Einführung
Die theoretischen und praktischen Anstrengungen
um im 20. sowie zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gewalt zu rechtfertigen,
betreffen zum einen die großen ideologischen und geopolitischen Projekte
mit ihren katastrophalen Auswirkungen und zum anderen die Friedensbemühungen
angesichts der gegenwärtigen Vermehrung von lokalen kriegerischen
Auseinandersetzungen. Letztere suchen oft ihre Rechtfertigung in der "Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte" sowie in demokratischen Idealen, wobei
beide Begründungsformen ihre Wurzeln in der europäischen Aufklärung
haben. Aber die theoretischen Ursprünge von Gewalt und Pazifismus
reichen weiter hinter dem Horizont der Moderne zurück, nämlich
bis zur Entstehung der abendländischen Metaphysik. Der Philosoph Gianni
Vattimo ist einer der Schlüsselfiguren in der großen europäischen
und transatlantischen Debatte der Gegenwart über die komplexen Beziehungen
zwischen Metaphysik, Gewalt und Modernität. Sein "schwaches Denken"
hat eine empirische Basis in der geschichtlichen Erfahrung der letzten
Jahrhunderte, öffnet sich aber zugleich einer Reflexion und einem
Dialog mit den Interpretationen, die Denker wir Friedrich Nietzsche, Martin
Heidegger und Hans-Georg Gadamer über diese Erfahrung sowie über
deren philosophische Wurzeln vorgeschlagen haben.
I.
Vattimo liest Nietzsche und Heidegger
Wolfgang Sützls Arbeit befaßt
sich mit "Gianni Vattimos ästhetischem Pazifismus". Der Verfasser
stellt zunächst Vattimos Nietzsche-Interpretation dar. Im Gegensatz
zur üblichen Auffassung, versteht Vattimo Nietzsches Nihilismus als
ein Aufgeben des metaphysischen Fundaments, wobei dies auch die Anstrengungen
der Moderne gegenüber eines unsicher gewordenen Subjekts einschließt,
was unweigerlich zu einer fast immer gewaltsamen Beherrschung der verschiedenen
ihm gegenüber gestellten Objekte führt. Der Autor erläutert
wie Schlüsselbegriffe wie Freiheit und Verantwortung eine neue Bedeutung
innerhalb eines nicht-totalisierenden Wirklichkeitsrahmens bekommen. Dieser
nicht-gewaltsame Rahmen ist ereignishaft. "Gewaltfreiheit"
wird dabei als "Abstand von Gewalt" verstanden, im Unterschied zu "Gewaltlosigkeit"
oder "Abwesenheit von Gewalt". Im Horizont von "Gewaltfreiheit" lernt das
"geschwächte" Subjekt innerhalb von unvorhergesehenen und komplexen
Situationen, jenseits eines Verhältnisses von Herrschaft oder Unterwerfung,
zu antworten. Der Verfasser erläutert dabei Vattimos Deutung der heutigen
Kommunikationsgesellschaft, wo ein intensivierter Austausch von Botschaften
stattfindet. Diese Situation ist einem Gewaltverhältnis mit Ausschluß
eines dialogischen Austausches entgegengesetzt. Im Unterschied zur Auffassung
der Kommunikationsgemeinschaft in der "Frankfurter Schule", betont Vattimo
die Funktion "lokaler Rationalitäten", deren Emanzipations- oder Aneignungsbestrebungen
im Sinne eines oszillierenden Verhältnisses mit Entfremdungserfahrungen
angesehen werden.
Sützl erörtert im Einzelnen
die Wechselbeziehungen zwischen Nietzsche und Heidegger aus Vattimos Sicht
und zeigt dabei die Originalität von Vattimos Nietzsche-Lektüre
besonders im Hinblick auf die Auffassung des Irrens als Denk- und Lebensmöglichkeit.
Damit setzt Nietzsche der Idee einer objektiven Wahrheit eine Grenze, ohne
aber in den absoluten Nihilismus zu verfallen. Seine nietzscheanische Heidegger-Interpretation
macht besonders auf die Gefahr in der Biographie dieses Denkers aufmerksam,
die sich daraus ergibt, wenn ein authentisches Sein oder eine "starke Wahrheit"
erwartet wird. Durch eine literarische Lektüre wird Nietzsche
paradoxerweise als Vorreiter einer nihilistischen hermeneutischen Ontologie,
in der Heideggers Sein als Ereignis gedacht wird.
