Beitrag zum Workshop: "Prospektive Verantwortung Teil II: Herausforderungen durch das 
Internet". Veranstalter: Karlsruher Forum Ethik in Recht und Technik e.V. und ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, ZKM, 16.-17. November 2000.  

Dieser Beitrag erschien in der Internet-Zeitschrift für Rechtsinformatik JurPC: Aufsätze August 2001, Hrsg. Prof. Dr. M. Herberger, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Lehrstuhl für Rechtsinformatik. 
 

 
 
 

STRUKTURWANDEL DER MEDIALEN ÖFFENTLICHKEIT

Wird das Medienethos ausgehöhlt?
 
Rafael Capurro
  
 
 
  

Inhalt 

 

1. Ausgangsbeobachtungen 
2. Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit 
3. Die Debatte um die Eckwerte eines künftigen Weltinformationsethos  

Literaturhinweise 
 

 

 
 

Kurzfassung 

Die Massenmedien, so die Ausgangsbeobachtung, haben ein ambivalentes Verhältnis zum Internet. Während vor etwa einem Jahr die Berichte über das Internet in den Massenmedien vorwiegend negativ waren, lässt sich in letzter Zeit eine Trendwende feststellen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die hierarchische Struktur 'Ein Sender viele Empfänger' durch das Internet insofern grundsätzlich in Frage gestellt ist, als jeder Empfänger zugleich ein Sender werden kann. Darauf reagieren die Massemedien mit Internet-Angeboten, bei denen eine stärkere Interaktion gegeben ist. Die Macht des Senders bleibt aber dabei letztlich unangetastet. Damit stellt sich die Frage, inwiefern das herkömmliche Medienethos, also die tatsächlichen Strukturen, die das zwischenmenschliche massenmediale Verhältnis bisher prägten, durch das Internet ausgehöhlt werden.  

Aufgabe der Ethik ist es, über die Begründung von Ethos bzw. Moral nach- und vorzudenken. Ein Strukturwandel der Öffentlichkeit zeichnet sich ab, der nicht weniger radikal ist, als der Wandel von einer oralen zu einer Schriftkultur oder von einer Printkultur zur heutigen noch herrschenden Kultur der audiovisuellen Massenmedien. Angesichts der Globalität der Weltvernetzung wird die Frage nach einem Weltinformationsethos gestellt, bei der nicht mehr nur um die Verantwortung der Sender-Oligopole und ihrer Mitarbeiter, die Journalisten, geht, sondern um eine komplexe weltweite Struktur, in der die Rollen Sender/Empfänger austauschbar sind.  

Hierbei geht es weniger um die Kodifizierung einer neuen Informationsmoral, als vielmehr um die Ausbildung einer solchen Moral, in welcher, so meine Vermutung, der Stellenwert der bisherigen Oligopole abgeschwächt ist. Die unterschiedlichen moralischen Traditionen lassen sich weniger durch universale Imperative als durch situationsbezogene Desiderative in Einklang bringen. Jenseits einer Ethik des Ge- oder Verbots, tritt eine Ethik des Angebots ein. Das alte Ethos der Massenmedien des 20. Jahrhunderts wird in der Tat ausgehölt. Es ist jetzt unsere Aufgabe, an einem veränderten, durch die Weltvernetzung geprägten Weltinformationsethos aktiv mitzuarbeiten.

 
 
 
 
  
 
 
1. Ausgangsbeobachtungen
 

Internet = Kinderpornographie + Rechtsradikalismus. So lautet eine übliche Gleichung in den Skandalberichterstattungen der Massenmedien. Zugleich setzt sich der Siegeszug der globalen Vernetzung in allen Lebensbereichen fort. Das wird in den Massenmedien auch nicht verschwiegen. Dennoch, die Warnrufe überwiegen - zumindest bis vor kurzem. 

Die Journalisten nehmen, so scheint es, ihre Wächterrolle ernst. Aber der Schein trügt. Da ist zum Beispiel die zunehmende Verflechtung der Massenmedien mit dem Internet, wie die angestrebte Fusion von AOL und Time Warner zeigt. Wie soll jemand vom anderen Lager kritisch berichten, wenn beide im selben Boot sitzen? Der Generalsekretär der International Federation of Journalists (IJF), Aidan White, befürchtet sogar durch diese Fusion eine "Bedrohung demokratischer Werte und der freien Meinungsäußerung" (White 2000). Regiert wird der neue Koloss vom AOL-Chef Steve Case und dem chief operating officer Robert Pittman. CNN-Gründer Ted Turner, der ein Medienimperium besitzt und mit zehn Prozent der größte Anteilseigner von Time Warner ist, soll angeblich 'nur' Vizevorstandsvorsitzender des fusionierten Unternehmens sein. AOL hält 55 Prozent des neuen Konzerns, Time Warner nur 45 Prozent. Ob die amerikanische Kartellbehörde  sich gegen den Deal stellt, ist noch offen (Hell 2000). AOL vertreibt seit Juni 2000 einen TV-Dienst (AOLTV) gegen eine monatliche Gebühr von umgerechnet 30 Mark für Mitglieder und 44 Mark für alle Übrigen. AOLTV kann zunächst in Phoenix, Sacramento und Baltimore empfangen werden. 

War bis vor gut einem Jahr die Haltung der Massenmedien in Deutschland gegenüber dem Internet, nach meiner Beobachtung, kritisch bis feindlich eingestellt, so ist in letzter Zeit eine Wende festzustellen. Kaum eine Fernsehsendung, die nicht den Hinweis enthält: 'Weitere Informationen sowie chat-Möglichkeit finden Sie in unserer Website'. Der bisher vorwiegend passive Fernsehzuschauer wird dazu animiert, sich an den Sendungen aktiv zu beteiligen, zum Beispiel in Form eines Anrufs oder sogar, wie bei Big Brother, einer Beeinflussung des Geschehens mittels seiner/ihrer Wahlstimme. Sind also die Massenmedien lernfähig? Mutieren sie sogar, unter dem Einfluß der digitalen Vernetzung, zu Internet-Portalen? Mein Eindruck ist, dass sie nach einer Defensivphase jetzt in die Offensive gehen, nach dem Motto: 'Wir werden mit dem Internet auch fertig', oder auch: 'Umarme deinen Feind, wenn du ihn nicht besiegen kannst'. Wie eine solche Umarmung aussehen kann, zeigt zuletzt die Nachricht, dass "der Medienkonzern Bertelsmann nach dem Netz-Guerillero Napster greift" (Kegel 2000). (Napster ist eine Software, die den Musikfans erlaubt, Musikdateien auszutauschen und dadurch das Urheberrecht zu umgehen.) Mit diesem großen Coup steht aber Bertelsmann, wie die FAZ ebenfalls berichtet, "einen Schritt vor dem Abgrund", denn wer soll den Musikanten verbieten, ihre Eigentumsrechte unter Umgehung des Hauses Bertelsmann auszuüben und so die fetten Gewinne nicht dem Vermittler, sondern sich selbst zuzubilligen? (Kaube 2000)  

