Kant - Die Grenzen der Kausalität
Daniel Marestani
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Daniel
Marestani
Die
Grenzen der Kausalität
Eine
Untersuchung zur (In-) Konsistenz und Motivation
des
Thesenbeweises der dritten Antinomie
Seminararbeit zu "Kants Freiheitslehre"
bei Dr. Geert Keil (WS
1997/98)
"Denn, wenn die Frage an sich ungereimt ist, und unnötige Antworten verlangt, so hat sie, außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachteil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten, und den belachenswerten Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält."
Immanuel Kant
1. Skizzierung des
Projektes
1.1 Motto
Das Motto soll den Anlaß und die
Durchführung der folgenden Arbeit charakterisieren, die der
Versuch ist, das Sieb unter Kants gemolkenen Bock im Thesenbeweis
der dritten Antinomie zu halten. Um wenigstens eine
Gleichwertigkeit bezüglich der Lächerlichkeit beider Akte
herzustellen, sei hier noch darauf hingewiesen, daß, wenn A
einen Bock melkt und B darauf reagiert, indem er ein Sieb
unterhält, die Tatsache, daß es ein Sieb ist, keinen
zusätzlichen Ridikulitätsfaktor für B darstellt, da dieser Akt
hier das gleiche intentionale Bewußtsein erfordert wie der des
Unterhaltens eines Eimers. Ein Nichts ist doch schließlich in
einem löchrigen Gefäß zweifellos genausogut aufgehoben wie in
einem undurchdringlichen. Mit etwas Wohlwollen könnte man es B
sogar zutrauen, daß er ein Sieb benutzt, weil hier ein
Bock gemolken wird, daß er also einen Eimer nähme, wenn es eine
Ziege wäre, und sich folglich des Kausalbezuges seiner Handlung
auf die Handlung As vollständig bewußt, mithin gar nicht
'unbehutsam' ist. Tatsächlich erschiene B weitaus lächerlicher,
wenn er einen Eimer unter den Bock hielte, da er damit ja zu
verstehen gäbe, er habe die Illusion, hier sei überhaupt etwas
aufzufangen.
1.2 Projekt und Prämissen
In dem Beweis für die Thesis der dritten Antinomie werden wir mit einem Argument konfrontiert, das auf den ersten Blick überhaupt nicht konsistent und noch viel weniger plausibel erscheint, so daß es völlig unverständlich ist, daß der vorhandene Paralogismus von Kant nicht einmal im Nebensatz erwähnt wird. Zur Justfikation könnte er hervorbringen, daß dies ja gar nicht seine Position sei; das wollen wir ihm in unserer Argumentation vorläufig mit Vergnügen zugestehen - da es ihm unüberwindliche Hindernisse in den Weg stellen wird -, wenn auch nicht allzu überzeugt glauben. Daß Kant die Inkonsistenz akzipiert, bleibt schließlich trotzdem Faktum. Ich werde im folgenden allerdings auch versuchen, eine Exegese dieses Arguments aus der Terminologie der Kritik der reinen Vernunft anzustrengen, um ihm Gültigkeit zu verschaffen und die ihm eigene Logik aufzuweisen, womit Kant aber ungünstigerweise noch um einiges mehr in die Bredouille gebracht wird, weil es dann nämlich tatsächlich sein Argument ist.
Diese Arbeit hat also den Nachweis zur Aufgabe, daß Kant zwei Alternativen für den Beweis der Thesis der dritten Antinomie zur Verfügung stehen, die er beide nicht wählen kann:
Daß die Kantische Argumentation mit Sicherheit die Grenzen der Kausalität transzendiert - und zwar in dem Doppelsinn, in dem auch der Titel dieser Untersuchung zu verstehen ist: erstens, weil hier etwas über die uns bekannte Kausalität, die die Grenzen der Erfahrung bestimmt, hinausgeht und zweitens, weil die Schritte in der Kantischen Argumentation die Bezeichnung 'Kausalbezüge' nun wirklich nicht mehr verdienen -, scheint evident, auch wenn Günter Figal darauf hinweist, daß in den Prolegomena behauptet wird, daß "in allen Grenzen (...) auch etwas Positives" enthalten ist, da sie nämlich "eine wirkliche Verknüpfung des Bekanntem mit einem völlig Unbekannten" seien; dem können wir mit Strawson entgegnen, daß es, um dem kohärenten Denken Grenzen zu ziehen, nicht notwendig ist, von beiden Seiten dieser Grenzen her zu denken, wie es Kant, trotz seiner Dementis, zu tun versuchte.
Ich werde mich also im folgenden mit der Aufweisung dieser Aporie und mit einem Erklärungsversuch ihrer Herkunft beschäftigen. Eine Pastiche des Formprinzips der Antinomien bot sich hierbei an, weil zwei disparate Interpretationspossibilitäten dargestellt werden. Um nicht den Vorwurf einer terminologischen Verwirrung zu provozieren, werde ich für meine Antinomie die minimal germanisierten Termini "These" und "Antithese" bemühen; für den Beweis der Thesis der dritten (und/oder vierten) Antinomie werde ich die aus anderen Zusammenhängen bekannte Abkürzung Tb einführen (mit Allusion auf die in 2.1.3 erwähnten Beulen), weil das Kompositum 'Thesenbeweis' keine Unterscheidung zwischen meinem und dem Kantischen zuließe, und mir die Alternative "Thesisbeweis" doch etwas zu artifiziell klingt.
Für die folgende Beweisführung ist
es von großer Relevanz, einerseits die unvorsichtigen
Äußerungen Kants über die Richtigkeit der Argumente in den
Antinomien, wie zum Beispiel: "(...)weil sowohl Satz als
Gegensatz durch gleich einleuchtende klare und unwiderstehliche
Beweise dargetan werden können, - denn vor die Richtigkeit
dieser Beweise verbürge ich mich (...)", und andererseits
diejenigen bezüglich der Gleichwertigkeit der Argumente, zum
Beispiel bei der Erläuterung seiner Art der Antithetik:
"(...) ohne daß man einer [der Erkenntnisse, D.M.] vor der
anderen einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt."
im Kopf zu behalten.
2. Exegetische Antinomie
"There is, on the other hand, no plausibility at all in Kant's suggestion that the entire enterprise of science is neccessarily conducted under the aegis of the idea of an intelligent creator, and that we are thus inevitably led to this idea by Reason's characteristic search for general explanations. Ideas of God, or of gods, have many sources, some of them not markedly connected with Reason; and the relating of any such idea to scientific explanation is something that presents an awkward problem to the theologian rather than a neccessary inspiration to the scientist."
Peter F. Strawson
Aus dem Tb will der Dogmatiker, dem dieser Beweis zugeschrieben wird, mit dem folgenden Argumentationsgang, den ich noch einmal verkürzt darstelle, um mich hinterher nicht ständig mit dem Zitieren immer derselben Sätze abmühen zu müssen, die 'transzendentale Freiheit' beweisen, wozu er folgende Schritte benötigt:
(1) Wenn alles in der Welt nach Gesetzen der Natur geschähe, dann wäre jede Ursache auch Wirkung einer anderen Ursache.
(2) Also wäre die Reihe der Ursachen unendlich.
(3) Eine unendliche Reihe ist jedoch keine vollständige Reihe.
(4) Es läge also eine unvollständige Reihe von Ursachen vor.
(8) Aus (7) kann gefolgert werden,
daß "noch eine Kausalität durch Freiheit anzunehmen
notwendig" ist.
2.1 These und Beweis
T h e s e
In der Argumentation des Tbs der
dritten Antinomie wird überall nirgend die transzendentale
Freiheit bewiesen.
B e w e i s
2.1.1 Vorbemerkung
Die folgende Beweisführung wird
sich vor allem auf die Ergebnisse der Strawsonschen und der
Schopenhauerschen Analyse stützen, wobei jedoch nicht behauptet
werden kann, daß diese so unbedingt notwendig wären, um das
Argument der Thesis als falsch zu decouvrieren - tatsächlich
springt die offensichtliche Falschheit jeden Rezipienten
geradezu an -; sie sind eher dazu gedacht, gegen den einen
großen Namen (Kant) zwei andere große Namen in die Waagschale
zu werfen, um der Plausibilisierung des folgenden Beweises etwas
nachzuhelfen.