II. "Gestell",
"Verwindung" und "Gelassenheit"
Diese Umkehrung von Heideggers Nietzsche-Deutung
führt wiederum zu einer nihilistischen Heidegger-Deutung, die ein
Schlüssel von Vattimos Denken ausmacht. Dieser nietzscheanischen Deutung
Heideggers widmet der Autor ein umfangreiches Kapitel, in dem Heideggers
Begriffe "Gestell", "Verwindung" und "Gelassenheit" eine zentrale Rolle
spielen. In diesem Spiel der Interpretationen eignet sich der Autor selbst
Vattimos hermeneutische Methode an, die darin besteht, den Dialog mit vergangenen
oder gegenwärtigen Denkern als eine Antwort zu einer "Überlieferung",
d.h. zur Übermittlung einer Botschaft, zu verstehen. Das führt
zu einem "schwachen" Denken, der keine globale Theorie anbieten will, sondern
im Dialog seine eigene Geschichtlichkeit anerkennt. Sützl weist auf
die Bedeutung von Heideggers "Verwindung" für Vattimo sowie auf das
Verhältnis mit "Ereignis" und "Gestell" hin. Vattimo vollzieht eine
"säkularisierende" und "linksgerichtete" oder emanzipatorische Lektüre
Heideggers. Dies kann als eines der innovativsten Beiträge des italienischen
Denkers aufgefaßt werden. In dieser Auslegung spielt auch die Sprache
im Sinne eines "freien Kommunikationsflusses" eine entscheidende Rolle.
Dem stellt Vattimo totalitäre Bewegungen mit ihren eschatologischen
Ansprüchen entgegen, ohne aber selbst eine Abschaffung der Gewalt
anzustreben. Letzteres wäre erneut ein gewaltsames Projekt, wie zum
Beispiel die politisch-militärischen Sicherheitspläne auf der
Basis von sich auf Waffen stützenden Lösungen zeigen. Das "schwache
Denken" strebt lediglich eine kontinuierliche Reduktion von Gewalt
auf der Basis einer "Verwindung" der Metaphysik, nicht aber ihre Eliminierung
an. Krieg und Gewalt bedeuten somit, aus Vattimos Sicht, ein metaphysischer
Versuch, sich des Seins als Anwesenheit zu bemächtigen oder, mit anderen
Worten, das Vergessen der ursprünglichen Offenheit, die nicht vom
Menschen stammt.
Der Autor zeigt den Übergang von
einer "Hermeneutik des Hörens" zu einer postmetaphysischen Ethik,
in der die autonome Dimension des Rufes einer Botschaft in ihrer Alterität
anerkannt wird, so dass jede Interpretation ursprünglich zu einem
"schweigsamen Hören" verweist. Letzteres bedeutet aber wiederum, in
Vattimos säkularisierter Interpretation, nichts Geheimnisvolles, sondern
die Autonomie selbst des Rufes, ihre Ereignishaftigkeit, sowie die Sterblichkeit
menschlichen Existierens. Menschliche Freiheit befindet sich eingebettet
in einer Überlieferungsgeschichte von Botschaften, in der sie aber
zugleich, aufgrund des offenen Charakters des Sichgebens der Ereignisse
selbst, freigegeben ist. Sützl interpretiert diese Struktur im Sinne
einer "nicht-gewaltsamen Konfliktivität", wo die Antworten auf die
Konflikte keine endgültige Lösung, dialektische Aufhebung oder
Überwindung, sondern eine "Verwindung" anstreben. Der Verfasser erörtert
das Verhältnis zwischen dem "Gestell" und den Informations- und Kommunikationstechnologien
und zeigt, wie diese für Vattimo zugleich eine Radikalisierung der
Metaphysik und der Ort ihrer Implosion oder Abschwächung sind. Letzteres
ist nur möglich, weil die Technik am Ende des 20. Jahrhunderts eine
Kommunikationstechnik geworden ist, deren Modell nicht der Motor als zentrale
und stabile Struktur darstellt, sondern das Netz, d.h. etwas dezentrales,
mobiles und kurzlebiges, wo die Wirklichkeit nicht mehr eine Autorität
über den Menschen ist, sondern in der Mensch und Sein sich in einem
"schwingenden" (Heidegger) Verhältnis befinden. Heideggers
"Gelassenheit", wodurch der Mensch die Technik nicht vollständig bejaht
noch ablehnt, wird von Vattimo im Sinne einer "ästhetischen", d.h.
einer offenen oder oszillierenden Freiheit gedeutet, die die Bedingung
eines nicht-gewaltsamen oder post-metaphysischen Denkens und Handelns darstellt.