Was dem Musikproduzenten recht ist, soll dem Wissensproduzenten auch billig sein. Die Verlage können inzwischen auch ein Lied davon singen. Stephen King machte mit "Riding the Bullet" und "The Plant" einen Anfang. Der Verlag Simon & Schuster war verständlicherweise nicht begeistert. Die spanische Prisa-Gruppe bietet seit kurzem den 280 Seiten umfassenden Roman "El oro del rey" (Das Gold des Königs) des Schriftstellers Arturo Pérez-Reverte ausschließlich im Internet und zwar zum Preis von 500 Peseten (sechs Mark), ein Fünftel der Druckausgabe. Der Autor hatte dem Verlag folgende Bedingungen gestellt: Keine Werbung in den Internet-Seiten, niedriger Preis und eine baldige Printversion. "Im übrigen", so der Autor bei der Präsentation des Projekts, "freue er sich, wenn möglichst viele Leute seine Bücher läsen. Und hätten sie kein Geld, so empfehle er Raubkopien. Die Konzernspitze am Tisch bewahrte auch bei diesen Worten Haltung." (Ingenday 2000) 

In diesen Tagen startet der französische Internet-Sender CanalWeb seinen Ableger in Deutschland. Michael Kläsgen berichtet in DIE ZEIT unter dem Titel "Fernsehen à la Carte" über diese Konvergenz von Fernsehen und Internet, die nach Ansicht von Jacques Rosselin, der Chef und Gründer des 1998 gestarteten Senders, nur noch eine Frage von zwei bis drei Jahren ist. Technische Voraussetzung für das Abspielen der Programme ist der RealPlayer, aber erst mit der Breitbandtechnik werden die Bilder denen des "alten Fernsehens" qualitativ gleichwertig sein. Internet-TV stellt vor allem eine Konkurrenz für die Videotheken dar. "Deutsche Internet-Kanäle wie TV 1, Cyber Radio TV, Cyberchannel oder Intellivision/IneTV sehen die Konkurrenz aus dem Nachbarland dagegen gelassen. Sie beschränken sich", so Kläsgen, "zum größten Teil auf abrufbare Videos von Pressekonferenzen, Misswahlen und Konzerten. Der Unterschied zum herkömmlichen Fernsehen bleibt gering." Rosselin setzt wiederum auf special interest-Programme sowie auf Interaktivität. Eine solche Individualisierung öffnet wiederum neue Marketingchancen als business-to-consumer-Plattform, was aber für Juliane Schulze, Programmleiterin von CanalWeb Deutschland "moralische Bedenken" hervorruft: "Web-TV ist nämlich auch das Einfallstor für Product-Placement und für pseudoredaktionelle Aufbereitung positiver Unternehmensnachrichten." (Kläsgen 2000)  

Giga, eine fünfstündige tägliche Live Show der NBC-Europe-Sendung, ging als "die erste gelungene Verbindung von Fernsehen und Internet", bei der, so war es in DIE ZEIT zu lesen, "die Prophezeiung der Medientheoretiker" sich erfüllen soll, "dass das TV dabei ist, zum Nebenmedium zu werden." Das Rezept? "Die Zuschauer - oder User - " (man achte auf die Änderung des Ausdrucks!), werden übers Internet "in die Sendung eingebunden und bestreiten einen Großteil des Programms." (Drösser 2000) Aus der Verbindung von Fernsehen und Internet entsteht eine interaktive Show. 

Entscheidend ist aber, dass der Internet-Besucher nicht zum Konkurrenz-Sender mutiert. Allein, die Möglichkeit einer solchen Mutation ist für die herkömmliche Struktur der Massenmedien sowie für ihre interaktiven Varianten letztlich tödlich. Eine solche Möglichkeit ist aber mit dem Internet gegeben. Mit anderen Worten, der Kampf um die Aufmerksamkeit der Besucher ist voll entfacht und die Zeit der bequemen oder unbequemen Oligopole, sei es die der öffentlich-rechtlichen oder der privaten Sender ist wohl endgültig vorbei, man möge sie noch mit Interaktivitätsgadgets kaschieren wie man will.  

Der nahende Tod des massenmedialen Zuschauers herkömmlicher Art bedeutet aber nicht zugleich das unmittelbare Aussterben des Interesses an einer passiven Aufnahme - das Wort passiv will in diesem Zusammenhang lediglich die Rolle des Empfängers ausdrücken - sagen wir einer Nachrichtensendung, eines Films, eines Konzerts oder einer Sportübertragung. Aber das Umfeld, in dem solche Massensendungen und ihre massenhafter Empfang in Zukunft stattfinden werden, wird auch das Sein des bisherigen Zuschauers verändern. Aus einer Kultur der Massenmedien wird allmählich eine Individual- und Gruppenkultur, aus dem broadcasting ein narrowcasting, aus Zuschauern werden Besucher, die sich ebenfalls ein Zuhause einrichten können, um selber Gastgeber zu sein. Eine vollständige Symmetrie ist aber allein schon wegen der Professionalität nicht möglich. Dennoch übertrifft die Vielfalt von professionellen und halb-professionellen Auftritten im Internet exponentiell das heutige Angebot der Massenmedien. Entscheidend ist, dass jeder Empfänger im Prinzip zum Sender werden kann, und zwar ohne unüberwindbare technische und ökonomische Hürden. Das ist die große Medienrevolution gegenüber der Massenmediengesellschaft des 20. Jahrhunderts. Somit besteht die Herausforderung der kommenden Gesellschaft nicht darin, wie oft gesagt wird, dass wir in einem unentwirrbaren Labyrinth von Informationsangeboten oder, noch despektiver ausgedrückt, mitten im Informationsmüll versunken sind. Das waren wir schon in den Labyrinthen unserer Bibliotheken und im pausenlosen Angebot der Massenmedien. Die große Herausforderung besteht in der Möglichkeit des bisherigen Empfängers, als Sender aufzutreten. 

