‚Verstehen‘ verstehen.
Über Analyse und Hermeneutik

1. Sinn und Bedeutung von Sätzen

"Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist." Wittgenstein sagt in dieser Passage des Tractatus in aller Klarheit, daß das Verstehen eines Satzes von seiner Wahrheit und der Kenntnis seiner Bedeutung abhängt. Im gleichen Atemzug weist er auf die Bedingungen hin, unter denen dieses Verstehen überhaupt erst möglich ist. In Klammern heißt es, man könne den Satz auch verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr sei. Die Kenntnis dessen, was der Fall ist, falls der Satz wahr ist, verdanken wir dem Verstehen der Sprache, in deren Kontext er steht. Das Verstehen der Sprache schließt aber das Wissen der Wahrheit des Satzes dieser Sprache nicht ein. Vielmehr ermöglicht das Verstehen der Sprache – wie es bei Wittgenstein weiter heißt - die Kenntnis der Bestandteile des Satzes.

Die kurze Passage aus dem Tractatus ist deswegen so lehrreich für das, was wir ‚Verstehen von Sätzen‘ nennen, weil sie zum einen zeigt, daß es zweierlei Voraussetzungen dieses Verstehens gibt, die Sprache und die Wahrheit. Zum andern deutet die Passage an, daß diese beiden Voraussetzungen den gleichen Rang haben. Es gibt weder einen Vorrang der Wahrheit vor der Sprache noch umgekehrt einen Vorrang der Sprache vor der Wahrheit. Wir können zwar die Worte eines Satzes und mit ihnen seinen Sinn verstehen. Dann haben wir das verstanden, was der Satz aussagt. Wenn wir aber nicht wissen und entscheiden können, ob der Satz wahr oder falsch ist oder – wie in fiktionalen Zusammenhängen - gar keinen Wahrheitswert hat, haben wir nicht wirklich verstanden, was der Satz bedeutet. Verstehen ist gleichzeitig von beidem abhängig, von der Kenntnis einer Sprache und von der Wahrheit von Sätzen. Dieses ‚Sowohl-als-auch‘ ist aber seinerseits nicht leicht zu verstehen.

Der vorliegende Beitrag geht von der Einsicht in das ‚Sowohl-als-auch‘ von Sprache und Wahrheit aus und will ihr gerecht werden, obwohl es starke Alternativen zu dieser Auffassung gibt. Sie sind einerseits in der analytischen Tradition andererseits in Gadamers Hermeneutik zu finden. Das Verstehen von ‚Verstehen‘ scheint einfacher, entschiedener und klarer zu sein, wenn wir entweder – wie Gadamer - der Sprache einen Vorrang vor der Wahrheit einräumen oder der Kenntnis der Wahrheit von Sätzen einen Vorrang vor der Kenntnis einer Sprache. Letzteres tut die wahrheitsfunktionale Semantik der analytischen Tradition. In beiden Fällen haben wir es, wie ich behaupte, mit fundamentalistischen Ansätzen zu tun. Entweder ist die Sprache, was immer dies heißen mag, das Fundament des Verstehens, oder die Wahrheit von Sätzen ist es. Mein Beitrag setzt sich mit den beiden alternativen Fundamentalismen, dem hermeneutischen und dem analytischen auseinander und zeigt, daß keiner dieser Fundamentalismen haltbar ist. Sie scheitern jeder auf seine Weise an genau den fundamentalen Annahmen und Begriffen, die sie in Anspruch nehmen. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache und Wahrheit bildete eine Passage des Tractatus. Am Ende meiner Überlegungen werden Einsichten stehen, die auf Wittgensteins Spätphilosophie zurückgehen. Sie deuten darauf hin, daß wir das ‚Sowohl-als-auch‘ von Sprache und Wahrheit erst verstehen, wenn wir verstanden haben, was es heißt, eine Sprache zu sprechen.

