I.
Die platonische Umformung des sophistischen Techne-Begriffs im Dialog "Charmides"
1.
Sophistische und platonische techne
Die Übertragung
des Techne-Begriffs aus dem handwerklichen Bereich in
andere
Wissensbereiche, etwa im Sinne von "Wissen, wie man etwas erreicht", findet
vor allem in der nach-homerischen Zeit statt. /7/ Sowohl
der Techne-Begriff als auch der Begriff des Handwerkers (demiourgos)
wurden über die handwerkliche intellektuelle Komponente hinaus auf
jede Art beruflichen Wissens (z.B. auf die Kunst von Dichtern, Musikern,
Sehern, Ärzten usw.) bezogen und somit zum Kennzeichen des im 7. und
6. Jh. aus dem handwerklichen Bereich entstandenen Bürgertums.Dementsprechend
wurden sie von der Adelsethik abschätzig gebraucht. Im 5. Jh. gewinnt
techne eine herausragende Bedeutung im Sinne all dessen, was der
Mensch dank seiner intellektuellen Fähigkeiten - und nicht also von
Geburt (physis) oder von den Göttern bekommt - machen kann.
Techne meint nicht mehr bloß Erfahrung (empeiria),
sondern Wissen, das sich sowohl auf das Herstellen als auch auf das Handeln
bezieht. /8/
Aufgrund
der Infragestellung der überkommenen Arete-Auffassung der Adelsethik
lag es nahe, indem man die arete zum Gegenstand eines Wissens machte,
sie auch wie eine techne aufzufassen. Hier liegt die Wurzel der
Auseinandersetzung zwischen der sophistischen und der platonischen Auffassung
des Techne-Begriffs. Der Sophist - man denke z.B. an Protagoras'
homo-mensura-Satz - vertritt die These, dass das Gute und Schlechte
jeweils relativ ist, d.h. auch die techne der politike arete
ist eine lehr- und lernbare Fähigkeit, um den Einzelfall zu erkennen
und dementsprechend zu handeln. /9/ Es kommt also
nicht darauf an, die Wahrheit zu erkennen, sondern die jeweils richtige
Wahrheit. /10/ Der Sophist erkennt zwar die Gesetzlichkeiten
der physis, stellt aber die menschlichen Zwecke in den Vordergrund,
sein Techne-Begriff ist anthropozentrisch. Diese Auffassung ist
aber kein schrankenloser Relativismus, so wie es in der jetzt zu analysierenden
Platonischen Polemik zum Ausdruck kommt. Erst von einer metaphysischen
und gleichbleibenden Auffassung der Ordnung des Seienden aus, mit ihrem
außerhalb menschlicher Zwecke liegenden Maßstab, konnten die
sophistischen Äußerungen als relativistisch verzerrt aufgefasst
und karikiert werden. In diesem Sinne wird Platon den Techne-Begriff
teleologisch und techno-theo-logisch umdeuten und die politike arete
metaphysisch aufheben. Sehen wir uns die Platonische Argumentation im Dialog
"Charmides" im Einzelnen an.
2.
Platons "Charmides" /11/
Den Kernbereich
der Diskussion bilden die Thesen des Kritias, d.h. jener Persönlichkeit,
in der sich alle Impulse der sophistischen Bewegung vereinigen, jene Impulse
nämlich, die Hegel mit denen der neuzeitlichen Aufklärung vergleicht.
/12/ Das Szenario vor dem diese Thesen diskutiert werden,
stellt die Ringschule des Taureas dar. Der Dialog wird mit einem knappen
Hinweis auf die Tapferkeit des Sokrates eröffnet, der aus der Schlacht
von Potidaia zurückgekehrt ist. /13/ Dass aber
nicht die Tapferkeit (andreia) sondern die Besonnenheit (sophrosyne)
sofort zum Gegenstand des Gesprächs wird, muß nicht zuletzt
vor dem Hintergrund der sowohl von den Sophisten als auch von Sokrates
herbeigeführten Umgestaltung der adligen arete aufgefaßt
werden: Nicht die Tapferkeit der Krieger steht jetzt im Vordergrund, sondern
die auf Erkenntnis beruhende durch die Vernunft bzw. das Gesetz geleitete
Beherrschung seiner selbst. /14/
Es
geht also um die Bestimmung des ethischen Kampfes. Ein weiterer die Diskussion
mit Kritias einleitender Gedanke gilt der Frage nach dem Zusammenhang von
Weisheit (sophia) und Schönheit, wobei die unübersehbare
körperliche Schönheit des Charmides lediglich den Ausgangspunkt
für die Frage nach der Schönheit der Seele - eine "kleine Zugabe"
(173d), wie Sokrates ironisch bemerkt - darstellt. Hier kündigt Platon
seine Grundthese an, nämlich die des Vorrangs des Ganzen vor den Teilen:
Charmides, der an Kopfschmerzen leidet, gibt nämlich Sokrates Anlass
zu der Bemerkung, dass die Heilung bestimmter Körperteile in eins
mit der Heilung des ganzen Körpers geht. Zur Debatte steht dementsprechend,
ob und wie die Besonnenheit (sophrosyne) den Menschen als Ganzes
oder nur jeweils in gewisser Hinsicht heilen kann, d.h. ob es ein Wissen,
also eine techne, von ihr geben kann.
Der
Prüfung dieses Sachverhaltes gelten zunächst die drei Thesen
des Charmides, von denen die letzte die des Kritias ist. Sie lauten:
1)
sophrosyne ist eine gewisse Ruhe im ganzen Verhalten. Sokrates'
Einwand: Schnelligkeit macht die Schönheit der meisten körperlichen
und geistigen Handlungen aus (159a-160d). Sokrates' Einschränkung
seiner eigenen Schlußfolgerung ("aufgrund unseres jetzigen Nachweises")
zeigt, dass er sich der Einseitigkeit seiner Beispiele bewußt ist.