Was kommt nach der Massenmediengesellschaft? Antwort: Eine message society, eine Mitteilungsgesellschaft, in der die Wissens- und Informationsmonopolisten des 20. Jahrhunderts zwar nicht verschwinden aber eine bescheidenere Rolle spielen. Wenn sie sich etwas Aufmerksamkeit erhalten wollen, müssen sie sich auf einen mündigen Besucher einlassen, der sich wesentlich vom bisherigen bloßen mündigen Zuschauer unterscheidet. Man kann mit Recht sagen, dass schwächere Oligopole zwar nicht notwendigerweise mündigere Besucher erzeugen, aber sie eröffnen die Chance der Lockerung der Abhängigkeit und somit einer höheren Selbständigkeit. Paradoxerweise müssten eigentlich die auf Mündigkeit hin orientierten Massenmedien froh darüber sein, dass sie einen Teil ihrer Macht verlieren, denn das ist ihre eigentliche Chance, sich und dem Besucher zu zeigen, dass, trotz der zahllosen Konkurrenz, Qualität zählt, und diese sogar mit freiwilliger Interaktion belohnt wird, auch mit dem Ergebnis, dass aufgrund solcher Interaktionen zwischen den Besuchern neue Synergien entstehen, bei denen der ursprüngliche Gastgeber nur eine Nebenrolle spielt. Der Widerstand gegen die Verwandlung von Information in Infotainment und von Wissensvermittlung in Edutainment, wozu die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten einen Beitrag leisten sollten, ist damit nicht obsolet, sondern er steht in einem breiteren Kontext, bei dem neue Allianzen möglich sind und die privaten Konkurrenten weniger arrogant und selbstsicher auftreten können. 

Das gesellschaftliche Leben außerhalb der Medien bietet für eine Vielfalt möglicher sozialer Interaktionen im Netz unterschiedliche Musterbeispiele - so wie das Kaffeehaus zum Internetkaffee mutiert -, die sich jetzt, zumindest teilweise und, wie bei jedem Medium, mit spezifischen Gewinnen und Verlusten in die digitale Weltvernetzung übertragen lassen. Der dabei so oft beklagte Mangel an körperlicher Sinnlichkeit einer face-to-face Begegnung ist nicht nur dem Internet eigen. Sie trat schon in verschiedenen Formen bei der technischen Zerstückelung menschlicher Mitteilungsmodi hervor: Sprache ohne Bild, Bild und Sprache ohne Tastsinn und Geruch usw. Auch das face-to-face leidet bekanntlich unter den Begrenzungen von Raum und Zeit. Was uns die Kommunikationstechnik lehrt, ist unter anderem, dass unser Sein-bei-den-anderen sich in einer Vielfalt von Modi ereignen kann und dass dabei der existentielle Mangel am Mit-sein auf der einen oder anderen Weise zum Vorschein kommt. Deshalb kommunizieren wir ja, nämlich da wir mitteilungsbedürftig sind. 

Wird durch das Internet das journalistische Medien-Ethos ausgehöhlt? Oder ist es vielleicht so, dass die Monopolstellungen des Journalismus als unabhängige vierte Gewalt ins Wanken gerät? Wenn dem so ist, dann bedeutet diese Entwicklung zugleich eine Chance für einen Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit. Zur Diskussion steht, wie in einem Medium wie dem Internet mit einer dezentralen und interaktiven Struktur, die herkömmliche hierarchische Struktur der Massenmedien und die von ihnen hergestellte Öffentlichkeit grundlegend verändert wird (Capurro 2000 und 2000b). 

Auf einer vom Nachrichtenmagazin  DER SPIEGEL und der Universität Leipzig organisierten Podiumsdiskussion versuchten Redakteure von Spiegel Online,  n-tv online und des MDR  am 19. April 2000 eine Standortbestimmung ihrer Angebote. Der Vorschlag, einen Verhaltenscodex zur Berufsethik von Netzjournalisten zu entwerfen, stieß dabei allerdigns auf Skepsis. Leo Krause beschreibt in seinem Bericht über diese Podiumsdiskussion die Verquickung von Massenmedien und dem Internet bei den privaten Anbietern folgendermaßen: "Ein Problem, das ein werbefreies öffentlich-rechtliches Online-Angebot nicht hat, beschäftigte dagegen die privaten Anbieter: Die Verquickung von redaktionellem Teil, Werbung und ECommerce." Für eine "strikte Trennung zwischen Geschäft und Redaktion" sei es bereits "zu spät", sagte der stellvertretende SPIEGEL-Chefredakteur Martin Doerry. Einen Verhaltenscodex für Netzjournalisten hält er für nicht mehr durchsetzbar. Er könne sich maximal vorstellen, dass Wirtschaftsjournalisten bestimmte Aktien nie handeln dürfen, so Doerry. Moderator Michael Haller hatte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift  Message das Thema Verhaltenscodex wieder in die Diskussion gebracht. Sabine Müller von n-tv online sagte, es sei ein Qualitätsmerkmal für guten Onlinejournalismus, selbst für eine klare Trennung zwischen Information und Handel zu sorgen. Sie kritisierte, dass sich Informationsanbieter mit auf E-Commerce ausgerichteten Unternehmen zusammentun. Die Spiegelredakteure ließen es sich in diesem Zusamenhang nicht nehmen, auf das breitgefächerte Angebot von Focus-Online hinzuweisen." (Krause 2000) Der Online-Journalismus ist auf dem Vormarsch. So berichtet DER SPIEGEL: "Im Netz vereinigt sich, was Medien zu Medien macht: Ton, Bild und das geschriebene Wort. Es verzweigt sich immer feiner, erreicht täglich mehr und mehr Menschen." (Bredow 1999) Und dennoch sind die News-Seiten (noch) nicht profitabel.  