Gehen wir zunächst von der doppelten Abhängigkeit des Verstehens sowohl von Sprache als auch von Wahrheit aus. Diese doppelte Abhängigkeit schließt zweierlei Kenntnisse ein, einerseits die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen oder des Sinns und andererseits die Kenntnis des Wahrheitswertes oder der Bedeutung von Sätzen. Keine dieser Kenntnisse ist jeweils für sich allein hinreichend für das Verstehen der Bedeutung eines Satzes. Wer z.B. Deutsch versteht, kennt die Wahrheitsbedingungen des Satzes "Beethoven schrieb den Fidelio". Diese Bedingungen zu kennen, bedeutet, daß ich – in Wittgensteins Worten – weiß, was der Fall ist, wenn der Satz wahr ist. Ich weiß in diesem Fall, daß jemand namens ‚Beethoven‘ etwas schrieb, was ‚Fidelio‘ genannt wird. Ähnlich ist es mit dem Verstehen der Wahrheitsbedingungen des Satzes "Beethoven schrieb keine Oper". Ich weiß in diesem Fall, daß dann, wenn der Satz wahr ist, jemand gleichen Namens keine Oper schrieb. Wenn die Wahrheitsbedingungen für das Verstehen von Sätzen hinreichend wären, hätte ich in diesem Fall etwas verstanden, was sich aber genau dann als unverständlich erweist, wenn ich den Wahrheitswert der besagten Sätze kenne. Dann stellt sich nämlich heraus, daß die beiden Sätze einen Widerspruch einschließen, weil Fidelio eine Oper Beethovens ist. Er kann nicht gleichzeitig Fidelio und keine Oper geschrieben haben. Es wäre aber unsinnig, das ‚Verstehen zweier Sätze‘ so zu verstehen, als hätten wir sie auch dann verstanden, wenn sie einen Widerspruch enthalten, von dem wir nichts wissen. Einerseits verstehen wir als Sprecher unserer Sprache die Sätze "Beethoven schrieb den Fidelio" und "Beethoven schrieb keine Oper", andererseits verstehen wir ihre Bedeutung erst dann, wenn wir wissen, ob sie wahr oder falsch sind.

Frege unterschied als erster die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen und die Kenntnis des Wahrheitswerts von Sätzen. Letzteres können wir in seinen Kategorien das Verstehen der Bedeutung, ersteres das Verstehen des Sinnes oder die Kenntnis einer Sprache nennen. Das Verstehen der Bedeutung eines Satzes schließt notwendig die Kenntnis des Wahrheitswertes ein, das Verstehen des Sinnes aber nicht. Das Verstehen des Sinnes ist aber umgekehrt eine notwendige Bedingung für das Verstehen der Bedeutung. Frege sieht also wie später Wittgenstein die wechselseitige Abhängigkeit von Sprache und Wahrheit beim Verstehen von Sätzen.

1.1 Verstehen des Sinns von Sätzen

Dieser wechselseitigen Abhängigkeit werden wir nicht gerecht, wenn wir das Verstehen eines Satzes einseitig auf die Kenntnis seines Wahrheitswerts in einer Sprache reduzieren und die Kenntnis der Sprache als Voraussetzung des Verstehens ignorieren. Eben dies tun wir, wenn wir, wie Davidson, das Verstehen einer Sprache nicht auf Sätze, sondern auf Äußerungen beziehen, die wir ohne Kenntnis der Sprache, in der sie getan werden, für wahr halten, indem wir dem Prinzip der Nachsicht folgen. ‚Verstehen‘ im Sinn von ‚radikaler Interpretation‘ wird vom Verstehen einer Sprache unabhängig und auf einen Prozeß der Verständigung reduziert. ‚Verstehen‘ schließt dann nicht mehr die Kenntnis dessen ein, was der Fall ist, wenn der Satz wahr ist. Um eine Äußerung im Sinne von Davidson voraussetzungsfrei zu verstehen, muß ich nämlich nicht wissen, wie er verifiziert wird. Ich kann dies auch nicht wissen, weil mir die Kenntnis der Sprache, die dazu nötig wäre, fehlt. Erst das Verstehen des Sinnes der Bestandteile eines Satzes zeigt mir, was der Fall sein muß, damit der Satz wahr ist. Verifikation setzt das Verstehen des Sinns und damit das Verstehen eines Sprache voraus. Es ist daher nicht klar, was es heißen würde, einen Begriff von ‚Verständigung‘ oder ‚Verstehen‘ zu verwenden, ohne einen Begriff der Sprache als des Mediums oder Mittels der Verständigung vorauszusetzen. Ebenso unklar wäre die Annahme, daß das Verstehen der Wahrheit unabhängig vom Verstehen des Sinns sein kann. Mit beiden Annahmen kann die wechselseitige Abhängigkeit von Sprache und Wahrheit nicht erhellt, sondern nur verdunkelt werden. Davidson steht mit seiner Elimination von Sprache und Sinn am Ende einer Tradition, in der das Verstehen auf den Wahrheitsbegriff reduziert wurde. Diese Tendenz war für die analytische Tradition kennzeichnend. Dagegen beschäftigte sich die Hermeneutik primär mit der Sprache, allerdings unabhängig von einem allgemein nachvollziehbaren, logischen oder syntaktischen Begriff von Wahrheit. Offenbar haben beide Traditionen gerade in ihren Grundlagen Defizite. Wir werden uns mit diesen Defiziten auseinandersetzen und über die Grenzen der analytischen und der hermeneutischen Traditionen hinweg über ‚Verstehen‘ nachdenken.

