntnis und
zum richtigen Handeln eine lange und wechselhafte Entwicklung hinter sich.
Es gab vielseitige Kandidaten für die Platonische Höhle. Sie
führten allesamt zur Diskriminierung bestimmter Erfahrungen, die dem
Schattenhaften zugeschrieben wurden. Die Höhlenmetapher ist
deshalb nur bedingt eine Aufklärungsmetapher, da sie im Namen einer
Sinndimension eine andere Sinndimension abwertet und dieses Schema nicht
nur inhaltlich, sondern auch strukturell festschreibt.
Diese
letztere Einsicht erlaubt nicht nur eine inhaltliche Kritik der Platonischen
Medienkritik. Das haben Nietzsche und Heidegger gesehen. Eine radikalere
Kritik des Platonischen Höhlenmythos bedeutet letztlich eine Kritik
des Mythos Höhle. Im Kern besagt diese Kritik, daß wir nicht
in einer wie auch immer gearteten Höhle leben - von der kosmologischen
Höhle Platons, über die neuzeitliche Höhle des Bewußtseins
bis hin zur Medienhöhle -, sondern einem offenen Horizont von Sinndeutungen
und Sinnentwürfe ausgesetzt sind, dem wir uns allerdings kapselartig
verschließen können.
Während
die Antike sich weitgehend an die kosmologischen Inhalte des Höhlengleichnisses
orientierte und das Christentum die Gefangenen als Sünder im irdischen
Jammertal deutete, geschah in der Neuzeit eine scheinbar radikale Infragestellung
des Platonischen Gedankens. Die kosmologische Höhle verwandelte sich
in das subjektive Bewußtsein dem die objektive Außenwelt gegenüberstand.
Diese neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung brachte die Frage nach dem jeweiligen
Anteil beim Erkenntnisprozeß mit sich. Die neuzeitlichen Empiristen
betonten, daß alle unsere Erkenntnisse durch Eindrücke (impressions)
oder In-formationen von der Außenwelt enstehen. Für Kant bestimmten
die subjektiven Strukturen unseres Erkennens und Anschauens die Gegenstände
der Erfahrung vor der Erfahrung (a priori). Unser gestaltender
Verstand ist aber zugleich ein rezeptiver oder, wie Kant schreibt, "diskursiver,
der Bilder bedürftiger, Verstand" (intellectus ectypus) und
unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom göttlichen schöpferischen
Ur-Verstand (intellectus archetypus) (I. Kant, Kritik der Urteilskraft,
§ 77).
Wir
sind offenbar, wie die Hirnforschung heute lehrt, keine passiven Empfänger
von Eindrücken aus der Außenwelt. Die Konstruktivisten meinen
die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung dadurch aufheben zu können,
indem sie alles zwar nicht in die Immanenz des Bewußtseins, aber
in die des Gehirns und seiner Konstruktionen verlagern. Dadurch wird der
Idealismus durch den Zerebralismus ersetzt. Siegfried Schmidt kritisiert
aus konstruktivistischer Sicht Platons Höhle als "ein eindeutiges
Depravierungsszenario". Demgegenüber ist der "Oikos" der Konstruktivisten:
"eindeutig
ein Konstruktionsszenario, in dem der Philosophentraum von der Welt hinter
den Welten, hinter dem Chorismos, ausgeträumt ist." (Schmidt 1995).
Wenn es
aber keine Höhlen und keine Gefangenen gibt, dann gibt es im Grunde
nicht nur kein Außen, sondern ebensosehr kein Innen! Oder, anders
ausgedrückt, Schmidt scheint die eine Höhle Platons nur
durch die Vielfalt der konstruierten Höhlen zu ersetzen. In Wahrheit
führt er aber zusätzlich die Kategorie des Oikos ein.
Der Oikos ist der Rahmen, der uns erlaubt, die verschiedenen Konstruktionen
in ihrer kontingenten Vielfalt zu erfahren. Es gibt in der Tat "keine Realität
da draußen", wohl aber ein Offenheits- oder Möglichkeitsbereich
der uns erlaubt, die Konstruktionen als (!) Konstruktionen wahrzunehmen.
Indem wir diesen Offenheitsbereich gestalten, entsteht ein - wie Ernst
Cassirer es nennt - Riß im Dasein. Durch unsere geistige Tätigkeit
schaffen wir ständig Sinnzusammenhänge, die wir dann als geistige
oder materielle symbolische Formen (E. Cassirer) verwirklichen. Was wir
geistig formen ist immer im sinnlichen Bereich angesiedelt. Cassirer schreibt:
"Wenn
die Philosophie der Technik es mit den unmittelbaren und mittelbaren sinnlich-leiblichen
Organen zu tun hat, kraft derer der Mensch der Außenwelt ihre bestimmte
Gestalt und Prägung gibt, so wendet die Philosophie der symbolischen
Formen ihre Frage auf die Gesamtheit der geistigen Ausdruckfunktionen.
