Die Wahl des eigenen Lebens
Wilhelm Vossenkuhl (Universität München)

 


Am Ende von Henrik Ibsens Schauspiel Ein Puppenheim verläßt Nora ihren Mann und ihre drei kleinen Kinder, ausgerechnet an Weihnachten. Sie erkennt, daß sie Pflichten gegen sich selbst hat, und daß diese wichtiger sind als die Pflichten der Familie gegenüber. Wie kann sie die Pflichten sich selbst gegenüber wichtiger nehmen als alle anderen? Weil sie plötzlich erkennt, daß weder die soziale Ordnung noch die Religion ihr vorschreiben können, was sie zu tun hat; nur sie selbst kann es. Nora leiht sich mit einer gefälschten Bürgschaft Geld, um ihren Mann aus einer gesundheitlichen Krise zu retten, und wird dann erpreßt. Sie wird also aus Liebe schuldig. Ihr Mann, Helmer, verbirgt sich aber lieber hinter den herrschenden sozialen Konventionen als sich schützend vor sie zu stellen. In dieser enttäuschenden und aussichtslos erscheinenden Lage wählt sie zwischen dem Suizid und einem neuen, eigenen Leben. "So wie ich jetzt bin, bin ich keine Frau für Dich", leitet sie den Abschied ein. Und als Helmer sie nach den weiteren Aussichten ihrer Ehe frägt, meint sie, sie könne ihm nichts versprechen. Sie wisse nicht, was aus ihr werde. Nur wenn auf beiden Seiten "volle Freiheit" herrsche, könne das Wunder geschehen, daß das Zusammenleben eine Ehe werde.

Nora wählt ihr eigenes Leben, etwas dramatisch zwar, aber nach Kriterien, die eine moralische Wahl kennzeichnen. Eine solche Wahl setzt Gründe voraus, die eine Person vor sich selbst und vor anderen rechtfertigen kann. Nora entscheidet sich mit guten Gründen für ein eigenes Leben, weil sie sich damit zu sich selbst entscheidet. Sie befreit sich von ungerechtfertigten sozialen und moralischen Zwängen. Sie will als Person geachtet werden und sich selbst achten können. All dies kann sie vor sich und ihrem Mann rechtfertigen. Sie folgt dabei einem moralischen Selbstinteresse, keinem Eigeninteresse in einem engen instrumentell rationalen Sinn.

1. Selbstinteresse - Ibsens Nora

Bleiben wir noch etwas bei Nora. Warum ist ihre Entscheidung keine gewöhnliche instrumentell rationale? Wenn Noras Wahl und - allgemein - die Wahl des eigenen Lebens so zu verstehen wären, könnten wir in aller Klarheit sagen, um was für eine Art von Entscheidung es sich dabei handelt, und wie sie am besten vollzogen wird. Wir werden sehen, daß wir dies nicht können. Die Gründe dafür werden erkennbar, wenn wir uns vergegenwärtigen, was eine rationale Wahl ausmacht, und ob sie auf so etwas wie ‘das eigene Leben’ anwendbar ist.

Instrumentell rational ist die Wahl einer Handlung genau dann, wenn sie die Ziele einer Person am besten erfüllt. Das Schlagwort, das dafür meistens verwendet wird, ist die ‘Maximierung des erwarteten Nutzens’. Es bringt die Grundidee der instrumentellen Rationalität gut zum Ausdruck. Die Ziele, um die es geht, sind nicht beliebig und unbestimmt. Es sind genau die Wünsche, die eine Person motivieren. Genauer gesagt sind diese Wünsche oder Motive Bündel von Gütern aller Art, die eine Person konsumieren will. Was Motive sind und wie sie wirksam werden, ist nicht klar und kann hier zunächst offen bleiben. Entscheidend für die instrumentelle Rationalität und die rationale Wahl ist, daß die Ziele klar und definierbar sein müssen. Sie müssen eine Reihe von axiomatischen Bedingungen erfüllen, die gewährleisten, daß die beste Wahl getroffen werden kann. Dafür müssen sämtliche Ziele, die für die Wahl relevant sind, bekannt und wohlgeordnet sein. Diese Ordnung, die sog. Präferenzordnung, gehorcht formalen Kriterien. Wenn sich die Güterbündel nach diesen Kriterien ordnen lassen, kann die Präferenzordnung als eine Nutzenfunktion dargestellt werden. Dann sind alle wählbaren Ziele einer Person bekannt und in ihrem Wert so berechnet, daß eine Nutzenmaximierung gelingt. Der rational Wählende verfügt – zumindest in der Theorie, im Modell rationaler Wahl - über mehr oder weniger vollständiges Wissen und perfekte kalkulatorische Fähigkeiten.

Es ist - zunächst - ohne weiteres möglich, Noras Entscheidung nach diesem Muster instrumentell rational zu deuten. Daß sie ihre Familie verläßt, maximiert - so scheint es - ihren eigenen Nutzen. Sie hat eine Präferenz den Pflichten sich selbst gegenüber, die kohärent ist mit den Pflichten ihrer Familie gegenüber. Sie folgt dieser Präferenzordnung, ihre Motivation ist klar. Wenn dies die ganze Geschichte wäre, hätten wir Noras Wahl schon hinreichend klar analysiert. Das Wichtigste fehlt aber, nämlich das, was ich in diesen Überlegungen mit ‘Noras eigenem Leben’ meine. Ich meine damit das Leben, dessen Ziele sie wählt und dessen Verlauf sie selbst bestimmt. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Nora Helmer verläßt, weiß sie nur, daß sie nicht mehr ihr bisheriges Leben führen will. Ein positives neues Lebensziel hat sie noch nicht. Sie weiß nicht, was diese Entscheidung bringen wird. Sie sagt, sie wisse nicht, was aus ihr werden wird. Schließlich läßt sie offen, ob sie nicht doch unter der Bedingung wechselseitiger Freiheit und des Wunders einer wirklichen Ehe - irgendwann einmal - zu Helmer zurückkehrt.

Nüchtern betrachtet, ist Noras Entscheidung keine rationale Wahl, und zwar aus drei Gründen. Der erste Grund ist, ihre Ziele lassen sich in keine kohärente Präferenzordnung bringen. Die Kriterien der rationalen Wahl sind nicht erfüllt, weil Noras Präferenzen nicht vollständig, nicht transitiv und nicht stetig sind. Vollständig sind sie nicht, weil ihre Ziele nicht paarweise verglichen und deshalb auch nicht kohärent geordnet werden können. Sie hat eine Präferenz für ein anderes Leben, ein Leben ohne ihre Ehe, zöge aber eine wirkliche Ehe dem Verlassen der Familie vor; zumindest scheint es so. Wenn wir diese beiden Präferenzen in eine Ordnung bringen, widersprechen sie einander. Da dies so ist, sind ihre Präferenzen auch nicht transitiv. Schließlich haben sie keine Stetigkeit; denn es gibt ein Gut, das eigene Leben, das Nora bei ihrer Entscheidung gegen die Ehe als unvergleichbaren, absoluten Wert annimmt, der durch keinen anderen ersetzbar ist. Güter, die sich nicht durch andere, gleichwertige ersetzen lassen, passen in keine Präferenzordnung. Das eigene Leben oder das eigene Selbst sind Güter, die nicht einfach gegen andere ausgetauscht werden können. Das ist der eine Grund dafür, daß Noras Wahl keine streng rationale ist: drei der vier axiomatischen Kriterien einer Präferenzordnung lassen sich auf ihre Ziele nicht anwenden.