1.2 Das Sinn-Problem

Wenn sowohl die Sprache als auch die Wahrheit Bedingungen des Verstehens sind, die eine dieser Bedingungen aber nicht auf die andere reduzierbar ist, haben wir ein Problem. Es gab den Anstoß zu der folgenden Untersuchung. Das Problem besteht darin, daß wir nicht nur ein, sondern zwei Kriterien der Erfüllung oder Richtigkeit benötigen. Ein Kriterium steht uns mit dem Begriff der Wahrheit zur Verfügung. Es sagt uns, ob ein indikativischer Satz wie "Beethoven schrieb den Fidelio" eine Bedeutung hat oder nicht. Ein analoges Kriterium für den Sinn steht uns nicht zur Verfügung. Dies ist das Sinn-Problem; wir können es auch das ‚Problem des richtigen Verstehens‘ nennen. Ein Kriterium des Sinns eines Satzes würde uns sagen, ob der Satz einen Sinn hat und ob dieser Sinn richtig verstanden wurde oder nicht. Wenn wir den Sinn richtig verstehen, wissen wir, was der Fall ist, wenn der Satz wahr ist. Das gilt allerdings nur für indikativische Sätze. Wenn wir das Verstehen von ‚Verstehen‘ allein auf solche Sätze beschränken, fällt uns der Mangel eines Kriteriums für das richtige Verstehen nicht auf. Der Grund für diese Unauffälligkeit ist, daß in einem indikativischen Satz die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen ausreicht, um über das richtige im Unterschied zum falschen Verstehen zu entscheiden. In indikativischen Sätzen fallen die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen und die Kenntnis des Sinns zusammen. Wenn Sätze – wie z.B. Fragesätze, befehlende oder wertende Sätze - aber keine Wahrheitsbedingungen haben, können diese Bedingungen auch nicht Kriterium des richtige Verstehens des Sinns sein.

Ein ähnliches Problem begegnet uns beim Verstehen des Sinns von Äußerungen ohne Satzform, aber auch bei Wörtern, Begriffen, Regeln und Bildern. Nach welchen Kriterien können wir ihren Sinn richtig verstehen? Das Verstehen des Sinns ist nicht immer erfolgreich. Richtiges muß von falschem oder unzureichendem Verstehen unterscheidbar sein. Wir können aber nur entscheiden, ob etwas richtig verstanden wird, wenn wir dafür Kriterien oder Maßstäbe haben. Was wir für den Sinn von Sätzen feststellten, trifft auch auf Begriffe und Regeln zu. Häufig sind Begriffe und Regeln Kriterien des richtigen Verstehens, allerdings nur, wenn ihr Sinn selbst richtig verstanden wird. Der Begriff des Widerspruchs z.B. muß erst verstanden sein, wenn er auf Sätze der Form ‘p Ù Ø p’ angewandt wird. Was ist aber der Maßstab dafür, ob der Begriff des Widerspruchs richtig verstanden ist? Wenn die Unklarheit so weit geht, haben wir, was die Kriterien der Richtigkeit des Verstehens angeht, offenbar ein weiteres Problem. Wir können die Frage nach dem Maßstab des Sinn-Verstehens immer wieder stellen und damit jedes Kriterium der Richtigkeit in Frage stellen und jeweils ein weiteres Kriterium fordern. Häufig werden wir uns mit einem Kriterium zufriedengeben, weil wir mit ihm Erfolg haben. Die Regel ‘rechts vor links’ z.B. verstehen wir, wenn wir im Straßenverkehr anhalten, falls jemand von rechts kommt. Wo wir genau anhalten, bringt uns der Fahrlehrer bei. Irgendwann haben wir es verstanden und hören auf, uns über das richtige Verstehen dieser Regel zu sorgen. Ähnlich ist es mit mathematischen, logischen oder grammatischen Regeln. Bei ihnen können aber immer wieder Fälle auftreten, die uns irritieren. Dann sind wir wieder im Zweifel, ob wir die Regeln, ihren Sinn, richtig verstanden haben und wir benötigen neue Kriterien.