Auch in ihnen sieht sie nicht Abdrücke oder Kopien des Seins, sondern
Richtungen und Weisen der Gestaltung, "Organe" nicht sowohl der Beherrschung
als vielmehr der Sinngebung." (Cassirer 1994, II, S. 258-259)
Cassirer
hat zwar eine "Philosophie der symbolischen Formen" nicht aber eine Philosophie
der Technik als Gegenstück entwickelt. Außerdem spricht er weiterhin
im neuzeitlich-kantianischen Sinne von einer "Außenwelt". Schließlich
ist die Gegenüberstellung zwischen "Beherrschung" und "Sinngebung"
in bezug auf eine symbolische Technik wie die Informationstechnik unzureichend.
Die
Heideggersche Einsicht in die ursprüngliche Einheit von Mensch und
Welt, das In-der-Welt-sein, bedeutet eine Zerschlagung des neuzeitlichen
Gordischen Knotens oder der Trennung von Subjekt und Objekt, Innenwelt
und Außenwelt, Bewußtsein und objektiver Realität usw..
Sie ist aber keine Rückkehr zu einem vorkantischen naiven Realismus,
sondern sie integriert die gestaltende Tätigkeit unseres Erkennens
und Handelns im Rahmen eines offenen und geschichtlichen Horizonts. Unsere
Realitätsentwürfe stehen nicht ein für allemal fest, sondern
beruhen auf jeweils vorgegebenen Strukturierungen. Eine Höhle entsteht
nur dann, wenn bestimmte Seinsentwüfe oder Konstruktionen sich verfestigen
und als unantastbar erscheinen. Erst dann stellt sich die meta-physische
Frage nach einem "Höhlenausgang" (H. Blumenberg), während wir
in Wahrheit immer schon draußen d.h. inmitten offenbleibender
Sinnstrukturierungen sind. Erst verfestigte Sinnentwürfe verwandeln
sich in Höhleneingänge. Wir können aber Seinsentwürfe
in ihrer Kontingenz erfahren, sie also als Seinsentwürfe wahrnehmen,
wenn wir immer schon einem Möglichkeitsbereich offen sind. Das ist
der Sinn des Heideggerschen Primats der Möglichkeit über die
Wirklichkeit. Medienentwürfe einschließlich der Entwürfe
der virtual reality sind in diesem Sinne nicht weniger wirklich
als unsere sonstigen symbolischen und technischen Weltentwürfe.
In-der-Welt-sein
bedeutet, daß wir ursprünglich medial sind. Der Weltbegriff
ist der Inbegriff des Medialen. Die Platonische Medienkritik betrifft nicht
nur die Medieninhalte, sondern sie bedeutet ein Abwertung des Medialen
zugunsten einer angeblichen im wörtlichen Sinne 'un-mittel-baren'
Erfahrung. Diese Kritik beruft sich in Wahrheit auf ein höheres, göttliches
Medium. Aber nicht die Verabsolutierung eines Mediums, sondern die Erfahrung
der Medien als (verwirklichte) Medien im Medium des Möglich-seins
erlaubt uns die Struktur des Platonischen Höhlengleichnisses zu verlassen.
Eine
Medienethik, die vom zugleich medialen und kontingenten Sein des Menschen
ausgeht, ist sich der notwendigen aber immer prekären Suche nach der
- Aristotelisch gesprochen - Mitte oder nach einem passenden Medium in
einer durchaus komplexen in unterschiedlichen Medien entworfenen Realität
bewußt. Wenn Norbert Bolz, Luhmann folgend, im Namen der Komplexität
die Ethik als Orientierungsinstrument ablehnt und sich stattdessen dem
Design verschreibt, dann schüttet er das Kind mit dem Bade aus (Bolz
1997).
Denn
eine komplexe Realität erfordert auch ein komplexes Design und eine
komplexe Ethik.
Und
ferner: Werkzeudesign ist, wie Terry Winograd und Fernando Flores
trefflich bemerken, zugleich Lebensdesign:
"in
designing tools we are designing ways of being"
(Winograd/Flores
1986, S. xi).
Literatur
Blumenberg,
H.: Höhlenausgänge, Frankfurt/M. 1989
Bolz,
N.: Die Sinngesellschaft, Düsseldorf 1997.
Capurro,
R.: Leben im Informationszeitalter, Berlin 1995.
Cicero:
De natura deorum, Stuttgart 1995.
Kant,
I.: Kritik der Urteilskraaft, Frankfurt/M. 1974.
Schmidt,
S.J.: Platons Höhle - Ein philosophischer 'Betriebsunfall'? In: M.
Fehr,
C. Krümmel, M. Müller, Hrsg.: Platons Höhle. Das Museum
und die elektronischen Medien. Köln 1995, S. 36-56.
Zimmerli,
W. Chr.: Auf dem Weg zur mediengesteuerten Gesellschaft. In: H.A. Koch,
A. Krup Ebert Hrsg.: Welt der Information, Stuttgart 1990, S. 204-212.
Winograd,
T., Flores, F.: Understanding Computers and Cognition, New Jersey 1986
(dt. Erkenntnis Maschinen Verstehen, Berlin 1989)
Letzte
Änderung: 27. Mai 2000
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