Einführung
Gewöhnlich
verbinden wir Begriffe wie Einbildungskraft, Kreativität
und Phantasie mit der künstlerischen Tätigkeit. Wir betrachten
ein Bild von Cézanne, hören eine Komposition von John Cage,
lesen ein Gedicht von Rilke oder bewundern die vollendete Harmonie eines
griechischen Tempels und erkennen, dass dabei eine je besondere Synthese
von Farben, Tönen, Sprachgebilden, Materialien geschaffen wurde. Worin
diese Besonderheit bei der Kunst liegt, soll zunächst offen bleiben.
Wir sprechen von Kreativität aber auch bei wissenschaftlichen Entdeckungen,
technischen Erfindungen und in der Wirtschaft. Schließlich beziehen
wir uns auf die Leistungen der Einbildungskraft auch im Alltag, wenn wir
zum Beispiel sagen: "Stell Dir vor, wie dieses Zimmer mit weißen
Wänden aussehen würde", oder: "Du weißt, wie rutschig die
Straße morgen ist, wenn es heute nacht schneit", oder "Kannst du
Dir vorstellen, wie das Gitarrenkonzert gestern im Freien geklungen hätte?"
Jedesmal
verbinden wir Sachverhalte, die wir wahrnehmen bzw. bereits wahrgenommen
haben, mit einer gegenwärtigen, künftigen oder vergangenen Situation,
die wir uns anders vorstellen oder erst ausmalen sollen. Wahrnehmung,
Erinnerung und Einbildungskraft hängen eng zusammen. Die Einbildungskraft
schafft gewissermaßen eine eigene Realität, indem sie verschiedene
in der Erinnerung aufbewahrte Eindrücke miteinander verknüpft:
Wir waren schon im Freien und wir haben auch Gitarrenkonzerte gehört.
Jetzt sollen wir uns das gestrige Gitarrenkonzert im Freien, das wir nicht
erlebt haben, vorstellen. In allen drei Fällen verbinden wir Sachverhalte,
die wir wahrnehmen bzw. bereits wahrgenommen haben, mit einer gegenwärtigen,
künftigen oder vergangenen Situation, die anders vorzustellen ist,
als sie war oder ist bzw. die wir uns erst ausmalen sollen. Wahrnehmung,
Erinnerung und Einbildungskraft hängen eng zusammen. Die Einbildungskraft
schafft gewissermaßen eine eigene Realität, indem sie verschiedene
in der Erinnerung aufbewahrte Vorstellungen von wahrgenommenen Gegenständen
miteinander verknüpft: Wir waren schon im Freien und haben auch Gitarrenkonzerte
gehört. Jetzt aber sollen wir uns das gestrige Gitarrenkonzert, bei
dem wir nicht dabei waren, vorstellen. Die Einbildungskraft ist somit ein
Vermögen, wodurch wir uns abwesende oder noch nicht dagewesene Dinge
vorstellen können, indem wir verschiedene sinnliche Eindrücke
in Abwesenheit der sie verursachenden Gegenstände miteinander verbinden.
Demgegenüber sagen wir, dass wir etwas nicht bloß vorstellen,
sondern tatsächlich erkennen, wie es ist, wenn wir den Inhalt der
Vorstellung mit dem entsprechenden Gegenstand in Beziehung setzen. In diesem
Fall übt die Einbildungskraft eine Vermittlungsfunktion zwischen Wahrnehmen
und Denken aus.
Das
Urteil: 'Diese Straße ist rutschig', bei dem wir, Dank der Einbildungskraft,
Begriffe mit Anschauungen verbinden, ist dann und nur dann wahr, wenn wir
feststellen, dass die im Urteil angesprochene Vorstellung einer rutschigen
Straße mit dem tatsächlichen Zustand dieser Straße übereinstimmt.
Die Vorstellung wie morgen die Straße aussehen wird, wenn es schneit,
oder, wie das Zimmer aussehen könnte, wenn sie weiß gestrichen
wäre, ist zunächst bloße Einbildung. Die Einbildungskraft
vermittelt dabei in einer produktiven Weise zwischen vergangenen, gegenwärtigen
und künftigen Erfahrungen. Der Phantasie entspringen aber auch reale
Gegenstände. Wir unterscheiden zwischen natürlichen und technischen
bzw. künstlerischen Produkten. Im letzten Fall übt die Einbildungskraft
eine Vermittlungsfunktion zwischen Wissen und Herstellen aus. Die Antike
nannte mit einem Wort das künstlerische und das technische
Herstellen, nämlich poiesis, was nicht heißt, dass man
damals nicht zwischen einem originellen Produkt und seiner Reproduktion
zu unterscheiden wußte oder die Spannung zwischen dem Schönen
und dem Nützlichen mißachtet hätte. Heute überschreitet
eine digital und multimedial sich ausdrückende Phantasie die Grenze
zwischen Realität und Simulation (Rötzer 1991).
Die
Alltagserfahrung lehrt schließlich auch, daß die Einbildungskraft
nicht nur im wachen Zustand tätig ist. Ihre Traumarbeit, die die Psychoanalyse
im Sinne von Verdichtungen und Verschiebungen verdrängter Wünsche
auslegt (Freud 1982, S. 470) konfrontiert uns nicht weniger als ein Kunstwerk
mit dem, was die Sprache nicht sagen und der Begriff nicht begreifen kann.
Die Einbildungskraft ist also ein komplexer Sachverhalt, der physiologische,
psychologische, wirtschaftliche, kulturgeschichtliche, erkenntnistheoretische,
ästhetische, alltagspragmatische und letztlich auch metaphysische
Aspekte hat.
Ziel
der folgenden Ausführungen ist es, an verschiedenen philosophischen
Ansätzen einige zentrale Dimensionen der Einbildungskraft zu erschließen.
Antike und Mittelalter bieten einen Einstieg in die synthetisierende und
vermittelnde Fähigkeit der Einbildungskraft im Hinblick auf die Dingwahrnehmung.
Wir folgen dabei den Erörterungen von Aristoteles und Thomas von Aquin
im erstenen Kapitel: "Von Aristoteles zu Thomas von Aquin: Die synthetisierende
und vermittelnde Kraft der Phantasie". Danach betrachten wir die Einbildungskraft
in Anschluß an Kant als eine konstruktive Tätigkeit des Subjekts
und verfolgen ihre Transformation in Heideggers Phänomenologie im
zweiten Kapitel: "Von Kant zu Heidegger: Die imaginative Konstruktion der
Wirklichkeit".
1.
Von Aristoteles zu Thomas von Aquin: Die synthetisierende und vermittelnde
Kraft der Phantasie
In seiner
Schrift Über die Seele definiert Aristoteles die Einbildung (phantasia),
indem er sie von der Wahrnehmung (aisthesis) und dem Denken (noein)
unterscheidet (De an. 427 b 9-12. Die weiteren Ausführungen folgen,
soweit nicht anders vermerkt, De an. 427 ff.) Denken kann richtig oder
falsch sein, insofern nämlich zutrifft, was wir von einem Gegenstand
behaupten oder nicht. Im Unterschied dazu ist die Wahrnehmung immer wahr,
soweit sie sich auf die "eigentümlichen Gegenstände" (idia)
bezieht. Unter "eigentümliche Gegenstände" versteht Aristoteles,
die Arten des Wahrnehmbaren, die den einzelnen Sinne zugehören, also
der Schall dem Gehör oder die Farbe dem Sehvermögen usw. Das
Auge kann sich nicht darin täuschen, daß es eine Farbe sieht
(und nicht vielmehr einen Geruch), wohl aber können wir uns bei der
Wahrnehmung darüber täuschen, was und wo der farbige Gegenstand
ist (De an. 418 a 16). Ein weiterer Unterschied zwischen Wahrnehmen und
Denken besteht darin, dass Denken nur dem Menschen zukommt, d.h. dem Wesen,
das sprechen kann (logos), Wahrnehmung aber auch Tieren.
Was
ist aber dann die Einbildung? Die Einbildung ist der Vorgang, durch den
ein Vorstellungsbild (phantasma) in uns entsteht (De an. 428 a 1-2).