2)
sophrosyne ist Scheu (aidos). Sokrates erwidert mit einem
Homerzitat, in dem die Scheu etwa eines leidenden Menschen als unangebracht
bezeichnet wird (160d-161b). /15/
3)
sophrosyne ist, so Kritias' Definition im Munde des Charmides, "das
Seinige tun" (ta heautou prattein). /16/ Dabei
bezieht Sokrates das prattein auf einen eingeschränkten Wissensbereich,
nämlich auf jene technai, die der Herstellung von materiellen
Gegenständen dienen. Damit führt er die Definition ad absurdum:
jeder müßte z.B. seine eigenen Schuhe herstellen usw., wenn
es offenbar ist, dass ein Staat (polis) gut verwaltet bzw. besonnen
ist. Das gibt den unmittelbaren Anlaß zu der Kontroverse um die Bestimmung
des Guten als Gegenstand der sophrosyne. Der Kernpunkt dabei ist,
ob und in welchem Sinne hier von einer techne gesprochen werden
kann (161b-162c).
Die
beiden gegeneinander konkurrierenden Thesen, die in vielen dialektischen
Schwingungen abgewandelt werden, lassen sich folgendermaßen vorausschicken:
Kritias
wird die These vertreten, dass sophrosyne zwar formal eine techne
ist, dass sie aber keinen eigenen Gegenstand hat und somit also "relativ"
bleibt. Der Techne-Begriff bleibt ein auf die Einzelwissenschaften
bezogener Begriff. Der platonische Sokrates behauptet die strenge also
formale und inhaltliche Vergleichbarkeit der sophrosyne im Sinne
eines Wissens um das Gute und um das Eine. Ihr Gegenstand überragt
die Gegenstände der anderen technai und kann mit diesen nicht
nivelliert werden. Die Ironie der platonischen Argumentation besteht nicht
zuletzt darin, dass die Sophisten genau mit jenem Begriff widerlegt werden
sollen, der ihnen am teuersten ist.
Sehen
wir uns die Thesen und Antithesen im einzelnen an. Sie laufen darauf hinaus,
dass eine inhaltsleere techne ein Selbstwiderspruch ist, und dass
die Kenntnis des Einen als des Guten den Inhalt der sophrosyne darstellt
bzw. von ihr vorausgesetzt werden muss. Eine solche nicht diskursiv sondern
letztlich nur intuitiv-noetisch erreichbare weil an sich seiende Dimension,
die, vor allem in den späteren Dialogen, explizit göttliche Züge
annimmt, stellt, wie Aristoteles hervorheben wird, nicht nur eine intellektualistische
Verzerrung der Ethik dar, sondern sie hebt die Eigenständigkeit menschlicher
Praxis auf. Beide Aspekte kommen in den folgenden Widerlegungen sophistischer
Unterscheidungen deutlich zum Ausdruck.
a)
Poiesis und praxis (162c-165c)
Wie sehr
es für Platon auf die Erkenntnis des Guten ankommt, zeigt seine Widerlegung
der Unterscheidung des Kritias zwischen dem Bereich des Machens (poiein)
von dem des Tuns (praxis), eine Unterscheidung, die erst Aristoteles
als eine für die Ethik grundlegende ausführen wird. Diese Unterscheidung
wird bei Platon nur angedeutet und bleibt ohne klare Unterscheidungskriterien.
Im Gegenteil, beide Begriffe werden mit derselben Intention ("alle Werke")
als Synonyme gebraucht. Kritias will den Sinn des prattein (gemäß
der dritten sophrosyne-Definition: ta heautou prattein) auf
jene Tätigkeiten einschränken, die ein schönes und sichtbares
Werk (ein ergon) hervorbringen, während poiein der allgemeine
Ausdruck für jede Tätigkeit ist. Es kommt also nicht darauf an,
ob beim Handeln bzw. Machen Tätigkeit und Ziel zusammenfallen oder
nicht, gemäß unserer (aristotelischen) Unterscheidung zwischen
Handeln und Machen. Entscheidend ist außerdem, dass es sich um Werke
(erga) im Plural handelt. /17/
Für
Sokrates stellt sich dagegen die Frage nach dem einen Prädikat "gut",
das ta agatha erst als solche konstituiert. So lautet jetzt die
sophrosyne-Definition: "das Hervorbringen der guten Werke" (ten
gar ton agathon praxin 163d). Für Platon geht es aber dabei nicht
primär um das Hervorbringen der Werke durch die Fachleute (demiourgoi),
sondern um die Bedingung davon. Denn, so Platon, es genügt nicht,
dass der Fachmann die Werke verrichtet, denn dann könnte es heißen,
dass er gelegentlich nicht weiss, was er tut, ein Widerspruch, den Kritias
nicht annehmen kann. So sieht er sich genötigt, sophrosyne
als "das Sichselbsterkennen" (to gignoskein heauton 164d) zu bestimmen.
Aber auch hier gilt es für Platon, den sophistischen Relativismus
zu widerlegen.
b)
Episteme heautes und heautou (165d-166d)
Die Frage
lautet also jetzt, inwiefern Wissen (episteme), das immer ein Wissen
von etwas ist, sich nicht nur auf alle Fachkünste (technai),
die schöne Werke hervorbringen, sondern auch auf die Selbstkenntnis
(episteme heautou) ausdehnen läßt. Dabei muß man
beachten, dass diese Kenntnis des Selbst nicht im Sinne des genitivus
obiectivus oder gar im Sinne des neuzeitlichen Selbstbewußtseins
gedeutet werden kann. /18/ Es geht statt dessen, wie die Diskussion zeigt,
um die Kenntnis, die der Mensch vom Guten hat. /19/ Zur Debatte steht nämlich,
ob das Wissen der sophrosyne von derselben Art (omoia) ist,
wie das der anderen technai, so dass auch sie einen eigenen Gegenstand
hat. Für beide, d.h. für Kritias und für Platon, gibt es
da Unterschiede: während für den Sophisten das Wissen der sophrosyne
keinen eigenen materialen, sondern nur einen formalen Gegenstand besitzt
und somit als Metawissenschaft aufzufassen ist, betont Platon, dass sie
einen eigenen materialen Gegenstand hat, dass dieser aber sich von dem
der anderen technai unterscheidet.