Mit dem Titel: "Die Republik und ihre Journalisten" veröffentlichte DIE ZEIT die Diskussion zwischen jungen und altgedienten Journalisten über das eigene Wirken sowie über die Zukunft der Medien aus Anlaß einer Einladung des WDR und der ZEIT. Gastgeber war Bundespräsident Johannes Rau. Zu der Bemerkung von Löwenthal, dass "zu viele Journalisten sich der Gesinnungsethik verschrieben haben und nicht mehr der Verantwortungsethik" antwortet Holger Brandenbusch: "Hier wird ein journalistisches Ethos hochgehalten, das heute so nicht mehr anzutreffen ist. Es gibt Zeitdruck, es gibt neue Techniken, wir müssen unter ganz anderen Bedingungen arbeiten. Das Internet wird die Medien weiter revolutionieren, immer mehr Informationen werden immer schneller zugänglich sein, wir Journalisten als Vermittler werden zum Teil überflüssig." Und Roger de Weck bemerkt: "Die Medien befassen sich mehr mit sich selber und üben so eine gegenseitige Kontrolle aus. Das Internet wird einer breiteren Öffentlichkeit den Zugang zu den Originalquellen eröffnen und dadurch vor allem die Qualitätsmedien fordern und fördern. Und die Medien sind beinahe die einzige Kraft, die sich in diesem Land des Reformstaus für Reformen einsetze." (Hrycyk 2000) Vielleicht bringen die Massenmedien sogar das Künststück hervor, sich selbst zu reformieren. Das wäre eine wichtige Reform, zumal von Seiten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. 

Schließlich möchte ich auf eine interessante Symbiose zwischen Zeitung und Internet hinweisen. Die Website Perlentaucher stellt täglich ab 9 Uhr morgens eine Übersicht über die Kulturteile der überregionalen deutschsprachigen Zeitungen ins Netz (Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, tageszeitung, Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT). Grundlage sind Buchrezensionen, aber die Tendenz geht in Richtung Feuilletonkritik. Der Perlentaucher fungiert dabei als eine Art Moderator in einem dem Netz eigenen, an die gesprochene Rede anmutenden freien Stil. "Was folgt daraus?" fragt sich Gustav Seibt in DIE ZEIT, und er antwortet: "Mindestens ein erfreulicher medientheoretischer Befund: Das Buch und das Netz als Schriftmedien tragen für einmal den Sieg davon über das Bildmedium Fernsehen. Wenn die Leute mehr klicken als zappen, werden sie auch mehr lesen als gucken." (Seibt 2000) 

 

2. Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit

 
War die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts wesentlich durch die Massenmedien geprägt und konnten diese - dank ihrer Bändigung durch demokratische Rechtsnormen von der Gefahr der totalitären Inbesitznahme befreit - in den Dienst der Demokratie eintreten, stellt sich im 21. Jahrhundert die Frage, ob wir in den unterschiedlichen Gesellschaften mit wechselnden Interessen, Geschichten und Bedürfnissen, die Chancen der Weltvernetzung wahrnehmen und die Gefahren des Totalitären meiden. Unter den veränderten Bedingungen verlieren die Massenmedien Teile ihrer Monopole und werden selbst zum Objekt öffentlicher Beobachtung. Das Internet wird zur Umwelt des Systems Massenmedien und umgekehrt. Das ist für die verwöhnten Monopolisten eine ungewöhnliche Situation. Sie reagieren mit Warnungen und Skandalberichterstattungen. Ein verändertes Medienethos tut not, das den Entwicklungen zu Beginn des neuen Jahrhunderts Rechnung trägt. Aufgabe der Medienethik ist nicht, ein solches Medienethos aus der Schublade zu ziehen, sondern diejenigen Fragen auszuarbeiten, die durch die Praxis selbst eine bestimmte Ausformung bekommen und zur lebendigen Wirklichkeit werden. Dem moralischen Fundamentalismus, der nur die Kraft des Faktischen kennt, steht dem ethischen Rigorismus entgegen, der ein überzogenes Vertrauen in die Kraft theoretischer Diskurse setzt, alle Differenzen und Präferenzen als rational lösbar einschätzt und sogar deren Einebnung ethisch fordert. Diese Spielart des Rationalismus - wie wir sie zum Beispiel in der lange Zeit populären Diskursethik vorfinden - ist aber letztlich nicht nur höchst inhuman, sondern ihre Homogeneisierungstendenz entlarvt sich abermals als eine zwar in vielen Situationen legitim anzustrebende Haltung, die aber die Praxis dem Diktat der Theorie und ihrer Ideale opfert (Lay 2000: 272ff). 

Die antike orale Kultur beruhte auf dem Vorrang der Freiheit der Rede (parrhesia) (freedom of speech). Die europäische Neuzeit entwickelte auf der Basis der Drucktechnik und der Aufklärung das Prinzip der Pressefreiheit (freedom of the press) oder, weiter gefaßt, wie bei Immanuel Kant, das Prinzip der Zensurfreiheit des gedruckten Wortes im Rahmen einer relativ autonomen "Gelehrtenrepublik", welche aber die Menschheit in ihrem vorurteilsfreien Wissensdrang repräsentieren sollte. In Zukunft steht die Frage nach der Freiheit des Zugangs (freedom of access) zum digitalen weltumspannenden Netz im Vordergrund. Für Jeremy Rifkin ist access das beinah magische Wort, das die herkömmliche Ökonomie des Marktes umwälzt (Rifkin 2000). 