Wir kennen offenbar, was das Verstehen des Sinns von Sätzen oder anderen Äußerungen angeht, vielfältige Bedingungen des richtigen Verstehens. Daher benötigen wir entsprechende Kriterien des richtigen Verstehens, geraten bei der Bestimmung dieser Kriterien aber – wie wir eben sahen - entweder in ein Regreßproblem oder geben uns mit dem aktuellen Verstehen zufrieden, solange wir damit Erfolg haben und nicht in Zweifel geraten. Ich sprach oben von der analytischen und der hermeneutischen Tradition. Beide Traditionen bilden jeweils in Ausschnitten den Hintergrund dieser Untersuchung der Kriterien richtigen Verstehens. Wenn ich von ‚Analyse‘ spreche, meine ich das, was Frege, Russell und der frühe Wittgenstein darunter verstanden, also ein logisch-semantisches Verfahren, um die Bedeutung komplexer Sätze auf elementare Bedeutungen zurückzuführen. Unter ‚Hermeneutik‘ verstehe ich hier ausschließlich die Verstehenslehre Gadamers. Was läge näher, als bei der Frage nach den Kriterien des richtigen Verstehens die Hermeneutik zu Rate zu ziehen? Ob sie diese Frage zufriedenstellend beantwortet, möchte ich prüfen. Ich bin überzeugt, daß sie dies nicht in jeder Hinsicht tut. Die Hermeneutik bietet zwar – wie wir sehen werden - einen interessanten und gehaltvollen, letztlich aber unkritischen und engen Begriff des Verstehens an, weil sie nichts zum Problem des richtigen Verstehens sagt. Sie kann es auch nicht, weil es den Begriff des ‚unrichtigen Verstehens‘ in der Hermeneutik gar nicht gibt. Der hermeneutische Begriff des Verstehens ist außerdem einseitig auf das Auslegen von Texten bezogen. Er blendet andere Bedeutungen des Verstehens aus, erhebt aber dennoch einen universalen Anspruch, dessen metaphysische Voraussetzungen schließlich zweifelhaft sind.

2. Hermeneutisches Verstehen

Was ‘Verstehen’ in der Hermeneutik bedeutet, beschreibt Hans Georg Gadamer vor allem im dritten Teil von Wahrheit und Methode. Ich wähle einige wichtige Merkmale dieses Verstehens aus. Es gibt Merkmale, die die Voraussetzungen, den Vollzug und die Ergebnisse des Verstehens charakterisieren. Es gibt drei Arten von Voraussetzungen, nämlich gegenständliche, theoretische und metaphysische. Zu den gegenständlichen Voraussetzungen gehört, daß es Texte und mit ihnen eine Überlieferung, eine geschichtliche Tradition gibt. Theoretische Voraussetzungen des Verstehens sind, daß Sprache und Denken ebenso eine Einheit bilden (WuM 380) wie Sprache und Überlieferung (WuM 417). Metaphysische Voraussetzungen sind, daß die Sprache unser Verhältnis zur Welt bestimmt, daß das Dasein der Welt selbst sprachlicher Natur ist (WuM 419f.), daß die Sprache damit ontologisch fundiert ist und "wirklich das Ganze unseres Weltverhaltens aufschließt" (WuM 425).

Was den Vollzug des Verstehens angeht, können wir zwischen Tätigkeitsmerkmalen und Gegenstandsbezug unterscheiden. Beginnen wir mit letzterem: Verstehen bezieht sich auf Texte und ist damit auf Schriftlichkeit und Überlieferung angewiesen. Das wichtigste Tätigkeitsmerkmal des Verstehens ist das Auslegen (WuM 375f.). Diese Tätigkeit ist trans-subjektiv. Sie beginnt zwar mit dem Vorurteil, ist aber nicht individualistisch. Auslegung ist ein sprachlicher Vorgang, ein dialektisches Frage-Antwort-Spiel, die Teilhabe an der Mitteilung (von Texten) und eine Nachbildung des Textes. Verstehen ist im historischen und begrifflichen Sinn ein gemeinsamer, kein individueller Vollzug; er bezieht sich auf Vergangenes und ist nicht von subjektiven Meinungen abhängig.