Damit
widerspricht Platon der sophistischen Auffassung, dass das Wissen der sophrosyne
sich selbst zum Gegenstand hat, dass sie also eine Kenntnis seiner selbst
(episteme heautes) bzw. eine Metawissenschaft (epistemon episteme)
ist, sondern eine Selbstkenntnis im Sinne eines Wissens, welches sich des
eigenen Gegenstandes bewußt ist (episteme heautou). So liegt
also dieser Kritik die Auffassung zugrunde, dass es zum einen einen solchen
Gegenstand, nämlich das Gute, gibt, und dass alles auf seine Kenntnis
ankommt. Die areta hat das agathon als einzigen Bezug, während
das sophistische Wissen von hier aus metaphysisch diskreditiert wird, und
zwar als ein formales Wissen, das aufgrund dialektischer Situationsanalysen
über die Richtigkeit bestimmter Maßnahmen urteilt, ohne also
ein Fachwissen im eigentlichen (Platonischen) Sinne zu besitzen. /20/
Vieles
vom Wissen um das Gute als das Eine bleibt hier freilich ungesagt bzw.
ungeschrieben. Platon begnügt sich damit, vor allem in den frühen
Dialogen, die Aporien aufzuzeigen. Dass er aber den Maßstab des ethischen
Handelns weder in den einzelnen technai noch im formalen Bereich
findet, zeigt, dass er von einem metaphysischen bzw. techno-theo-logischen
Vorverständnis des Einen als des Guten ausgeht. Die Erörterung
des Unterschiedes zwischen episteme heautes und heautou ist
in mehrfacher Hinsicht ironisch: Es ist nämlich Sokrates, der behauptet,
dass für Kritias die Besonnenheit episteme heautou ist, und
es ist wiederum Kritias, der scheinbar unmerklich von episteme heautes
spricht und somit diesen für Platon (!) wichtigen Unterschied zum
Ausdruck bringt. Die Ironie erreicht aber einen Höhepunkt, wenn Kritias
kurz danach (169e) die Unterscheidung aufhebt und Sokrates dieser Aufhebung
zustimmt! Die Ideenlehre setzt in der Tat die Einheit beider Momente voraus,
aber eben nicht im Sinne eines blossen formalen Wissens, weder in bezug
auf sich selbst, noch in bezug auf die Wissenschaften (epistemon episteme
166c). Sie ist weder (eristische) Logik noch Wissenschaftstheorie.
Diese
Diskurse erreichen erst ihre Begründung, wenn der logos sich
metaphysisch von einem ihn bedingenden Gegenstand bestimmen läßt.
Diese Sache liegt, wie Sokrates wiederum ironisch betont, "im gemeinsamen
Interesse aller Menschen" (166d), d.h. sie kann nicht auf die "relativen"
Interessen der Sophisten reduziert werden. Denn dem (platonischen) Sophisten
geht es primär darum, wer eine Aussage macht, der platonische Sokrates
dagegen ist um eine Erörterung der Sache bemüht. Damit muß
er aber die gängige "freie" Meinung, d.h. die von den Sophisten propagierten
Lehren, in Frage stellen. In diesem Sinne war Platon "Realist" genug, um
seine Lehre nicht dem völligen Mißverständnis auszuliefern.
Die Dialoge geben das Zerrbild dieser sozialhermeneutischen Bedingungen
wider. In diesem Sinne schreibt Kube zutreffend:
"Platon
muss bestimmte Meinungen im Auge gehabt haben, gegen die er sich wandte
und die ihm als eine Gefährdung seiner eigenen These vom agathon
als einzigen Bezug der areta erschienen. Was liegt da näher
als an das logos-Wissen der Sophisten zu denken, an jene episteme,
die allen anderen technai übergeordnet ist, durch die man panta
epistasthai und überall mitreden kann, die es einem Laien erlaubt,
einen Fachmann - wenigstens formal - zu beurteilen, wie das dann später
auch die aristotelische Logik tut? Dieses sophistische Wissen hat in platonischer
Sicht ja keinen Gegenstand, es urteilt auf Grund dialektischer Situationsanalysen
über die Richtigkeit bestimmter Maßnahmen, ohne ein Fachwissen
im eigentlichen Sinne zu besitzen." /21/
Auf die
Frage des Kritias, ob Sokrates einen eigenen Gegenstand der Sophrosyne
so wie bei den anderen technai aufweisen kann, betont Sokrates die
Schwierigkeit, indem er das Beispiel der Rechenkunst, bei der die Geraden
und Ungeraden im Verhältnis "zu sich" (pros auta) und "zu einander"
(pros állela) stehen, aufführt (166c). Beide Begriffe
lassen, so Gaiser /22/, auf einen Unterschied zwischen
dem
"eigentlich
autarken An-sich-Sein der Ideen und einer defizienten Form der Selbständigkeit
(...) ebenso auch zwischen der relativen Wechselbeziehung und der Beziehung
auf eine maßgebende Norm (Einheit)"
schließen.
Die sophrosyne hat als Gegenstand diese maßgebende sittliche
Norm, die als Techne-Norm sowohl für die areta als auch
für die physis gilt. Für diese Techne-Norm wirbt
Platon hier, indem er die Dialektik des propositionalen bzw. dianoetischen
Wissens von einem "höheren" noetischen logos aus in Frage stellt
und von der aus erst die Vielheit in ihren Zusammenhang zu einem Ganzen
begriffen werden kann.
An
dieser Stelle soll bemerkt werden, dass Platons "ungeschriebene Lehre"
zwar als eine metaphysisch-esoterische und letztlich auch intuitionistische,
aber keineswegs als eine "Geheimlehre" verstanden werden kann. Er hätte
sie dann nicht einmal ex negativo andeuten sollen. Ihr gegenüber
steht die aristotelische auf die Vermittlung von "Öffentlichkeit"
und "Schule" ausgerichtete Propädeutik. /23/
c)
Episteme epistemes (166e-171c)
Es handelt
sich hier um eine Argumentation ad absurdum: Würde sich nämlich
die sophrosyne, wie die Sophisten behaupten, über alle Wissensarten
erheben, so müßte sie auch um die Unwissenheit (anepistemosunes
episteme 166e) bzw. um den Unterschied zwischen Wissen und Unwissenheit
Bescheid wissen. Eine solche Wissenschaft wäre mit den anderen Wissensarten
nicht vergleichbar, müßte sich aber selbst, im äquivoken
Sinne also, Wissenschaft nennen (episteme epistemes). Das wäre
wie eine Größe (oder ein Klang, eine Farbe usw.), die nicht
mit anderen Größen verglichen werden kann, und die ihren Komparativ
auf sich selbst anwenden müßte.