Der zweite Grund hängt mit dem ersten zusammen, vor allem mit der Unersetzbarkeit des eigenen Lebens durch ein gleichwertiges Gut. Noras Motivation entspricht nicht vollständig der einer instrumentell rationalen Entscheidung, weil dieses eine Gut mit keinem anderen vergleichbar ist und sie es deshalb allen anderen vorzieht. Sie will den Pflichten gegen sich selbst den Vorzug vor allen anderen geben. Damit folgt sie zwar ihrem Selbstinteresse. Sie tut dies aber nicht um ihren eigenen Nutzen zu maximieren, sondern aus moralischen Gründen. Natürlich kommt es bei der Nutzenmaximierung nicht darauf an, was maximiert wird. Es kommt aber darauf an, daß ein von der Präferenzordnung erfaßtes, wählbares Gut, mindestens so gut ist wie ein anderes, das mit ihm auf einer Indifferenzkurve liegt. Diese Indifferenz gleichwertiger Güter ist ein integraler theoretischer Bestandteil der rationalen Wahl.

Der dritte Grund, der dagegen spricht, daß Nora instrumentell rational gewählt hat, liegt auf der Hand. Sie verfügt über keine vollständige Information, was ihre Ziele angeht. Sie weiß nicht, was aus ihr werden wird und kann nicht wirklich die Nutzenwerte ihrer Ziele berechnen. Ob es ihr mehr nützen würde, nie mehr zurückzukehren oder dem Wunder einer wirklichen Ehe eine Chance zu geben, kann sie nicht wissen. Dies ist auch der augenfälligste Grund dafür, die rationale Wahl nicht zum Muster der Wahl des eigenen Lebens zu machen, weder für Nora noch für sonst jemanden.

Auch die beiden anderen Gründe, aus denen Noras Wahl nicht rein rational ist, gelten für jedermann. Niemand lebt zu irgendeinem Zeitpunkt mit einer kohärenten Präferenzordnung, geschweige denn über längere Zeit. Zur Illustration dieses Punktes ein Beispiel: Anna kann Peter netter finden als Otto, weil der brave, etwas langweilige Peter ihr beim Umzug geholfen hat. Sie kann aber dennoch – etwa aus intellektuellen Gründen - Otto lieber haben als Peter. Dies kann sich kurzfristig ändern, weil sie sich in Franz, einen charmanter Angeber, verliebt, von dem sie aber bald wieder enttäuscht ist. Nach dieser Erfahrung mit Franz erscheint ihr Peter eben doch die längerfristig bessere Wahl zu sein. Die schlechte Erfahrung mit Franz dürfte eigentlich – der Theorie rationaler Wahl nach - in Annas Präferenzen für Otto gegenüber Peter keine Rolle spielen. Franz gilt als irrelevante Alternative. Im Leben werden aber selten solche - entscheidungstheoretisch - irrelevanten Alternativen ignoriert. Und dann heiratet Anna eben doch Peter, weil sie bei ihm weiß, was sie hat.

Wir müßten die Theorie rationaler Wahl in Überlegungen über die Wahl des eigenen Lebens freilich nicht so genau nehmen. Wir könnten die Kriterien dieser Theorie etwas liberalisieren in der Hoffnung, daß dann auch Noras Wahl eine rationale ist. Über ein Kriterium würde wir bei einem solchen Versuch allerdings stolpern. Es ist der eben erwähnte zweite Grund, der gegen Noras Wahl als rationale Wahl spricht. Ihn können wir verallgemeinern. Die Wahl des eigenen Lebens kann keine instrumentell rationale Wahl sein, weil wir unser eigenes Leben - wenn wir es überhaupt wählen - als ein Gut wählen, das auf keiner Indifferenzkurve mit mindestens einem anderen Gut rangiert. Das eigene Leben ist zwar kein absolutes, mit nichts anderem vergleichbares Gut, weil wir es tatsächlich nicht unabhängig und losgelöst von allen anderen Gütern bewerten. Würde das eigene Leben immer alle anderen Güter überragen, würden wir nie Ruf, Karriere, Ehre etc. riskieren, weil wir jemanden lieben oder weil wir uns selbst und unsere Überzeugungen verteidigen müssen. Wir haben die Wahl, das eigene Leben nicht als absolutes Gut, sondern als eines neben anderen zu wählen und dafür vernünftiger in unseren Entscheidungen zu sein. Wenn das eigene Leben ein absolutes Gut wäre, könnten wir es gar nicht wählen. Vor allem könnten wir niemals ein anderes Leben wählen als das, das wir einmal gewählt haben. Dennoch ist das eigene Leben niemals ebenso wählbar wie eine gleichwertiges anderes Gut. Es liegt nicht neben einem anderen Gut auf einer Indifferenzkurve. Der Grundist, daß wir keine Wahl haben, sondern das eigene Leben wählen müssen. Wir werden dies am Beispiel von Lord Jim später besser verstehen.

Zunächst sollten wir besser verstehen, was das Selbstinteresse für eine Rolle spielt, wenn eine Entscheidung nicht rein instrumentell rational, sondern mit moralisch guten Gründen getroffen wird. Es geht hier um den Unterschied zwischen egoistischem und moralischem Selbstinteresse. Es ist, vor allem in utilitaristischen Ansätzen, vom ‘wohlverstandenen eigenen Nutzen’ oder einem moralischen Egoismus die Rede, der durchaus altruistisch aussieht. Das Spendenwesen wäre ohne diesen Altruismus kaum zu erklären. Wohlhabende spenden Geld und genießen still oder hörbar ihre Freigebigkeit. Dieser moralische Egoismus ist aber nicht synonym mit dem moralischen Selbstinteresse, das die Wahl des eigenen Lebens motiviert. Denn dieses Selbstinteresse kann kompromißlos sein und deswegen – im instrumentellen Sinn - irrationale Folgen haben. Nora gibt z.B. all die materiellen und sozialen Werte auf, die bisher ihr unselbständiges, eingeengtes Leben als "kleine Lerche" - wie ihr Mann sie nennt - ausmachten. Sie tut dies weder aus egoistischen noch aus altruistischen Gründen. Sie folgt einem moralischen Selbstinteresse, weil sie ihre autonome Selbstbestimmung allein aus moralischen und aus keinen anderen Gründen wählt.