Von Ergebnissen des Verstehens kann entweder in einem tautologischen oder in einem konstitutiven Sinn gesprochen werden. Diese Sinne hängen miteinander zusammen. Der konstitutive Sinn des Verstehens geht in den tautologischen über. Wie ist dies zu verstehen? Der Vollzug des Verstehens konstituiert eine gemeinsame Sprache des Verstehens. Sie ist nicht vorher da. Wenn sie durch die Auslegung eines Textes da ist, wird der Text erst verstanden. Dies ist zumindest in einer Lesart tautologisch und trivial: Wenn der Text ausgelegt ist, ist er verstanden, und wenn er verstanden ist, ist er ausgelegt. Wenn man will, läuft dies auf die Tautologie hinaus, daß der Text verstanden ist, wenn er verstanden ist. Wohlwollend beurteilt, ist ‚Auslegung‘ synonym mit ‚Verstehen‘. Dann erklärt das eine aber auch nicht das andere. Dementsprechend wissen auch nicht, wann das Ergebnis des Verstehens erreicht ist, weil das Verstehen kein Vorher und kein Nachher, sondern nur seinen Vollzug in der Auslegung hat. Verstehen bleibt immer im Vollzug, kommt nur vorläufig zu einem Ende. Der Text bringt zwar erst am Ende der Auslegung eine Sache zur Sprache. Erst am Ende kann von Verstehen die Rede sein. Eben dieses Ende ist aber nicht endgültig, sondern prinzipiell offen. Deshalb ist es in gewisser Weise falsch, von einem Ergebnis des Verstehens zu sprechen. Gadamer spricht von der "unabschließbaren Offenheit des Sinngeschehens" (WuM 448) im Prozeß der Auslegung von Texten. Dies bedeutet, Texte sind geschichtlicher Natur, sie stehen in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang, der prinzipiell unabgeschlossen ist. Aber auch der Anfang des Verstehens ist damit offen. Ohne Anfang und Ende bewegt sich das Verstehen im Kreis, im hermeneutischen Zirkel (WuM 250ff.). Dieser Zirkel sieht so aus: Das, was verstanden werden soll, wird erst entworfen, auf diese Weise zum Gegenstand der Auslegung gemacht, und das Ergebnis des Verstehens ist eine "neue Schöpfung" (WuM 449). Es gibt auf diese Weise nichts, was dem Verstehen selbst äußerlich wäre. Alles, was verstanden wird, ist innerhalb des Zirkels.

Ich habe behauptet, die Hermeneutik kenne keinen Begriff des unrichtigen Verstehens und habe entsprechend auch keine Kriterien richtigen Verstehens. Genau genommen kann kein Verstehen im hermeneutischen Sinn unrichtig sein, weil es sich zirkulär selbst herstellt. Es liefert seine eigenen Bedingungen und urteilt über seine eigenen Leistungen. Tatsächlich spricht Gadamer aber doch von einer Bedingung richtiger Auslegung (WuM 375/76). Was meint er damit? Verstehen benötigt, wie er früher erklärt, einen Auslegungshorizont. Dieser Rahmen der Interpretation wird im Prozeß des Verstehens selbst erst hergestellt. Er kommt durch die Verschmelzung der "Horizonte" des Textes und der Auslegenden zustande. Eine Auslegung ist - nach Gadamer - richtig, wenn die Differenz zwischen dem Sinn des Textes und dem Sinn der Auslegung aufgehoben ist. Hermeneutisch richtig ist ein Verstehen also dann, wenn das von der Auslegung vorgegebene Ziel erreicht ist. Da es aber kein Kriterium jenseits des Auslegungsprozesses gibt, das dessen Richtigkeit bestätigen könnte, kann auch eine mögliche Unrichtigkeit nicht nachgewiesen werden. Es gibt nur andere, aber keine falschen Auslegungen.

Diese Auffassung richtigen Verstehens läßt dann, wenn die Verschmelzung der Horizonte erreicht ist, unrichtiges Verstehen nicht mehr zu. Unrichtig könnte eine Auslegung nur sein, wenn sie planvoll und absichtlich gegen das selbstgesteckte Ziel verstoßen würde. Unrichtiges Verstehen wäre gleichbedeutend mit einem beabsichtigten Mißverständnis. ‘Unrichtiges Verstehen’ wäre ein Widerspruch, gleichbedeutend mit ‘verstehen und planvoll nicht verstehen’. Für die Hermeneutik gibt es daher kein Problem richtigen Verstehens, weil das unrichtige – nach der Horizontverschmelzung - gar nicht vermieden werden muß. Wenn richtiges Verstehen aber unvermeidbar ist, sind keine Kriterien dafür vonnöten. In diesem Sinn hat die Hermeneutik keinen Begriff richtigen Verstehens. In knapper Form können wir die hermeneutische Auffassung von ‘Verstehen’ so charakterisieren: Verstehen ist immer sprachlichesVerstehen und ein geschichtlicher Prozeß. Das Paradigma des Verstehens ist das Auslegen von Texten. Texte zu verstehen heißt ein Ganzes, letztlich das größte Ganze, die Welt verstehen. Der Prozeß der Auslegung ist zirkulär, offen und prinzipiell unabgeschlossen. Es gibt kein unrichtiges Verstehen, daher auch keine Kriterien des richtigen.