Dieses
sowie andere Beispiele zeigen, dass Platon dem pluralistischen bzw. "relativistischen"
Denken der Sophisten von einer ex negativo behandelten Hierarchie
begegnet, bei der es sich stets um Korrelationsverhältnisse (pros
allo 169a) handelt, während die Sophisten stets das jeweils Richtige
(pros heauto) betonen. /24/ Dass es sich bei
dem Prinzip dieser hierarchischen Ordnung nicht um ein leeres Einheitsprinzip,
sondern um einen ontologischen Grund handelt, darauf zielt letztlich der
ganze Dialog hin. So gilt für Platon lediglich der Gegenstand der
sophrosyne als pros heauto (169a). Im selben Atemzug erwähnt
Sokrates seine "innere Stimme", die ihm sagt, dass die Besonnenheit "nützlich
und gut" (ophelimon ti kai agathon) sei. Gerade die an dieser Stelle
eintretende Verlegenheit (aporia) des Kritias zu einer "klaren Erläuterung"
(saphes) der Sache, d.h. des "Was" und nicht nur des "Dass", zeigt
erneut die zugrundeliegende metaphysische Auffassung des Guten, die im
Schlußteil des Dialogs wiederholt und immer nur mit Hilfe indirekter
Andeutungen zur Sprache kommt und alle bisherigen Argumente zusammenfaßt.
d)
Das Gute als Gegenstand der sophrosyne (171d-174e)
Wenn also
die sophrosyne keine episteme epistemes sein kann, dann hat
sie einen eigenen Gegenstand, und zwar nicht bloss einen formalen, sondern
es muss sich dabei um ein Wissen "des Guten" (to agathon) handeln.
Denn, wenn die sophrosyne lediglich die Herrschaft der einzelnen
technai wäre (panta technikos 173c), dann hätten
wir bessere Kleidung, wären wir körperlich gesünder usw.
es bliebe aber der Zweifel, ob wir dabei "gut handeln" (eu prattoimen
173d), da eben das Ziel (telos) des guten Handelns sich nicht auf
die Summierung der einzelnen Ziele reduzieren läßt, woraus also
die Glückseligkeit von Haus- und Staatsführung nicht bestehen
kann (kai oikias kai poleos 172d). Die Gründe für seine
(ironische) Skepsis trägt Sokrates in der Gestalt eines Traumes vor.
/25/
Dabei
betont Platon, dass das Glück (eudaimonia) vom "gut handeln"
(tous de eu prattontas eudaimonas einai 172a) abhängt, der
Ausdruck prattein bleibt aber unbestimmt, d.h. auf alle, auch handwerklichen,
Handlungen bezogen. Das Gegenteil von diesem "Tun" ist der logos
oder das gignoskein des Philosophen (sophia). Demgegenüber
wird Aristoteles auch die theoria als praxis - bzw. als praxis
i.e.S. - auffassen, wobei erst die sittliche praxis, im Sinne eines
vom Handelnden nicht lösbaren Hervorbringen des Guten, sich dadurch
von der poiesis wesentlich unterscheidet.
Über
den einen Gegenstand sagt Platon direkt nichts: es handelt sich um "eine
Kleinigkeit" nämlich (smikron toinun 173d) - die Ironie des
Ausdrucks ist mit der "kleinen Zugabe" der "Seelenanlage" zu Beginn des
Dialogs vergleichbar (154d) - wenn aber dieses eine Wissen fehlt, "dann",
so Sokrates, "ist es auch für uns vorbei mit dem richtigen und wahren
Nutzen aller jener Wissenschaften (epistemon)" (174d). So wäre
also die sophrosyne keine formale Über-Techne sondern
eine von ihrem Gegenstand her für diese massgeblich bleibende metaphysische
Über-Techne, sie ist also Kenntnis des Guten bzw. sie soll
den Maßstab geben für das, was unter ihr als techne gelten
darf. Die Einheit des platonischen Denkens im Sinne des anfangs erwähnten
Artikulationsprinzips zeigt sich nicht nur in der immer wieder unternommenen
Umdeutung des sophistischen Techne-Begriffs sondern auch in den
Anspielungen späterer Dialoge auf frühere Erörterungen.
So hebt Sokrates in bezug auf die Frage, welche Einzelwissenschaften den
Wahrsager - also denjenigen, der eine ausgedehnte techne über
Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges hat - glücklich
machen, hervor, dass dies nichts anderes sein kann als die Kenntnis des
Guten und Schlechten (174a-b). Diese Stelle, die wohl den Grundgedanken
dieses Dialogs zusammenfaßt, kehrt, wie wir gleich zeigen werden,
in der "Politeia" wieder.
Die
sophistische Auffassung der Sophrosyne im Sinne eines formalen Metawissens
ist - schließlich - logisch unhaltbar: Es wäre ein Wissen, das
sowohl von dem was es weiß, als auch von dem was es nicht weiß,
eine sichere Kunde hat. Wie man aber das, was man überhaupt nicht
weiß (me oiden medamos 175c) dennoch wissen soll, bleibt rätselhaft.
Die Lösung dieses Rätsels liegt für Platon in der Erinnerung
(anamnesis) bzw. im erwachenden Bewußtsein eines ursprünglichen
Zustandes des Wissens. Die hier aporetisch bleibende Reflexion wird im
"Lysis" wieder aufgenommen. Am Schluß des Dialoges hat die körperliche
Schönheit des Charmides nur einen peripheren Charakter: Es dreht sich
alles von nun an um die Erziehung der Seele.
3.
Hinweise auf den Techne-Begriff in anderen Dialogen im Anschluß
an die im "Charmides" behandelten Fragen
In den
anderen Dialogen, auf die ich hier nur kurz hinweisen kann, /26/
übernimmt Platon einige der im "Charmides" offengelassenen Fragen
bzw. baut seine Deutung des Techne-Begriffs weiter aus. Als Beispiele
dafür sind einige Stellen aus dem "Lysis" sowie aus der "Politeia"
aufzuführen. So stellt Sokrates im "Lysis" dem Menexenos die Frage,
wie einer des anderen Freund wird (212a), wobei die philia in einem
sehr weiten Sinne (etwa die Elternliebe sowie das Hauswesen umfassend)
verstanden wird. Im Vordergrund steht das Moment des Gegenstandes des Wissens,
wobei Platon die am Schluß des "Charmides" angesprochene Aporie nach
einer Kenntnis der Unwissenheit wiederaufnimmt. Gegenüber der formalen
Argumentation der Sophisten geht es jetzt erneut um den gesuchten Gegenstand
des Wissens, wovon aber der Sophist eben nichts wissen will. Die Logik
der Argumentation beruht auf dem Vermeiden eines regressus ad infinitum
unter Voraussetzung einer "pyramidalen" bzw. hierarchischen Struktur der
Zwecke. Dabei wird die Forderung nach einem "Anfang" (arche) bzw.