Es gibt Menschen, die den Suizid wählen, weil sie glauben, daß sie - aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen - keine Chance mehr für ein eigenes Leben haben. Der Maßstab ist dabei ähnlich wie bei Nora, dem eigenen Leben wird ein absoluter Wert im Vergleich mit allem anderen zugemessen. Nora befreit sich allerdings von den Fesseln der sozialen Konventionen und kann sich deswegen auch gegen den Suizid entscheiden. Sie greift lediglich sozial zum Äußersten, nimmt in gewisser Weise das Ende ihres bisherigen sozialen Lebens in kauf, setzt aber nicht ihr Leben aufs Spiel.

Wir finden Noras Entscheidung vernünftig, weil sie nicht zum Äußersten geht. Es erscheint uns nicht vernünftig, den Wert des eigenen Lebens so hoch anzusetzen, daß der Suizid die letzte mögliche Entscheidung ist. Das vernünftige moralische Selbstinteresse ist kompromißbereit und eingeschränkt rational. Es folgt den Kriterien der Freiwilligkeit, über die bereits Aristoteles nachdachte. Wenn ich nur zwischen Übeln wählen kann, steht mir immer noch frei, welches ich wähle. Es ist klüger, das kleinere und auf längere Frist erträglichere zu wählen. Dieses kluge, vernünftige Selbstinteresse gehorcht zwar nicht den strengen Kriterien rationaler Wahl, paßt aber zum normalen Leben.

Manche wählen für das vernünftige Selbstinteresse den Namen "expressive Rationalität". Sie steht - ihrem Typ nach - für eine kreative Wahl, die z.B. dem Bedürfnis nach Selbstachtung und nach eigener Identität gerecht wird. Das menschliche Selbst ist eine Quelle von Zweifeln und Ungewißheiten. Dennoch sucht es seinen Wert auch in sich selbst und in seiner sozialen Erscheinung. Es kann sich mit seinen Entscheidungen einen Ausdruck geben, der es unverwechselbar macht. Zumindest ist es ein Ideal, durch Selbstgestaltung unverwechselbar zu werden. Selbstachtung können wir aber nur entwickeln, wenn wir bei anderen Anerkennung finden. Das eine ist die Kehrseite des anderen. Das Individuum ist an die Gesellschaft gebunden, auch in seiner Individualität. Das vernünftige Selbstinteresse ist daher keineswegs unabhängig von der Anerkennung durch andere. Wenn es allerdings völlig abhängig von der Anerkennung durch andere ist, kann es nicht mehr vernünftig sein, weil es dann keinen Freiraum mehr für sein eigenes Leben hat. Das ist das Dilemma des vernünftigen Selbstinteresses, daß es sowohl abhängig als auch unabhängig von der Anerkennung durch andere sein muß.

2. eigenes Leben

Die Hoffnung mit den Kriterien instrumenteller Rationalität die Wahl des eigenen Lebens klären zu können, hat sich zerschlagen. Es ist wichtig zu sehen warum. Das Interesse am eigenen Selbst läßt sich nicht im Rahmen einer kohärenten Präferenzordnung begreifen. Dieses Interesse ist bei der Wahl des eigenen Lebens durchaus ein widersprüchliches Motiv, zumindest ist ein Widerspruch dabei möglich. Nun wissen wir aber noch nicht genau, was ‘eigenes Leben’ bedeutet. Wir wissen nicht einmal, ob das Leben überhaupt wählbar ist. Wenn die Kriterien rationaler Wahl nicht anwendbar sind, könnte dies bedeuten, daß es gar nichts Wählbares ist. Nicht wählbar ist alles, was wir ohne Alternative haben und tun, oder was uns ebenfalls ohne Alternative zurechenbar ist. Dazu gehören biologische Funktionen wie das Atmen, die Empfindungen, vor allem Fühlen, Hören, Schmerz und Freude, das eigene ‘Ich’, insgesamt das physische und psychische Leben, aber auch Herkunft, Sprache, Kultur und Lebensform. Erst innerhalb des nicht wählbaren Lebens erhalten viele - nicht alle - die Chance, ihr Leben selbst zu gestalten und sich so anzueignen. Die Selbstgestaltung des Lebens ist es, die wir mit der ‘Wahl des eigenen Lebens’ meinen.

Was ist das Eigene, um das es geht? Was mit dem ‘Eigenen’ ausgedrückt wird, ist eine relative, keine strenge Identität. Relativ ist sie in Hinsicht auf Gegenstand, Träger, Zeit und Zuschreibung. Relativ identisch sind Gegenstände im Hinblick auf bestimmte Merkmale, z.B. auf Anzahl, Farbe oder Größe. Bezogen auf diese Merkmale können verschiedene miteinander nicht streng identische Dinge gleich sein, z.B. Bleistifte oder Tomaten oder Menschen. ‘Eigenheit’ läßt sich als relative Identität verstehen, nämlich als Gleichheit zwischen Trägern und bestimmten Eigenschaften, die ihnen zuschreibbar sind. Personen können z.B. als Besitzer von Autos oder Socken miteinander identisch sein, und zwar relativ auf Zeiten; nicht nur Socken gehen verloren. Solche relativen Identitäten können sich ändern.

Zuschreibungen relativer Identität machen aber gerade nicht das aus, was wir mit dem ‘eigenen Leben’ meinen. Denn die Identität zwischen Personen im Hinblick auf das Leben ist nichtssagend, weil sie das unterschlägt, was interessant und wichtig ist, nämlich das, was Kriterium des eigenen Lebens ist. Es ist nicht der Besitz von irgend etwas, sondern die selbständige Aneignung dessen, was eine Person kennzeichnet und von jeder anderen unterscheidbar macht. Das sind nicht Autos und Wohnungen, sondern Lebensführung, Einstellungen und Überzeugungen, Leistungen und Aspirationen. Erfolge oder Mißerfolge, Glück oder Unglück kommen dann hinzu, sind eine Zugabe, die wir uns nicht selbständig aneignen, sondern höchstens - in einem vagen Sinn - verdienen können. Im Hinblick auf Lebensführung, Einstellungen und Überzeugungen, Leistungen und Aspirationen können Menschen und ihr Leben untereinander - nach Wittgensteins Muster der Familienähnlichkeit - gleich sein. Erst die Aneignung der besonderen Mischung, der Konstellation, Intensität und Gewichtung dieser Merkmale, macht eine Person von jeder anderen unterscheidbar und identifizierbar.