III.
Das "schwache Denken" im Dialog mit Habermas, Rorty und Feyerabend
Der Verfasser setzt Vattimos "schwaches
Denken" in Beziehung zu einigen Verteidigern der Modernität, darunter
Habermas und Rorty, und zeigt, inwiefern die "Demut der Philosophie", die
durch den Verlust der Unschuld nach Hiroshima und Auschwitz gekennzeichnet
ist, gerade das Projekt der Aufklärung, im Sinne eines unvollständigen
metaphysischen Herrschaftsprojekts, in Frage stellt. Das "schwache Denken"
hat nicht das Ziel, überzeugende Gründe zu liefern, wie das beim
"starken Denken" der Fall war, sondern versteht sich im Horizont von Güte,
Geduld und Aufmerksamkeit. Vattimo faßt dies unter dem Begriff der
pietas zusammen. Er denkt eine solche pietas als eine Ethik
des Verhältnisses zu nahen Gütern, im Unterschied zu einer Ethik
der letzten Normen. Der Verfasser widmet einem Kapitel seiner Arbeit der
Genese des "schwachen Denkens" und geht dabei zunächst von der Erfahrung
der Krise der auf Herrschaft hin sich verstehenden Vernunft aus. Vattimos
pietas wird, demgegenüber, als eine Fähigkeit, die Botschaften
der Vergangenheit in einer neuen Weise zu hören, verstanden. Es handelt
sich um eine auditive Tugend, die weder das Neue mit dem Guten gleichsetzt,
noch die Unbeweglichkeit eines bestimmten normativen Vorverständnisses
— meistens das der Sieger und Unterdrücker — meint.
Das "schwache Denken" setzt jeden Versuch
einer dialektischen Integration innerhalb eines totalisierenden Projekts
in Frage. Dabei fragt Sützl, ob die Auflösung der Dialektik im
Denken der Differenz zu einem "konservativen" Denken führt, der unfähig
ist, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu ändern. Dennoch,
für Vattimo, schwächt die Kritik oder, besser gesagt, die Wiedererinnerung
der Schickungen, ihren illusorischen Charakter einer totalisierenden Identität
ab. Die pietas wird nicht als ein Verhältnis mit dem Göttlichen
oder mit dem metaphysischen ontos on, sondern als nicht-gewaltsames
Verhältnis mit dem Erlebten aufgefaßt, auf der Basis eine gegenwärtigen
Sorge und Aufmerksamkeit für die Seienden in ihrer historischen Herkunft
und in ihren Erscheinungsformen. Vattimo zeigt damit eine Alternative zu
einer normativen Ethik der Imperative, indem er den Akzent nicht in einer
fundierenden Rationalität, sondern in einer Abschwächung des
Seins setzt. Dies bedeutet zugleich eine Abschwächung jenes Denkens,
das der Geschichte dieser Abschwächung selbst antwortet.
Das führt dazu, wie Sützl
zeigt, den Frieden schwach zu denken, d.h. nicht als ein Objekt oder einen
Zustand, oder als etwas, was konstruiert oder angeeignet werden könnte,
sondern als eine dauernde Möglichkeit ihres "Zustandekommens" oder
als Ins-Werk-Setzen einer "Gewaltfreiheit ohne Frieden". Dies wird in einer
weniger ironischen oder paradoxen Weise folgendermaßen ausgedrückt:
Das "schwache Denken", übersetzt als soziales Projekt, bedeutet eine
kontinuierliche Debatte auf der Basis einer permanenten Auflösung
von als sicher gedachten Fundamenten, ohne das damit die Beliebigkeit des
"anything goes" (P. Feyerabend) zustande kommt. Denn die Hermeneutik
richtet sich auf die Wiedererinnerung von überlieferten Vorverständnissen
und Regeln, in denen sich das Denken und Handeln sich immer schon als bedingt
vorfinden, auch wenn sie nicht von ihnen vollständig determiniert
werden. Solches Erbe ist die Substanz der pietas, aber nicht als
eine statische Wertehierarchie, sondern als Antrieb für die Interpretation.
Vattimos Ethik ist eine Ethik der Güter, nicht eine der Imperative.