Sie ist mit der Wahrnehmung verwandt, da sie nicht ohne diese möglich
ist. Sie kommt offenbar einigen Tieren zu. Da die Vorstellungsbilder sich
vom Gegenstand loslösen, bedarf die Einbildung des wachen Zustandes
nicht. Wir können im Traum keine Gegenstände wahrnehmen, wohl
aber Vorstellungsbilder (De an. 428 a 8). Im Gegensatz zur Wahrnehmung
der "eigentümlichen Gegenstände" gibt es nun wahre und falsche
Vorstellungen. Demnach ist die Einbildung eine Kraft (dynamis),
die nicht nur mit der Wahrnehmung, sondern auch mit dem Denken im Sinne
eines Meinens (doxa) oder Vermutens (pistis) verwandt ist.
Sie
ist aber keine Verknüpfung von Wahrnehmen und Vermuten, da wir zwar,
um zu vermuten Vorstellungen brauchen, nicht aber umgekehrt. Die Einbildung
hat also einen höheren Grad an Willkür, während wir beim
Vermuten auf das angewiesen sind, wie es sich tatsächlich mit der
Sache verhält So können wir zum Beispiel eine Vermutung über
die Größe der Sonne anstellen, ohne dass wir unsere gewöhnliche
Vorstellung von ihr ändern (De an. 427 b 21). Der Ursprung des Vorstellungsbildes
liegt in der Bewegung (kinesis), die von der tatsächlich stattgefundenen
Wahrnehmung ausgeht, sich aber von dieser verselbständigt (De an.
429 a 1-2). Aristoteles leitet das Wort phantasia vom "Lichtschein"
(phaos) ab,
"da
das Gesicht in besonderem Maße das Wahrnehmungsvermögen ist"
und "weil man ohne Licht nicht sehen kann" (De an. 429 a 3-4).
So wie
man also ohne Licht nicht sehen kann, so kann man auch nicht Vorstellungen
mit Hilfe der Einbildungskraft von ihrem Ursprung loslösen und sie
miteinander beliebig verknüpfen, ohne sie vorher wahrgenommen zu haben.
Die Einbildungskraft hat aber, außer der Fähigkeit des Synthetisierens
von Vorstellungen in Abwesenheit des wahrgenommenen Gegenstandes, auch
die des Vermittlung zwischen Wahrnehmung und Denken.
Die
Seele (psyche) ist für Aristoteles "Ursache und Grund" des
Leibes (De an. 415 b 8). Der Geist (nous) ist jener Teil der Seele,
womit diese nachdenkt und vermutet. Aristoteles unterscheidet zwischen
einem "tätigen Geist" (nous poietikos) und einem "leidenden
Geist" (nous pathetikos). Der "tätige Geist" ist an sich nicht
mit dem Körper vermischt (De an. 429 a 24-25). Im Falle des Menschen,
eines geistig-leiblichen Wesens also, muß er sich den Vorstellungsbildern
zuwenden, um zu denken, denn "die Seele denkt nie ohne Vorstellungsbilder"
(De an. 431 a 16-17). Er verhält sich dabei "wie die Kunst zu ihrem
Material" (De an. 430 a 12-13). Den Teil, in dem das Denkbare an den Vorstellungsbildern
aktualisiert wird, nennt Aristoteles "leidender Intellekt" (nous pathetikos)
(De an. 430 a 24). Das, was die Wahrnehmung für die Einbildungskraft
ist, ist wiederum die Einbildungskraft für das Denken (De an. 431
a 14-15):
"denn
die Vorstellungsbilder sind gleichsam Wahrnehmungsbilder, nur ohne Materie"
(De an. 432 a 9-10).
Die Hinwendung
des Denkens zu den Vorstellungsbildern der Phantasie hat aber für
Aristoteles nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Dimension.
So kann zum Beispiel jemand, für den eine bewegte Fackel ein Zeichen
der Anwesenheit des Feindes bedeutet, einen Beschluß treffen, ohne
dass er selbst die bewegte Fackel wahrnimmt, d.h. anhand einer durch die
Mitteilung bei ihm wachgerufenen Vorstellung. Wir wägen also anhand
von Vorstellungsbildern künftiges Handeln ab (De an. 431 b 1-9). Nicht
nur die reine, sondern auch die praktische Vernunft ist auf die Tätigkeit
der Einbildungskraft angewiesen.
Schließlich
ist für Aristoteles auch das Mathematische eine Hervorbringung der
Einbildungskraft, indem man etwas als "getrennt" (kechorismena)
vorstellt, so wie man sich das Hohle einer Stumpfnase "ohne Fleisch" vorstellen
kann (De an. 431 b 14-15). Dieses spöttische Bemerkung ist zugleich
eine Kritik an Platons Lehre von den abgetrennten mathematischen Ideen.
Denn, so Aristoteles anschließend, die denkbaren Formen sind in den
wahrnehmbaren enthalten, und niemand kann ohne Wahrnehmung und Vorstellung
etwas lernen oder verstehen. Die abstrakten Begriffe(noemata) sind
zwar keine Phantasiebilder (phantastama), sie entstehen aber nicht
ohne diese (De an. 432 a 13-14).
Aristoteles
faßt seine Lehre von der vermittelnden und synthetisierenden Fähigkeit
der Einbildungskraft zusammen, indem er zwischen einer auf den logos
bezogenen "überlegenden Phantasie" (phantasia logistike), die
dem Menschen eigen ist, und einer "sinnlichen Phantasie" (phantasia
aisthetike), an der auch andere Tiere teilhaben, unterscheidet (De
an 433 b 29-30). Es bleibt dabei offen, inwiefern ein Lebewesen (zoon),
das nur über den Tastsinn verfügt, eine "vage" (aoristos)
Vorstellung, d.h. eine Art unterstes Phantasievermögen, haben kann
(De an. 434 a 5). Gemeint sind aber nicht die Pflanzen (phyta),
da diese für Aristoteles nicht wahrnehmen können (De an. 435
b 1). Demgegenüber ist eine besondere Auszeichnung des Menschen, dass
er Überlegungen über das Ziel seines Strebens (orexis)
anstellen kann, indem die Phantasie "aus mehreren Vorstellungen eine einzige
macht" (De an. a 9-10). Die menschliche Phantasie zeichnet sich also gegenüber
der tierischen durch ihre Fähigkeit aus, aufgrund einzelner Vorstellungen
beliebige Synthesen herstellen zu können, um diese in theoretischer
und praktischer Hinsicht, und jeweils in Wechselwirkung mit anderen geistigen
und sinnlichen Kräften, zu verwenden.
Das
Angewiesensein des theoretischen und praktischen Denkens auf die durch
die Einbildungskraft synthetisierten Vorstellungen mit ihrem notwendigen
Ursprung in der sinnlichen Wahrnehmung hat weitreichende philosophiegeschichtliche
Auswirkungen und Entsprechungen, so zum Beispiel in Kants Auffassung vom
Bezug menschlichen Denkens auf die Anschauung (Kant 1974, A 19). Doch bevor
die neuzeitliche Drehung in die Subjektivität vollzogen wird, macht
Thomas von Aquin aus der aristotelischen Lehre von der Mittelstellung der
Einbildungskraft (phantasia, imaginatio) zwischen Wahrnehmen und
Denken den Mittelpunkt seiner "Metaphysik der endlichen Erkenntnis" (K.
Rahner, 1957).
In
der Summa Theologica erörtert Thomas die Frage, ob der Intellekt
anhand von Begriffen (species intelligibiles) etwas aktuell erkennen
kann, ohne sich den aus dem Wahrnehmungsprozeá entstandenen Vorstellungen
(phantasmata) zuzuwenden (ST I, 84, Art. 7. Die weiteren Ausführungen
folgen, soweit nicht anders vermerkt, ST I, 84-86). Die schlichte Antwort
zu dieser Frage lautet: Nein. Der Grund dafür liegt für Thomas
darin, dass Leib und Seele eine substantielle Einheit bilden, wobei die
Seele die einzige substantielle Form des menschlichen Leibes ist (humani
forma corporis) (ST I, Q. 76, Art. 1).
Thomas
erläutert seine These anhand von zwei empirischen Beoabachtungen:
1.
Wenn die Einbildungskraft aufgrund einer organischen Verletzung nicht tätig
werden kann ("wie bei den Geisteskranken") oder wenn die Gedächtniskraft
verhindert ist ("wie bei den Besinnungslosen"), dann vermag der Mensch
nicht zu denken, und zwar auch nicht das, was er schon wußte. Wir
müssen also, um zu denken, die Vorstellungsbilder nicht nur bewahren,
sondern uns ihrer auch bedienen können.