Wie sich Personen das aneignen, was sie kennzeichnet und auszeichnet, das nennen wir die Wahl des eigenen Lebens. Die Aneignung der identifizierenden Merkmale setzt intellektuelle und materielle Möglichkeiten voraus, die wir pauschal ‘Freiheit der Lebensgestaltung’ nennen können. Es ist die Wahlfreiheit, die einfach so bestimmt ist, daß wir (p oder nicht-p) und (p oder q) wählen oder uns enthalten können (nicht-p und nicht-q). Personen können ihr Leben wählen, das bedeutet, daß sie nicht identisch mit ihrem Leben sind. Sie können mit guten Gründen ein anderes Leben wählen - wie Nora. Sie können sich aber auch über ihr Leben und ihre Möglichkeiten täuschen, wie wir später bei Madame Bovary sehen werden. Ob Personen dabei identisch bleiben, können wir hier offen lassen. Es ist zumindest möglich, dies zu behaupten.

Viele Menschen haben durchaus Handlungsfreiheit, aber eine für uns kaum erkennbare Wahlfreiheit, z.B. geistig Behinderte oder nur eine eingeschränkte, z.B. Opfer von Gewalt und Folter oder Arme, Schwerkranke oder Arbeitslose. Das eigene Leben selbst wählen und gestalten zu können, scheint ein Privileg der freien, gesunden, gebildeten und materiell gesicherten Erwachsenen der westlichen Welt zu sein. Die Möglichkeiten zu haben, sein Leben selbst zu gestalten, ist ein Privileg und eine Kompetenz; es ist aber auch eine Verpflichtung.

In einer sozialen Welt, in der es keine engmaschigen Konventionen, keine absolut gültigen Werte und keine soziale Kontrolle gibt, sondern jeder - "jenseits von Stand und Klasse" wie Ulrich Beck sagt - sein Leben mobil und flexibel gestalten kann, ist die Wahl des eigenen Lebens anspruchsvoll und mühevoll, weil sie nicht von verbindlichen Zielvorgaben entlastet wird. Wir können als gesunde, materiell gesicherte und gebildete Erwachsene in so einer Welt nicht ungestraft leben, wenn wir so tun, als müßten wir unser Leben nicht selbst gestalten. Die Strafe dafür, daß wir die Privilegien der Wahlfreiheit nicht nutzen, besteht in allen möglichen Abhängigkeiten, Bevormundungen, Unterdrückungen, Unterwerfungen und Unfreiheiten, die nicht weniger schlimm sind als in der alten Welt der Stände und Klassen. Also haben wir keine andere Wahl als das eigene Leben zu wählen und so gut wir können selbst zu gestalten.

3. aufgedeckte Präferenzen

Was wir im einzelnen wählen können und wie wir wählen, sollten wir uns genauer ansehen. Ist es so wie am kalten Buffet, wo wir uns von allem Reizvollen ein wenig nehmen können? Wenn die Wahl des eigenen Leben nicht so zu verstehen sein sollte, was ist der Unterschied? Am kalten Buffet ist alles wählbar, je nach Geschmack und verfügbarem Geld. Die Wahl am kalten Buffet verstehen wir z.B. nach dem Modell der aufgedeckten Präferenzen (revealed preferences), das Paul Samuelson entwickelte. Wir müssen uns in diesem Modell keine Gedanken darüber machen, was genau hinter Begriffen wie ‘Nutzen’, ‘Nutzenwerten’ oder ‘Präferenzen’ steckt und vermeiden damit in konkreten Situationen die Schwierigkeiten, die wir mit den Kriterien der rationalen Wahl hatten. Es genügt ein einfacher Begriff von ‘Wahl’. Das kalte Buffet bietet leckere Kleinigkeiten, die unterschiedlich viel kosten. Nehmen wir an, es gibt neben vielem anderem Crevetten und Langusten. Wenn sich Wilma beides leisten kann, aber Langusten wählt, sagen wir, daß Wilma eine aufgedeckte Präferenz für Langusten gegenüber Crevetten zeigt. Wir müssen nicht wissen, was ‘Wilmas Präferenz’ genau bedeutet, wir definieren sie einfach. Samuelson nannte dies das "schwache Axiom der aufgedeckten Präferenz" (weak axiom of revealed preference, WARP). Es bedeutet konkret für Wilma, nachdem sie sich für Langusten entschied, obwohl sie auch Crevetten hätte wählen können, wird sie niemals Crevetten nehmen, wenn es auch Langusten gibt, vorausgesetzt sie bleibt rational.

So ist es bei der Wahl des eigenen Lebens auch, aber nicht ganz. Einerseits hilft uns der Begriff der aufgedeckten Präferenz die Entschiedenheit, die Kohärenz und Konstanz zu verstehen, mit der wir uns den Möglichkeiten gegenüber verhalten müssen, die wir ergreifen und die dann zu unserem eigenen, uns allein zurechenbaren Leben gehören. Vor allem die Ansprüche, die wir an uns selbst richten, können wir nicht ständig ändern. Wenn unser Leben kohärent und konstant sein soll, können wir nicht am Montag moralisch integer sein wollen, am Dienstag aber nicht. Selbst bei der Entscheidung für eine Partnerschaft, eine Familie, einen Beruf, eine Aufgabe, ein Lebensprojekt - wie Bernard Williams sagen würde - haben wir erst dann wirklich vernünftig gewählt, wenn wir - auch bei alternativen Angeboten - bei unserer Wahl bleiben. Die Kohärenz der Wahl wird also mit dem Modell der aufgedeckten Präferenzen gut verständlich.

Der Nachteil des Modells ist aber, daß die aufgedeckten Präferenzen gerade nicht aufgedeckt werden. Jede Wahl kann so gedeutet werden, als würde sie einer Präferenz entsprechen. Wir sehen es der Wahl nicht an, ob sie wirklich auf einer Präferenz beruht oder nicht. Erwin Braun wäre z.B. lieber Arzt geworden, hatte sich aber für die Leitung des Familienunternehmens entschieden. Ähnlich ist es in moralischen Dingen. Wenn jemand Gutes tut, wann immer er die Wahl zwischen Gutem und Schlechtem hat, muß er oder sie nicht notwendig eine Präferenz für das moralisch Gute haben. Es kommt vielleicht nur darauf an, ob jemand zuschaut.

Wir selbst schauen uns aber immer zu. Deshalb wissen wir natürlich, ob wir einer Präferenz folgten oder nicht. Und wenn wir eine bestimmte Wahl trafen, uns dann aber anders verhalten, wissen wir, daß wir unser Leben nicht gestaltet, sondern - vielleicht - verunstaltet haben. Es kommt also darauf an zu wissen, was wir eigentlich wollen, was wir lieber wollen und was nicht und was wir auf keinen Fall wollen. Idealiter wäre dies eine Präferenzordnung, realiter kann es keine sein, weil wir dadurch – wie wir am Beispiel Noras sahen - in ein unrealistisch enges und unmenschliches Korsett gezwängt wären. Wenn wir unser Leben auch nicht nach einer Präferenzordnung im engen Sinn gestalten, sind wir doch an bestimmte Präferenzen gebunden, die wir nicht ohne Schaden ignorieren dürfen.