Die "schwache" Betrachtung der Überlieferung
bewirkt, dass Vattimos Denken sich nicht innerhalb von konservativen Entwürfen
einordnen läßt, während sein hermeneutischer Antrieb die
prophetischen Visionen abschwächt, indem er sie innerhalb "eines dichten
Netzes von Interferenzen" stellt. Dem stellt Sützl die Legitimierung
von Gewalt als Entfaltung einer Macht entgegen, die sich sogar wähnt,
den common sense als objektive Wahrheit zu definieren. Vattimo gibt
gute Gründe, um Emanzipation von Stärke oder Gewalt zu trennen,
ohne sich aber zugleich in einer Position der Stärke zu setzen, sondern
indem er Räume für Denken und Handeln öffnet. Das meint
eine "Ontologie des Untergangs", in der der Prozeß der Aneignung
des Seins nihilistisch, als Reduzierung von Gewalt, gedacht wird, im Unterschied
zu einigen revolutionären Bewegungen, deren Seinsvergessenheit zu
einer Wiederaneignung des Seienden führt, und dabei den ereignishaften
oder "sich schickenden" Charakter des Seins und somit auch die ontologische
Differenz aus der Sicht verlieren, und in einer Auflösung der Freiheit
in der Sicherheit enden.
Die Hermeneutik ist für Sützl,
der sich dabei auf Wolfgang Welsch bezieht, das "Rückgrat" von Vattimos
Denken. Sie steht in Beziehung, gegenüber dem üblichen Verständnis,
zu den aktuellen kulturellen und politischen Problemen. Es handelt sich
nicht um eine Theorie über die Vielfalt von Interpretationen, sondern
um eine Philosophie der nihilistischen Geschichte, die die "starken" oder
gewaltsamen Strukturen in Frage stellt, auch die, die sich auf das Erbe
der Aufklärung beziehen und sich in Dienst der Emanzipation stellen.
Die Reduzierung von Gewalt als "roten Faden" der Geschichte ist der Punkt,
an dem Vattimos Auffassung von Geschichte sich vom idealistischen Denken
einer vollständigen Eliminierung jeder Form von Gewalt unterscheidet.
Sützl weist darauf hin, wie diese Auffassung Vattimos eine kritische
Betrachtung des grenzenlosen Konsumismus sowie jeder Art von Fundamentalismus
ermöglicht.
Dennoch kann sich die nihilistische
Hermeneutik nicht als ein alternativer Diskurs vorstellen, das den herrschenden
Diskursen gegenüber gestellt wäre, sondern muß als "bremsender
oder kontaminierender" Diskurs verstanden werden. Vattimos Denken ist ein
Denken der Kontamination. Es hat einen anarchischen Charakter in dem Sinne,
das es versucht, neue Räume eines "freien Spiels" zu öffnen.
Es strebt keine endgültige und dauernde Befreiung an, sondern bewegt
sich innerhalb eines Spiels historischer Kontingenzen, auf der Suche, "starke
Strukturen" zu vermeiden. Es zielt nicht darauf ab, sich einen "nicht-gewaltsamen"
Zustands anzueignen, sondern begreift sich innerhalb einer ereignishaften
Struktur in der Oszilation zwischen "dem Gleichen" — hier werden die Rechtansprüche
in bezug auf "Gleichheit" und "Gleichwertigkeit" eingeschlossen — und "dem
Selben". Während die "Gleichheit" auf eine Eliminierung der Differenzen
abzielt, ermöglicht die "Selbigkeit", heideggerianisch aufgefaßt,
einen geschichtlichen Dialog, ohne dass man dabei von einem Recht
auf die Differenz sprechen kann, da dies eine nihilistische Hermeneutik
innerhalb eines auf Institutionen hin orientierten Denkens bedeutet, womit
sein anarchistischer Charakter verloren ginge.
Sützl zeigt die Unterschiede zwischen
dieser Position mit Bezug auf die Kommunikationsethik von Habermas und
Apel, mit ihren idealistischen Implikationen, sowie auch in bezug auf die
"Neubeschreibungen" ("redescriptions") von Rorty, mit ihrem Imperativ,
dass das "Gespräch weitergehen soll" und, schließlich, in bezug
auf Gadamers Ethik der Kontinuität, die sich als universale Methode
begreift. Für die nihilistische Hermeneutik, so Sützl zusammenfassend,
ist das "Nächste" das Einzige was wir haben und kein fernes telos,
das wir mit Hilfe eines technischen Instrumentalismus erreichen könnten.