(1) ist leicht einsehbar, das Argument des Empiristen ersetzt einfach nur den Konjunktiv durch den Indikativ und den Konditionalsatz durch einen Kausalsatz, um es zu validieren.
(2) kann aus (1) gefolgert werden, wenn zwischen Ding an sich und Erscheinung nicht unterschieden wird.
(3) erscheint weder für sich gesehen plausibel, noch geht es auf irgendeine einsehbare Weise aus der hier vorgeführten Argumentation hervor.
(4) ist eine Inferenz von (3), weshalb dasselbe gilt wie bei (3).
(5) beansprucht eine Äquivalenz von (4) "keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen" mit mindestens eine nicht "hinreichend a priori bestimmte Ursache" in der Reihe; diese wäre eine unzulässige Extension des Kausalprinzips, sofern man unter 'hinreichend a priori bestimmt' nicht einfach nur 'existent' versteht, womit die Äquivalenz aber eine einfache Synonymisation und somit redundant würde.
(6) ist eine Inferenz von (5), weshalb dasselbe gilt wie bei (5)
(7) wäre eine akzeptable Inferenz von (5) und (6), wenn man (5) und (6) für gültig hielte.
(8) ist keine Inferenz von
(7), sondern führt einen völlig neuen Terminus (Freiheit bzw.
sogar "transzendentale Freiheit") ein, der aus (7) in
keiner Weise hervorgeht. Aus (7) wäre nur zu folgern, daß irgendetwas
anscheinend neben der Kausalität der Natur besteht, keinesfalls
aber könnte man auf dessen Wesen schließen.
Die Crux am Tb liegt darin, daß an die unendliche Reihe der Ursachen die Forderung gestellt wird, sie müsse vollständig sein, dann bemerkt wird, daß sie diese Forderung nicht erfüllen kann, womit der Kausalität der Natur plötzlich die universale Gültigkeit abgesprochen ist. Die Vollständigkeitsforderung scheint auf den ersten sowie auf jeden folgenden Blick vollständig illegitim, ja, sie scheint geradezu Produkt eines Kategorienfehlers zu sein, denn was soll die Prädikation 'vollständig' (ebenso 'unvollständig') in bezug auf eine unendliche Reihe aussagen?
Ich werde nun die sehr richtigen Widerlegungen dieses Arguments von Peter F. Strawson und Arthur Schopenhauer darstellen, über die allerdings später hinausgegangen werden muß. Sie lassen sich womöglich mit dem folgenden Beispiel recht gut verdeutlichen.
Wenn ich einem Schüler die Anweisung gebe: 'Zähle von null bis minus fünfzig!", und er auf dem richtigen Weg bei minus fünfzig ankommt, kann ich sehr wohl behaupten, er habe diese Reihe vollständig aufgezählt; wenn er bei minus siebenunddreißig (zum Beispiel) die Reihe nicht mehr fortsetzen kann, werde ich sagen, die Reihe sei unvollständig; denn hierfür habe ich ja Regeln und Kriterien. Gebe ich aber nun jemandem die Anweisung 'Zähle mir eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender Zahlen von null abwärts auf!', werde ich da, außer aus einem nicht zum Inhalt der Aufgabe gehörenden Sadismus heraus, als jemand, der unser Zahlensystem und unsere Sprache auch nur einigermaßen gut kennt, ständig zwischendurch, wenn der Schüler pausiert - etwa, um seine ausgetrocknete Kehle mit einem Schluck Wasser zu erfrischen, um weiterzählen zu können -, ihm sinnvoll vorwerfen dürfen, die Reihe sei aber nicht vollständig? Was schwebte mir dabei vor? Und wann soll ich ihm denn mitteilen, nun sei die Reihe endlich vollständig? Hätte ich dafür ein Kriterium? Wohl kaum. Folglich läuft die Vorstellung, man könnte zwischen einer vollständigen und einer unvollständigen unendlichen Reihe unterscheiden, auf blanken Unsinn hinaus. Hierzu ist nun wirklich der bekannte Spruch des Philosophen zu zitieren, dem dies - für meine Zwecke modifizierte - Beispiel entlehnt ist: "Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.". Einer unendlichen Reihe Vollständigkeit oder Unvollständigkeit prädizieren zu wollen, wie es der Tb verlangt, zeugt doch davon, daß hier versucht wird, ineins mit den Grenzen der Sprache die Grenzen der Kausalität zu überschreiten, und daß die sich dabei ergebenden Beulen bereits eine beachtliche Wirkung zeitigen.
Nun könnte Kant entgegnen, daß dies Argument in den mathematischen Antinomien von Belang gewesen sei, in den dynamischen es sich aber anders verhalte. Das dynamisch gebrauchte 'unendlich' sei eben etwas anderes als das mathematisch gebrauchte 'unendlich', darum sei das Beispiel mit der Zahlenreihe hier nicht zu applizieren. Strawson gibt uns zum Glück gegen diesen Einwand Rückendeckung, seine Analyse kommt zu den folgenden Ergebnissen.
Die Kritik setzt bei (4) an; Strawson ist der Ansicht, daß die Thesis falsch und die Antithesis wahr ist, weil " Whereas the thesis of each of the third and the fourth antinomies embodies a precisely parallel "false" presupposition to that embodied by both thesis and antithesis in the first and second antinomies, no such presupposition at all is embodied in the antithesis of either.". Diese falsche Voraussetzung ist nach Strawson die, daß von jeder der Reihen in den Antinomien gefordert wird, sie müsse als Ganzes existieren, außer in der Antithesis in der dritten und vierten Antinomie. "The thesis, then, is false, the antihesis true." (Strawson spricht sogar von "the truth of the antithesis".) "(...) the "true" critical solution" müßte dies nun herausstellen, womit die Antinomie verschwunden wäre, weil sich erwiesen hätte, daß eines der Argumente nicht so unwiderstehlich war wie das andere. Daß diese Lösung von seiten Kants nicht erfolgt, sieht Strawson als "anomaly".
Gehen wir einmal davon aus, daß die Forderung nach Vollständigkeit synonym mit der Forderung nach Ganzheit gebraucht werden kann, so wäre die 'wahre kritische Lösung' auch nach Strawson damit beschäftigt, dem Tb nachzuweisen, daß in ihm eine falsche Prämisse gesetzt sei, nämlich diejenige der Ganzheit oder Vollständigkeit der Reihe, und daß hierbei zwischen den mathematischen und den dynamischen Antinomien keine Unterscheidung getroffen werden dürfe. Der Fehler bleibt überall derselbe: wenn der Dogmatiker voraussetzt, daß die Reihe als Ganzes existiert, versteht er darunter schon, daß sie einen Anfang haben müsse, deshalb schreibt Strawson auch: "The argument, as is correctly noted in the antithesis and acknowledged in the observations on the thesis, derives what force it has solely from the assumption of a beginning of the world.", und das ist ganz offensichtlich illegitim, weil hiermit die erwünschte Konklusion zur Prämisse gemacht wurde.
Wenn ich voraussetze, daß eine unendliche Reihe als Ganzes existiert, muß ich ebenfalls davon ausgehen, daß ich beim Aufzählen der Reihe irgendwann zu einem Anfang komme, so daß ich dem Schüler - beispielshalber bei minus 1.397.433.899 - sagen kann: 'Nun ist die Reihe endlich vollständig; Du bist am Anfang angekommen.' Über die Sinnhaltigkeit einer solchen Voraussetzung muß wohl kaum ein Wort verloren werden.