Am klarsten wird dies an unseren moralischen Präferenzen. Wenn wir gegen sie verstoßen oder sie immer wieder verändern, haben wir keine moralische Identität. Dies klingt nicht sonderlich abschreckend. Die Folge ist aber, daß wir moralisch für niemanden identifizierbar sind. Konkret gesagt, wir sind für andere nicht berechenbar, nicht verläßlich, weil wir nicht konstant sind. Wir sind moralisch nicht integer und verdienen keine Achtung durch andere; schließlich verlieren wir auch unsere Selbstachtung. Wir haben aber, wie wir schon sahen, ein vernünftiges Selbstinteresse und damit ein Interesse an Achtung und Selbstachtung. Also können wir nicht umhin, ein Interesse daran zu haben, möglichst konstant bei unseren Präferenzen - nicht nur bei den moralischen - zu bleiben und uns kohärent zu entscheiden.

4. Glücken und Scheitern - Lord Jim

Die Notwendigkeit kohärenter Präferenzen betont niemand so nachdrücklich wie Kant. Die Idee der Selbstbestimmung verbindet mit der Orientierung am Kategorischen Imperativ den Gedanken der Gesetzgebung. Die Orientierung soll ihrer Form nach fixiert und das bedeutet kohärent und konstant werden. Was immer geschieht, ob wir Erfolg oder Mißerfolg, Glück oder Unglück haben, wir sollen uns nach dem Muster des praktischen Gesetzes moralisch selbstbestimmen, uns selbst ein Gesetz auferlegen, das notwendig gilt. Mit diesem Imperativ ist keine Wahl verbunden, weil er - anders als hypothetische Imperative - keine Alternative hat. Wir sollen unsere Maximen dem Kategorischen Imperativ ohne wenn und aber unterordnen.

Dieser Imperativ selbst kann der Wahl eines eigenen Lebens nicht zugrundeliegen, weil er nicht das eigene, sondern allein das moralische Leben honoriert. Nicht die Individualität, sondern die Moralität zählt. Aus der Perspektive Kants brauchen wir kein eigenes Leben, wenn wir aus vernünftiger Selbstbestimmung moralisch handeln, im Gegenteil. Das moralische Leben erhält seine Identität nicht durch die identifizierbare Selbstgestaltung einer bestimmten Person, sondern durch die allgemeine Gesetzmäßigkeit. Das Interesse an einem eigenen Leben, ausgedrückt in den individuellen Willensprinzipien, den Maximen der Lebensführung, kollidiert mit dem absoluten Motiv, aus Pflicht und nicht nur pflichtgemäß zu handeln. Neben diesem Motiv kann es kein anderes geben, auch keines, das die Moralität zum Kriterium des eigenen Lebens macht.

Dieses Opfer des eigenen Lebens auf dem Altar des Moralgesetzes können wir nicht erbringen. Denn wir können nichts zur Disposition stellen, was wir wählen müssen. Das eigene Leben zu wählen ist unausweichlich. Wir können moralisch oder unmoralisch sein wollen. Wir können aber nicht kein eigenes Leben haben wollen, außer wir gehen zum Äußersten des Suizids. Selbst wenn wir das tun, was andere wollen, wählen wir unser Leben. Die Selbstwahl, die Wahl des eigenen Lebens ist unumgänglich; auch die Verweigerung der Wahl oder die bloße Anpassung an die "geltenden Werte" einer Gruppe oder Gesellschaft ist eine Entscheidung. Die Wahl des eigenen Lebens hat diese ontologische Dimension.

Martin Heidegger beschrieb diese Dimension mit ihren beiden Extremen. Das eine Ende nannte er das "eigentliche Selbstsein" und meinte damit das Selbst, das wir - wie er sagt - eigens ergriffen haben. Von diesem unterscheidet er am anderen Ende in seiner eigenwilligen Diktion das "alltägliche Selbstsein" des "Man-selbst", das nicht ergriffen, nicht gewählt, sondern anonym und mehr oder weniger zufällig ist. Heidegger sieht sehr genau, wie unausweichlich die Wahl des eigenen Lebens als ergriffenes oder eben nicht ergriffenes Dasein ist. Ob wir uns der Wahl stellen oder nicht, macht den Unterschied zwischen dem eigenen Leben und irgendeinem Leben aus, das natürlich auch unser Leben, aber eben nicht unser eigenes ist. Zwischen dem eigentlichen und dem alltäglichen, dem wirklich ergriffenen und dem uns nur zustoßenden Selbstsein liegen unsere Möglichkeiten, das eigene Leben zu wählen, andere gibt es nicht.

Allerdings ist die Qualität der Wahl selbst damit noch nicht bestimmt. Was es heißt, sein eigenes Leben zu ergreifen, läßt sich nicht an Erfolg oder Mißerfolg ablesen. Der erfolgreiche Manager wählt sein eigenes Leben nicht notwendig freier als der Arbeitslose, der Schwerkranke oder Behinderte. Es kommt nicht allein auf die äußeren und materiellen Spielräume an, über die wir verfügen. Die Wahl des eigenen Lebens hat mehrere Dimensionen. Neben der ontologischen gibt es - wie wir schon sahen - die moralische und die soziale. Betrachten wir noch etwas die ontologische, weil wir sie mit den anderen Dimensionen noch nicht verbinden können.

Was wir wählen, ist offen, daß wir zu wählen haben nicht. Die Wahl ist in diesem Sinn ohne Alternative. Es ist ein Faktum, daß die Wahl in jedem Leben stattfindet. Von diesem Daß sind alle Menschen betroffen, auch diejenigen, die kaum oder gar nicht wählen können, weil sie nicht die Wahlfreiheit haben. Ihre Ohnmacht ist gerade deswegen so deutlich, weil die Wahl unausweichlich ist. Wir alle stehen schon in irgendeinem Leben, wenn wir es wählen und können nicht aus einer neutralen, absolut freien Position, aus einer Art Jenseits des Lebens entscheiden. Dies bedeutet, daß jede Entscheidung relativ zum dem Leben ist, das wir führen. Es gibt kein Normal-Null aller Entscheidungen, keinen Schleier des Nichtwissens, hinter den wir uns versetzen könnten, um uns frei und objektiv richtig zu entscheiden, weder individuell noch kollektiv.

Mit der ontologischen Dimension der Wahl ist eine kognitive verquickt. Das Faktum der Wahl schließt ihre absolute Relativität ein. Jede Wahl ist kognitiv eingeschränkt durch ihren Zeitpunkt, die verfügbaren Informationen und durch das, was eine Person wollen kann. Wir entsprechen beim Wählen lediglich den Kriterien der relativen Identität des Eigenen oder der Eigenheit, die wir oben diskutierten. Relativ auf einen Zeitpunkt und auf das Wissen, das zur Verfügung steht, können wir etwas wollen und wählen. Diese Abhängigkeit ist übrigens wechselseitig: wir können nur etwas wollen und wählen relativ zu einem Zeitpunkt und relativ zu dem, was wir wissen.