Die potentielle universelle Verbreitung des gedruckten Wortes sowie seine Fixierung, die eine kontrollierte Kritik ermöglicht, entsprach den aufklärerischen Idealen einer sich universal wähnenden Vernunft. Dieses Ideal setzte sich vom Medium der Oralität ab. Mit dieser Absetzung kehrte die Neuzeit den antiken Begriff der Öffentlichkeit um. In seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?, in der Immanuel Kant das Medium Buch aufklärerisch verklärt, faßt er die Antwort auf die gestellte Frage mit den bekannten Sokratisch anmutenden Worten: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen." (Kant, Beantwortung, AA VIII, A 481). Einige Zeilen weiter sagt er noch ausdrücklicher, wie dieses "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen" zu verstehen ist, nämlich: "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich Diät beurteilt u.s.w." (Kant, Beantwortung, a.a.O. A 482) In der Schrift Was heißt: Sich im denken orientieren? (Kant 1923, AA VIII) betont Kant, dass die Gedankenfreiheit unlösbar mit der Freiheit "seine Gedanken öffentlich mitzutheilen" verbunden ist. Die geistige Unabhängigkeit besteht für Kant nicht darin, dass die Gedanken, "wie nächtliche Schatten" vorbei fliegen und "frei sind", so dass "kein Jäger sie erschießen" kann, wie es bei Joseph von Eichendorff heißt. Wenn die geistige Unabhängigkeit durch äußere Zwänge eingeschränkt oder sogar bedroht ist, dann sucht Kant keineswegs einen Trost im stillen Kämmerlein der eigenen Subjektivität oder hofft, dass der Geist auf wundersame Weise vorbei fliegt, sondern er fordert die relative Unabhängigkeit eines äußeren Mediums, der "Schriften". Diese Forderung hat einen tieferen Sinn, nämlich den, dass der Ursprung der "Gedanken" nicht im isolierten Denken, sondern im Gespräch zu suchen ist. Will dieses Gespräch sich prinzipiell an jedermann richten, also universal sein, so muss es sich mitteilen lassen können, denn, was wir denken, ist immer das, was wir mit anderen denken und dies läßt sich nur in einem gemeinsamen Medium vollziehen. 

Im Licht der Geschichte der letzten zweihundert Jahre zieht aber Jürgen Habermas eine kritische Bilanz des Kantischen Programms. Kant rechnete nämlich mit der Möglichkeit einer öffentlichen freien Diskussion über das Verhältnis zwischen den Verfassungsprinzipien und den "lichtscheuen" Absichten der Regierungen. Dabei rechnete er, so Habermas, "natürlich noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarisch geprägten, Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum einer vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird." (Habermas 1995: 11) Kant dachte an die Öffentlichkeit der "Gelehrten". Was er nicht voraussehen konnte, war "den Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten (sic), von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit." (Habermas a.a.O) Kant konnte also nicht mit den Massenmedien rechnen. Das Internet ist aber weder Kants "Leserwelt" der Gelehrten noch Habermas' transparente Gesellschaft der rational face-to-face Argumentierenden (Capurro 2000a, 1996a) 

Das 20. Jahrhundert kannte bis in die 90er Jahre nur Medien für die Individual- und die Massenkommunikation. Diese Trennung kommt deutlich in Vilém Flussers "Kommunikologie" zum Vorschein (Flusser 1996). Flusser unterscheidet zwischen "diskursiven Medien", wie zum Beispiel das Fernsehen, die der Verteilung von Information dienen und im wesentlichen eine hierarchische one-to-many-Struktur besitzen, und den "dialogischen Medien", wie zum Beispiel das Telefon, wodurch neue Information geschaffen wird, obgleich es natürlich auch vortechnische Medien wie zum Beispiel Kaffeehäuser und politische Parteien gab und noch gibt, in denen neue Information ensteht. Flusser befürchtete, dass die Massenmedien die verschiedenen dialogischen Medien unter ihre Herrschaft nehmen würden. Er rechnete nicht mit der Möglichkeit eines technischen Mediums wie dem Internet, das zugleich dialogische und diskursive "Dispositive" (M. Foucault) vereinte. Ironischerweise sind es jetzt die Massenmedien, die den Verlust ihrer Monopolstellung bei der Verbreitung von Information befürchten. Denn nach der Internet-Revolution sind die Medien, wie Manfred Faßler mit Recht betont, und allem voran die Massenmedien, nicht mehr was sie waren, und sie werden es nie mehr sein (Faßler 2000). 
 
 

3. Die Debatte um die Eckwerte eines künftigen Weltinformationsethos
 

In der Vorbemerkung zu seinem Buch Mündigkeit im Mediensystem schreibt Peter Voß: "Denn was immer uns das Multimedia-Zeitalter beschert - bei dieser Dualität von Machern und ihrem Publikum wird es bleiben." (Voß 1998: 10). Dem ist entschieden zu widersprechen. Das Internet sprengt gerade diese Dualität von Machern und Publikum und mit ihr die moderne Asymmetrie von Sendern und Empfängern. Dementsprechend ändern sich nicht nur die Koordinaten für das Medienethos, etwa im Sinne der Verantwortung der Macher gegenüber dem Publikum, sondern auch die der ethischen Reflexion über dieses Ethos. Die Frage nach "der" Verantwortung "des" Senders gegenüber "den" Empfängern wird zur Frage nach "den" Verantwortungen der Sender/Empfänger gegenüber einer komplexen Weltöffentlichkeit. Der Rahmen dieser Verantwortungen ist dann nicht mehr allein durch ein journalistisches Ethos gegeben, sondern er betrifft verschiedene Sender-Moralen in einem Medium. Ein Weltinformationsethos kann sich dabei auf die Menschenrechte als das gemeinsame Dach einer minimalistischen Moral berufen, aber dies ist nur der Ausgangspunkt für das Aushandeln der Differenzen, d.h. der unterschiedlichen Rücksichtsnahmen und Interpretationen. 

Voß fragt sich, ob es eine besondere Medienethik und Medienmoral gibt und ob sie primär ein Problem der "Macher" ist. Dazu ist aber zu sagen, dass der Unterschied zwischen Ethik und Moral, also zwischen der Aufgabe der Reflexion (Ethik) über gelebte Normen (Moral), ein sehr entscheidender, zunächst von Aristoteles pointiert ausgearbeiteter Unterschied ist. Bei Voß werden aber beide Begriffe undifferenziert - "die Frage nach Ethik und Moral der Medien" (Voß 1998: 10) - gestellt und als Synonyme gebraucht. Gleichwohl ist Voß' Buch ein Beitrag zur Medienethik, sofern nämlich der Verfasser über verschiedene theoretische Begründungen einer Medienmoral fragt, anstatt einfach von einer gegebenen Moral auszugehen. (Natürlich ist die Aufgabe der Reflexion über gelebte Normen nicht primär Sache der Medienmacher als solche, auch wenn diese über Ihr Tun moralisch, d.h.mit Blick auf vorgegebene gesellschaftliche Normen, argumentieren und reflektieren sollten, ohne diese aber notwendigerweise selbst in Frage zu stellen. Eine solche Infragestellung ist in der Praxis meistens weder nötig noch möglich. Dies ist Aufgabe der Ethik als wissenschafltiche Disziplin.) 

