1. PROZESSOREN
Der Computer als zentrales Medium ist
aus unserer Kultur kaum mehr wegzudenken. Aus dem enigmatischen numberchruncher wurde
zunächst ein freundlicher wordprocessor, der uns als personalisierte Maschine die Angst
vor dem übermächtigen Elektronengehirn genommen hat. Dann vollzog sich seine heimliche
Transformation vom Werkzeug der Datenverarbeitung hin zum Medium - zum Medium
kommunikativen Austausches und der Vernetzung von Informationsressourcen. In der nahen
Zukunft wird der Computer in der Form und mit der technischen Struktur, die wir heute
gewohnt sind, wohl verschwinden: Mikrologisierung, erweiterte Speicher und neu entwickelte
Interfaces ermöglichen ein ubiquitous computing, und während die Hardware sich
fragmentiert, wird Software in die Gegenstände der Alltagskultur integriert: schon
arbeitet die Cashcard mit Java, der Kochtopf bald mit Jini, und Manager freuen sich auf
die nächste Generation von Smartphones.
Man kann wohl sagen, der Computer beeinflusse die Kultur, aber genausogut
argumentieren, daß die Kultur den Computer beeinflußt. Wir sind gewohnt, in
Kausalitäten zu denken, doch man kommt so nicht weiter, wenn Technik einerseits, Kultur
andererseits als Entitäten gefaßt werden. Der Computer ist nicht nur zentrales Medium
unserer Kultur, der Computer im Zustand der fortgeschrittenen Vernetzung ist Kultur. Das
widerspricht der unreflektierten Deutung, die den Fortschritt an der technologischen
Entwicklung mißt und ihn überhaupt kausal auf Technik bezieht. Für sie ist Technik ein
leeres Gefäß, das man dann mit Inhalten aus Kunst und Kultur füllt. Es wäre aber ein
Fehler, den Zusammenhang zwischen Kultur und Technik als eine Einbahnstraße zu denken.
Diesen Fehler macht die konservative Kulturkritik, wenn sie aus der Angst vor
Veränderungen - die immer auch symbolischen wie realen Machtverlust bedeuten -
technikfeindlich argumentiert. Aus der Enttäuschung darüber, daß der Fortschritt nicht
dem reinen Geist entspringt, sondern der Ingenieurskunst und der technischen
Massenproduktion, werden sie zu Maschinenstürmern auf gehobenem Niveau - ein gutes
Beispiel ergeben hier die hysterischen Texte von Paul Virilio, dem die Teletechnologien
mit ihren netzartigen Strukturen und der Telepräsenz eine "Tyrranei der
Information" bedeuten. [1] Welche Dramatik der Begrifflichkeit, die vom Feuilleton
hier begierig aufgesogen wird! Eine Kritik der pathetischen Termini, mit denen die neuen
Medienkulturfunktionäre so gern hausieren gehen, steht dringend an: Revolution, Krieg,
Geschwindigkeit. Die platte Rhetorik der Digerati, die hier von einer "digitalen
Revolution" schwatzen und überall ominöse "Herausforderungen" sehen,
dient eher der emphatischen Überhöhung der eigenen Rolle, als daß sie zum Verständnis
der neuen Phänomene etwas hergeben würde. Sozialpsychologisch gesehen handelt es sich
bei dieser Ideologie um eine Identifikation mit dem Aggressor, mit der bestimmte
Grundannahmen einer Mittelklasse-Lebens- und Arbeitskultur blind reproduziert, und weiters
Top-down-Modelle der sozialen Organisation undifferenziert generalisiert werden.[2]
2. REZEPTOREN
Die menschlichen Kulturtechniken sind erfahrungsgemäß nicht konstant, sie verändern
sich relativ zum sozialgeschichtlichen Kontext, der solche Veränderungen stimuliert. Die
neuen Medien auf der Grundlage digitaler Codierung ändern die menschliche Auffassung von
Wirklichkeit ebenso, wie sie neue symbolische Räume erschließen. Das aber ist keine
Revolution, sondern, in der Diktion des letzten großen, nämlich des französischen
Revolutionszeitalters, eher eine "Reform der Denkungsart" (Kant), die ihren
Ausgangspunkt ebenso bei der subkulturellen Avantgarde hat wie bei der High Technology.