Deswegen gibt es aus unserer individuellen Perspektive keine Übersicht über das, was wir alle wählen können. Jeder wählt in seinen eigenen zeitlichen und kognitiven Grenzen. Es gibt - aus analogen Gründen - auch keine Übersicht über die Totalität meiner eigenen Möglichkeiten. Ich kann nur relativ zu einer Zeit und relativ zu den Optionen, die ich kenne, wählen. Dies ist kein Mangel an Übersicht, sondern eine Bedingung des Wählenkönnens. Wenn ich alle wählbaren Optionen meines Lebens wüßte, müßte ich mich nicht mehr entscheiden. Es wäre dann mit der Wahl des Lebens so wie mit dem Atmen und Fühlen. Wir wählen - wie Nora oder Lord Jim - ohne zu wissen, was noch geschehen wird und tragen dabei die Hypothek des bisherigen Lebens, auch des nicht gewählten, das durch Sprache, Herkunft und Kultur geprägt ist.

Unser Glück oder Unglück, unser Geschick, ist nicht Gegenstand unserer Wahl, sondern eine ihrer Voraussetzungen und eine ihrer nicht wählbaren Folgen. Natürlich wollen wir, was immer wir beabsichtigen und tun, Glück haben und glücklich sein. Wir können diesen Wunsch aber nicht unmittelbar bewirken. Glück oder Unglück suchen uns aber auch nicht nur heim. Wir sind nicht nur Opfer. Die Möglichkeit des Glückens und Scheiterns auch des aktiven selbstgewählten Lebens wirft Licht auf das, was ‘ontologische Dimension’ bedeutet. Das Aktive, Spontane und das Passive, Rezeptive sind bei der Wahl des eigenen Lebens noch ungetrennt. Genau dies ist mit ‘ontologischer Dimension’ gemeint.

Meine Überlegungen haben bisher einige lose, unverbundene Enden. Zunächst beschrieb ich - am Beispiel Noras - das vernünftige Selbstinteresse, das allerdings vom Dilemma der Abhängigkeit und gleichzeitigen Unabhängigkeit von der Anerkennung durch andere belastet ist. Dann betonte ich am Beispiel der aufgedeckten Präferenzen die Notwendigkeit der Kohärenz und Konstanz in der Wahl des eigenen Lebens. Kants Idee der Autonomie drängte sich schließlich als Muster dieser Kohärenz auf, aber nicht als Vorbild für die Wahl des eigenen Lebens. Denn diese Wahl hat - wie ich in Anlehnung an Heidegger sagte - eine ontologische Dimension, welche die moralische und soziale umgreift. Diese losen Enden - Selbstinteresse, Kohärenz und absolute - zeitliche und kognitive - Relativität der Wahl - sagen kaum etwas aus über die Dynamik, die den Prozeß der Selbstgestaltung des Lebens kennzeichnet.

Auf anschauliche Weise fügen sich diese losen Enden in Joseph Conrads Lord Jim zusammen. Ähnlich wie Nora wird Lord Jim auf tragische Weise schuldig. Er verläßt gemeinsam mit dem Kapitän und der ganzen übrigen Mannschaft ein heruntergekommenes Schiff namens Patna, dessen Untergang unaufhaltsam scheint, und überläßt es mit allen Passagieren seinem Schicksal. Er springt, wie es heißt, unfreiwillig (involuntary) von der Patna, ohne böse Absicht, und wird erst dann gewahr, was er tat. Er büßt dafür, leidet unter seiner Schande und will sich rehabilitieren. Seine moralischen Selbstansprüche könnten nicht höher sein. Deswegen entspricht es seinem moralischen Selbstinteresse, seiner Schuld nicht zu entfliehen. Er weiß, daß er nirgendwo auf der Welt, auch nicht im hintersten Winkel, seinen eigenen Selbstansprüchen entkommen könnte. Er erhält nach einer zermürbenden Durststrecke die Chance sich zu rehabilitieren und ergreift sie mit märchenhaftem Erfolg. Nachdem sein Leben schon verunglückt schien, glückt ihm nun alles. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs endet sein glückliches Leben. Er wird ermordet, weil er jemandem Vertrauen schenkte, der es nicht verdiente.

Lord Jims Selbstinteresse hat einen konstanten moralischen Kern, sein hohes Selbstideal. Es treibt ihn vorwärts, motiviert ihn, sich zu rehabilitieren. Andererseits isoliert es ihn auch von allen anderen Figuren des Romans. Natürlich ist es nicht unwichtig, daß Joseph Conrad davon überzeugt ist, daß Isolation ein wesentliches Merkmal menschlicher Individualität ist. Tatsächlich werden wir auch im wirklichen Leben voneinander isoliert, einmal durch eben die Selbstachtung, die unabdingbar für die Anerkennung durch andere ist, zum andern durch die absolute Relativität der Wahl unseres Lebens. Die Isolation wird nur teilweise aufgehoben. Das Dilemma des Selbstinteresses, das ich oben beschrieb, löst sich nur auf, wenn wir - wie Lord Jim - auf das Vertrauen anderer bauen können. Ohne dieses Glück hätte Lord Jims Leben nicht mehr glücken können. Der Baier Stein erkennt nicht nur Jims hohe Selbstansprüche als dessen Identität, sondern vertraut ihm trotz seines moralischen Versagens. Er ist Jims einziger Freund. Stein kann ihn allerdings nicht vor dem Unglück am Ende bewahren. Schließlich zeigen Jims Lebensphasen, was ‘absolute Relativität’ der Wahl bedeuten kann. Er tut zu jedem Zeitpunkt das, was er relativ zu seinem Selbstideal und den Möglichkeiten, die er hat und sieht, tun kann.

Das Dilemma des Selbstinteresses, die Abhängigkeit und die gleichzeitige Unabhängigkeit von der Anerkennung anderer, kann sich nur auflösen, wenn die Kohärenz der Selbstansprüche sichtbar ist und von anderen anerkannt werden kann. Die widerspruchsfreie Konstanz der eigenen Präferenzen darf aber nicht nur ein Zustand sein. Wenn sie nicht dynamisch wirkt, indem sie die Selbstgestaltung des Lebens motiviert, bleibt das Dilemma des Selbstinteresses unaufgelöst. Dieses Dilemma löst sich also nur dynamisch, wenn wir das eigene Leben - das Selbstsein wie Heidegger sagt - bewußt ergreifen. Dann kann das Leben glücken oder scheitern. Es ist dann aber unser eigenes Glücken und Scheitern und widerfährt uns nicht nur.