nach einem proton philon, auf den alle anderen technai als
dem gemeinsamen Zweck orientiert sind (hou heneka), gestellt. Demgegenüber
ist "alles andere" bzw. sind alle anderen Ziele wie "Schattenbilder" (eidola
219c-d). Andeutungsweise spricht Platon von diesem Ziel als einem agathon
(220b), von dem es zweideutig heißt, dass es "einem angehörig"
(oikeiou 221e) ist, im Hinblick nämlich darauf, ob dieses agathon
sich auf einen Zustand der Seele oder auf die "Idee des Guten", also auf
einen außerhalb der Seele sich befindenden Gegenstandes, beziehen
soll. /27/
In
den mittleren sowie in den späteren Dialogen kommt der Techne-Begriff
zur vollen Entfaltung, d.h. hier zeigt sich immer deutlicher, dass der
Gegenstand der philosophischen techne alle Gegenstände der
anderen technai überragt. Als Beispiel sei eine zentrale Stelle
im VI. Buch der "Politeia" aufgeführt. /28/ Dort ordnet Platon die
drei Tugenden, nämlich Weisheit (sophia), Besonnenheit (sophrosyne)
und Tapferkeit (andreia), hierarchisch-politisch den drei Gesellschaftsklassen
(den Herrschenden, den Erwerbenden und den Schützenden), sowie hierarchisch-psychologisch
den drei Seelenteilen (dem Vernünftigen, dem Begehrlichen, dem Zornmütigen)
zu (Polit. 441a). Mit einem fast wörtlichen Zitat aus dem Charmides
(Charm. 174a-b) stellt er den Zusammenhang der technai mit der "Idee
des Guten" dar:
"denn",
so Platon, "dass die Idee des Guten das höchste Wissen (megiston
mathema) darstellt, hast du oft gehört, sie, die durch ihre Mitwirkung
gerechte Handlungen sowie die anderen Handlungen dieser Art überhaupt
heilsam und nützlich macht. (...) Oder glaubst du, es sei ein Gewinn
alles Mögliche zu besitzen, nur das Gute nicht?" (505a-b).
Dabei
stellt Platon ausdrücklich die Frage nach dem eigentlichen Wesen des
Guten (ti pot esti t'agathon 506e) und weist auf das so oft vorgetragene
(pollakis eiremena 507a), also auf das, was die neuere Platonforschung
(Krämer, Gaiser) die "ungeschriebene Lehre" nennt, hin. Von diesem
zum Bereich des intuitiven Denkens gehörenden Gegenstand (en to
noeto 508b) äußert sich Platon schriftlich nur per analogiam
(analogon heauto 508b), d.h. er vergleicht ihn bekanntlich etwa
mit dem Licht bzw. der Sonne oder mit den in den mathematischen Wissenschaften
vorausgesetzten unsichtbaren Gegenständen, wie "die Diagonale selbst".
Die eigentliche d.h. intuitive Erkenntnis dieses absoluten Zieles ist für
Platon nur durch die Trennung der Seele vom Körperlichen zu erreichen.
Deshalb kann der Philosoph eine solche Kenntnis nicht in der gleichen Weise
mitteilen wie der technites, sondern er kann zunächst nur den
Weg dorthin weisen. Der Gang selbst erfordert eine "radikale Umkehr" der
Seele (psyches periagoge), d.h. eine Abwendung vom Wandelbaren und
Relativen. In diesem Sinne ist die philosophische techne (die Dialektik)
mit den anderen technai nicht vergleichbar,
"aber
nicht", wie Kube richtig bemerkt", "weil sie zu wenig, sondern weil sie
allein im vollen Sinn techne ist - oder wir müssen sagen: episteme,
denn Platon trennt jetzt zwischen dem auf unbewiesenen Voraussetzungen
beruhenden praktischen Wissen und jenem, das von der anupothetos archa
aus die Gründe von allem angeben kann (533 c/d). Eben durch die Forderung
des logon didonai also, die doch ursprünglich den technai
abgeschaut war, werden diese nun selbst als Modell entthront und einer
alles technische Wissen an Gründlichkeit übertreffenden episteme
unterworfen." /29/
So ist
also das Wissen des Guten ein reines Wissen des Voraussetzungslosen, dessen
Gegenstand den anderen "sogenannten Künsten" (to hypo ton technon
kaloumenon 511c) zugrundeliegt. Die Techne des Guten ist also
keine Meta-Techne im sophistischen bzw. formalen Sinne sondern sie
ist die eigentliche metaphysische Techne, deren Gegenstand alle
anderen überragt: epekeina des ousias (509b). Sie ist eine
techne im vollen Sinne, weil sie jene Forderung des logon didonai
allein erfüllt, weil sie Wissen des Absoluten, dessen also, was keine
Voraussetzung hat, ist. /30/ Von dieser "göttlichen
techne" (theia techne Soph. 265e) und ihren kosmischen
Werken berichtet Platon im "Timaios". So hebt also Platon die Autonomie
menschlichen Handelns und die Relativität der Zwecke in eine Verabsolutierung
des mit göttlichen Zügen ausgestatteten "Guten an sich" auf.
Denn "der Gott" (Nom. 716) und nicht "der Mensch" (Protagoras) ist das
Maß aller Dinge. /31/
In
den Spätdialogen "Sophistes", "Phaidros", "Politikos", "Philebos"
ist Platon zwar darum bemüht, den Zusammenhang zwischen der Idee des
Guten und der Welt des Werdens herzustellen, was aber zur Reduktion der
empirischen Wirklichkeit auf feste Grundelemente führt, deren Verhältnisse
unveränderbar sind. Grundlage bleibt dabei stets das höchste
göttliche Mass. Der Techne-Begriff erfüllt hier eine andere,
nämlich eine methodische Funktion, während in den Früh-
und Mittleren Dialogen die Zielsetzung Platons war, die Notwendigkeit eines
eigenen absoluten Gegenstandes der Arete, bzw. des Wissens um des Guten,
mit Hilfe des Techne-Begriffs nachzuweisen. Nachdem Platon die Pyramide
der Technai mit ihrem absoluten Ziel von unten nach oben aufgebaut hatte,
widerlegt er jetzt die Sophisten ebenfalls mit dem Techne-Begriff
in ihrem eigentlichen Feld, nämlich in der Welt des Werdens, indem
er den umgekehrten Weg geht. /32/
II.