Vattimos Ethik ist eine Ethik der Sorge und der Aufmerksamkeit. Das bedeutet
keineswegs, dass sie die Rationalität ausschließt oder dass
sie eine Apologie des "Irrationalismus" wäre, wie der Vefasser in
einem dem Thema einer "nicht-gewaltsamen Rationalität" gewidmeten
Kapitel bemerkt. Im Unterschied zu den reinen ästhetischen
Auffassungen von Hermeneutik bei Rorty und Derrida, besteht Vattimo darauf,
dass der Philosoph eine argumentative öffentliche Aufgabe gerade in
Angesicht der Abschwächung der Rationalität hat und dass diese
Aufgabe sich von Gadamers Auffassung, dadurch unterscheidet, dass diese
ihres eigenen hermeneutischen Charakters nicht bewußt ist. Die Rationalität
von Vattimos Hermeneutik ist eine partikuläre Rationalität, ihres
Bezuges mit der Überlieferung bewußt und ohne universalistische
Ansprüche. Es handelt sich um eine "schwache" oder dynamische, sich
in Übergang befindende Rationalität, die nicht behaupten kann,
in sich selbst einen letzten Grund zu finden, gerade weil sie einen nicht-gewaltsamen
Weg öffnet.
IV. Hermeneutik
und Kommunikationstechnologien
Die hermeneutische Arbeit ähnelt
der Arbeit des Bibliothekars, der neue Bücher auswählt, erwirbt
und ordnet und damit seine Bibliothek verändert. Diese Metapher zeigt
auch die Beziehung zwischen dem Denken Vattimos und den Kommunikationstechnologien.
Sützl zeigt, wie das globale Projekt der Informations- und
Kommunikationstechnologien, die Kontrollmöglichkeiten abschwächt,
so dass es zugleich die Gefahr einer "starken" Einheit und eine Chance
für Freiheit und Pluralität in sich birgt. Diese doppelte Natur
entspricht der Natur des Marktes mit seinen "harten" Aspekten und seiner
wechselhaften Realität. Heideggers "Gestell" wird zum Bild und dieses
wiederum zur Information in den Kommunikationstechnologien. Dadurch entsteht
auch die Utopie der "Transparenz" (K. O. Apel), die Vattimo — indem er
die verschiedenen Oppositionsbewegungen berücksichtigt, die in der
Globalisierung eine Gefahr für Freiheit, Privatheit und Autonomie
sehen —, als ein normatives und nicht als ein emanzipatorisches Ideal ansieht.
Die Kommunikationsnetze stellen nicht nur die Basis für eine gemeinsamen
menschliche Erfahrung dar, sondern sie ermöglichen zugleich die Fragmentierung
und die Kontextualisierung. In diesem Sinne sind sie eine "Verwindung"
der Moderne. Die Möglichkeiten der Emanzipation bestehen genau, wie
Sützl zeigt, in einem "relativen 'Chaos'", in dem eine Kontrollsituation
mit nicht kontrollierbaren Bereiche koexistiert. Vattimos Ästhetik
der Kommunikationstechnologien wurde in den achtziger Jahren entwickelt
und ist teilweise auf die Vor-Internet-Periode beschränkt. Der Autor
zeigt aber die Relevanz dieses Denkens für die gegenwärtige Situation.
Im Unterschied zu Habermas, der die
"Befreiung der Interpretation" sucht, handelt es sich für Vattimo
um eine "Befreiung von der einzigen Interpretation". Das ist der
Grund, warum Vattimo den emanzipatorischen Charakter der Fiktionalisierung
betont, wodurch er den Konflikt aufzeigen will, die sich paradoxerweise
in den reality soaps in bezug die Realität offenbart. Sützl
erörtert auch das Verhältnis von Ästhetik und Emanzipation,
indem er Vattimos Kritik an die metaphysische Ästhetik mit ihren Herrschaftsstrukturen
im Lichte der hermeneutischen und nihilistischen Interpretation Nietzsches,
Heideggers und Benjamins erscheinen läßt. Benjamin erlaubt ihm
ein Verständnis des Kunstwerkes jenseits der klassischen Auffassung
als "Ding". Seine technische und, mehr noch, seine informationelle Reproduzierbarkeit,
entmaterialisiert das Kunstwerk und bewirkt auch seine Dislokation.