Schopenhauers Kritik setzt schon bei (2) an: "Hiebei ist schon falsch, daß die Bedingungen zu einem Bedingten als solche eine REIHE ausmachen können.". Ein Bedingtes fordert nach Schopenhauer immer nur die nächste Bedingung; eine Kettenmetapher gebe hier ein ebenso einflußreiches wie falsches Bild der Sachlage. Das Schopenhauersche Argument hat auch sehr große Ähnlichkeit mit dem des Empiristen, ist nur etwas unglücklicher formuliert. Dem mißverständlichen Satz, daß "bei jedem zurückgelegten Gliede (...) die Kette unterbrochen [ist] und die Forderung des Satzes vom Grunde gänzlich getilgt (...)" (hier führt die Kettenmetapher tatsächlich in die Irre), kann man jedoch ebenfalls den Tenor entnehmen, daß die 'Kette' immer so lang ist, wie die Erforschung von Bedingungen - bzw. unser Prozeß des Aufzählens - fortgediehen ist und, daß sie niemals stehenbleiben kann, weil die Vernunft fordert, daß zu jedem Bedingten seine Bedingung gefunden werde, "daß man schlechterdings sich nichts vorstellen kann, davon kein Warum weiter zu fordern wäre, also kein absolutes Absolutum, wie ein Brett vor dem Kopf." Schopenhauer ist der Ansicht, daß die "Gültigkeit des Satzes vom Grunde (...) so sehr im Bewußtsein" liegt, daß man immer weiterforschen muß, und daß das 'Brett vor dem Kopf' selbst dann nicht gerechtfertigt ist, wenn man - wie Kant - "sehr vornehme Mienen dazu macht."
Eine vornehme Miene - welche sich ja bekanntlich größtenteils im Bereich des Gesichts abspielt - zu machen, während man ein Brett vor dem Kopf hat, ist in der Tat eine äußerst problematische Angelegenheit. Vor allen Dingen bekommen die Beobachter desjenigen, der dies Kunststück vollführt, sehr wenig davon mit. Es scheint geradezu ein 'Unding' zu sein, seine vornehme Miene jemandem vorzuführen, wenn man sich in einer solch prekären Lage befindet. Fast ebenso, wie es ein Unding ist, das Unbedingte zu postulieren. Es "ergiebt sich dann hier, daß keineswegs das Wesen der Vernunft im Fordern eines Unbedingten bestehe: denn sobald sie mit völliger Besonnenheit verfährt, muß sie selbst finden, daß ein Unbedingtes geradezu ein Unding ist."
Dies ist nun wirklich ein Angriff auf die Kantische Philosophie - die sich ja sehr ausgiebig davon nährt, daß "es eigentlich nur das Unbedingte [ist], was die Vernunft, in dieser, reihenweise, und zwar regressiv, fortgesetzten Synthesis der Bedingungen, sucht" -, dem man nur zustimmen kann: Sicherlich sucht alles mögliche im Menschen nach einem Unbedingten, aber es ist überhaupt nicht einzusehen, weshalb ausgerechnet die Vernunft so etwas unsinniges tun sollte.
Strawson und Schopenhauer stimmen also darin überein, daß das Unbedingte aus dem Argument in keiner Weise hervorgeht; der erstere, weil die Reihe, an deren Anfang es stehen soll, gar nicht als ganze gegeben ist, der letztere, weil für ihn schon falsch ist, hier überhaupt mit dem Terminus 'Reihe' zu argumentieren. Der Nachteil an diesen beiden - im übrigen völlig legitimen - kritischen Ansätzen ist allerdings, daß sie das Argument gar nicht von innen heraus destruieren, sondern die auch von Kant für falsch gehaltene Prämisse, in der Erfahrung zum Unbedigten gelangen zu wollen, an dem Argument des Dogmatikers monieren, wobei sie natürlich zu der Konklusion kommen müssen, daß die Argumentation deswegen falsch ist, weil "The "demand of reason for the unconditioned" in the thesis of each of the dynamical antinomies explicitly takes the form of a demand for a freely acting cause or an unconditioned existence which belongs to the sensible world, the world of things in space and time."
Man könnte Kant hiernach nur zwei Vorwürfe machen: Zum einen, daß Kants Auflösung der Antinomie seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird (was Strawson ja auch sehr elaboriert bemängelt).
Zum anderen, daß dann tatsächlich
die Antithese das eigentliche Problem darstellt, weil hier die
Unterlassung der Unterscheidung zwischen Ding an sich und
Erscheinung nicht (oder zumindest nicht explizit) deutlich wird,
ja, man sogar schließen könnte, daß der Empirist die
Unterscheidung doch macht! Zum Beispiel, wenn man die folgende
Äußerung aus der Anmerkung zur Antithesis richtig versteht:
"Wenn auch indessen allenfalls
ein transzendentales Vermögen der Freiheit doch
nachgegeben wird, um die Weltveränderungen anzufangen, so würde
dies Vermögen doch wenigstens außerhalb der Welt sein müssen
(wiewohl es immer eine kühne Anmaßung bleibt, außerhalb dem
Inbegriffe aller möglichen Anschauungen, noch einen
Gegenstand anzunehmen, der in keiner möglichen Wahrnehmung
gegeben werden kann). Allein, in der Welt selbst den Substanzen
ein solches Vermögen beizulegen, kann nimmermehr erlaubt sein
(...)"
Kühne Anmaßung hin oder her, der Empirist geht tatsächlich von der Erscheinung aus und räumt sogar die Möglichkeit der Unterscheidung ein, und kommt also zum selben Ergebnis wie Strawson.
Strawson und Schopenhauer, sowie unser Beispiel mit dem Schüler scheinen also vom Argument des Empiristen in der Antithesis schon antizipiert zu sein. Das Ergebnis ist allen gemeinsam: Das Unbedingte kann nicht in der Erfahrung gefunden werden.
Eine Kritik, die den Tb von innen
heraus zerstört, müßte die Prämisse desselben, nämlich
"Erscheinungen als Dinge an sich und eben sowohl im bloßen
Verstande gegebene Gegenstände anzusehen" zunächst einmal
als richtig ansehen. Dann ergibt sich folgende Komplikation: Kant
hält das Argument manchmal allen Ernstes für richtig, unter der
Bedingung, daß die Unterscheidung der Phänomenalismus-These
falsch wäre. Diese Haltung geht nicht nur aus den eingangs
erwähnten unvorsichtigen Äußerungen bezüglich der Richtigkeit
der Argumente hervor, sondern auch aus dem Teil, der sich der
Auflösung der Antinomien widmet:
I. "(...) wenn das Bedingte, so
wohl, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind, so ist,
wenn das erstere gegeben worden, nicht bloß der Regressus zu dem
zweiten aufgegeben, sondern dieses ist dadurch wirklich schon mit
gegeben, und, weil dieses von allen Gliedern der Reihe gilt, so
ist die vollständige Reihe der Bedingungen, mithin auch das
Unbedingte, dadurch zugleich gegeben (...)"
Dies scheint umso merkwürdiger, als
wir hier Kant gegen ihn selbst zitieren können:
II. "Denn, sind Erscheinungen
Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdenn
ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende
Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist
jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die, samt
ihrer Wirkung, unter dem Naturgesetze notwendig sind."
Das Erstaunliche beim ersten Zitat ist natürlich nicht, daß unter dieser Bedingung alle Dinge schon vorhanden wären, bevor man sie wahrgenommen hätte, sondern, daß dann auch das Unbedingte sich irgendwo im wahrnehmbaren Bereich der Welt aufhält. Wir könnten uns das so vorstellen, daß uns etwas wie eine Schnitzeljagd aufgegeben ist, und wir zum Beispiel nur weit genug in den Wald hineingehen, hoch genug auf einen Berg hinaufklettern oder ein hinreichend tiefes Loch in der Erde graben müßten, um plötzlich auf den uns vielleicht mit einem Blumenstrauß willkommenheißenden Gott zu treffen.
Das zweite Zitat behauptet geradezu das Gegenteil: Genau dann, wenn die Unterscheidung des Phänomenalismus nicht gemacht werden kann, können wir das Unbedingte nirgendwo mehr finden, weder in einem Erdloch, noch in unserer Vernunft. Das würde wiederum bedeuten, daß mit den Prämissen des Tbs Freiheit tatsächlich nicht zu retten ist, daß also logischerweise dort auch keine Freiheit nachgewiesen wird.