2.1 Ontologischer Fundamentalismus

Die Hermeneutik hat als "Kunstlehre" (WuM 250) und als Auslegungslehre große Verdienste. Sie hat sich allerdings nicht auf diese Domäne beschränkt, sondern den fundamentalen Anspruch erhoben, dem Verstehen die ihm gemäßen Grundlagen zu geben. Aus der Auslegungslehre wurde auf diese Weise eine Erkenntnislehre und schließlich eine Ontologie mit - Heideggers - fundamentalem Anspruch. Das Interesse an einer Fundierung des Verstehens liegt im umfassenden kognitiven Anspruch des Verstehens selbst. Wo immer wir beginnen, den Begriff des Verstehens zu klären, wir erkennen rasch, daß wir dazu Begriffe wie ‘Denken’ und ‘Sprechen’, ‘Wahrnehmen’, ‘Urteilen’, ‘Erkennen’ und ‘Wissen’ benötigen. Wir kommen nicht umhin, die Bedeutungen dieser kognitiven Begriffe zu verwenden. Es sind Grundbegriffe und Formen des Verstehens. Es wäre der Hermeneutik nicht vorzuwerfen, wenn sie Grundbegriffe oder Grundformen des Verstehens untersuchte. Stattdessen hat sie sich zu einer Grundlagendisziplin mit ontologischem Anspruch entwickelt. Zweierlei ist diesem ontologischen Fundamentalismus vorzuwerfen. Das Erste ist, daß er das Verstehen von Texten zum Grundparadigma des Verstehens macht. Das Zweite ist, daß der Fundamentalismus nicht kritisch ist.

Das Verstehen von Texten zum Paradigma des Verstehens zu machen, ist eine Entscheidung gegen die Klärung der Begriffe und Formen des Verstehens. Sie ist nicht mehr rückgängig zu machen, wenn sie einmal getroffen ist. Es ist eine Entscheidung, Verstehens nicht kognitiv, sondern als historisches Geschehen zu deuten, das allen Begriffen zugrundliegt. Statt Begriffe des Verstehens zu untersuchen, wird das Verstehen ontologisiert. Die Hermeneutik spricht vom Verstehen als einem "Lebensvollzug" (WuM 362), von Ereignissen und Zuständen, die keinen kognitiven Wert haben. Als "Seinserfahrung" (WuM 461) kann Verstehen kein Begriff sein, wenn überhaupt dann ist diese Erfahrung vielleicht Quelle oder Ursprung der Begriffe. Die Ontologie als Ursprung des Verstehens ist natürlich keine Lehre der allgemeinsten Begriffe, keine metaphysica generalis, sondern Fundamentalontologie.

Mit der Entscheidung, statt der Begriffe die Quellen des Verstehens zu untersuchen, wählt die Hermeneutik einen zirkulären Ausgangspunkt. Um den Ursprung des Verstehens zu bestimmen, müssen wir einen Begriff des Verstehens haben. Den können wir aber erst haben, wenn er - im Auslegungsgeschehen - entstanden ist. Also können wir zur Bestimmung des Verstehens-Ursprungs nur einen Begriff des Verstehens verwenden, der seinen Ursprung nicht selbst im Auslegungsgeschehen hat. Wir müssen also einen Begriff des Verstehens haben, bevor er entstanden ist. Gleichzeitig können wir ihn erst haben, nachdem er entstanden ist. Also haben wir einen Begriff des Verstehens, bevor wir ihn haben können. Diese fundamentale Paradoxie, die ihren Ausdruck im hermeneutischen Zirkel hat, untersucht die Hermeneutik nicht. Ihr Fundamentalismus ist daher unkritisch. Sie verwendet Grundbegriffe, die sie nicht klärt.

3. Analytischer Fundamentalismus

Die Hermeneutik vertritt einen unkritischen Fundamentalismus, weil sie sich gegen die begriffliche Klärung des Verstehens entschied. Das bedeutet aber nicht, daß eine Entscheidung für die begriffliche Klärung alle Probleme lösen und etwa zu einem kritischen Fundamentalismus führen würde. Heidegger, Gadamers fundamentalistisches Vorbild, geht nicht leichtfertig von der Zirkularität des Verstehens aus. Er ist überzeugt, daß das Verstehen nur möglich ist, weil es Bedingungen hat, die allen seinen begrifflichen Bestimmungen zugrundeliegen. Er nennt das Verstehen eine "Grundart des Seins des Daseins". Wir existieren als verstehende Wesen und können uns selbst deswegen - wie Heidegger meint - auch nur so begreifen. So wie unsere Existenz liegt auch das Verstehen dem zugrunde, was wir begrifflich bestimmen. Allen unseren begrifflichen Bestimmungen des Verstehens liegt also - nach Heidegger und Gadamer - ein "ursprünglichstes", fundamentalstes Verstehen zugrunde. Die Crux dieser Einsicht ist, wie wir sahen, ihr paradoxer Charakter.