Dies erlaubt eine Erfahrung der Abschwächung de Seins sowie den Prozeß
der Säkularisierung, worauf Vattimos "ontologische Ästhetik"
hinweist, in der die Kunst ihre Authentizität negiert und sich einer
Pluralität von Kontexten öffnet. Sie nützt dabei aktiv die
Möglichkeiten der Techniken der Reproduzierbarkeit und Diffusion und
nimmt an einem ironischen Spiel in der "Begegnung mit dem Anderen" teil.
Auf dieser Weise eröffnet das Kunstwerk einen vorläufigen und
flüchtigen Konsens, der Vattimo mit Heideggers Analysen von Wahrheit
und Kunst in Beziehung setzt. Für Vattimo läßt sich Frieden
oder, in Sützls Worten, "das Friedliche" ("lo pacífico"), weder
als Ursprung und Schicksal, noch als Kampf und Konstruktion, sondern als
Ereignis (nihilistisch) denken, im Rahmen der ästhetischen Erfahrung
der Oszillation, und ist verwandt mit Spiel und Fest.
Schluß
Das vorletzte Kapitel ist der Religion
bei Vattimo gewidmet. Im Mittelpunkt steht die Parallelität zwischen
der "kenosis", d.h. der Entäußerung Gottes durch seine
Inkarnation, und der Abschwächung des Seins. So gesehen ist die säkularisierte
religiöse (christliche) Erfahrung eine eminent nicht-gewaltsame Erfahrung.
Dies führt zu der Frage des letzten Kapitels, nämlich: "Eine
Säkularisierung des Friedens?", die der Verfasser im Sinne eines Übergangs
von einer metaphysischen zu einer ästhetischen und nicht-gewaltsamen
Emanzipation auffaßt. Das bedeutet letztlich ein Frieden ohne
Utopie. Der Frieden, so verstanden, ähnelt dem "gemeinen Frieden"
("la paz de la gente" I. Illich). Es ist nichts anderes als "das normale
Leben von örtlichen Gemeinschaften, die ihre Kultur trotz des nivellierenden
Entwicklungsprojekts bewahren, das immer in der Nähe einer offenen
oder strukturellen Gewalt steht." Im Unterschied zu einem gewissen
pre-technologischen Romantizismus bei Illich, sind für Sützl
die Kommunikationstechnologien ein Bestandteil "des normalen Lebens von
örtlichen Gemeinschaften", zumindest als Möglichkeit und Chance.
Von diesem sozialen, zugleich ereignishaften und unvollendeten Frieden
aus, läßt sich die Gewalt, um mit Vattimos Worten zu sagen,
in schwacher Weise in Frage stellen und es läßt sich auch, erneut
in schwacher Weise, die Frage der Gewalt stellen.
Sützls Arbeit ist eine wichtige,
zugleich kreative und umfassende Studie über Vattimos Denken im Kontext
der gegenwärtigen europäischen und transatlantischen Philosophie.
Der Autor erläutert in einer klaren Sprache die Kernpunkte des Denkens
des italienischen Philosophen und erörtert das zentrale Thema der
Gewalt aus unterschiedlichen (historischen, metaphysischen, ethischen,
ästhetischen, technische, politischen...) Perspektiven. Er nimmt dabei
als Leitfaden die Infragestellung der Metaphysik im nihilistischen Denken
Nietzsches sowie die Erfahrung der "Abschwächung des Seins" bei Heidegger.
Er nimmt bezug auf unterschiedliche Kritiken von Vattimos Ansatz und zeigt
Grenzen und Perspektiven der jeweiligen Sicht.
Sützls Kernthese ist im Begriff
des "ästhetischen Pazifismus" ausgedrückt. Die "Emanzipation"
bedeutet dabei eine Alternative zur "Gewalt", aber im Unterschied zur traditionellen
ethischen oder positiven Auffassung, handelt es sich bei Vattimo
um eine Emanzipation, die als ästhetischen oder negativen Pazifismus
aufgefaßt wird. Die klassische Alternative wäre, mit anderen
Worten, keine wahre Alternative, da sie im Rahmen eines Versuchs der "positiven"
Überwindung der Metaphysik, auf der Basis von Idealen, Fundamenten,
Gründen oder Dogmen, bleiben würde, was wiederum eine "gewaltsame"
Position bedeutet. Diese Arbeit stellt nicht nur ein wichtiger Beitrag
zur Interpretation von Vattimos Denken dar, sondern sie ist zugleich ein
Beitrag zur Klärung der theoretischen und praktischen Problematik
von Gewalt und Friedenssuche heute.
Letzte Änderung: 9. März
2002.
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