Voß fragt sich, ferner, welche Rolle der Begriff der "vierten Gewalt" spielt. Diese Frage ist jetzt in Zusammenhang mit der Weltvernetzung neu und anders zu stellen, als dies in der Mediengesellschaft des 20. Jahrhunderts der Fall war. Legislative, Judikative und Exekutive sind im Weltmaßstab anders möglich, als dies bei Nationalstaaten oder bei Staatenbündnissen der Fall ist. Insofern ist der Begriff einer "vierten Gewalt" teilweise obsolet. Nicht obsolet ist aber der Gedanke, dass die neue mediale Öffentlichkeit eine dem internationalen Kapital vergleichbare Weltgewalt ist. Wenn wir außerdem Politik und Recht als internationale oder transnationale Gewalten verstehen, hätten wir das Weltgeviert: Information - Kapital - Politik - Recht als Grundstruktur der Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts, wobei, das globale und digitale Verhältnis von Kapital und Information den Leitfaden für das Verständnis der lokalen Veränderungen und Entscheidungen in Politik und Recht geben. Diese relative Abhängigkeit von Politik und Recht - auch und gerade wenn sie sich als Weltpolitik und internationales Recht präsentieren - von Weltinformation und -kapital ist zwar nicht neu, aber die neuen digitalen Strukturen stellen diese Mächte vor anderen Herausforderungen, als dies z.B. bei den Massenmediengesellschaften des 20. Jahrhunderts der Fall war. Während im lokalen Maßstab Recht und Politik die bestimmenden Mächte bleiben, müssen sie zugleich auf die Einschränkung ihrer Macht durch globale und dezentrale Informationsnetze Rücksicht nehmen. 

Hier liegt auch m.E. die Stärke der Argumentation eines Hans Küng, wenn er ein "Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft" fordert (Küng 1998). Wir brauchen so etwas wie eine soziale Informationswirtschaft, die auf die Bedürfnisse der Schwächeren in der kommenden Weltvernetzung aktiv Rücksicht nimmt. Die Stellung der Moral gegenüber dem Recht steht im Kontext einer vernetzten Weltgesellschaft in einer paradoxerweise stärkeren Position, sofern diese nicht durch eine Weltregierung eingenommen wird und auch nicht eingenommen werden sollte. Zum letzteren raten uns alle misslungenen Versuche der Weltreiche mit ihren katastrophalen Auswirkungen. Eine solche universal-moralische Sichtweise läßt sich zumindest teilweise an einer Institution, wie etwa den Vereinten Nationen, und dabei wiederum bei unterschiedlichen Organisationen (wie z.B. UNESCO, WTO, WIPO, ITU) binden, so dass sie einen möglichen politischen Rahmen für das Aushandeln der Differenzen (Meinungen, Interessen, Traditionen) darstellen kann. Zugleich spielen immer mehr und gerade im Medium der Weltvernetzung die Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) eine immer wichtigere Rolle für den dynamischen Prozeß der Bildung eines Weltinformationsethos 

Von der Netiquette über die Wahlen für die ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) bis hin zu Organisationen wie The Internet Society und dem W3-Consortium bilden sich Internet-governance-Strukturen, die sich gegenseitig ein- und verschränken. Die globalen Differenzen im Weltgeviert von Kapital, Information, Recht und Politik spiegeln sich darin wider. Das Netz ist eine Öffentlichkeit, die sie nur teilweise auszufüllen und zu bestimmen vermögen. Dies bietet die Garantie dafür, dass sie die Spannungen ihrer jeweiligen Gewaltansprüche nicht überziehen. In diesem Sinne stellt das Netz eine Art kategorischen Imperativ dar: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns sich mit einer vernetzten Weltöffentlichkeit verträgt. Allerdings ist eine Ethik des Imperativs in Zusammenhang mit einer Ethik des Angebots zu sehen, worauf ich später zum Sprechen komme. 

Während die Wirtschaft naturgemäß so wenig staatliche oder politische Regulierung wie möglich haben will, richtet sich das politische Augenmerk auf die unterschiedlichen Differenzen, von denen das oft beschworene digital divide, also die Kluft zwischen denen, die einen Zugang zum Internet haben, und denen, die ihn noch nicht haben, die offenkundigste ist. Andere strittige Differenzen betreffen die gesendeten Inhalte und schließlich auch die unterschiedliche kulturelle Wahrnehmung zwischen dem, was schutzbedürftig ist und was nicht. Die Weltinformationsgesellschaft des 21. Jahhunderts befindet sich dabei in einem Spagat, wovon z.B. die Enthüllungen der Privatsphäre oder die der politischen und ökonomischen Skandale durch die Massenmedien des 20. Jahrhunderts uns einen Vorgeschmack gaben. Sie entfaltet sich in einem Medium, wo im Prinzip nicht nur jeder, wie bei den bisherigen Massenmedien, alles erfahren kann, sondern wo jeder zugleich allen etwas mitteilen kann. 

Die Kehrseite dieses medialen Sendungsuniversalismus ist die Angst des Senders vor dem Missbrauch seines digitalisierten Auftritts. Wer Information enthüllt und sich dabei nicht in der Position eines starken quasi-monopolistischen Senders befindet, muß befürchten, dass der Empfänger seine Daten für die Zwecke seiner Sendung wiederum manipuliert, verformt und für Zwecke ge- oder missbraucht, die dem Sender nicht genehm sind. Da aber diese Situation nur teilweise regulierbar ist, da es nicht möglich ist, a priori alle Möglichkeiten des Datenmissbrauchs vorauszusagen und die Sendungen in einem prinzipiell offenen und dezentralen Netz zu kontrollieren, stellt sich folgendes Informationsparadoxon heraus: Wer in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts als Sender auftritt, will zugleich Information enthüllen und verhüllen, will sich mitteilen und sich vor den anderen schützen. Die Lösung eines solchen Spagats heißt: Informationsautonomie. Informationsautonomie bedeutet nicht, wie Rainer Kuhlen mit Recht betont (Kuhlen 1999), Wissensautonomie, d.h. der Glaube alles selber zu wissen, sondern in der Lage zu sein, sich der Informationsmittel einer komplexen Medienwelt für die eigenen Zwecke zu bedienen. Sofern aber eine solche Autonomie auf einer Vertrauensbasis beruht, bleibt sie immer relativ, d.h. heteronom. Denn wer Vertrauen sagt, meint zugleich immer Ausbildung zum kritischen Misstrauen, auch und gerade, wenn die Vermittlungsmechanismen nicht mehr nur die Monopolisten von einst, sondern die vielen elektronischen Informationsassistenten sind . Das selbstbestimmte Individuum ist immer schon das selbstbestimmte Individuum und insofern ein mit-geteiltes also ein mit-anderen-geteiltes Selbst, das sich nur in Relation, d.h. in Identität und Differenz zu anderen und deren Mitteilungen oder messages fassen (lassen) kann. 