2.
Jeder kennt die Erfahrung, dass er, um etwas zu verstehen, Vorstelllungen
(phantasmata) "nach Art von Beispielen" formt, "um in ihnen gleichsam
die Anschauung für seine Denkbemühung zu gewinnen". Das tun wir
vor allem, wenn wir einem anderen etwas verständlich machen wollen.
Aus diesem Grund hat die Einbildungskraft für Thomas eine entscheidende
pädagogische Bedeutung (ST I, Quaestio 84, Art. 7).
Warum
die Einbildungskraft im Mittelpunkt einer "Metaphysik der endlichen Erkenntnis"
steht, geht klar aus dem Unterschied eines von der Leiblichkeit abgesonderten
Intellekts, wie im Falle des göttlichen oder engelischen, hervor.
Menschlichem Erkennen ist aufgrund seines wesentlichen 'Im-Leibe-seins'
eigentümlich, dass es die Dinge ausgehend von der sinnlichen Erfahrung,
d.h. also durch Wahrnehmung (sensus) und Einbildungskraft (imaginatio),
und in Rückbezug auf diese, erfaßt. Unser Intellekt vermag zwar
begrifflich-abstrakt zu denken, ist aber auf die sinnliche Wahrnehmung
sowie auf die vermittelnde Funktion der Einbildungskraft angewiesen, um
von den Dingen etwas zu behaupten. Wie ist das zu verstehen?
Das
Zusammenwirken von Wahrnehmung, Einbildung und Intellekt läßt
sich folgendermaßen beschreiben: Aufgrund des Wahrnehmungsprozesses
bildet die Einbildungskraft (phantasia) Vorstellungsbilder(phantasmata):
"die
Tätigkeit des Sinnes kommt dadurch zustande, daß der Sinn durch
das Sinnliche verändert wird. Die andere Tätigkeit ist die Gestaltung
(formatio), sofern die Phantasie sich ein Bild (idolum) eines
nicht gegenwärtigen oder auch niemals gesehenen Dinges bildet. Und
diese beiden Tätigkeiten sind in dem Verstande verbunden." (ST I,
Q. 85, Art. 2)
Der "tätige
Intellekt" (intellectus agens) wirkt auf die Vorstellungsbilder,
indem er aus ihnen das Allgemeine (species intelligibilis) abstrahiert
(abstractio) und dieses im "leidenden" oder "virtuellen" Intellekt
(intellectus possibilis) aktualisiert. Der Intellekt setzt die so
abstrahierten Begriffe in Beziehung zueinander, und bildet dabei ein Urteil.
Um dessen Wahrheitsgehalt zu prüfen, muß er nun die vollzogene
Begriffssynthese in Beziehung zu den Dingen setzen, wofür wiederum
die Vermittlung der Vorstellungsbilder notwendig ist (conversio ad phantasmata).
Die Erkenntnis ist dann wahr, wenn eine Übereinstimmung (adaequatio)
zwischen dem im Urteil Verbundenen (und durch Laute Ausgesprochenen) und
dem wahrgenommenen Ding selbst besteht. Was die Laute im Falle eines Urteils
ausdrücken, ist nicht das von der Phantasie synthetisierte und bereitgestellte
Vorstellungsbild, sondern jene begriffliche Synthese, die der Intellekt
ausgehend von den abstrahierten Begriffen herstellt. Der Intellekt versteht
also vom materiellen Ding, nämlich das begrifflich Allgemeine oder
seine Form. (ST I, Q. 85, Art. 2 und 5). Welche "intelligible Form" der
Intellekt eines jeden Menschen begreift, hängt dabei aber nicht von
den verschiedenen Vorstellungsbildern ab, die jeder hat, sondern es handelt
sich um das begriffliche oder begreifbare "Wesen" des Dinges selbst (ST
I, Q. 76, Art. 2). Wahrheit ist die Übereinstimmung des (begreifenden)
Intellekts mit dem Gegenstand (adaequatio intellectus et rei)
(ST I, Q. 21, 2 c).
Wenn
man bedenkt, daß der lateinische Ausdruck sowohl für die Vorstellungsbilder
als auch für die zu abstrahierenden Begriffe nicht nur species,
sondern auch forma lautet, wird es deutlich, warum Thomas den Wahrnehmungs-
und Erkenntnisprozeß als einen Informationsprozeß (informatio
sensus, informatio intellectus) bezeichnet (Capurro 1978, S. 122-139),
wodurch auch ihr Zusammenhang zum Ausdruck kommt. Die Einbildungskraft
ist nicht nur in der Lage die sinnlichen Formen der Dinge von ihnen abzulösen
und sie wie ein Schatz (quasi thesaurus ST I, Q. 78, Art. 4) aufzubewahren,
sondern sie kann sie auch miteinander verbinden und bisher nicht Wahrgenommenes
vorstellen. Thomas spricht den Tieren die Fähigkeit sich abwesende
Dinge in der Phantasie vorzustellen, zu. So flieht das Schaf den Wolf nicht
aufgrund der unmittelbar wahrgenommenen Farbe oder Gestalt, sondern aufgrund
einer aufbewahrten Gestalt (ST I, Q. 78, Art. 4). Ähnlich wie Aristoteles
unterscheidet auch Thomas zwischen einer "sinnlichen" (phantasia sensibilis)
und einer dem Menschen eigenen "rationalen inbildungskraft" (phantasia
rationalis) (Schütz 1983, S. 596). Die menschliche Phantasie hat
gegenüber der tierischen mehr Selbständigkeit, da der Mensch
die Vorstellungsbilder willkürlich miteinander synthetisieren kann.
Warum
kann aber der Mensch nicht das Einzelne erkennen allein im durch die Abstraktion
gebildeten Begriff? Warum muß er auf das Wahrgenommene durch die
phantasmata zurückkehren? Dass er, wenn er erkennen will, zurückkehren
muss, dass er sich also bewußt ist, dass er die Realität im
Begriff bzw. im Urteil nicht ausschöpft, ist ein Indiz dafür,
dass es etwas gibt, was die Sprache nicht sagen und der Begriff nicht begreifen
kann. Was ist dieses 'etwas'? Es ist nicht mehr und nicht weniger als das
kontingente Individuum selbst. Vom Individuum (griechisch atomos)
im Sinne eines Einzelwesens, das eine substantielle Einheit aus Form und
Materie bildet, kann es für eine endliche Erkenntnis sowohl für
Aristoteles (Aristoteles 1973, Met. 1039 b 28-29) als auch für Thomas
(ST I, Q. 86) wegen seiner sinnlich-materiellen Kontingenz keine Möglichkeit
einer unmittelbaren begrifflichen Auffassung oder einer Ableitung aus allgemeinen
Prinzipien oder Gesetzen geben. Das ist für Thomas nur bei einem schöpferischen
unendlichen Intellekt möglich, der die Dinge selbst schafft und sie
auch in ihrem kontingenten Entstehen und Vergehen begreift. Mit anderen
Worten unsere Fähigkeit das Individuelle vom Allgemeinen, zum Beispiel
durch wissenschaftliche Theorien, abzuleiten, ist beschränkt. Das
Individuelle ist nicht sprachlich oder begrifflich ausschöpfbar (individuum
est ineffabile) (1). Da also für eine endliche
Erkenntnis keine vollständige aktuelle Darstellung des Einzelnen möglich
ist (Lorenz 1984), ist eine Rückwendung auf die Sinnlichkeit als die
Quelle, worauf sich das Gedachte und Gesagte bezieht, notwendig (Capurro
1993) (2).