Ich erwähne dies nicht, um Heidegger oder Gadamer der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Grund ist vielmehr, daß auch eine begriffliche Bestimmung des Verstehens, wenn sie einen fundamentalen Anspruch erhebt, im Paradox endet. Die Entscheidung für eine begriffliche Bestimmung ist daher per se noch kein Erfolg. Dies zeigt am besten Gottlob Freges logische Begründung der Arithmetik. Es geht dabei um ein bestimmtes Problem des Verstehens, um das Verstehen von Zahlbegriffen nämlich. Es ist beispielhaft für jedes begrifflich bestimmbare Verstehen. Freges Frage ist: wie können wir die ‘0’, die ‘1’ etc. verstehen? Seine Antwort ist, daß wir Zahlbegriffe nur verstehen, wenn wir sie logisch-analytisch ableiten. Diese Ableitung ist ein Musterbeispiel des analytischen Fundamentalismus. ‘Verstehen’ bedeutet dabei soviel wie ‘logisch ableiten’. Auch dieser Fundamentalismus endet, wie Russell nachweist, paradox. Das Scheitern von Freges Fundamentalismus zeigt indirekt die Grenze einer begrifflichen Bestimmung des Verstehens. Wie versteht Frege Zahlbegriffe?

Zahlen, sagt er, sind keine Eigenschaften von Gegenständen, auch keine "Anhäufung von Dingen", sondern Eigenschaften von Begriffen. Eine Zahl sei im Zusammenhang eines Urteils zu betrachten, sie ersetze einen Begriff durch einen anderen. Eine Aussage wie ‘Das Sonnensystem hat 9 Planeten’ analysiert Frege so: dem Begriff ‘x ist ein Planet des Sonnensystems’ kommt die Anzahl 9 zu; eine Variante dieser Analyse ist: der Begriff ‘x ist ein Planet des Sonnensystems’ ist 9-zahlig. Eine analytische Aussage dieser Art handelt nicht von realen Dingen wie dem Sonnensystem oder seinen Planeten, sondern von Eigenschaften eines Begriffs. In Freges Terminologie wird damit ein Begriff erster Stufe unter einen Begriff zweiter Stufe gebracht. Der Begriff erster Stufe ist ‘x ist ein Planet des Sonnensystems’, derjenige zweiter Stufe ‘X ist 9-zahlig’. Man sagt, die Variable ‘X’ läuft über die Domäne des Begriffs erster Stufe. Der Begriff ‘X ist 9-zahlig’ beschreibt auf logische Weise den Umfang - die sog. Extension - des Begriffs erster Stufe ‘x ist ein Planet des Sonnensystems’. Das Verhältnis der Begriffe erster und zweiter Stufe ist logisch konstruiert. Der Begriff der Anzahl ist nicht empirisch gegeben. Wir legen diesen Begriff selbst fest und bestimmen damit, wie er zu verstehen ist.

Frege ist überzeugt, daß der Begriff der Zahl nur logisch zu verstehen ist, und zwar durch eine widerspruchsfreie und vollständige logische Ableitung. Die von Frege entwickelten Grundlagen sind in vieler Hinsicht überzeugend und verständlich. Er geht nicht von einem vorhandenen Zahlbegriff aus, schon allein deswegen, weil er mit keinem der vorhandenen Zahlbegriffe zufrieden ist. Stattdessen bestimmt er zunächst den Begriff ‘Anzahl’ als Begriff zweiter Stufe, nämlich als Eigenschaft von Begriffen. Ein Begriff der Anzahl setzt aber mehr als dies voraus, wenn wir zu den Zahlen der Zahlenreihe kommen wollen. Frege geht mustergültig analytisch vor. Es lohnt sich daher, seine logische Ableitung der natürlichen Zahlenreihe genauer anzusehen.