Ein klassisches Beispiel für den Informationsspagat von Enthüllen und Verhüllen bieten die Veröffentlichung der Lewinsky-Untersuchungen im Internet sowie die unterschiedlichen politischen Gruppierungen, die ihre Botschaften und Aktionen zusätzlich, parallel oder ganz außerhalb der massenmedialen Distributionskanälen verbreiten. "Öffentlichkeit" im Sinne einer allein von den Massenmedien des 20. Jahrhunderts hergestellten Öffentlichkeit ist uns in der Tat, wie Voß zu befürchten scheint, durch das Internet allmählich "abhanden gekommen." (Voß 1998: 10) Der "Großer Bruder" trat aber bisher nur auf in einer vom Monopol der Massenmedien geprägten Gesellschaft nicht selten als Spuk, manchmal aber auch real. Der wiederholte Hinweis auf den Informationsmüll in Zusammenhang mit dem Internet ist so zutreffend und unzutreffend wie die Rede vom Informationsmüll der Massenmedien - die Beispiele sind so zahlreich wie der sprichwörtliche Sand am Meer. Auch die Gutenbergtechnologie produziert bekanntlich Informationsmüll, der seit Jahr und Tag in allen privaten und öffentlichen Bibliotheken dieser Welt sorgsam gesammelt, erschlossen und für Suchenden auch über das Internet zugänglich gemacht wird. Man darf also in der einseitigen Kennzeichnung des Internets als Informationsmüll auch eine abermalige Defensivstrategie der Massenmedien erkennen, die von der Mediokrität ihrer zahllosen Produktionen ablenken will, weil sie sich vor der Konkurrenz fürchtet. Das Internet ist kein "globaler Stammtisch" und auch nicht das Ende dessen, "was wir noch Bildung nennen" (Voß 1998: 10). Gerade der Bildungsbegriff verweist in seinem Wortstamm auf das Formen und Gestalten und steht wort- und ideengeschichtlich in der Abstammungslinie des lateinischen Begriffs informatio, was ursprünglich so viel wie 'etwas eine Gestalt geben' heißt, auch im übertragenen Sinne von Formung der Persönlichkeit, also von Erziehung, Bildung und Unterrichtung (Capurro 1978). Wenn wir uns im digitalen Medium in-formieren und dabei auch dieses Medium aktiv formen, dann bedeutet dies in der Tat eine Transformation dessen, "was wir noch Bildung nennen" sofern dieses nämlich zunächst von der Druckerpresse umgeformt und von den Massenmedien überformt wurde. 

Mündigkeit im Mediensystem? Hat Medienethik eine Chance? Fragt sich Peter Voß (Voß 1998), wobei hier die Frage nach einem Medienethos gemeint ist, denn die medienethische Reflexion ist naturgemäß nur von schwachem und mittelbarem Charakter. Was sich letztlich durchsetzen wird, kann nicht am Schreibtisch des Philosophen oder Wissenschaftlers entschieden werden, auch wenn dieser seinen Anteil an der Gesamtverantwortung übernehmen muß. Die etablierten Massenmedien müssen sich endlich gefallen lassen, dass es ein Medium gibt, das sie relativiert und sie sozusagen mit den eigenen Waffen schlägt. Das führt aber nicht zu einer friedlichen Koexistenz zweier Medien, sondern zu einem neuen sehr komplexen und sehr dynamischen System, in dem nicht von vornherein feststeht, welcher Sender von wem wie lange die Aufmerksamkeit der Empfänger auf sich zieht, die wiederum jederzeit zu Sendern mutieren können. Die knappe Ressource Aufmerksamkeit ist nicht mehr allein und vorwiegend durch die Zuschauerquoten zu messen. Denn die Zuschauer sind zugleich, zumindest potentiell, Programmacher und allemal Besucher. Der Versuch, die Massenmedien durch Interaktivität zu ergänzen und sie so als Internet-kompatibel erscheinen zu lassen, wiederholt nur die herkömmliche Sender-Empfänger-Struktur in abgeschwächter Form. Die Geschäftsbedingungen haben sich aber grundlegend verändert. Damit ist nicht gesagt, dass in naher oder ferner Zukunft das Interesse an einer passiven Aufnahme gänzlich verschwinden wird. Denn es wird natürlich immer Empfänger oder Besucher geben, die sich nicht, aus welchen Gründen auch immer, in Sender oder Gastgeber mutieren wollen oder können. Außerdem ändern sich die Sitten oder mores einer über Jahrzehnte geformten massenmedialen Öffentlichkeit nicht von heute auf morgen, trotz der atemberaubenden Verbreitung des Internet. 

Wir stehen am Anfang einer Entwicklung, und nur eines scheint sich deutlich abzuzeichnen, nämlich dass die mediale Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts sich zunächst graduell, auf längere Sicht aber grundsätzlich von der des 20. Jahrhunderts unterscheiden wird. So zumindest meine Vermutung. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Entwicklung sich in allen Ländern und Regionen der Welt in derselben Geschwindigkeit vollzieht. Welche Auswirkungen sie auf die gewachsenen medienmoralischen Strukturen haben, und in welcher Art von Hybridisierung mit den bisher herrschenden Medien stattfinden wird, läßt sich kaum voraussagen. 