Die
Einbildungskraft hat aber für Thomas noch eine andere Funktion, und
zwar im Hinblick auf die Erkenntnis jener Dinge, die unkörperlich
sind, die wir also nicht wahrnehmen können. So erkennen wir Gott als
Ursache, indem wir das, was wir sinnlich erkennen, in seiner Bedingtheit
Überschreiten (per excessus) oder indem wir das Unangemessene
entfernen (per remotionem). Eine weitere Möglichkeit der Erkenntnis
unkörperlicher Dinge ist der Vergleich mit den körperlichen Dingen
(per aliquam comparationem). Die beiden letztgenannten Denkwege
gelten auch für die Erkenntnis der nicht göttlichen unkörperlichen
Substanzen (ST I, Quaestio 84, Art. 7). Weil wir von Gott keine Phantasiebilder
haben können, unsere Erkenntnis sich aber immer in bezug auf das sinnlich
Vorstellbare vollzieht, sind wir im Falle metaphysischer Erkenntnis auf
die synthetische bzw. kompositorische Tätigkeit der Einbildungskraft
angewiesen, um zumindest auf dem Wege des Ausschlusses, zu einer gewissen
Erkenntnis zu kommen. Übersteigen, entfernen und vergleichen
tun wir auf der Basis von Wahrnehmung und Phantasie und im Durchgang durch
sie. Primäres Ziel des Durchgangs ist die Erkenntnis des sinnlichen
Gegenstandes, wobei der Intellekt gemäß dieser Re-flexion
sowohl sich selbst als auch das Bild, durch das er denkt, erkennt (ST I,
Q. 85, Art. 2). Die Einbildungskraft vermittelt diese Hin- und Rückwendung
des Geistes vom Gegenstand her zum Erkennen und wieder zum Gegenstand hin.
Sie vermittelt aber auch die Hinwendung der Erkenntnis zu dem, was sich
nicht wahrnehmen und vorstellen läßt, und was dementsprechend
auch jenseits des für einen mit dem Leib gebundenen Intellekt Sagbaren
und Begreifbaren liegt. Diese Vermittlung geschieht im Falle der Hinwendung
des menschlichen Erkennens zum Absoluten entweder durch Überschreitung
des sinnlich Erkannten oder durch vergleichendes Auslassen. In beiden Fällen
bleiben wir stets auf die vermittelnde Funktion der Einbildungskraft angewiesen.
Wir haben (in diesem Leben) weder die Möglichkeit einer direkten Anschauung
des Übersinnlichen noch die einer Wesenserkenntnis anhand des Vergleichs
mit den stofflichen Dingen. Die Ähnlichkeit, sagt Thomas lapidar,
ist sehr unähnlich! (ST I, Q. 88, Art. 2).
Zwischen
der metaphysischen Skepsis, der rein begrifflich verfahrenden dogmatischen
Metaphysik und dem schwärmerischen Geistersehen bietet das Denken
des Thomas von Aquin die Möglichkeit einer metaphysischen anschaulichen
Reflexion, die ihre Grenzen nicht vergißt, gerade wenn sie sie vergleichs-
und versuchsweise überschreitet. Was die Reflexion jenseits der Erfahrung
bedenkt, trägt immer die prägende Kraft der Phantasie. Die Denkwege
des Ausschlusses, Vergleichens und Überbietens, d.h. also die Wege
der "negativen Philosophie" (Pieper 1953) bzw. der "negativen Theologie"
und der Analogie (Kluxen 1971), gehören zum Kern der thomistischen
Metaphysik. Eine metaphysische anschauliche Reflexion schwächt die
dogmatischen Ansprüche des Begriffs einerseits, während sie andererseits
als Reflexion die Inadäquatheit der Vorstellungsbilder hervorhebt,
indem sie sie stets für ungenüged erkennt. Denn, so Thomas zu
Beginn seiner Summa theologica:
"wir
vermögen nicht zu wissen, was Gott ist, wohl, was er nicht ist" (ST
I, Q. 3, Prol.)
Die Kehrseite
einer dogmatischen Metaphysik ist jene Schwärmerei des visionären
Geistes, als Esoterik heute vielfach verbreitet, die Vorstellungen für
die Sache selbst nimmt. Im Hinblick auf die drei Arten des Sehens, nämlich
des sinnlichen (visio corporalis), des imaginativen (visio spiritualis,
sive imaginaria) und des geistigen (visio intelectualis) (ST
I, Q. 93, Art. 6), vermögen wir Gottes Wesen nur spiegelartig bzw.
spekulativ (visio aenigmatica vel specularis) anzuschauen. Keine
Ähnlichkeit vermag aber Gott, so wie er ist, darzustellen (ST I, Q.
12, Art. 2). Zwischen der visio specularis und der offenen Anschauung
Gottes (visio beatifica) 'von Angesicht zu Angesicht' besteht für
Thomas ein in diesem Leben nicht zu überbrückender Unterschied
(ST II. II., Q. 1, Art. 5). Die Tätigkeit der Phantasie nimmt dann
ihren Ursprung in dem, was die Sprache nicht sagen und der Begriff nicht
begreifen, findet aber ihre Grenze in dem, was sie nicht versinnbildlichen
kann.
Auch
Kant ist einen vergleichbaren Weg kritischer Metaphysik gegangen, indem
er die Ansprüche der reinen Vernunft auf ihre Leistung in bezug auf
Gegenstände der sinnlichen Anschauung einschränkte, und den schwärmerischen
Visionen Swedenborgs eine Abfuhr erteilte (Kant 1975).
2.
Von Kant zu Heidegger: Die imaginative Konstruktion der Wirklichkeit
Die Bestimmung
des Verhältnisses zwischen Vernunft und Gegenstand erfährt in
der Neuzeit, und insbesondere durch Kant eine 'Kopernikanische Wende'.
In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft
(KrV), schreibt Kant:
"Bisher
nahm man an alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen
richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe
auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter
dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht
in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen,
die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten"
(KrV, B XVI).
Auf der
Basis dieser "Veränderung der Denkart" (Kant) findet eine neue Bestimmung
der Einbildungskraft statt, und zwar sowohl in theoretischer als auch in
"pragmatischer" Hinsicht (3). In theoretischer Hinsicht
besteht zwar die Funktion der Einbildungskraft wie bisher darin, zwischen
Anschauung und Verstand zu vermitteln. Aber im Gegensatz zur bisherigen
dingorientierten "Denkart" legt Kants Transzendentalphilosophie einen formalen
Rahmen für die Strukturierung der Gegenstände im Subjekt a
priori, also vor aller Erfahrung, fest. Demnach nehmen wir die Gegenstände
nicht wahr, wie sie 'an sich' sind, sondern wie sie uns, bedingt durch
diesen formalen Rahmen, erscheinen. Zu Beginn der Kritik der reinen
Vernunft schreibt Kant:
"Die
Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir
von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit.
Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben,
und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden
sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß
sich (...) zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit
beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann."
(KrV A 19)
Dieser
letzte Satz ist scheinbar identisch mit der thomistischen These von der
notwendigen Rückkehr des Intellekts zu den Vorstellungsbildern (conversio
ad phantasmata). Der Unterschied liegt aber in der Wendung oder Drehung
vom Gegenstand zum transzendentalen Subjekt, das dann die formalen Grenzen
des Erkennbaren a priori bestimmt. Ohne hier dem Gang von Kants
Kritik der reinen Vernunft im einzelnen nzu folgen, halten wir fest,
dass Kant, bevor er auf die Rolle der Einbildungskraft im Erkenntnistprozeß
zu spreechen kommt, folgende Schritt darlegt:
1.
In der "transzendentalen Ästhetik" wird gezeigt, dass wir mit dem
"äußeren Sinne" Gegenstände außer uns, mit dem "inneren
Sinne" aber uns selbst anschauen. Dabei finden wir keinen Gegenstand, sondern
bestimmte Formen unseres "inneren Zustandes", nämlich Raum und Zeit.
Raum und Zeit sind für Kant keine Begriffe, die wir aus äußeren
Erfahrungen abziehen oder abstrahieren, sondern sie sind "Anschauungen
a priori". Sie sind nicht Eigenschaften von sinnlich wahrnehmbaren
Dingen, sondern sie stellen umgekehrt die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit
dar. Sie sind eine "reine Form der sinnlichen Anschauung":
"der
Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen "äußeren
Anschauungen zum Grunde liegt" (KrV A 24),
während
die Zeit die Form des "innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer Selbst"
als auch aller äußeren Erscheinungen ist (KrV A 33-34). Wenn
wir von Dingen sprechen, sprechen wir immer von Dingen im Raum und in der
Zeit. Dieser formale Rahmen geht aller äußerer Anschauung voraus:
"Wir
können demnach nur aus dem Standpunkt eines Menschen vom Raum, von
ausgedehnten Wesen etc. reden." (KrV A 26).