Nun könnte ein sophistischer Einwand lauten: Es werde im Tb ja nur davon ausgegangen, daß Dinge an sich selbst betrachtet werden, das angeführte zweite Kant-Zitat besage jedoch, daß Freiheit nicht zu retten sei, wenn Erscheinungen wirklich Dinge an sich selbst wären - zum Glück sei dem ja nicht so, wie Kant immer wieder ausdrücklich feststelle. Dieser Einwand liefe auf das falsche Prinzip hinaus, daß eine Theorie, die X als unumstößliche Prämisse annimmt, zu anderen Ergebnissen kommen würde als eine Theorie, die von dem Faktum ausgeht, daß X tatsächlich der Fall ist.
Ein zweiter sophistischer Einwand könnte lauten: Es werde in Zitat I davon ausgegangen, was die Folge sei, wenn Bedingung und Bedingtes Dinge an sich wären, in Zitat II aber davon, was die Folge sei, wenn Erscheinungen Dinge an sich wären, weshalb wir es hier mit zwei ganz unterschiedlichen Annahmen zu tun hätten. Dieser Einwand disqualifiziert sich dadurch, daß er folgendes übersieht: Das Zitat I muß (unter anderem aufgrund der Verwendung des Wortes "wenn" zu Beginn des Satzes) als eine Annahme ausdrückend verstanden werden, wie der Einwand ja auch selbst zugibt. Diese Annahme wäre komplett redundant, wenn unter Bedingung und Bedingtem hier etwas anderes als Erscheinungen verstanden würde. Man müßte dann nämlich behaupten, es handele sich schon um Dinge an sich, dann wäre aber die Kantische Annahme gar nicht mehr notwendig. Am Ende blieben dem Einwand nur zwei Möglichkeiten, entweder, er legt Kants Satz folgendermaßen aus: (a) 'Wenn Dinge an sich Dinge an sich wären...' (was hinreichend schwachsinnig ist, da es sich zwar zugegebenermaßen bei diesem Kantischen Terminus nicht immer um einen singulären handelt, an dieser Stelle aber trotzdem davon ausgegangen werden muß, weil sonst keine Unterscheidungskriterien zur Verfügung stünden) oder (b) 'Wenn irgendetwas Drittes zwischen Erscheinung und Ding an sich, von dem Kant aber nicht sagt, was es sei, Ding an sich wäre...' (hier wäre dann wohl der Satz vom Ausschluß des Dritten anzuführen, zumindest bei Kant gibt es meines Wissens keinen Zwischenbereich von Ding an sich und Erscheinung).
Nachdem diese Einwände also aus der Welt geschafft wären, müssen wir davon ausgehen, daß Kant - je nachdem, welche der beiden Folgerungen ihm gerade passend erscheint - zwischen diesen Positionen alterniert.
Glaubt man der Folgerung der Annahme der ersten Position, kann man den Tb als konsistent und richtig akzeptieren, allerdings müßte man dann absurderweise tatsächlich anfangen, z. B. unterm Bett oder im Kleiderschrank nach Gott zu suchen, und wenn man ihn da nicht fände, müßte man in die weite Welt hinausgehen und mindestens mit einer Schaufel, einem Taucheranzug oder Bergsteigerschuhen ausgerüstet sein, um Aussicht auf Erfolg zu haben; denn wenn die Annahme stimmte, und es eine so einfache Sache wäre, Gott zu finden, dann hätte es bestimmt schon jemand (zum Beispiel Reinhold Messner) geschafft. Die erste Position kann also nicht wirklich in Kants Sinn gelegen haben, das wird in der Auflösung der dritten Antinomie sehr deutlich.
Mit der Wahl der zweiten Position müssen wir allerdings die Richtigkeit des Tbs preisgeben, denn dann kann das Unbedingte niemals gerechtfertigt werden, gerade dann nicht, wenn wir die Dinge so wahrnehmen, wie sie an sich sind, weil dann die intelligible Welt und die transzendentalen Ideen tatsächlich nur erträumt oder erlogen sind. Die Bedingung der Möglichkeit für die Beweisbarkeit der Realität eines Gegenstandes wäre auf eine deiktische Geste reduziert; alles, worauf nicht gezeigt (oder allgemeiner: was nicht sinnlich wahrgenommen) werden könnte, müßte als nicht existent gelten. Dann wären Freiheit, Gott, Unendlichkeit und Absolutum tatsächlich verloren. Aus eben diesem Grunde braucht Kant den Phänomenalismus schließlich so dringend.
Wenn wir nun also mit Kant I das Argument im Tb angehen, dann kommen wir tatsächlich zu der 'Begründung' für den merkwürdigen Schritt (3). Der Satz "Wenn also alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang, und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen." wäre tatsächlich zu rechtfertigen mit der Prämisse: "(...) wenn das Bedingte so wohl, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind, so ist, (...) das Unbedingte dadurch zugleich gegeben (...)". Diese Prämisse ist natürlich falsch, wie die zweite Position Kants sehr richtig bemerkt, aber wenn Kant I sie setzt, dann können wir das Argument als in sich stimmig betrachten.
Zum Abschluß stelle ich das Problem des Tbs noch einmal kurz dar und beleuchte es aus beiden Perspektiven Kants.
Der erste Schritt des Argumentes erklärt, was die Folgerung wäre, die man als erste aus der Annahme einer alleinmöglichen Kausalität nach Gesetzen der Natur ziehen müßte, nämlich die, daß, wenn (1) alles nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung geschieht, jede Ursache auch Wirkung einer anderen Ursache sein müßte und die Kette der Ursachen ins Unendliche gehen würde. Nun setzt der Tb die Prämisse, daß (3) eine unendliche Reihe keine vollständige Reihe sei. Kant I könnte darauf verweisen, daß in dieser Betrachtung, die die Unterscheidung des Phänomenalismus nicht macht, ein Bedingtes gegeben sei und damit auch zugleich ein Unbedingtes, weil aber das Kausalitätsgesetz besagt, daß jede Ursache ebenfalls wieder bedingt ist, widerspricht es sich hier ganz offensichtlich selbst, folglich kann es erstens nicht allein gültig sein und es muß zweitens noch ein ein Unbedingtes am Anfang der Kausalitätsreihe nach Gesetzen der Natur bestehen, dies könnten wir dann 'transzendentale Freiheit' nennen (natürlich könnten wir es auch 'Gott' oder 'Sein' nennen, die Hauptsache wäre, daß wir es rein 'nominal' bestimmen, daß wir keine ontologischen Sätze über dieses Unbedingte sagen, außer eben, daß es unbedingt sei), womit offensichtlich die 'transzendentale Freiheit' bewiesen wäre. Kant II müßte konzedieren, daß das Kausalitätsgesetz nur (1) besage, nicht aber (3), daß also mit (3) eine unzulässige Extension des Kausalitätsgesetzes eingeführt werde, die zu dem 'Selbst'widerspruch führt. Mit einer solchen widersprüchlichen Annahme könnte allerdings in jedem Gesetz ein 'Selbst'widerspruch hergestellt werden; so könnte man auch behaupten, der Satz 'Alle schweren Körper halten sich nicht von selbst in der Luft, sondern fallen notwendig.' enthalte einen solchen Widerspruch, wenn man die Bedingung hinzufügt, daß unter 'alle schweren Körper' zum Beispiel 'mit Gas gefüllte Ballons' zu verstehen seien.