5. Illusion und Selbstbetrug - Madame Bovary

Die ontologische Dimension der Wahl des eigenen Lebens ist in einer wichtigen Hinsicht enttäuschend uninformativ. Sie sagt nämlich nichts über die Qualität dieser Wahl. Der Rassist kann sein Leben ebenso selbst ergreifen wie Mutter Theresa das ihre, der Törichte ebenso wie der Kluge. Kohärenz, Konstanz und absolute Relativität der Wahl mögen für die Alternative zwischen Glücken oder Scheitern des eigenen Lebens verantwortlich sein. Sie qualifizieren dieses Leben aber nicht weiter. Die ontologische Dimension enthält mit ihren Merkmalen der zeitlichen und kognitiven Relativität der Entscheidungen kein Kriterium, das ein gutes von einem schlechten Leben unterscheidbar macht. Niemand wird bestreiten wollen, daß ein Leben, das auf Selbsttäuschung, Illusionen oder gar Selbstbetrug beruht, kein gutes und kein geglücktes Leben ist.

Flauberts Madame Bovary hat ihr Leben auf einer solchen Basis gewählt und scheitert. Es liegt nicht nur an der provinziellen Enge und den Konventionen ihrer Gesellschaft, sondern auch an den Illusionen, Sehnsüchten und Träumen Emmas, die sie aus den Büchern nahm, die sie in ihrer Pubertät las. Im nahegelegenen Schloß erlebt sie eine Ballnacht, die ihr die soziale und vor allem die erotische Enge und Erbärmlichkeit ihres häuslichen Lebens vor Augen führt. Hier wird sie, vorbereitet von ihren Träumen, erweckt. Flaubert bereitet sie psychologisch sorgfältig auf Verführungen und Ehebruch vor. Sie erlebt ihre sexuelle Befreiung, die sie leidenschaftlich genießt. Der Preis, den sie zahlt, ist ein Elend aus Enttäuschung und Erniedrigung. Flaubert beschreibt dieses Elend beeindruckend realistisch. Emma verliert ihre Ehre, ihr Ansehen, ihre Selbstachtung, schließlich ihr Vermögen. Ihr freizügiges Leben ist nur möglich, solange sie jeden Betrug ihrem Mann gegenüber verheimlichen kann. Als schließlich alle materiellen Reserven erschöpft sind, sieht sie keinen Ausweg mehr. Ein Rezensent aus dem Jahre 1857 meint, es sei ein Glück gewesen, daß sich Emma mit einer Überdosis Arsen umgebracht habe; sie hätte sonst vielleicht noch ihren Mann vergiftet. Dieser besorgte französische Herr hält den Suizid anscheinend für eine gerechte Strafe bei Fällen dieser Art. Das ist seinerseits ein Zeugnis der Epoche, in der Madame Bovary literarisch lebte.

Glück und Scheitern von Emmas Leben beruhen auf Illusionen und Selbstbetrug. Sie kann deswegen durch diejenigen, die sie liebt, getäuscht und verletzt werden. Dennoch ergreift sie ihr eigenes Leben mit allen Folgen. Ein gutes, geglücktes Leben ist es nicht, weil der Preis dafür zu hoch ist. Es ist aber ein Leben, das sie selbst gewählt und ergriffen hat. Wir wollen Emma nicht zum Vorwurf machen, daß in ihrer Epoche Ehebruch sozial geahndet wurde. Anerkennung und Achtung wurden ihr von Menschen entzogen, die dazu aus heutiger Sicht kein Recht hatten. Sie mußte für etwas bezahlen, was in unserer Zeit nur noch dann auf heuchlerische Entrüstung stößt, wenn Täter und Opfer bekannt und beneidenswert genug sind.

Emmas eigenes Leben erscheint in Flauberts Beschreibung als ein unauflösbarer, tragischer Widerspruch. Sie kann ihrem Selbstinteresse nur gerecht werden, indem sie es verletzt. Das Leben, das sie allein für lebenswert hält, kann sie in ihrer Zeit nicht ohne das größtmögliche Risiko wählen. Deswegen allein ist ihre Wahl aber nicht unvernünftig. Sie ist es deswegen, weil Emma sich selbst täuscht und betrügt. Ihre Vorstellung von einem glücklichen Leben ist eine naive Illusion, und diese Illusion macht sie zum Maßstab ihrer Lebenswahl. Sie betrügt sich selbst, weil sie aus keiner ihrer Enttäuschungen lernt. Ihr Selbstinteresse ist von vornherein eine Selbsttäuschung, die dann zu einem Selbstbetrug wird. Das Selbstinteresse, dem es auf Dauer verborgen bleibt, daß es sich selbst täuscht, ist ein Selbstbetrug; es kann - wie im Fall Emmas - schlimme Folgen haben. Sie sind einmal schlimm, wenn derjenige, der sie verursacht, sie nicht verantworten will und die Schuld bei anderen sucht. Sie sind aber vor allem deswegen schlimm, weil eine in ihrem Selbstbetrug befangene Person nicht weiß, welches Leben sie wirklich gewählt hat.

Selbstbetrug dieser Art ermöglichen nicht einzelne Überzeugungen, sondern Weltbilder und Weltanschauungen, also ganze Überzeugungssysteme. Sie integrieren Wahrheit und Unwahrheit, Einsicht und Irrtum und machen ein Leben in Widersprüchen möglich. Der Rassist glaubt z.B. an die eigene Überlegenheit und an die Inferiorität anderer Rassen. Mit dieser Überzeugung als Prämisse werden seine menschenverachtenden, zynischen Folgerungen kohärent mit seinem Respekt vor den Vertretern der eigenen Rasse. Der Abergläubige sieht z.B. in allem Möglichen Zeichen und Mitteilungen, an denen er sein Leben orientiert. Erfolg und Mißerfolg bestätigen jeweils die Richtigkeit seines Aberglaubens. Die Widersprüche werden entschärft. Der Technokrat glaubt z.B. an die technische Lösbarkeit aller Probleme und an die heilbringende Kraft der Technologie. Wenn etwas schiefgeht, spricht dies nicht gegen seine Überzeugungen, sondern höchstens gegen individuelles Unvermögen. Überzeugungssysteme dieser Art eignen sich bestens für ein selbstbetrügerisches Selbstinteresse, weil sie immun sind gegenüber Kritik und Widerlegung. Es gibt sie, wie Karl Popper zeigte, auch in der Philosophie.