Grundlage für diese Reform war die Durchsetzung des kybernetischen Paradigmas in den
letzten fünf Jahrzehnten.
Die kulturpessimistisch eingestellten Intellektuellen machen uns glauben, daß wir
hierfür den hohen Preis eines Verlustes der Buchkultur zahlen. Ihre Kritik funktioniert
aber nur unter der Annahme einer Logik des Zerfalls. Lassen Sie mich nochmal den Bezug zu
einem populären Beispiel herstellen: dem von Virilio strapazierten Konzept der
Geschwindigkeit. Ein sehr signifikantes Beispiel, denn es ist eine fast schon
überflüssige Bemerkung, daß sich die elektronische Kommunikation tatsächlich als
lebensweltliche Beschleunigung bemerkbar macht. Bei genauerer Analyse jedoch wird man
bemerken, daß die Kritik der Geschwindigkeit nur dem Ideal der Buchkultur verpflichtet
ist, und auch die Angst vor der sogenannten Informationsflut auf eine eher niedrige,
individuell noch verkraftbare Zirkulationsgeschwindigkeit von Texten baut. Die Kultur des
gedruckten Buches erzeugte eine unnatürliche Linearität im Kommunikationsfluß durch die
künstliche Ausdehnung der Feedback-Schleife, die jedem Kommunikationsakt innewohnt.[3]
Die neuen Medien bergen eine eigene kommunikative Wahrheit, weil sie diese Dehnung
negieren und 'instantane' Kommunikationen privilegieren. Davon hatte bereits McLuhan
gesprochen, und wenn man den Begriff der Beschleunigung in diesem Rahmen betrachtet,
verliert er viel von seiner Magie.
3. COMMUNITAS
Ich erlaube mir nun etwas soziologische Differenzierung. Die Zukunft der Kommunikation
ist nicht vorherzusehen, das 'Technoimaginäre' (Flusser) hat noch keine scharfen
Konturen.[4] Bestimmten im neunzehnten Jahrhundert materieller Warenverkehr und Energie
die Ökonomie, so sind es jetzt zunehmend Information und Wissen. Ein wesentliches Kapital
der neuen Netzkultur ist ihre dezentralisierte Organisationsstruktur, mit der sich eine
rationalere Verfügbarkeit der gesellschaftlichen Ressourcen abzeichnet. Aber nicht die
Kommunikation, sondern die Kultur als ganze ist einer Veränderung unterworfen, was an
zwei neuralgischen Punkten besonders hervortritt:
- hinsichtlich der Veränderung der Reproduktion am Ende der industriell geprägten
Gesellschaft, wie es die soziologische und philosophische Diagnose der Postmoderne in den
letzten beiden Jahrzehnten verdeutlicht hat;
- hinsichtlich der Veränderung der gesellschaftlichen Wissensbasis als solcher, und zwar
in einem qualitativen Sinn - sie begann mit einer sich stetig erhöhenden
Zirkulationsgeschwindigkeit von Texten und endet vorläufig mit neuen Formen der
Informationsgewinnung und einer Aufwertung nicht alphabetisch codierter, technoimaginärer
Kommunikationsformen.
Gegenüber dem Wissen der Buchkultur, die ihre Informationen in enzyklopädischer Form
speichert und überliefert, funktioniert das neue Wissen auf einer Meta-Ebene: als offenes
Wissenssystem von Informationen über Informationen. Möglicherweise werden die
Kulturformen der Moderne sich einmal als Auseinandersetzung mit und Abarbeitung an der
Semiotik der Buchkultur darstellen: dem Versuch, zwischen den kulturellen Produken
(Sprache, Schrift, Bild) und den Akteuren (Autoren, Werke, Rezipienten) neue
Konstellationen herzustellen. Die gegenwärtige Redefinition von Massenkultur bedeutet
definitiv nicht mehr nur die Krise, sondern den Untergang des bürgerlichen Modells
kultureller Vermittlung. Die Agenten der sekundären Sozialisation sind für die
postmoderne Generaration nicht mehr Eltern und Lehrer, sondern Peergroups und die Idole
der Kulturindustrie, das verbindende Element ist keine transzendentale Subjektivität
mehr, sondern eine vielschichtige kommunikative Kompetenz.