Wie die
Dinge außerhalb dieses "Standpunktes" "an sich" sind, bleibt uns
unbekannt.
2.
In der "transzendentalen Logik" zeigt Kant, dass es außer unserer
Fähigkeit Vorstellungen zu empfangen eine zweite "Grundquelle" der
Erkenntnis gibt, nämlich die Begriffe, mit deren Hilfe wir die Vorstellungen
denken:
"Anschauung
und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus" (KrV
A 50).
Er nennt
die "Rezeptivität" unseres "Gemüts" Vorstellungen zu empfangen
"Sinnlichkeit", und die "Spontaneität" der Erkenntnis Vorstellungen
hervorzubringen "Verstand". Über die Beziehungen zwischen Sinnlichkeit
und Verstand heißt es dann:
"Keine
dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde
uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken
ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind." (KrV A 51).
Im Gegensatz
aber zur thomistischen Auffassung entnehmen wir nicht den Dingen ihre Formen,
sondern es gibt umgekehrt bestimmte Formen oder Begriffe a priori
in unserem Verstand, durch die wir die Dinge erkennen. Die "transzendentale
Logik" zeigt in Form einer "Deduktion", welche Begriffe "reine Verstandesbegriffe"
sind. Da diese "Kategorien des Verstandes" keine Bedingungen der Gegenstände
der Anschauung wie bei den reinen Formen der Sinnlichkeit darstellen, ergibt
sich die Frage, "wie nämlich subjektive Bedingungen des Denkens" "objektive
Gültigkeit" haben sollen (KrV A 89). Denn wir können ohne sie
zwar Erscheinungen in der Anschauung haben, es ist aber nicht ausgemacht,
dass den reinen Verstandesbegriffen auch Gegenstände in der Erfahrung
korrespondieren. Welche ist also die Bedingung der Möglichkeit, dass
Gegenstände der sinnlichen Anschauung auch dem Verstand "gemäß
sein müssen" (KrV A 90)? Macht die Vorstellung den Gegenstand oder
der Gegenstand die Vorstellung allein möglich? Mit machen ist
die Erkenntnis, nicht aber die Existenz des Gegenstandes gemeint. Die Fähigkeit,
sinnliche Vorstellungen zu verbinden ("Synthesis") bzw. aufzulösen
("Analysis") ist für Kant ein "Actus der Spontaneität", und kann
somit nicht der (passiven) Sinnlichkeit zugeschrieben werden, sondern sie
ist eine "Verstandeshandlung". Diese Fähigkeit setzt wiederum die
Annahme einer grundlegenden Einheit voraus, einer Art vorgegebene 'Ursynthese',
die Kant als "ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption"
bezeichnet.
Gemeint
ist die Identität des Bewußtseins:
"Das:
Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können"
(KrV B 131)
Wie ist
das zu verstehen? Wenn es anders wäre, "würde die Vorstellung
entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein" (KrV
B 132). Erst aufgrund der Einheit des "Ich denke" kann das "Mannigfaltige
der Anschauung" in Beziehung zu einem Gegenstand eintreten:
"Um
aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z.B. eine Linie, muß ich
sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen
synthetisch zu Stande zu bringen, so, dass die Einheit der Handlung zugleich
die Einheit des Bewußtseins (im Begriff einer Linie) ist" (KrV B
137).
Kurz gesagt,
ohne einen Bezugspunkt kann man keine Beziehungen herstellen.
Bei
aller Betonung der konstruktiven Tätigkeit des Subjekts, hält
Kant jedoch fest, dass das Mannigfaltige für die Anschauung "gegeben
sein müsse", und zwar im Gegensatz zu einem göttlichen Verstand,
"durch
dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben, oder hervorgebracht
würden" (KrV B 145).
So gehört
also im Falle des Menschen zum Denken der Begriff, zum Erkennen aber zugleich
die Anschauung. Der Gebrauch der Verstandeskategorien wird dadurch im Falle
des Erkennens auf die Gegenstände möglicher Erfahrung und somit
also auf "empirische Anschauung" eingeschränkt (KrV B 147).
3.
Nun findet aber für Kant, außer der beschriebenen Verstandesverbindung
als Synthesis der Kategorien (synthesis intellectualis) eine andere
Synthesis statt, wodurch das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung selbst
zu einer Einheit gebracht wird. Es ist die Synthesis der Einbildungskraft.
Die
Einbildungskraft definiert Kant als
"das
Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung
vorzustellen." (KrV B 151)
Kant nennt
die Synthesis der Einbildungskraft "figürlich" (synthesis speciosa).
Hat diese Synthesis ihren Ursprung in der "transzendentalen Einheit der
Apperzeption", dann nennt er sie "produktive Einbildungskraft", und unterscheidet
sie von der empirischen Synthesis der "reproduktiven Einbildungskraft".
Die Einbildungskraft nimmt, ähnlich wie bei Aristoteles und Thomas
von Aquin, eine Mittelstellung zwischen Sinnlichkeit und Verstand ein.
Sie ist bestimmbar und gehört zur Sinnlichkeit. Aber sie ist auch
spontan oder bestimmend, und ist somit eine
"Wirkung
des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich
der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen
Anschauung" (KrV B 151-152).
Entsprechend
läßt sich die Einbildungskraft in zwei Vermögen aufteilen:
in die "reproduktive" und die "produktive" Einbildungskraft. Erstere leistet
eine empirische Synthesis, letztere eine Synthesis aufgrund der "transzendentalen
Einheit der Apperzeption". Wie ist das im einzelnen zu verstehen?
Die
reproduktive Einbildungskraft nimmt den Gegenstand in der Vorstellung auf
und verknüpft diese, auch ohne den Gegenstand, nach einer Regel, der
auch die Erscheinungen unterworfen sind. Denn würden die Erscheinungen
keiner Regel folgen, würde als zum Beispiel
"ein
Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden
(...) oder ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigelegt werden"
(KrV A 100-101),
kurzum,
wäre alles beliebig, dann könnte auch keine empirische Synthesis
der Reproduktion stattfinden. Was macht aber diese Reproduktion der Erscheinungen
möglich? Antwort: Die transzendentale Synthesis der produktiven Einbildungskraft.
Denn, wenn ich zum Beispiel "eine Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit
von einem Mittag zum andern denke, oder auch nur eine gewisse Zahl vorstellen
will", dann muß ich "eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach
der andern in Gedanken" fassen. Andernfalls würde ich die vorhergehenden
Teile der Linie oder der Zeit oder die nacheinander vorgestellten Einheiten
aus den Gedanken verlieren, d.h. also es ergäbe sich keine Synthesis
(KrV A 102).
Wie
hängen nun aber die Verstandesbegriffe mit der Einbildungskraft zusammen?
Oder, anders gefragt, was tut die produktive Einbildungskraft, um diese
mit den empirischen Anschauugen verbinden zu können? Sie produziert
"Schemata". Im Gegensatz zu einem "Bild", das einen Begriff anschaulich
repräsentiert, zum Beispiel die Zahl fünf durch fünf Punkte,
ist ein "Schema" eine Regel, nach der ich eine Gestalt zeichnen kann. So
gibt es für den Begriff eines Dreiecks oder eines Hundes jeweils ein
Schema, aber kein einzelnes Bild könnte zugleich alle möglichen
Dreiecke oder Hunde darstellen. "Bilder" sind also die Produkte der empirischen
oder reproduktiven Einbildungskraft, "Schemata" der reinen oder produktiven.
Von diesem "Schematismus der reinen Vernunft" schreibt Kant, dass er
"eine
verborgene Kunst in den tiefen der menschlichen Seele" ist, "deren wahre
Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt
vor Augen legen werden." (KrV A 141)
In einer
berühmten Interpretation dieses Schematismuskapitels hat Heidegger
hervorgehoben (4), dass Kant zunächst von den "zwei
Grundquellen des Gemüts" spricht, aus denen unsere Erkenntnis entspringt,
nämlich Sinnlichkeit und Verstand, dass er aber da, wo er seine Darstellung
über die unterschiedliche Synthesis der Anschauung, der Einbildung
und des Begriffs zusammenfaßt, drei Erkenntnisquellen nennt, nämlich
"Sinn", "Einbildungskraft" und "Apperzeption" (KrV A 115). Kant faßt
also die Einbildungskraft als ein drittes Grundvermögen auf. Er spricht
von ihr als
"einer
blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall
gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal
bewußt sind." (KrV A 78)
Die Metapher
der "Quelle" (und die der "Stämme") weist, so Heidegger, darauf hin,
daß die Einbildungskraft hier als gemeinsamer Ursprung von Sinnlichkeit
und Verstand, aufgefaßt ist. Denn die Schemata der reinen Verstandesbegriffe
weisen auf die Zeit und somit auf die reine Anschauung zurück. Die
reinen Formen der Anschauung sind keine Gegenstände, die "angeschaut
werden". Sie sind ein "ens imaginarium" (KrV A 291), ein Produkt der Einbildungskraft.