Da wir davon ausgehen können, daß Kant
bei eingehenderer Reflexion doch wohl eher mit Kant II im Konsens
wäre, muß der Tb wirklich falsch sein, und zwar auch und vor
allem dann, wenn die Unterscheidung zwischen Ding an sich und
Erscheinung nicht gemacht wird. Unglücklicherweise sollte nach
Kant aber gerade unter der Bedingung, daß diese Unterscheidung nicht
gemacht wird, das Argument richtig sein! Daher schließlich auch
sein Eifer, sich für die Beweise zu verbürgen. Es scheint, als
sei das Argument von Kant I konstruiert/verwendet und für
richtig erkannt, von Kant II jedoch übersehen worden. Offenbar
hat "(...)der sich nur manchmal selbst nicht recht
verstehende Kant (...)" hier wohl die Subversion seiner
eigenen Auflösung der Antinomie ausführen wollen. Der Tb ist
nämlich nicht nur deswegen falsch, weil er die Unterscheidung
zwischen Ding an sich und Erscheinung nicht kennt, und das
Unbedingte in der sinnlichen Welt sucht (siehe Strawson,
Schopenhauer und den Empiristen), sondern auch, weil er selbst
unter der Voraussetzung, daß tatsächlich die Dinge, wie sie an
sich sind, wahrgenommen werden können, keinen Beweis vom
Unbedingten liefern kann (siehe Kant II).
2.2 Antithese und Beweis
A n t i t h e s e
Durch eine kontextuelle Analyse des
Tbs der dritten Antinomie kann die transzendentale Freiheit im Tb
als bewiesen herausgestellt werden.
B e w e i s
Der Beweis der Antithese wird um
einiges kürzer ausfallen als der der These. Es ist sehr leicht
nachzuweisen, daß aus der Terminologie der Kritik der reinen
Vernunft die transzendentale Freiheit durchaus bewiesen
werden kann. Ich werde mich im folgenden größtenteils auf
Günter Figal stützen, der im Rahmen seiner Habilitationsschrift
über die Phänomenologie der Freiheit bei Martin
Heidegger auch Kants Freiheitstheorie ein Kapitel gewidmet hat,
in dem er eindrücklich nachweist, worin die transzendentale
Freiheit im Tb besteht. Außerdem wird die Argumentation von
Henry E. Allison aus Kant's Theory of Freedom
miteinbezogen, die ebenfalls die Gültigkeit des Tbs beweisen
will.
2.2.2 Kontextuelle Analyse
des Tbs
Die Gültigkeit des Satzes: "Wenn also alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang, und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen.", der problematische Schritt (3) der Argumentation also, kann auf ganz einfache Weise bewiesen werden, nämlich dann, wenn man vorausschickt, daß hier ein terminologischer Gebrauch der Wörter 'Natur' und 'Gesetz' vorliegt, der aus der Kritik der reinen Vernunft herzuleiten ist, und der die einzig plausible Interpretationsmöglichkeit für den gesamten Thesenbeweis bietet, alle anderen Möglichkeiten müßten sich damit begnügen, aus dem Argument einen baren Unsinn herauszulesen.
Die Frage, die geklärt werden muß,
ist die, weshalb das Kausalitätsgesetz sich selbst
widersprechen soll, wenn es allein gültig wäre, und also kein
erster Anfang, kein Unbedingtes mit ihm gesetzt wird. Es scheint
doch auf den ersten Blick so, als wäre das Prinzip, daß alles
eine Ursache hat, überhaupt erst dann erfüllt, wenn es
keine erste Ursache gibt. Hier kann nur eine Untersuchung des
Kantischen Naturbegriffs weiterhelfen, welchen wir zum Beispiel
dem folgenden Zitat entnehmen können:
"Unter Natur (im empirischen
Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem
Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d.i. nach Gesetzen. Es sind
also gewisse Gesetze, und zwar a priori, welche allererst eine
Natur möglich machen (...)".
Das Hauptmerkmal von Natur ist nach
Kant also, daß sie aus den notwendigen Gesetzen besteht, die die
Erscheinungen - ein Terminus, der immer impliziert, daß auch ein
Subjekt vorhanden ist, dem etwas erscheint -, miteinander
verbinden. Ganz offensichtlich benötigt die Natur also, um Natur
sein zu können, ein Subjekt, was auch im folgenden Zitat
deutlich wird: "Denn Gesetze existieren eben so wenig in den
Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die
Erscheinungen inhärieren, sofern es Verstand hat (...)".
Die Gesetze, die die Verbindungen zwischen den Erscheinungen
schaffen, gibt es in der Welt der Dinge an sich nicht; die Dinge
an sich verursachen zwar die Erscheinungen, nicht aber die
(notwendigen) Verbindungen unter ihnen, diese sind erst der
Einheit unseres Verstandes zuzuschreiben, deshalb kongruiert der
Natur auf der Seite der Dinge an sich auch gar nichts, wie zum
Beispiel der Erscheinung eines Baumes oder der eines Apfels auf
der Seite der Dinge an sich etwas kongruiert. Die Tatsache, daß
beobachtet - oder schmerzlich erfahren - werden muß, daß ein
Apfel, wenn er sich von einem Ast löst, vom Baum hinunter-,
jedoch nicht hinauffällt, gehört zu den Gesetzen der Natur (in
diesem Fall zum Fallgesetz), die nur in bezug auf ein Subjekt
existieren. Ja, man kann den Ausdruck 'Gesetze der Natur'
geradezu für tautologisch halten, weil 'Natur' nach Kant ja
ohnehin nur aus notwendigen Gesetzen besteht, die dem Verstand
des Subjekts - den Kategorien, und in diesem Falle besonders der
Relationskategorie der Kausalität - inhärieren. Mit 'Natur' in
dieser Verwendung ist also diejenige Verstandestätigkeit des
Subjekts gemeint, die die Erscheinungen nach notwendigen
Gesetzen, die von den Kategorien vorgegeben sind, verknüpft. Das
folgende Zitat belegt diese Haltung eindeutig:
"Bedenkt man aber, daß
diese Natur an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen,
mithin kein Ding an sich, sondern eine bloße Menge von
Vorstellungen des Gemüts sei, so wird man sich nicht wundern,
sie bloß in dem Radikalvermögen aller unsrer Erkenntnis,
nämlich der transzendentalen Apperzeption, in derjenigen Einheit
zu sehen, um deren willen allein sie Objekt aller möglichen
Erfahrung, d. i. Natur heißen kann; und daß wir auch eben darum
diese Einheit a priori, mithin als notwendig erkennen können,
welches wir wohl müßten unterwegens lassen, wäre sie
unabhängig von den ersten Quellen unseres Denkens a n s i c h
gegeben. Denn da wüßte ich nicht, wo wir die synthetische
Sätze einer solchen allgemeinen Natureinheit hernehmen sollten,
weil man sie auf solchen Fall von den Gegenständen der Natur
selbst entlehnen müßte. "
Hiermit wäre wohl auch der letzte Zweifel aus der Welt geschafft, den man daran hegen könnte, daß sich 'Natur' bei Kant nur auf das 'Radikalvermögen' unserer Erkenntnis bezieht, nicht aber auf irgendetwas außerhalb derselben, imgleichen ist dies für Kants Verwendung von 'Gesetz' zu applizieren.
Es ist nun also herausgestellt, daß das Wort Natur bei Kant terminologisch gebraucht wird, und ebenfalls, was Kant unter diesem Terminus versteht - etwas völlig anderes als der gemeine Verstand, der dabei womöglich an schöne Landschaften mit umherhopsenden Schafen oder andere bekannte Klischees denkt. (Eben dasselbe gilt in unserem Fall übrigens auch für den Kantischen Weltbegriff, auch wenn hier die Konnotationen des gemeinen Verstandes natürlich andere wären: "Eben dieselbe Welt wird aber Natur genannt, so fern sie als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird (...)".)
Der Beweis für die Gültigkeit des Argumentes ab Schritt (3) erfordert allerdings noch eine andere Bedingung. Es könnte ja nun behauptet werden, daß, selbst wenn 'Natur' nur als eine Verstandestätigkeit gesehen werden muß, dies doch nicht impliziere, daß der Verstand, der diese 'Natur' seiner eigenen Einheit a priori verdanke, keine unendliche Reihe von Ursachen denken könne, weshalb immer noch nicht bewiesen sei, warum eine unendliche Reihe als unvollständige Reihe bezeichnet werde.