Demgegenüber gilt nicht einem larmoyanten ethischen Relativismus zu frönen, sondern eine wache differenzierte und auf die Wünsche und Ängste des Anderen achtenden Sensibilität zu kultivieren, die in vorsichtiger und stets vorläufiger Weise sich weniger um kodifizierte Soll-Sätze bemüht, als um das Zustandekommen von gelingender zwischenmenschlicher sowohl medialer als auch unmittelbarer face-to-face Interaktion. Deren Maßstäbe aber sind nicht notwendigerweise mit Hilfe rationaler Argumentation und mit dem Ziel eines gemeinsamen Konsenses zu gewinnen, sondern sie entstehen primär aus den jeweiligen individuellen Geschichten und Erfahrungen, die dem einen so dem anderen so Anlässe für verschiedene Präferenzen oder Irritationen geben. Das erfordert eine ethische Reflexion, die weniger auf Imperative und mehr auf Desiderative achtet, die weniger preskriptiv und mehr optativ ist, die sich also weniger vom Sollen als vom Guten leiten läßt. Das Gute ist aber nur in der Brechung des Pluralen, auch und gerade einer vernetzten Pluralität, zu haben. Das Ziel ist weniger der Konsens, als vielmehr die Achtung vor den Differenzen. 

Wenn hier abermals das postmoderne Gespenst des anything goes beschworen wird, dann ist das ein moderner rationalistischer Reflex, der sich vom Schein der Perspektivität ängstigen läßt, ohne aber auf die latente Frage zu achten, die den Kern einer neuen - und wohl alten - Moral ausmacht, nämlich: Möchtest Du...? Ein solches Angebot eilt dem Anderen zur Hilfe, indem es sich zunächst seinem/ihren Wunsch öffnet, bevor es mit einem Ge- oder Verbot sein Handeln und das des Anderen präformiert. Es ist nicht primär darauf gerichtet, ihn als gleichwertigen Partner in einer rationalen Diskussion zuzulassen, um ihn dann mit der Kraft des besseren Arguments vom Gegenteil seiner Meinung zu überzeugen, sondern es zielt auf den Anderen in seiner Sorge, diskutiert nicht mit ihm, sondern fragt ihn danach, und bietet ihm gegebenenfalls etwas an. Wir könnten von einer Ethik des Angebots sprechen, die umfassender und Pluralitäts-freundlicher ist als eine Ethik des Ge-/Verbots. Mir scheint, dass ein universales Medium wie das Internet sich auch im Horizont einer solchen Ethik reflektieren und in-formieren läßt. Ob es dadurch zu einem Weltinformationsethos, das eine Vielfalt von Moralen in sich birgt, tatsächlich kommt, ist eine Frage, die die Reflexion nicht beantworten kann. Sie kann aber eine solche Moral anvisieren, sie also dem Denken und Handeln in der digitalen Weltvernetzung anbieten, zumal denen, die nach einer solchen suchen (Capurro 2000, 1999, 1995). 
 
 

Literaturhinweise
 

Bredow, R. v. (1999): Online Journalismus. "So schnell wie Licht". In: DER SPIEGEL, 33/1999, S. 100-103. 

Capurro, R. (2000): Ethical Challenges of the Information Society in the 21st Century  
- (2000a): Mediale (R-)Evolutionen: Platon, Kant und der Cyberspace   
- (1999): Ich bin ein Weltbürger aus Sinope - Vernetzung als Lebenskunst.    
- (1996a): Informationsethik nach Kant und Habermas.    
- (1995): Leben im Informationszeitalter   
- (1978): Information 

Drösser, Chr. (2000): Das "Giga"-Prinzip. In: DIE ZEIT, 26. Oktober 2000, Nr. 44, S. 43. 

Faßler, M. (2000): Mediale Zukünfte. Auf der Schwelle zu einer neuen Epoche. In: medien praktisch 1/2000, S. 8-12.  

Flusser, V. (1996): Kommunikologie. Mannheim. Schriften, Bd. 4. 

Habermas, J. (1995): Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen Abstand von 200 Jahren. In: Information Philosophie 5, Dezember, S. 5-19.  

Hell, I.: CNN-Chef im Medienkrieg. Mit der Fusion von AOL und Time Warner entsteht der mächtigste Informationskonzern der WElt. Doch Großaktionär Ted Turner möchte sich nicht zur Reserve abschieben lassen. In: DIE ZEIT Nr. 26, 21. Juni 2000, S. 28. 

Hrycyk, J. (2000): Textdokumentation. Die Republik und ihre Journalisten. In: DIE ZEIT, 27. Januar 2000, Nr. 5, S. 13-14. 

Ingenday, P.: Net-Armada. Conquistadores im Netz: eine spanische Verlagsoffensive. In: FAZ, 2. November 2000, Nr. 255, S. 53. 

Kant, I. (1910): Gesammelte Schriften. Hrsg. Preuss. Akademie der Wissenschaften (AA), Berlin 1910 ff. 

Kaube, J. (2000): Napster II. In: FAZ, 2. November 2000, Nr. 255, S. 49. 

Kegel, S. (2000): Napster I. In: FAZ, 2. November 2000, Nr. 255, S. 49. 

Krause, L. (2000): Wohin geht der Online-Journalismus?.  

Küng, H. (1998): Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft. Darmstadt. 

Kuhlen, R. (1999): Die Konsequenzen von Informationsassistenten. Frankfurt a.M. 

Lay, R. (2000): Weisheit für Unweise. Düsseldorf. 

Rifkin, J. (2000): Access. Das Verschwinden des Eigentums. Frankfurt a.M. 

Voß, P. (1998): Mündigkeit im Mediensystem. Hat Medienethik eine Chance? Baden-Baden. 

White, A. (2000): New Media Giant: Dangers to Democracy in Rich-Poor Divide and Threats to Editorial Independence says IFJ. 
 

Das International Center for Information Ethics stellt ein wissenschaftliches Forum für die Diskussion informationsethischer Fragen dar. 

ICIE
 
 Weitere aktuelle Informationen finden Sie auch in der Website 
 
INFORMATIONSETHIK 
 
  
 
 Letzte Änderung: 1. Oktober 2001
 
 
 
    

Copyright © 2000 by Rafael Capurro, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. and international copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author. 
 

 
Zurück zur digitalen Bibliothek 
 
Homepage Forschung Veranstaltungen
Veröffentlichungen Lehre Video/Audio