Darüber hinaus sei auch das "Ich denke" hinsichtlich seines Einbildungscharakters
zu deuten, und zwar im Sinne "des frei bildenden und entwerfenden, obzwar
nicht willkürlichen 'Sichdenkens' von etwas", wozu aber auch der Charakter
der reinen Rezeptivität gehört (5).
So
schreibt Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft,
dass die "transzendentale Einheit der Apperzeption auf die reine Synthesis
der Einbildungskraft" sich bezieht, ja sie sogar voraussetzt (KrV A 118).
Vor einer solchen "unbekannten Wurzel" beider Vermögen sei Kant freilich
in der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" "zugunsten des
Verstandes" "zurückgewichen" (6). Heidegger sieht
sogar im doppelten Charakter von Aktivität und Rezeptivität der
Einbildungskraft die Basis für eine Auffassung der Apperzeption im
Sinne eines "unterwerfenden Sich-entwerfens", wodurch dann der Zusammenhang
zwischen der transzendentalen Einbildungskraft und der praktischen Vernunft
bei Kant gegeben wäre (Heidegger 1991, S. 156-160).
Wie
bedeutsam die Einbildungskraft für Kants "pragmatische" Bestimmung
des Menschen ist, zeigt ihre Behandlung in der Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht (Kant, 1975a) sowie in der Kritik der Urteilskraft
(Kant 1974a). Kant bestimmt die Einbildungskraft (facultas imaginandi)
in der Anthropologie zunächst, wie in der "Kritik der reinen
Vernunft", im Sinne eines "produktiven" und eines "reproduktiven" Vermögens.
Diese beiden, die dem Verstand unterworfen sind, faßt er dann unter
dem Begriff der "willkürlichen Einbildungskraft" zusammen und unterscheidet
diese von der "unwillkürlichen Einbildungskraft", bei der der Verstand
fehlt oder zumindest die Oberhand verloren hat (Anthr. A 67). Letztere
nennt er auch Phantasie. Zunächst behandelt Kant die beiden Möglichkeiten
de "willkürlichen Einbildungskraft".
a)
Die "willkürliche" Einbildungskraft
Die
"produktive" Einbildungskraft geht der Erfahrung voraus. Sie ist ein Vermögen
der "ursprünglichen Darstellung" des Gegenstandes ('exhibitio originaria').
Die "reproduktive" Einbildungskraft beruht ihrerseits auf der vorher gehabten
empirischen Anschauung und ist somit eine "abgeleitete Darstellung" (exhibitio
derivativa). Die erste betrifft die reinen Anschauungen von Raum und
Zeit, die zweite setzt immer eine empirische Anschauung voraus. Werden
die Hervorbringungen der reproduktiven Einbildungskraft mit der empirischen
Anschauung und mit Begriffen verbunden, dann haben wir es mit "empirischer
Erkenntnis" bzw. mit "Erfahrung" zu tun. Die "produktive" Einbildungskraft
ist zwar "dichterisch", aber nicht "schöpferisch", d.h. sie vermag
keine Sinnesvorstellungen hervorzubringen, die ihr nicht vorher "gegeben"
waren. So kann jemand, der die Empfindung der Farbe rot nie hatte, diese
Farbe auch nicht hervorbringen (Anthr. A 67-68). Wenn die "produktive"
Einbildungskraft etwas hervorbringt, was "zu Begriffen zusammenstimmt",
dann heißt sie "Genie", sonst ist sie "Schwärmerei".
In
der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant zwischen einer "mechanischen"
Kunst "als bloße Kunst des Fleißes und der Erlernung", und
einer "schönen" Kunst "als die des Genies" (KdU A 183-184). "Genie"
ist jene "Naturgabe", durch welche "die Natur der Kunst die Regel gibt"
(KdU A 179), während die "mechanische" Kunst bereits vorgegebene Regeln
befolgt. Zugleich betont aber Kant, dass es keine schöne Kunst gibt,
"in welcher nicht etwas Mechanisches" enthalten ist, was "schulgerecht"
befolgt werden kann (KdU A 184). Die Vereinigung von Einbildungskraft und
Verstand "in gewissem Verhältnisse" macht das Genie aus (KdU A 195).
In diesem Zusammenhang bemerkt Kant, dass in theoretischer Absicht ("zum
Erkenntnisse") die Einbildungskraft "unter dem Zwange des Verstandes steht
und der Beschränkung unterworfen ist, dem Begriffe angemessen zu sein;
in ästhetischer Absicht aber die Einbildungskraft frei ist" (KdU A
195). Frei wofür? Um jenen "reichhaltigen unentwickelten Stoff worauf
dieser (der Verstand, RC) in seinem Begriffe nicht Rücksicht nahm,
zu liefern" (KdU A 195). Die "freie" oder ästhetische Einbildungskraft
ist also jenes "Spiel", womit wir über die dem Verstand angemessenen
Anschauungen hinausgehen. Kant spricht vom "belebenden Prinzip im Gemüte"
und nennt dieses Prinzip "das Vermögen der Darstellung ästhetischer
Ideen" (KdU A 190).
Was
ist eine "ästhetische Idee"? Sie ist
"diejenige
Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne
dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat
sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich
machen kann. - Man sieht leicht, dass sie das Gegenstück (Pendant)
von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt, ein Begriff ist, dem
keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat
sein kann." (KdU A 190)
Vernunftideen
sind zum Beispiel unsichtbare Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich,
die Ewigkeit, die Schöpfung, aber auch solche Ideen, für die
wir zwar Beispiele in der Erfahrung finden, die aber über die "Schranken
der Erfahrung" hinausgehen (den Tod, alle Laster, die Liebe, den Ruhm).
Durch die Synthesis mannigfaltiger Elemente läßt eine ästhetische
Idee eine Vorstellung entstehen, für die
"kein
Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann,
der also zu einem Begriff viel Unnennbares hinzu denken läßt,
dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache,
als bloßem Buchstaben, Geist verbindet." (KdU A 195)
Ästhetische
Ideen sind eine Vorstellung der Einbildungskraft, die wir durch Begriffe
nicht "exponieren" bzw. auf den Begriff bringen können. Sie sind "inexponibel".
Vernunftideen sind wiederum diejenigen, die wir nicht anschaulich anzeigen
bzw. "demonstrieren" können. Sie sind "indemonstrabel" (KdU A 237).
Ursprung dieser "freien" Tätigkeit der Einbildungskraft ist also das
"Unnennbare" und Undarstellbare, d.h. die "unbestimmte Idee des Übersinnlichen
in uns" (KdU A 235).
b)
Die "unwillkürliche" Einbildungskraft" (Phantasie)
Die
zwei Grundmöglichkeiten der "unwillkürlichen", d.h. vom Verstand
nicht geleiteten Tätigkeit der Einbildungskraft sind der Traum und
die krankhaften Erscheinungen, wie der Wahnsinn. Die Erörterung des
Traumes liegt nacht Kant außerhalb einer "pragmatischen Anthropologie",
da diese mit dem zu tun hat, was der Mensch "als freihandelndes Wesen,
aus sich selber macht, oder machen kann und soll", und nicht aus dem, "was
die Natur aus dem Menschen macht" (Anthr. B III-IV). Dem Traum aber liegen
"keine Regeln des Verhaltens" wie sie für den Wachenden gelten zugrunde
(Anthr. B 104). Man kann niemanden bestrafen, weil er diesen oder jenen
Traum gehabt hat. So ist also der Traum:
"das
Spiel der Phantasie mit dem Menschen im Schlafe".