In der Tat muß noch bewiesen
werden, daß ein reiner Verstandesbegriff mit sich uneinig ist,
wenn er eine Reihe voraussetzt, die unendlich ist. Dies stellt
aber keine besondere Schwierigkeit dar, denn Belege dafür, daß
die sukzessive Synthesis des Verstandes keine unendlichen Reihen
denken könne, weil diese in ihr niemals vollendet werden
könnten - was natürlich schon rein analytisch aus dem Ausdruck
'unendliche Reihe' hervorgeht -, die Möglichkeit dieser
Vollendung der Reihe im Verstand aber die Bedingung der
Möglichkeit für die Reihe überhaupt sei, gibt es mehr als
genug in der Transzendentalen Dialektik, zum Beispiel:
"Der wahre (transzendentale)
Begriff der Unendlichkeit ist: daß die sukzessive Synthesis der
Einheit in Durchmessung eines Quantums niemals vollendet sein
kann. (...) Da diese Synthesis nun eine nie zu vollendende Reihe
ausmachen müßte: so kann man sich nicht vor ihr, und mithin
auch nicht durch sie, eine Totalität denken. Denn der Begriff
der Totalität selbst ist in diesem Falle die Vorstellung einer
vollendeten Synthesis der Teile, und diese Vollendung, mithin
auch der Begriff derselben, ist unmöglich."
Schließlich ist die Kantische
Vernunft teleologisch angelegt: Da es ihr nicht gegeben ist,
unendliche Reihen zu denken, muß sie am Anfang der Reihe ein
Unbedingtes setzten, schließlich entstammt eine Reihe solcher
Verbindungen ja dem Verstand selber, weshalb es nicht einzusehen
ist, daß die Vernunft in ihr den Widerspruch vorfinden soll,
daß der Verstand mehr von ihr verlangt, als ihr möglich ist.
"(...) die Vernunft fodert die absolute Vollständigkeit der Bedingungen ihrer Möglichkeit, so fern diese eine Reihe ausmachen, mithin eine schlechthin (d. i. in aller Absicht) vollständige Synthesis, wodurch die Erscheinung nach Verstandesgesetzen exponiert werden könne.
Zweitens ist es eigentlich nur das
Unbedingte, was die Vernunft, in dieser, reihenweise, und zwar
regressiv, fortgesetzten Synthesis der Bedingungen, sucht,
gleichdamit die Vollständigkeit in der Reihe der Prämissen, die
zusammen weiter keine andere voraussetzen. Dieses U n b e d i n g
t e ist nun jederzeit i n d e r a b s o l u t e n T o t a l i t
ä t d e r R e i h e, wenn man sie sich in der Einbildung
vorstellt, enthalten."
Es ist also nun zu folgern, daß eine alleinige Gültigkeit des Kausalitätsprinzips tatsächlich widersprüchlich wäre, weil diese sowohl implizieren würde, daß unser Verstand uns eine Reihe gibt, in der jede Ursache wiederum eine Ursache hätte, mithin die Reihe der Ursachen unendlich wäre, als auch, daß unsere teleologische Vernunft überhaupt keine unendliche Reihe denken kann, sondern immer auf ein Unbedingtes, auf einen Anfang der Reihe, fixiert ist.
Daß Kants Naturbegriff die einzig
plausible Erklärung für den Selbstwiderspruch ist, hat zum
Beispiel auch Günter Figal deutlich erkannt, wenn er schreibt,
"(...) daß plausibel gemacht
wird, inwiefern die Notwendigkeit einer Vervollständigung der
Allgemeinheit des Kausalgesetzes nicht widerstreitet. Kant
begründet die Notwendigkeit einer Vervollständigung des
Kausalgesetzes, indem er zeigt, daß gerade ohne eine solche die
Behauptung einer allgemeinen Kausalität sich selbst in ihrer
"unbeschränkten Allgemeinheit" (KrV, B 474/ A 446)
widerspricht. Der Grundsatz der Kausalität behauptet ja eine
eine [Verdopplungsfehler aus dem Original übernommen, D.M.]
allgemeine Kausalität "nach Gesetzen der Natur" (KrV,
B 473/ A 445), und "Natur" ist "der Inbegriff der
Gegenstände der Erfahrung" (KrV, B XIX), d.h. der Inbegriff
"aller Erscheinungen" (KrV, B163/ A 114). (...) deshalb
gibt es dem Naturgesetz zufolge "jederzeit nur einen
subalternen, niemals aber einen ersten Anfang, und also
überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von
einander abstammenden Ursachen" (KrV, B 473f./A 445f.).
Deshalb bedarf der Gedanke der Kausalität als eines
Naturgesetzes der Vervollständigung durch den Gedanken der
Freiheit: "Es muß eine Kausalität angenommen werden, durch
welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter,
durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen
Gesetzen bestimmt sei, d. i. eine absolute Spontaneität
der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach
Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin
transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur
die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen
niemals vollständig ist" (KrV, B 474/A 446)."
Hiermit wäre also nun bewiesen,
daß der Selbstwiderspruch im Kausalgesetz dadurch erklärt und
auch aufgelöst wird, daß Kant die 'transzendentale Freiheit'
einführt. Natürlich könnte ein Zweifler nun immer noch die
Frage stellen, weshalb es denn partout die 'transzendentale
Freiheit' sein müsse, die das Kausalitätsgesetz
vervollständigt; es sei doch nun immer noch nicht hinreichend
begründet, was es sei, das außerhalb des
Kausalitätsgesetzes als dessen Komplement fungiere. Auf diese
Frage gibt Henry E. Allison die einzig mögliche Antwort:
"Strictly speaking, the
argument establishes at most the negative conclusion that
mechanistic or natural causality (causality according to
"laws of nature") is not the only kind of causality,
and this might seem quite distinct from establishing a positive
thesis about a distinct, nonnatural kind of causality involving
absolute spontaneity or, equivalently, transcendental freedom. As
Kant makes clear in his discussion of the solution to the
antinomy, however, he is treating the causality of nature and
freedom as the only two modes of causality conceivable to us (A
533/ B561). Moreover, since freedom is here understood in a
purely negative sense (as independence of the conditions of
nature) there is nothing particularly problematic in the move
from the insufficiency of the former to the assertion of the
latter."
Damit läge also der ultimative
Beweis dafür vor, daß aus dem Tb tatsächlich die
'transzendentale Freiheit' hervorgeht. In der Kurzfassung würde
er ungefähr lauten:
3. Auflösung der Antinomie
"From the circumstance alone, that a controversy has been long kept on foot, and remains still undecided, we may presume that there is some ambiguity in the expression, and that the disputants affix different ideas to the terms employed in the controversy."
David Hume
"Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten (...)"
Johann Wolfgang von Goethe
Das Wort, um das es hier geht, ist die 'transzendentale Freiheit'. Es stellt sich nun also die Frage, ob wir über deren Begründung etwas wissenswertes herausbekommen haben.
Die Antithese, die uns die 'transzendentale Freiheit' beschert, ist ganz offensichtlich ungültig, denn während die These von der - von Kant vorgegebenen - Voraussetzung ausgeht, daß der Dogmatiker Dinge an sich und Erscheinungen nicht unterscheidet, geht die Antithese von der unzulässigen Prämisse aus, daß hier Kants Naturbegriff zugrundegelegt sei. In der These wird also die Thesis berechtigterweise als falsch desavouiert, in der Antithese wird die Thesis als richtig bewiesen, aber nur unter der falschen Voraussetzung, daß dem Dogmatiker die Position des Transzendentalidealisten unterstellt wird, was eben nicht mit der Kantischen Vorgabe vereinbar ist, daß der Dogmatiker transzendentaler Realist sei und folglich die Dinge zu betrachten meint, wie sie an sich sind.