Von daher rührt auch die Unversöhnlichkeit einer Kulturkritik, die dies nicht so
recht wahrhaben will. Für sie gilt, daß Elite an Masse vermittelt - diese beugt sich
aber nicht mehr blind der Vermittlung, sondern wendet die eigentliche Logik des Mediums
an, die in der Replik liegt. Nichts anderes bedeutet Netzkultur, mit der neuartige
Diskursverflechtungen die verbindlichen Codes des kulturellen Mainstreams durchbrechen.
Der Cyberspace wird als Testfeld sozialer Innovationen entdeckt, in dem die Erfindung von
Kultur mittels Sampling, Repetition oder Rekombination ständig von Neuem stattfindet.
Pessimisten und Verteidiger der Eindimensionalität läßt das vom Niedergang der Kultur
sprechen; zumindest auf dem Weg der Diagnose kann man ihnen da durchaus ein Stück weit
folgen: Das vermutete Ende der großen Erzählung erfüllt sich mit den Datenbanken des
Informationszeitalters, deren kumulative Speicher die der Narration ersetzen und damit
wohl auch eine neue Einbildungskraft des Technoimagionären generieren.
Über die kulturphilosophischen Implikationen läßt sich bloß spekulieren. Ging es
der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts noch um Herstellung von Publizität als
solcher, so ist unser Problem in einer Zeit, da praktisch alles öffentlich gemacht wird,
eher schon die Perversion dieses Konzepts - als das 'Matt Drudge Prinzip'. Überlegen wir,
was die Aufklärer sich damals versprochen hatten: die Durchsetzung von Wahrheit in der
Vielheit ihrer Stimmen. Die Kriterien von heute sind viel unklarer, weil weder im
politischen noch im wirtschaftlichen Sinn gesagt werden kann, ob die Rechnung einer
'Informationsgesellschaft' tatsächlich aufgeht (außer für die, die an der Infrastruktur
verdienen). Es geht nicht um das Für und Wider der Technologie. Hier kommt es auch darauf
an, ob die makrosoziologischen Veränderungen sich in den kleinen Utopien des Alltags
einlösen lassen.
4. COLLABORATIVE TEXTFILTERING
In jeder Diskussion um die neuen Medien entbrennt zuverlässig der Streit, ob sie denn
nun das Buch endgültig ablösen werden oder nicht. So hat etwa Robert Darnton, Spezialist
für Publizistik im vorrevolutionären Frankreich, gerade wieder einmal das "New Age
of the Book" ausgerufen.[5] Die Prognose vom Ende des Buches geht auf McLuhan
zurück, der in den sechziger Jahren voll Enthusiasmus für ein Zeitalter "nach
Gutenberg" das Fernsehen als Indiz für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der
menschlichen Kommunikation interpretiert hatte. McLuhan hatte recht und unrecht zugleich:
die Bücher sind nicht verschwunden, allerdings spielen sie im Bereich der
gesellschaftlichen Reproduktion von Wissen nicht mehr die zentrale Rolle, und mehr und
mehr zeigen sich auch die Grenzen des Datenspeichers Papier. Hatte man schon McLuhan gern
den performativen Widerspruch vorgeworfen, ein Buch über das Ende des Buches zu
schreiben, so scheint es nur auf den ersten Blick absurd, wenn die neuen
Kommunikationsverhältnisse jenseits von Gutenberg sich in Form von Büchern
manifestieren. Auch der vernetzte Diskurs greift gern auf das bewährte Druckformat
zurück, wenn es der Anlaß gebietet: nach hektographierten Textsammlungen und Proceedings
im unhandlichen Zeitungsformat sind gewichtige Texte von Nettime jetzt erstmals in
Buchform erschienen.[6]
Wer oder was ist Nettime? Auf den ersten Blick eine von vielen Mailinglisten, auf denen
die Erfahrung der ersten Netzgeneration ästhetisch verarbeitet und theoretisch
reflektiert wird. Auch der zweite Blick in einzelne Texte hinein dringt noch längst nicht
unter die Oberfläche, läßt aber erkennen, daß es sich bei diesem Projekt nicht einfach