Findet
dieses "unwillkürliche" "Spiel" aber "im Wachen" statt, dann "verrät
es einen krankhaften Zustand" (Anthr. B 81). Derjenige, der die "unwillkürlichen
Einbildungen" für "(innere oder äußere) Erfahrungen" hält,
ist ein "Phantast" (Anthr. A 67).
Beim
Wahnsinn ist das,
"was
der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des Denkens
zu der Möglichkeit einer Erfahrung gemäß ist", zugleich
aber hält er "durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte
Vorstellungen für Wahrnehmungen" (Anthr. B 145).
Dabei
ist aber zu bemerken, dass Kant "das Feld unserer Sinnenanschaungen und
Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt
schließen können, dass wir sie haben, d.i. dunkeler Vorstellungen
im Menschen (und so auch in Tieren)" für "unermeßlich" hält.
(Anthr. B 16-17).
"Wir
spielen oft mit dunkelen Vorstellungen", schreibt Kant anschließend,
"und haben ein Interesse, beliebte oder unbeliebte Gegenstände vor
der Einbildungskraft in Schatten zu stellen; Öfter aber noch sind
wir selbst ein Spiel dunkeler Vorstellungen, und unser Verstand vermag
nicht, sich wider die Ungereimtheiten zu retten, in die ihn der Einfluß
derselben versetzt, ob er sie gleich als Täuschung anerkennt." (Anthr.
B 18).
So stellen
uns Träume und Wahnsinn auf "unwillkürlichler" Weise vor das,
was die Sprache nicht sagen und der Begriff nicht begreifen kann.
Unter
dem Gesichtspunkt der verschiedenen Möglichkeiten, wie die Einbildungskraft
Vorstellungen zueinander in Beziehung bringen kann, führt Kant folgende
Unterscheidung aus:
a)
Werden sie räumlich vorgestellt, dann haben wir mit einer "imaginatio
plastica" zu tun. Sie kann "unwillkürlich" (Träume, "Traumbilder
eines Wachenden") oder "willkürlich" sein (künstlerische Kompositionen,
Erfindungen) (Anthr. A 79-80).
b)
Wenn wir Vorstellungen in zeitlicher Folge assoziieren, dann ist dies eine
"beigesellende" Tätigkeit ("imaginatio associans"). Kants Beispiel
aus der Alltagserfahrung von sprunghaften Assoziationen lautet: "wo war
ich? von wo war ich in meinem Gespräch ausgegangen, und wie bin ich
zu diesem Endpunkte velangt?" (Anthr. B. 83)
c)
Schließlich verbinden wir Vorstellungen aufgrund ihrer Verwandschaft
("affinitas"), und folgen wir dabei "den Gesetzen der Sinnlichkeit",
d.h. also "dem Verstande gemäß" aber "ohne Bewußtsein
der Regel" (Anthr. A 84).
De
Kantische Lehre von der Einbildungskraft läßt sich mit folgendem
Zitat aus den Prolegomena zusammenfassen:
"Es
kann der Einbildungskraft verziehen werden, wenn sie bisweilen schwärmt,
d.i. sich nicht behutsam innerhalb der Schranken der Erfahrung hält,
denn wenigstens wird sie durch einen solchen freien Schwung belebt und
gestärkt, und es wird immer leichter sein, ihre Kühnheit zu mäßigen,
als ihrer Mattigkeit aufzuhelfen. Da aber der Verstand, der denken soll,
an dessen statt schwärmt, das kann ihm niemals verziehen werden; denn
auf ihm beruht allein alle Hilfe, um der Schwärmerei der Einbildungskraft,
wo es nötig ist, Grenzen zu setzen." (Kant 1975b, A 108).
Wir sahen,
dass Heidegger die transzendentale Einbildungskraft als die Wurzel von
Verstand und Sinnlichkeit auffaßt. Sie ist zugleich ein "freies Bilden"
("Spontaneität) und ein "Hinnehmen von Sichgebendem" ("Rezeptivität")
(Heidegger 1991, S. 153-154). Während für Kant die Endlichkeit
menschlicher Vernunft darin gründet, dass sie auf Anschauung und somit
auf Sinnlichkeit und Einbildungskraft angewiesen ist, hängt sie für
Heidegger mit der transzendentalen Einbildungskraft zusammen, sofern sie
nämlich aus der "ursprünglichen Zeit", d.h. aus dem
"dreifach-einigenden
Bilden von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart" (Heidegger 1991, S. 196).
entspringt.
Diese
Bestimmung menschlichen Seins von der Zeit her hatte Heidegger in seinem
zwei Jahre zuvor erschienenen Werk "Sein und Zeit" mit dem Grundsatz
entfaltet:
"Das
"Wesen" des Daseins liegt in seiner Existenz" (Heidegger 1976, S. 42).
Heidegger
deutet die Begriffe Dasein bzw. Existenz im Sinne einer spezifischen
Bestimmung menschlichen Seins um. Die Grundstruktur menschlichen Existierens
faßt Heidegger in seiner berühmten Formel "das In-der-Welt-sein"
auf. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass der Mensch nicht "zunächst
verkapselt" ist in einem Bewußtsein, aus dem heraus er die Außenwelt
erkennt, sondern dass er "immer schon draußen bei einem begegnenden
Seienden der je schon entdeckten Welt" ist (HEIDEGGER 1976, S. 62). Menschliches
Sein hat den Charakter eines faktischen Ek-sistierens (wörtlich:
"draußen-Stehens"), dass es zu übernehmen und zu "entwerfen"
gilt. Heideggers nennt die Grundbestimmung des Daseins "Sorge" (Heidegger
1976, S. 191-200; Capurro 1991).
Die
Einbildungskraft wird nun weder von der Dingwahrnehmung, wie in der Antike
und im Mitteltalter, noch vom Subjekt, wie bei Kant, sondern vom zeitlichen
Entwurf der Existenz her gedeutet. Das menschliche Existieren selbst ist
also aufgrund seines zeitlichen Entwurfscharakters ursprünglich Einbildungskraft.
Im Hinblick auf diesen Entwurfscharakter menschlichen Existierens unterscheidet
Heidegger die Seinsweise des Menschen von der sonstigen belebten und unbelebten
Natur und stellt die These auf: "der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm,
der Mensch ist weltbildend." (7) Menschliches Existieren
ist ein zeitliches Offen- oder Erstrecktseins zwischen Geburt und Tod (Heidegger1976,
S. 374). Dieses Offensein bedeutet zugleich auch ein Offensein für
das jeweilige Seiende sowie ein Offensein für Seiendes überhaupt.
Menschliches Sein geschieht als ein "Sich-binden-lassen" und als ein "Freisein
für". Ersteres können wir aufgrund des Letzteren (Heidegger 1983,
S. 497).
Der
Mensch kann etwas als etwas auffassen, und somit die Dinge unter
einer bestimmten Perspektive sehen, nicht nur weil sie ihm zuvor, wie Kant
sagt, "gegeben" sind, sondern weil er einem Horizont von Unbestimmtheit
offen ist. Das gilt vor allem im Hinblick auf die eigene Faktizität
im Sinne eines nicht von uns gesetzten offenen Geschehens zwischen Geburt
und Tod (Heidegger 1976, S. 374). Der Ursprung unseres Existierens ist
im wörtlichen Sinne ein Ur-Sprung ins Dasein, d.h. in jenen
offenen Bezug von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Heidegger als
Ursprung der Einbildungskraft bei Kant deutete. Es ist "das Da-sein im
Menschen", wie Heidegger schreibt (Heidegger 1983, S. 414), das ursprünglich
weltbildend ist.
Die
Einbildungskraft ist dann kein getrenntes Vermögen neben Wahrnehmen
und Denken, sondern sie ist die Entfaltung jener Struktur menschlichen
Existierens als eines zu bildenden und auszuhaltenden Bezuges zwischen
dem Gewesenen, dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen. Beide Momente,
das Bilden und das Aushalten, gehören ursprünglich zusammen.
Der Mensch ist, in Heideggers Terminologie, "Geworfenheit" und "Entwurf".