Die aristotelische Kritik des platonischen Techne-Begriffs und die Begründung
der praktischen Philosophie
Es
ist das Verdienst des Aristoteles gewesen, durch eine genaue Analyse und
Kritik des platonischen Techne-Begriffs zur Begründung der
praktischen Philosophie als eines eigenständigen Bereiches beigetragen
zu haben. Er schlägt damit sozusagen einen Mittelweg zwischen dem
von Platon gewiß karikierten Formalismus und Relativismus der Sophisten
und der Gegenposition einer Aufhebung der Ethik in einem theologischen
Diskurs ein. /33/
Diese
Kritik und die sich daraus ergebenden Konsequenzen kommen am prägnantesten
in der Nikomachischen Ethik zum Ausdruck. Dort nämlich unterscheidet
Aristoteles nicht nur die herstellenden von den theoretischen Wissenschaften,
sondern er stellt das Wissen bezüglich der phronesis als einen
gegenüber der sophia eigenständigen Bereich dar. Ein solches
Wissen findet aber seine Erfüllung nicht in einem bloß gewussten
oder im einem hergestellten Gegenstand, sondern im tugendhaften Handeln
(praxis). Schauen wir uns Aristoteles' Argumentation im Einzelnen
an.
1.
Die Thesen
Aristoteles'
Grundposition ist nämlich die der Skepsis gegenüber der metaphysischen
Supposition der "Idee des Guten". So gibt er im ersten Satz der Nikomachischen
Ethik - durchaus im Einklang mit den Sophisten - zu, dass
"jede
techne und jede wissenschaftliche Untersuchung (methodos),
ebenso alles Handeln (praxis) und Wählen (prohairesis),
nach einem Gut (agathou tinos), wie allgemein angenommen wird, strebt"
(NE 1094 a 1-3) (34),
bestreitet
aber zugleich, dass von hier aus Rückschlüsse auf eine einzige
"Idee des Guten" zu ziehen wären. In seiner Kritik der platonischen
Position geht er einen Schritt weiter: auch im Falle der Annahme einer
solchen Prämisse wäre die conclusio in Frage zu stellen,
denn, so Aristoteles wörtlich,
"selbst
wenn es 'das Gute' gäbe, das eines ist und in übergreifender
Weise ausgesagt wird oder das getrennt und an sich existierte, so ist doch
klar, dass ein solches 'Gutes' durch menschliches Handeln (prakton)
nicht verwirklicht und auch nicht erreicht werden könnte. Nun ist
es aber doch gerade ein solches Gutes, das wir suchen." (NE 1096 b 31-35)
Damit
ist der platonischen Argumentation der Boden entzogen: die einzelnen technai
brauchen keineswegs die Erkenntnis des einen Guten beim Streben nach ihrem
jeweiligen Zweck. Aristoteles führt in diesem Zusammenhang ein weiteres
Argument ein:
"Es
ist wenig plausibel, dass die Vertreter der praktischen Künste (technites)
alle miteinander ein so bedeutendes Hilfsmittel ignorierten und sich gar
nicht darum bemühten." (NE 1097 a 6-8).
Er vertraut,
mit anderen Worten, dem common sense einer scientific community
vor allem gegenüber einem rein theoretischen und absoluten Wissen
als unmittelbare Schau des "Guten an sich", dessen konkreter Nutzen für
den Arzt, den Feldherrn usw. nicht einzusehen ist. Daraus ergibt sich also
die Möglichkeit und Notwendigkeit das Wissen der phronesis
und seiner Selbständigkeit und Eigenartigkeit gegenüber den anderen
technai sowie gegenüber einem rein theoretischen Wissen herauszuarbeiten.
Leitfaden für die im VI. Buch der "Nikomachischen Ethik" (NE) durchgeführte
Argumentation ist die Kritik des platonischen Techne-Begriffs.
Diese
Kritik umfasst folgende Aspekte:
a)
Techne/poiesis vs. phronesis/praxis
Aristoteles
schränkt den Techne-Begriff auf das Wissen bezüglich der
Hervorbringung (poiesis) des Veränderlichen ein. Demgegenüber
stellt er den Bereich menschlicher Handlungen (praxis), dessen Wissen
die phronesis ist. Obwohl Aristoteles den praxis-Begriff
als das Wesen alles Lebendigen auffaßt, schränkt er hier diesen
Begriff im Sinne einer spezifisch menschlichen Kategorie unter Bezug auf
den logos ein. /35/
Die
phronesis zielt auf das "gute Leben" des Menschen "insgesamt" (holos
NE 1140 a 25). Die Bestimmung dieses allgemeinen Zieles erfolgt einerseits
durch die ethische Tugend, andererseits (im Hinblick auf die Mittel) durch
die Klugheit (NE 1144a). Der Irrtum des Sokrates, so Aristoteles anschließend,
bestand darin, dass er die Tugenden zu besonderen Arten der Klugheit machte
- dass er sie also intellektualisierte. Die Tugenden sind aber nicht der
Vernunft untergeordnet sondern mit ihr verbunden. Da es sich stets um menschliche
Tugend handelt, bleibt das Thema der praktischen Philosophie, die konkrete
Bestimmung des (sittlichen) Glücks also, auf das bezogen, was für
den Menschen (individuell und politisch) jeweils erreichbar ist.
"Ein
kluger Mann", so Aristoteles, "scheint sich also darin zu zeigen, dass
er wohl zu überlegen weiß, was ihm gut und nützlich ist,
nicht in einer einzelnen Hinsicht, z.B. in bezug auf Gesundheit und Kraft,
sondern in bezug auf das, was das menschliche Leben insgesamt gut und glücklich
macht." (EN 1140a 25) (meine Hervorhebungen) (ou kata meros, alla
poia pros to eu zen holos).