6. verantwortbare Lebensentwürfe

Selbstbetrug hat eine kognitive und eine moralische Seite. Sie hängen wie Huhn und Ei miteinander zusammen. Daß wir unsere Augen vor den eigenen moralischen Verfehlungen verschließen, hilft sie zu begehen. Irrtum und Unmoral bedingen und fördern sich gegenseitig so, daß der Selbstbetrug stabil werden und zum Gestaltungsprinzip des eigenen Lebens werden kann. Dies muß nicht offensichtlich werden wie bei Madame Bovary. Eine Lebenslüge kann ein ganzes individuelles Leben, ja selbst das kollektive Leben von Generationen überdauern, wie wir an unserer eigenen Geschichte sehen. Einen dauerhaften Schutz davor gibt es nicht, weil die Lebenswahl - ihre ontologische Dimension zeigt dies - absolut relativ auf Personen und Zeiten, aktuelles Wissen und Wollen, Weltbilder und Weltanschauungen ist. Sie ist befangen, eingeschränkt auf die relative Übersicht, die wir in einer Lebenssituation haben.

Mit dieser - individuell und kollektiv - unüberwindlichen Fehlbarkeit der Wahl des eigenen Lebens scheint nun aber das oben beschriebene Kriterium dieser Wahl nicht vereinbar zu sein. Ich sagte, entscheidend sei die selbständige Aneignung einer eigenen Lebensführung, von Einstellungen und Überzeugungen, Leistungen und Aspirationen. Natürlich sollen diese Merkmale miteinander kohärent sein. Nun sahen wir aber, daß die Kohärenz jener Merkmale eines eigenen Lebens nicht vor Selbstbetrug und Selbsttäuschung schützt. Ist dies wirklich so oder nur ein Fehler in meinen Überlegungen? Es könnte tatsächlich ein Fehler sein. Er würde in meinem Begriff der Wahlfreiheit liegen. Was wäre denn ‘Wahlfreiheit’, wenn ich nicht die moralische Qualität dessen, was ich wähle oder nicht wähle, beurteilen und zum Maßstab meiner Wahl machen könnte. Also müßte mit dem Begriff der Wahlfreiheit die Möglichkeit des Selbstbetrugs ausgeschlossen sein. Wenn dies so ist, dann wäre die Wahlfreiheit in meinem Konzept nicht mit der absoluten Relativität der Wahl vereinbar. Die moralische Dimension der Wahl würde mit der ontologischen im Widerspruch stehen.

So ist es auch, und ich sehe nicht, wie dieser Widerspruch theoretisch ausgeschlossen werden könnte. Wenn er selbstgemacht wäre, müßte entweder die ontologische oder die moralische Dimension der Wahl fehlerhaft und die mit diesen Dimensionen verbundenen Ansprüche jeweils unhaltbar sein. Dies trifft - soweit ich sehe - nicht zu. Moralisches Versagen, Selbstbetrug und Selbsttäuschung lassen sich bei der Wahl des eigenen Lebens nicht dauerhaft ausschließen. Relativiert dies unsere moralische Verantwortung, oder macht uns dies zu Opfern unserer kognitiven Beschränktheit? Es sieht zu sehr nach moralischer Hintertür und Entschuldigung aus, als daß wir diesen Widerspruch einfach auf sich beruhen lassen könnten.

Wir müssen insistieren, daß die Wahl des eigenen Lebens im vollen Umfang verantwortbar ist. Die Pflicht, moralisches Versagen zu verhindern, bedeutet nicht, es real auszuschließen. Das ist bei allen Pflichten so. Das, was wir tun sollen, können wir verfehlen. So sehen die Chancen moralischen Handelns ex ante aus. Wie ist nun eine Pflicht zu verstehen, bei der das Glücken oder Versagen weder ex ante noch ex post zweifelsfrei bestimmt werden kann? Es ist eine Pflicht, deren Erfüllungskriterien unklar sind. Wir wissen nicht, welche Menge an Tatsachen als Evidenz für die wirklich übernommene Verantwortung bei der Wahl des eigenen Lebens dienen kann. Damit ist das deontische Prinzip, daß Sollen Können einschließt, nicht erfüllbar.

Es sind durchaus Pflichten denkbar, die ohne dieses Prinzip verbindlich sind. Es sind Pflichten, deren Erfüllung nicht allgemein zumutbar ist. Ich kann mir eine solche Pflicht nur selbst zumuten. Was ich nur mir selbst und niemand anderem moralisch zumuten kann, läßt sich auf die Formel bringen, daß ich mehr soll, als ich möglicherweise kann. Ich kann - unter dieser Prämisse - nur mir selbst, aber niemand anderem bei moralischem Versagen einen Vorwurf machen.

Mir scheint, daß diese Asymmetrie der Verantwortung dem gerecht wird, was jede Person bei der Wahl ihres eigenen Lebens an moralischen Ansprüchen erfüllen kann. Die Schuld für mein Versagen ist nicht abhängig davon, ob das, was ich von mir erwarte, nach dem Muster des Kategorischen Imperativs generalisierbar ist oder nicht. Das Prinzip ‘Sollen impliziert Können’ ist suspendiert. Ich mute mir etwas zu, was ich niemandem sonst zumuten kann; ich kann niemandem einen Vorwurf machen, sich nicht auch das zuzumuten, was ich mir zumute. Umgekehrt kann mir auch niemand den umgekehrten Vorwurf machen.

Moralische Abrechnungen, Schuldzuweisungen und Empörung haben keine Berechtigung, wenn es um die Wahl des eigenen Lebens geht. Ich kann niemandem vorwerfen, daß er sein Leben nicht ergreift und seine Möglichkeiten nicht wahrnimmt. Ich kann nicht einmal wissen, ob er es könnte. Deshalb kann ich mich über niemanden erheben und darf erwarten, daß dies auch niemand mir gegenüber tut. Diese Restsymmetrie bleibt erhalten und damit auch die Möglichkeit wechselseitiger Kritik.

Die hier nur skizzenhafte dargestellte Asymmetrie der Selbstverpflichtung ist alles andere als klar. Mir scheint aber, daß sie eine Möglichkeit bietet, überhaupt von einer Verantwortung für die Wahl des eigenen Lebens sprechen zu können. Ich wähle einen Lebensentwurf und mache ihn mir zu eigen, ohne daß ich weiß, ob er sich auf längere Sicht moralisch rechtfertigen läßt. Ich kann nicht mit Gewißheit sagen, ob ich mich dabei nicht täusche. Allerdings kann ich alles tun, um Selbstbetrug auszuschließen. Ich kann so die volle Verantwortung für meinen Lebensentwurf tragen, und zwar ohne daß eine andere Person die Verantwortung für ihr eigenes Leben tragen könnte. Das ist kein moralischer Heroismus, sondern das selbstgewählte Verbot, eine moralische Ausflucht zu nehmen, wo sie möglich wäre. Der Widerspruch zwischen der moralischen und der ontologischen Dimension der Wahl des eigenen Lebens kann damit nur von mir selbst für mein Leben, aber nicht von mir für andere aufgehoben werden. Nur ich allein kann von mir verlangen, einen verantwortbaren Lebensentwurf zu wählen. Ein moralischer Zwang zum eigenen Leben hätte keine Grundlage. Individualismus darf nicht verordnet werden.

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