Er ist nicht Ursprung des "Da", als das er existiert, sein 'Einbruch' in
dieses "Da" vollzieht sich, anders als beim Tier oder beim Nichtlebendigen,
in der Weise des Auseinanderhaltens des Offenen. Denn, gäbe es diese
Offenheit nicht in der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges
ursprünglich aufeinander bezogen sind, wie könnte der Mensch,
der sie nicht hervorbringt, sie jemals synthetisch verbinden? Jeder "imaginative"
Entwurf unserer Existenz findet also auf der Basis eines Entwurfes statt,
der, wie Heidegger schreibt, den Entwerfenden "fortträgt", so dass
jede Rückkehr zu sich, immer eine Rückkehr in sein Möglichsein
ist. Wir sind ein "Lichtblick" ins Mögliche, wie Heidegger in Anschluß
an Schelling sagt, der
"das
Entwerfende offen für die Dimension des 'entweder-oder', des 'sowohl-als-auch',
des 'so' und des 'anders', des 'Was', des 'ist' und 'ist nicht'" macht,
kurzum, der alle möglichen Formen unserer imaginativen Existenz ermöglicht."
(Heidegger 1983, S. 529-530)
Gemeint
sind damit auch jene 'traumhaften' Weisen unseres "In-der-Welt-seins",
die wir im 'Erwachen' deuten, um sie, - je nach individuell vollziehbarem
und vollzogenem Grad des 'Frei-seins für' -, auf die Offenheit einer
mit anderen Menschen mit-geteilten Welt zu beziehen (Boss 1975 und
1991).
Entscheidend
ist, dass die imaginative Erstreckung unseres Existierens kein Aufbewahren,
Hervorrufen und Synthetisieren von Vorstellungen ist, sondern dass wir
sowohl im Falle der Erinnerung an abwesende Dinge als auch beim freien
Einbilden uns zu den Dingen selbst verhalten, nicht aber zu ihren Abbildern
im Innern eines Bewußtseins. So stehen wir zum Beispiel im Schwarzwald
vor dem Feldbergturm und nehmen ihn wahr. Wenn wir uns aber später
zu Hause daran erinnern, machen wir uns dabei kein Bild oder keine Vorstellung
von ihm, sondern wir sind auf ihn selbst gerichtet. Er steht zwar nicht
leibhaftig vor uns,
"sondern
wir bringen uns zu ihm hin, ohne daß wir unseren faktischen Standort
verlassen." (Heidegger 1988, S. 298)
Das, was
wir mit Vorstellen im Gegensatz zu Wahrnehmen meinen, ist eine besondere
Weise des Gegenwärtigen, nämlich ein Vergegenwärtigen, und
das Erinnern ist wiederum eine Weise, wie wir auf Abwesendes gerichtet
sein können. Das bekannte platonische Gleichnis von der Wachstafel
in der Seele - ein Geschenk der Mutter der Musen (Mnemosyne, die Erinnerung)
-, in der die Abdrücke der Dinge aufbewahrt werden, ist lediglich
ein Gleichnis (Theät. 191c ff). Unsere Existenz erstreckt sich "je
nach Weite der ekstatischen Zeitlichkeit" auch auf Abwesendes, das auf
verschiedene Weise anwesen kann. So können wir uns zu dem, was ist,
zu Seiendem also, das wir nicht (mehr) gegenwärtig und leibhaftig
wahrnehmen, verhalten, aber auch zu möglichen eingebildeten Erscheinungsweisen
von Seienden (Heidegger 1988, S. 295- 302):
a)
Vergegenwärtigung abwesender Dinge:
Bei
der Vergegenwärtigung eines nicht mehr unmittelbar Wahrgenommenen
geben wir unser Verhalten zu Seiendem nicht auf, sondern "halten zu ihm".
Wir erweitern unsere Gegenwart "in eigentümlicher Weise". Heidegger
unterscheidet verschiedene Möglichkeiten dieses Behaltens, je nachdem,
ob wir den Bezug zum Abwesen- den "lockern" bzw. verändern oder ob
es das Seiende von sich aus tut. Wir können unser Bezug zu dem, was
in der Weise der Vergegenwärtigung steht, von uns aus graduell lockern,
so dass es schließlich "vergessen", d.h. "für uns wieder verborgen
wird und entschwindet." Wenn das, wozu wir in nicht leibhaftiger Weise
'halten' sich verändert, können wir davon erfahren und zu den
Veränderungen ebenfalls 'halten'. Wenn das, woran wir halten, sich
von sich aus ändert, wir uns aber an das Vorherige beziehen, verstellen
wir uns die Sicht dessen, was inzwischen (geworden) ist.
b)
Freies "Einbilden":
Auch
hier betont Heidegger, das wir nicht mit Vorstellungen im "Inneren" eines
Bewußtseins zu tun haben, sondern dass wir, wenn wir uns in "freier
Gestaltung" etwas "ein-bilden", zum Beispiel einen See anstelle des Feldbergturms,
dieses ein "freies Umbilden des uns in der Gegenwärtigung und Vergegenwärtigung
vertrauten Seienden" ist.
Die
Einbildungskraft ist also die Weise, wie wir uns zu nicht leibhaftig wahrgenommenen
sowie zu möglichen Seienden verhalten. Sie ist eine Grundform menschlichen
In-der-Welt-seins und keine 'Kraft' im Inneren eines Subjekts. Die durch
die Erstreckung unseres Existierens ausgehaltene Offenheit, in der Seiendes
an- und abwesen kann, wird von Heidegger auch "Unverborgenheit" oder "Lichtung"
genannt. Da sie ein solches an- und abwesen ermöglicht, ist sie zwar
eine Offenheit und Unverborgenheit, zugleich aber Verborgenheit, d.h. sie
ermöglicht ein Sich-zeigen und ein Sich-verbergen von Seiendem und
somit verschiedene Möglichkeiten unseres sinnlich-leiblichen und weltbildenden
Bezuges zu ihm.
In
Auseinandersetzung mit Nietzsche deutet Heidegger die spezifische Weise,
wie der Mensch die Erstreckung seines sinnlich-leiblichen und weltbildenden
Existierens vollzieht (Heidegger 1961). Für Nietzsche hat die Vernunft
einen "dichtenden" (nicht "dichterischen") Charakter. Was dichtet sie?
Wenn wir zum Beispiel stets die gleiche Birke erkennen, trotz ihrer wechselnden
Gestalt, dann ist diese "Gleichheit" ein Setzen unseres Denkens. Es war
Kant, so Heidegger, der den dichtenden Charakter der Vernunft "zum ersten
Male in seiner Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft eigens gesehen
und durchdacht hat." (Heidegger 1961, S. 584) Für Nietzsche freilich
gehören die Horizontbildung bzw. die Schaffung von "Perspektiven"
zum Wesen des Lebendigen. Er betont den 'praktischen' Charakter des Schematisierens.
Das Festmachen eines Horizontes als Bedingung von Wahrheit, ist für
Nietzsche ein lebensnotwendiger Schein. Ein Kernpunkt von Heideggers Nietzsche-Deutung
betrifft den Ursprung dieses "weltbildenden" Existierens selbst. Während
Nietzsche diesen Ursprung an einem kosmischen Prozeß der "Ewigen
Wiederkehr" letztlich festbindet, legt Heidegger den "abgründigen"
Grund menschlichen sinnlich-geistigen Entwerfens offen (Capurro 1993).
Von
diesem abgründigen Grund menschlichen Seins schreibt Wittgenstein:
"Wovon
man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." (Wittgenstein
1984a, S. 85)
Gemeint
ist die Unfähigkeit der objektivierenden Sprache der Naturwissenschaft
"über" das, was keine "Tatsache" ist, sich aber "zeigt", sinnvoll
zu sprechen. Es wäre aber dann die Frage, ob bei anderen "Sprachspielen"
(Wittgenstein 1984b, S. 250), sich wenn nicht "über", so doch zumindest
"von" diesem Ursprung sprechen läßt. Die Betonung liegt dann
beim lassen. Dieses 'Sprechen von' kann die Form eine Dialogs annehmen,
bei dem die Teilnehmer um das kreisen, was zwischen (dia)
ihrem logos ist, indem sie, durch alle Anstrengungen des Sinnverstehens
hindurch, das zum Vorschein kommen lassen, was ihr Sprechen selbst
sein läßt. Es wird dann gewissermaßen "mehr geschwiegen
als geredet", denn wir sind als die Sprechenden und Weltbildenden von dem
entlassen, was die Sprache nicht sagen und der Begriff nicht begreifen
kann (Heidegger 1975, S. 152).
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