Mit dem
"insgesamt" unterscheidet sich Aristoteles von einem blossen Relativismus
bzw. einer Auflösung der Sittlichkeit in den technai. Gegenüber
Platon stellt er nicht die Kenntnis eines für den Menschen "absoluten"
Guten, sondern das beratende Gespräch in bezug auf das, was im Einzelfall
zur Entscheidung steht in seinem Bezug auf das "gute Leben" insgesamt,
und zwar gemäß der Tugend im Rahmen der erfassungsordnung einer
auf Gleichheit beruhenden freien Bürgergemeinde (polis). /36/
Mittel
und Wege zum "guten Leben" (eu zen) des Einzelnen und der Polis
stehen nicht von vornherein fest und sie können auch nicht von einer
einzelnen techne bestimmt werden, sondern eben von der phronesis,
in Wechselwirkung mit den natürlichen Anlagen und den ethischen Tugenden.
Diese aristotelische Lehre verbindet, wie Bien richtig hervorhebt,
"in
genialer Weise dialektisch alle drei Momente (NE VI 13, 1144 a 6-1145 a
2). Die als Anlage vorhandene natürliche Tugend (1144 b 16) wird allererst
durch den Hinzutritt der praktischen Vernunft in Form der Klugheit zur
eigentlichen Tugend (kyria areta). Diese Klugheit wird ihrerseits
zu einem positiven rationalen Vermägen erst durch die ethische Tugend".
/37/
Technai
und epistemai - darunter vor allem "Politik" und "Ökonomie"
- bilden, so Aristoteles in Anschluß an die Sophisten, die Grundlagen
des beratenden ethisch-politischen Gesprächs. Zwischen dem Einzelnen
und dem Staat (polis) tritt das Haus (oikos) als Vermittlung
ein, wobei Aristoteles, gegenüber der Identifikation von Staat und
Haus bei Platon, die Unterschiede dieser Ordnungen, gerade in bezug auf
das gute Leben (eu zen), betont, ohne sie aber als grundsätzliche
bzw. absolute Unterschiede aufzufassen. /38/
Ein
weiterer wichtiger Punkt bei dieser Unterscheidung zwischen phronesis
und techne ist, dass die technai ihr Ziel als ein ausserhalb
ihrer liegendes Ergebnis ansehen, während das Ziel der sittlichen
Praxis (eupraxia) eben diese tugendhafte ethisch-politische Praxis
selbst, bzw. selbstzweckhaft ist. Zur Erlangung dieses menschlichen Zieles,
also des Praktisch-Guten (agathon prakton) dient nicht bloß
ein erlernbares Fachwissen, sondern das beratende Gespräch und zwar
in bezug auf den Einzelfall. Von hier aus ergeben sich die folgenden Unterscheidungen.
b)
phronesis (sophrosyne): weder episteme noch techne
Phronesis
oder sittliche Einsicht (sophrosyne) /39/, kann
weder eine episteme noch eine techne sein: episteme
nicht, weil ihr Gebiet ein Veränderliches ist; techne auch
nicht, weil praxis und poiesis unterschiedliche Gattungen
(genos) sind (NE 1140 b 4). Somit ist eine Wissenschaft des Guten,
wie Platon sie als Maßstab für den Menschen fordert, nicht möglich
oder sie ist eine metabasis eis allo genos.
c)
Die Vollendbarkeit der "techne" und die Unvollendbarkeit der phronesis
Eine techne
kann eine vollendete Stufe erreichen, die phronesis bleibt immer
"relativ" auf den "Einzelfall" bezogen nämlich, d.h. sie hat bescheidenere
Ziele. Damit setzt sich Aristoteles von einer rein formalistischen sophistischen
Position einer Über-techne ab.
d)
Fehlerhaftigkeit bei den technai, nicht aber bei der phronesis
Bei einer
"techne" kännen absichtlich oder unabsichtlich Fehler im Hinblick
auf den herzustellenden Gegenstand auftreten. Nicht aber bei der phronesis,
sowie bei den anderen Tugenden, weil es sich um eine Haltung handelt, die
nicht in ihr Gegenteil umschlagen kann, ohne sich selbst zu leugnen (NE
1140 b 24-28) Auch hier hebt sich Aristoteles deutlich von den Sophisten
ab.
e)
Vergessen und Erlernen von phronesis und techne
Schließlich
unterscheidet Aristoteles die phronesis von den technai dadurch,
dass sie nicht vergessen werden kann, dass sie also kein bloßes erlernbares
Wissen, sondern eine menschliche "Anlage" ist, die sich aber erst in der
gemeinsamen Beratung zu bewähren hat. Die natürliche Tugend wird
erst in Verbindung mit der praktischen Vernunft zur eigentlichen Tugend.
Und umgekehrt: erst durch die ethische Tugend wird die phronesis
zu einem unauflösbaren Moment der Tugend. Gegenüber der einseitigen
sophistischen und platonischen Auffassung betont Aristoteles
"dass
es unmöglich ist, im eigentlichen Sinne tugendhaft zu sein, ohne Klugheit,
noch klug ohne sittliche Tugend." (NE 1144 b 30-32).
2.
Schlußfolgerung: Die Begründung der praktischen Philosophie
Aus dieser
Argumentation ergibt sich, dass Aristoteles die phronesis sowohl
von episteme und sophia - in Form des philosophischen Weisen
- als auch von techne - in der Gestalt des Baumeisters Phidias -
unterscheidet. Somit trennt er einerseits den Bereich der praktischen von
dem der theoretischen Philosophie. Andererseits und darüber hinaus
trennt er das auf die Herstellung von Gegenständen bezogene Wissen
der technai von dem des sich in der Praxis selbst verwirklichenden
sittlichen Wissen. Sofern die techne etwas bewirkt, ist sie auch
praxis, aber im Gegensatz zur sittlichen Bestimmung von praxis,
bleibt hier der Gegenstand losgelöst vom Handelnden. Die theoria
ist dann praxis im eigentlichen Sinne, d.h. Vollzug des menschlichen
Daseins. Aristoteles bestimmt aber den Praxisbegriff im Sinne von Lebensvollzug
auch in einem umfassenderen Sinne von Lebensvollzug aller Lebewesen sowie
letztlich im Sinne von Bewegung überhaupt. Demnach handelt lediglich
(der) Gott nicht. /40/
Sollte
der Mensch die Gegenstände der sophia verwirklichen müssen,
dann müßte er "das höchstwertige Wesen im Weltall" sein,
was er aber nicht ist (NE 1141 a 21-22). So beschränkt sich also die
phronesis auf die Suche dessen, was für den Menschen gut ist
(NE 1141 b 8), und zwar, indem der Mensch die ethische Erfüllung,
das Glück also /41/, nicht in der theoretischen
Kenntnis, sondern in der selbstzweckhaften Verwirklichung des für
ihn machbaren Guten (prakton agathon) findet. Demnach ist das ethische
Wissen nicht mit einer techne oder mit einer episteme sondern
höchstens mit dem Wissen vergleichbar, das Leute mit "praktischer
Erfahrung" (oi empeiroi NE 1141 b 18) haben. Ethisch zu handeln
lernt man also, auf der Basis einer allgemeinen Anlage, aus Erfahrung und
nicht aus einer übergeordneten Theorie. Und umgekehrt: das höchste
Wissen ist ethisch neutral.