Zuallererst muß ich nun einen kleinen Trickbetrug beichten, auf den sich die Antithese stützt: Günter Figal hat zwar tatsächlich den - sehr ausgiebig - zitierten Kommentar zur Kantischen 'transzendentalen Freiheit' geschrieben, aber er hat diesen als Kants Auflösung der Antinomie ausgegeben! Die Auslassung ("(...)") vor dem Figal-Zitat in 2.2.2 läßt gerade die erstaunliche Figalsche Äußerung "Die Auflösung der Antinomie besteht dann darin (...)" aus, nach welcher dann beständig aus dem Thesenbeweis (!) zitiert wird! (Daher entschuldigt sich hoffentlich auch die Länge des Zitats und die von Figal übernommenen Quellenangaben.) Es ging mir bei diesem Betrug wirklich nicht darum, Prof. Dr. Figal etwas am Zeug zu flicken; ich wollte nur die aus meiner Antinomie entspringende Behauptung stützen, daß der Tb wirklich nicht anders zu begründen ist, als so, daß man in die Begründung den Fehler einbaut, den Kantischen Naturbegriff zugrundezulegen, woraus natürlich hervorginge, daß der Tb schon Kants Begründung der 'transzendentalen Freiheit' enthalten und also eigentlich nach Kant wahr sein müßte, damit der 'Begriff' (siehe das Goethe-Zitat) der 'transzendentalen Freiheit' überhaupt so etwas ähnliches wie ein Fundament hat, was natürlich wiederum nach sich zieht, daß die Antithesis für Kant ganz einfach falsch sein müßte. Figal (und jeder andere Exeget) muß diesen Fehler geradezu begehen, wenn der Kantischen 'transzendentalen Freiheit' irgendetwas plausibles zugrundegelegt sein soll. Wenn man Figal folgt - und dies ist wahrscheinlich die einzige Lösung, wenn man bestrebt ist, die 'transzendentale Freiheit' doch noch irgendwie zu retten -, dann muß der Thesenbeweis schon die Kantische Begründung der 'transzendentalen Freiheit' enthalten.
Der Kommentar von Allison (welcher im übrigen eine noch viel absurdere terminologische Erklärung zur Rechtfertigung des Tbs an den Haaren herbeizieht, auf die ich hier aber nun wirklich nicht noch eingehen kann) disqualifiziert sich durch eine ähnlich falsche Voraussetzung: Auch Allison kann nicht umhin, den Tb mit der Auflösung der Antinomie zu validieren, er kommt nur auf dem Wege zu dem gewünschten Ergebnis, es werde im Tb 'transzendentale Freiheit' nachgewiesen, daß er erklärt, Kant unterscheide doch in der Auflösung nur zwischen Kausalität durch Freiheit und Kausalität der Natur, es bleibe dem Dogmatiker im Tb also nur die Kausalität durch Freiheit übrig, wenn er bewiesen habe, daß es noch irgendetwas außerhalb der Kausalität der Natur geben müsse. Wie plausibel dies erscheint, muß hoffentlich nicht noch begründet werden.
Nun kommen wir sowohl mit der Interpretation der These als auch mit der der Antithese - die ich als die einzig möglichen verstanden wissen möchte - zum selben Ergebnis: eine der beiden von Kant vorgetragenen Positionen ist richtig, weshalb also letztendlich überhaupt keine Antinomie vorliegt und die Kantische Auflösung derselben sich folglich als komplett unnötig herausstellt.
(a) Schließen wir uns dem Beweis der These an, so kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Thesis falsch ist, entweder weil sie das Unbedingte in der sinnlichen Welt sucht und/oder weil - selbst für den Kant II der Auflösung der dritten Antinomie - nicht einzusehen ist, weshalb mit einem Bedingten auch gleich ein Unbedingtes gegeben sein muß, wenn wir die Dinge so wahrnehmen, wie sie wirklich sind. Die Antithesis jedoch wäre wahr, wonach dann zur 'Auflösung' nur die Thesis weggestrichen werden muß und uns gar kein Begriff von 'transzendentaler Freiheit' übrigbliebe. Wählen wir diese Alternative folgen wir Kant, indem wir annehmen, es handele sich hier um den Streit zwischen Dogmatiker und Empirist, kommen aber nach eingehender Analyse dazu, daß wir Kant gar nicht mehr folgen, wenn wir dies tun, weil wir einsehen müssen, daß die Thesis eben dann falsch ist, wenn hier ein Dogmatiker argumentiert, daß also die von Kant postulierte Unwiderstehlichkeit beider Beweise nicht gegeben ist, mithin keine Antinomie vorliegt, sondern eine falsche Behauptung gegen eine wahre Behauptung steht.
(b) Schließen wir uns der Antithese an, ist die Thesis wahr und die Antithesis falsch, weil die letztere von einem ganz falschen Naturbegriff ausgeht und einfach nicht einsehen will, daß die Kausalität nach Gesetzen der Natur vervollständigt werden muß, dann ist die 'transzendentale Freiheit' zwar 'bewiesen' (besser gesagt: sie ist aus der Kantischen Terminologie heraus erklärt, ob man diese Erklärung für plausibel halten müßte, ist noch eine ganz andere Frage), aber auch nur deshalb, weil wir einen Fehler in die Argumentation eingebaut haben. Wählen wir diese Alternative, folgen wir Kant nicht in seiner Anweisung anzunehmen, daß hier der Dogmatiker argumentiere, wir folgen statt dessen seinem Naturbegriff, und kommen zu dem Ergebnis, daß die Antithesis genau dann falsch ist, wenn in der Thesis Kant argumentiert, daß also die von Kant postulierte Unwiderstehlichkeit beider Beweise nicht gegeben ist (auch schon deshalb, weil Kant einem Gegenargument, das gegen das seinige steht, niemals dieselbe Validität einräumen würde wie dem seinigen), mithin eine wahre Behauptung gegen eine falsche Behauptung steht.
Wir - und Kant mit uns - haben also zwei Wege vor uns, den Tb zu deuten, können aber keinen von beiden einschlagen, wenn die dritte Antinomie bestehen bleiben und ihre Auflösung gerechtfertigt sein soll. Bei Begehung sowohl des einen als auch des anderen Denkweges müssen wir feststellen, daß beide Holzwege sind, weil im Fall (a) am Ende des vorgeschriebenen Weges plötzlich unser Ziel verschwunden ist - schließlich sollte die 'transzendentale Freiheit' in der Auflösung ja doch irgendwie herauskommen, und wir im Fall (b) feststellen müssen, daß das Ziel plötzlich da ist, obwohl wir den vorgeschriebenen Weg gar nicht begangen haben, weil mit der Antithese sowohl die Antinomie als auch ihre Auflösung hinfällig würde. Ich drücke mich nur scheinbar weniger metaphorisch aus, wenn ich behaupte, daß wir offensichtlich vor einer geradezu exemplarischen Aporie stehen. In starkem Kontrast dazu könnten wir unser Ergebnis auch strikt logisch, und zwar mit Hilfe einer Negatkonjunktion formulieren: Die Antinomie ist nur dann wahr, wenn die beiden einzigmöglichen Auslegungen der Antinomie falsch sind. Und damit stünden wir ebenso wie mit der metaphorischen Formulierung vor einer Aporie und könnten nur den Satz aus 1.2 wiederholen: Hier lag überhaupt kein Problem vor, wovon sich Kant jedoch bei seiner bravourösen Lösung desselben gar nicht erst beirren ließ.
Nun können wir auch guten Gewissens zu unserem Rahmenmotiv, dem gemolkenen Bock, zurückkehren, und uns darauf berufen, daß wir redlich und unter großen Anstrengungen lange Zeit geduldig das Sieb unter den Tb gehalten haben, ja, daß wir geradezu noch versucht haben, Kant beim Melken behilflich zu sein, daß sich jedoch ungeachtet all unserer Anstrengungen die anfängliche Befürchtung bewahrheitet hat, die uns von vornherein dazu trieb, doch lieber ein Sieb zu verwenden. Aus dem Tb und der dazugehörigen Antinomie kommt bei aller Güte und Geduld einfach nichts heraus! (Was natürlich kein besonders verwunderliches Resultat einer Exegese ist, die von vornherein aporetisch angelegt war.)