nur um ein Selbstverständigungsunternehmen einiger Künstler und Theoretiker geht. Als
Geert Lovink und Pit Schultz vor Jahren diesen netzkritischen Diskurs initiierten, nannten
sie ihr Unternehmen "collaborative textfiltering" - eine Auseinandersetzung mit
neuen Formen des Lesens und Schreibens, mit der Ästhetik des Netzes, mit Politik und
Ökonomie der Medien, und nicht zuletzt auch eine europäisch dominierte Intervention
gegen den neoliberalistischen Herrschaftsdiskurs der kalifornischen Digerati. Jetzt liegt
also eine kultverdächtige Schwarte vor, deren im Titel enthaltener Imperativ nicht
ernstgenommen werden will - der jede Software begleitende Paratext "README!",
den mit Sicherheit kein Anwender je liest, ist eine ganz gute Metapher für die Haltung,
die hier bewußt provoziert wird. Natürlich wird Nettime gelesen, aber eben nicht wie ein
Buch. Angesichts der über hundert Beiträge heißt es zunächst einmal, die dem
Inhaltsverzeihnis des Readers beigefügte Maxime "Stop reading / Start browsing"
ernst zu nehmen. Das Buch ist zu seinem eigenen Paratext geworden, da das eigentliche Feld
der Textproduktion ins Netz abgewandert ist.
Der Punkt aber ist, daß alle diese Texte verschiedenster Provenienz da sind, um sich
in einer vielschichtigen Präsenz des Netzdiskurses zu behaupten. Im Sprung vom Bildschirm
zurück zum Papier hat die Taste [ENTF] ihre Funktion verloren. Aktivisten werden mit
Künstlern konfrontiert, Theoretiker mit Technikern, Akademiker mit Autodidakten,
Meisterdenker mit Feministinnen. Der Reiz von Nettime besteht in dieser manchmal
ermüdenden Konfrontation jenseits der gestylten, stromlinienförmigen Inhalte, die
andernorts gern als "Content" verkauft werden. Daß die Frage nach dem
"Content" ohne diejenige nach der "Community", die ihn konsumiert,
schwer zu stellen ist, diesen Beweis tritt Nettime vorläufig an. Die neue
Mediengeneration generiert Bedeutung nicht ausschließlich über den klar kommunizierten
Inhalt, sondern auch über den diffusen Kontext. Wenn Netzkultur mehr bedeutet als die
technologische Infrastruktur, und das ewige Hickhack um Software und Hardware,
Betriebssysteme und Programme, was liegt dann näher, als diese erweiterte Medienumgebung
auf "properties and potentials" abzuklopfen. Im Zeitalter der allgemeinen
Diskursbeschleunigung [Virilio-Viruswarnung!] wirkt das manchmal freilich wie Sand im
Getriebe. Genau das aber macht den Reiz und den Erfolg von Nettime aus, im Gegensatz zu
einer Vielzahl von anderen Listen, die von thematischer Eingrenzung leben und von einer
Hybris des Schnellen und Neuen.
ANMERKUNGEN
[1] Paul Virilio: Fluchtgeschwindigkeit, München 1996; ders.: La bombe informatique,
Paris 1998
[2] Als Beispiel sei die manifeste Tendenz zum Corporate Takeover des Netzes
erinnert, die sich im Software-Monopol des Microsoft Explorer manifestiert, in
den Guarded Communities von America Online, in der digitalen
Gemeinschaftsstruktur von Geocities.com, in der Vereinheitlichung des
Online-Zeittaktes durch Swatch Time, etc.
[3] Michael Giesecke: Der Buchdruck in der fürhen Neuzeit. Eine historische Fallstudie
über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, mit einem
Nachwort zur Taschenbuchausgabe 1998, Frankfurt 1998
[4] Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien,
Schriften Band 1, Mannheim 1995
[5] Robert Darnton: The new Age of the Book, in: The New York Review of Books, 18.3.99
[5] README! Filtered by Nettime. ASCII Culture and
the Revenge of Knowledge, New York 1999
© Frank Hartmann 1999
|
Zurück
zum Anfang | Zurück zum Inhalt | Zurück zur MainPage |