Ausblick
Zusammenfassend
läßt sich also sagen, dass für Platon das Ethische sich
in der intuitiven Erkenntnis des höchsten Gegenstandes, metaphysisch
bzw. techno-theo-logisch verwirklicht, während es für Aristoteles
im praktischen auf den Menschen bezogenen Handeln besteht. Somit ist also
Aristoteles' Kritik der platonischen Ethikbegründung in ihrem Kern
nicht nur eine Kritik der Hypostasierung der Idee des Guten, sondern zugleich
die Kritik einer intellektualistischen Position auf der Basis eines letztlich
nur der Intuition zugänglichen, weil absolut aufgefaßten, Gegenstandes.
Die begriffliche Grundlage der platonischen Ethik liegt in der entsprechenden
Verabsolutierung des Techne-Begriffs, so dass genau an diesem Punkt die
aristotelische Kritik auch ansetzt und am schärfsten ist. Wenn Aristoteles
die Handwerker (cheirotechnai) mit ausführenden Verwaltungsbeamten
vergleicht (NE 1141 b 27-29), dann weil sie auf niedrigster Ebene ein Wissen
vom Allgemeinen haben, das nicht mit der ethischen Praxis, etwa der Beratung
und Entscheidung im Einzelfall in der Staatsführung (politike)
gleichgestellt werden kann.
Die
von Aristoteles vollzogene Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie
bedeutet nicht, dass der sittliche logos und der logos der
sophia völlig disparat wären, sondern umgekehrt: die platonische
Identifikation beider Bereiche beruht auf einem intellektualistischen die
menschliche Selbständigkeit aufhebenden Vorurteil. /42/
Was
das Gute ist, läßt sich aber nicht im voraus feststellen bzw.
erkennen, sondern muß je in gemeinsamer Verabredung, wo also jeder
das gleiche Recht hat, sich dazu zu äußern, gefunden werden.
Außerdem kann das "gute Leben" nicht beim Individuum, beim oikos
und bei der polis gleichmäßig verwirklicht werden. Die
Theorie dieser Praxis ist weder mit der Schau des Guten, noch ist diese
Schau mit der sittlichen Praxis selbst zu verwechseln. In diesem Sinne
bemerkt Gadamer:
"Die
Frage nach dem Guten im Tun und Sein des Menschen findet das menschliche
Dasein jeweils schon vor konkrete Aufgaben gestellt vor, innerhalb deren
das, was jeweils das Gute ist, zu wählen ist. Nicht aus einer allgemeinen
Idee des Guten (selbst wenn es sie gäbe) ist diese konkrete Frage
zu beantworten. Sofern das Handeln des Menschen immer im konkreten Jetzt
einer Situation steht, ist freilich die Wahl des jeweils Guten überhaupt
nicht durch eine (notwendig auf allgemeine und sich gleichbleibende Seinsverhältnisse
beschränkte) Wissenschaft dem Handelnden abzunehmen." /43/
Die Frage
nach dem Guten stellt sich also immer vor konkreten Aufgaben bzw. Wahlmöglichkeiten
und sie ist nicht aus einer allgemeinen Idee des Guten (selbst wenn es
sie gäbe) zu beantworten. Sofern das Handeln des Menschen immer in
einer Situation steht, ist diese Frage nicht durch eine theoretische Wissenschaft
im Sinne eines notwendig auf ein allgemeines und sich gleichbleibendes
Seinsverhältnis bezogenen Wissens, zu beantworten; sie würde
nur dem Handelnden die Verantwortung für sein konkretes Tun abnehmen.
/44/ Pointiert formuliert läßt sich also
die aristotelische Kritik so zusammenfassen: Weder müssen wir alle
weise sein um gut zu handeln, noch handeln alle Weisen, weil sie weise
sind, gut. Damit wird nicht der bios politikos gegen den bios
theoretikos ausgespielt, sondern dieses letztere, für Platon und
Aristoteles ranghöchste Leben, stellt sich für Aristoteles nicht
als Negation, sondern als Überbietung des dem sterblichen Menschen
Möglichen dar.
Angesichts
einer weder metaphysisch-hierarchisch noch modern-systematisch zu überschauenden
Vielfalt von Fachdisziplinen in unserer wissenschaftlich-technisch geprägten
Welt und angesichts der Notwendigkeit diese Vielfalt nicht einfach in ihrer
bloßen Relativität walten zu lassen, da die Auswirkungen eines
solchen sophistischen Weges bereits tödlich geworden sind, stellt
sich die ethische Frage immer dringender, wie man nämlich diese Vielfalt
auf die offenen Ziele menschlichen Zusammenlebens insgesamt beziehen kann.
Im Vordergrund steht dabei zum einen die (sophistische) Frage nach der
Wissensmitteilung - nach dem also, was wir heute Information nennen - und
zum anderen der Zusammenhang dieses technischen und sozialen Vermittlungsprozesses
mit der ethisch-politischen Verwirklichung einer weltumspannenden Gemeinschaft.
Dass diese Frage wiederum weder losgelöst vom Menschen noch von der
physis, d.h. also, dass sie nicht bloß anthropozentrisch sondern
zugleich ökologisch gestellt und beantwortet werden muß,
das macht unsere Nähe und unsere Ferne zu den Sophisten, zu Platon
und zu Aristoteles zugleich aus. Denn, wer würde heute den Spruch
des Sophisten Antiphon nicht zustimmen, dass nämlich alle Menschen
gleich sind:
"Atmen
wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus und essen wir
doch alle mit Hilfe der Hände?" (Diels, Fr. 44 B).
Vorausgesetzt,
wir haben alle etwas zu essen und wir können durch Mund und Nase die
noch unverseuchte Luft atmen /45/. Die Erörterung
dieser Fragen in der Antike ist heute aktueller denn je.
Letzte
Änderung: 29. Oktober 2001
|