Ich bitte daher darum, das Wort
'Auflösung', daß über diesem Abschnitt steht, nicht im
Kantischen Sinne zu verstehen; ich kann und will nicht die
'Lösung' des Freiheitsproblems erbringen, mir schwebt eher ein
Gebrauch dieses Wortes vor, der ähnlich dem eines bekannten
Idioms funktioniert: 'X hat sich geradezu in Luft aufgelöst!'. Diese
Art der Auflösung gestehe ich der Kantischen Auflösung der
Antinomie und der Antinomie selbst gern zu, vor allen Dingen aber
der 'transzendentalen Freiheit', sowohl der kosmologisch als auch
der praktisch verstandenen.
4. Kants Motivation
"Der Erfolg Kants ist bloß ein Theologen-Erfolg (...)."
Friedrich Nietzsche
Es ist ja hinreichend bekannt, warum Kant die kosmologische Freiheit partout retten muß: Weil es nämlich "überaus merkwürdig [ist], daß auf diese t r a n s z e n d e n t a l e I d e e der F r e i h e i t sich der praktische Begriff derselben gründe (...)". Der größte Teil der Sekundärliteraten zitiert diese Formulierung sehr gern mit der Anmerkung, daß dies tatsächlich äußerst merkwürdig und ungerechtfertigt sei; ich für meinen Teil halte die Kantische Äußerung weder für merkwürdig noch für ungerechtfertigt - im Gegensatz zu den Äußerungen der Sekundärliteraten -, weil schließlich schon der Beweis kosmologischen Freiheit sich auf eine widersprüchliche Annahme gründet (siehe den abschließenden Teil von 2.1.3), und es doch nun wirklich eine philosophische Binsenweisheit ist, daß man aus einer widersprüchlichen Annahme alle möglichen Schlüsse ziehen kann - warum sollte man es da für überdurchschnittlich erstaunlich halten, daß auch die praktische Freiheit daraus hervorgeht? Darum ist Kant gegen Strawson durchaus gewappnet, wenn dieser schreibt: "Here the rationale of the "new" solution is clear: it is the solution to a new conflict - a conflict not presented in the arguments of the third antinomy at all." Wenn dem Tb eine widersprüchliche Annahme zugrundeliegt, wird dort jeder Konflikt sowohl dargestellt als auch nicht dargestellt, weshalb in der Rechtfertigung eines neuen Themas oder einer neuen 'Lösung' für Kant gar kein Problem liegen kann.
Diese Erkenntnis führt uns dazu,
daß Kant Gott nicht um Gottes willen beweisen will, worüber
viele Sekundärliteraten in ihrem Ärger über den erneuten
Versuch eines Gottesbeweises zunächst einmal geflissentlich
hinwegsehen (Schopenhauer schreibt beispielsweise: "In der
That ist das ganze Gerede vom Absoluten (...) nichts anderes, als
der kosmologische Beweis incognito.", und Heimsoeth, der auf
einen Brief Kants an Garve aufmerksam macht, in dem Kant die
Freiheitsantinomie als die vierte bezeichnet, behauptet
sogar "Dem Ziel [der Transzendenten Theologie] entspricht
das Ursprüngliche bei Kant. Der Sachursprung (...) der
Freiheitsantinomie liegt nicht im menschlichen Bereich, sondern
eben - im kosmologischen."). Es geht jedoch aus Kants
eigenen Äußerungen in der Kritik der reinen Vernunft zur
Genüge hervor, daß Gott für ihn mehr Mittel zum Zweck als
irgendetwas anderes ist:
"Wenn es kein von der Welt
unterschiedenes Urwesen gibt, wenn die Welt ohne Anfang und also
auch ohne Urheber, unser Wille nicht frei und die Seele von
gleicher Teilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie ist, so
verlieren auch die m o r a l i s c h e n Ideen und Grundsätze
alle Gültigkeit, und fallen mit den t r a n s z e n d e n t a l
e n Ideen, welche ihre theoretische Stütze ausmachten."
Das Telos Kants liegt nicht in Gott,
sondern in einer Ethik, welchselbige nicht ohne die notwendige
Stützung durch eine Vorstellung von Gottes Existenz
gerechtfertigt ist. Es muß irgendetwas außerhalb der
sinnlichen Welt geben, da es innerhalb dieser sonst keinen Wert
geben könnte. Dies hat Wittgenstein noch am besten formuliert:
"Der Sinn der Welt muß
außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und
geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert -
und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert."
Eine Ethik, die doch unleugbar etwas mit Werten zu tun hat, muß also von außerhalb der Welt kommen. Zu ihrem eigenen Unglück überschreitet sie dann aber die Grenzen der Sprache und es "ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt.". (Was übrigens nebenbei bemerkt auch der Grund dafür sein dürfte, weshalb so viel darüber geschrieben wird.) Zu Kants eigenem Unglück hängt das meiste in seiner Philosophie davon ab, daß er eine Ethik formuliert, obschon diese sich seiner eigenen Ansicht nach auf etwas nicht zu beweisendem außerweltlichem aufbaut. Dieses Fundament ist nicht ein wackliges, sondern ein gar nicht erst vorhandenes, weshalb alle Behauptungen, die Kant über die praktische Freiheit macht, die er aus der nicht zu beweisenden kosmologischen ableitet, sich überhaupt nicht begründen lassen. Kants Ethik baut sich also auf einem Fundament aus Nichts auf - worin sie sich natürlich nicht von irgendeiner anderen möglichen Ethik unterscheidet: "Dieses Anrennen gegen die Grenze der Sprache ist die Ethik. Ich halte es für sicher wichtig, daß man all dem Geschwätz über Ethik (...) ein Ende macht." Diesen weisen Worten ist nichts hinzuzufügen.
Es bleibt noch die Haltung Nietzsches zu kommentieren. In der Tat versieht sich jemand, der in in einem "Urwesen unbedingte Haltung und Stütze zu bekommen" sucht, mit den besten Metaphern dafür, daß man ihm vorwerfen kann, er gebe das "Rezept zur décadence" und zur "Entkräftung des Lebens", sei offensichtlich zu krank, um allein gehen zu können, und benötige Gott als Korsett und Krücke, und es ist nicht zu leugnen, daß Kant dieses "verborgne[s] Gift", daß "von der Arzenei (...) kaum zu unterscheiden" ist, als 'medizinisches' Hilfsmittel für seine Ethik ein- und annehmen muß, damit man ihr nicht sofort ansieht, worin ihre Krankheit besteht (hier sei nur auf die Abkürzung Tb verwiesen, mit der Nietzsches und Wittgensteins Metaphorik der pathologischen Philosophiegeschichte geeint werden können).
Das Nietzsche-Zitat ist tatsächlich
nicht zu widerlegen, besonders, wenn Kant allen Ernstes den Tb
für unwiderstehlich erklärt, sich für dessen Richtigkeit
verbürgt und ihn dem Dogmatiker zuschreibt, er aber nur
erklärbar ("obzwar nicht eingesehen") ist, wenn er
innerhalb des Kantischen Begriffs des transzendentalen
Idealismus ausgelegt wird. Schließlich muß man hierbei
bedenken, daß der Terminus 'transzendentale Freiheit' durch den
Tb überhaupt erst eingeführt wird, er also gar nicht weiterhin
in Kants Philosophie vorkommen dürfte, wenn erkannt wäre, daß
er in dieser Einführung überhaupt nicht zu rechtfertigen
ist, weshalb man wohl zu der Konklusion kommen muß, daß Kants
berühmter Ausspruch "(...) die Erinnerung des D a v i d H u
m e war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den
dogmatischen Schlummer unterbrach (...)" allerhöchstens von
einer Selbsttäuschung zeugt, die offenbar entstand, als Kant,
mit Hilfe seiner 'Beruhigungsmittel' im tiefsten Schlummer vom
Erwachen träumte.