Um den Begriff Anzahl zu gewinnen, so Frege, müsse der "Sinn einer Zahlengleichung" festgestellt werden. Dies tut er mit dem Begriff der Gleichzahligkeit. Es ist in der logischen Ableitung der Zahlenreihe der erste Begriff einer Anzahl und - nach dem Begriff der Anzahl selbst - der zweite Begriff der logischen Ableitung überhaupt. Der Begriff der Gleichzahligkeit hat große Vorteile. Er erlaubt es, die Umfänge von Begriffen einander eindeutig zuzuordnen, ohne daß dabei die Begriffe zusammenfallen. ‘Gleichzahlig’ ist dabei nur ein anderes Wort für ‘umfangsgleich’. Die Anzahl, die einem beliebigen Begriff F zukommt, ist der Umfang des Begriffs ‘gleichzahlig mit dem Begriff F’. Frege sagt damit zweierlei: erstens, alle n-zahligen Begriffe haben die n-Zahligkeit gemeinsam und sind insofern gleichzahlig. Er sagt, zweitens, der Gleichzahligkeit liegt die Gleichheit des Umfangs der Begriffe zugrunde. Was er damit meint, zeigt sein Beispiel: Wenn z.B. zwei Geraden a und b parallel sind, dann ist der Umfang des Begriffs ‘Gerade parallel zu Gerade a’ gleich dem Umfang des Begriffs ‘Gerade parallel zu Gerade b’. Es ist offensichtlich, daß diese Geraden einander durch die Umfangsgleichheit eindeutig zugeordnet werden, ohne zusammenzufallen.

Frege verwendet nun die Regel V aus den Grundgesetzen der Arithmetik. Sie erlaubt ihm schließlich die logische Ableitung der natürlichen Zahlenreihe. Die Regel besagt, daß "eine Werthverlaufsgleichheit immer in eine Allgemeinheit einer Gleichheit umsetzbar ist und umgekehrt." ‚0‘ hat z.B. den gleichen Wertverlauf wie der Widerspruch, etwas ausführlicher: was immer unter ‚0‘ fällt, hat den gleichen Wahrheitswert wie das, was unter ‚sich selbst ungleich‘ fällt. Diese Gleichheit des Wertverlaufs wird nun nach Regel V umgesetzt in die Allgemeinheit einer Gleichheit. Diese Allgemeinheit einer Gleichheit ist die Gleichzahligkeit. Das ‚gleichzahlig‘ hier soviel bedeutet wie ‚umfangsgleich‘, besagt die Regel: Begriffe mit dem gleichen Wertverlauf sind umfangsgleich und Begriffe, die umfangsgleich sind, haben den gleichen Wertverlauf. Anders ausgedrückt: Wertverlaufsgleichheit und Umfangsgleichheit sind umkehrbar-eindeutig.

Auf dieser Basis kann Frege die natürliche Zahlenreihe ableiten. Er beginnt mit der 0 und erklärt: 0 ist die Anzahl, welche dem Begriff "sich selbst ungleich" zukommt. Die Extension der 0, mit der das Zählen in der natürlichen Zahlenreihe beginnt, ist also der Widerspruch. Freges Definitionen sehen in knapper Form so aus: 0 : = Menge aller Begriffe, die mit dem Begriff ‘x ¹ x’ gleichzahlig sind; 1 : = Menge aller Begriffe, die mit dem Begriff ‘x = 0’ gleichzahlig sind; 2 : = Menge aller Begriffe, die mit dem Begriff ‘x = 0 oder x = 1’ gleichzahlig sind; 3 : = Menge aller Begriffe, die mit dem Begriff ‘x = 0 oder x = 1 oder x = 2’ gleichzahlig sind; etc.

Damit ist die natürliche Zahlenreiche logisch abgeleitet und der Zahlbegriff richtig verstanden, so scheint es. Der analytische Fundamentalismus bestimmt den Begriff richtigen Verstehens. Wir haben damit klare Kriterien des Verstehens. Richtig verstehen wir Begriffe, z. B. Zahlbegriffe, genau dann, wenn sie logisch ableitbar sind. ‚Verstehen‘ wird hier durch die Widerspruchsfreiheit und die Umfangsgleichheit der Begriffe, also durch Wahrheit bestimmt.

3.1 Das Paradox der Analyse

Russell hat nun 1901 erkannt, daß diese Auffassung richtigen Verstehens keineswegs unproblematisch ist, sondern einen Widerspruch enthält. Die Definition von Begriffen durch Wertverlaufsgleichheit und Umfangsgleichheit kann, muß aber nicht, zu Widersprüchen führen. Wenn wir die Begriffe eines Ausdrucks wie ‚0 ist gleichzahlig mit "sich selbst ungleich"‘ nach Russell’scher Manier in Klassenbegriffe umwandeln, sehen wir, daß sich die 0-Klasse selbst enthält; denn die 0-Klasse wird durch ‚gleichzahlig mit "sich selbst ungleich"‘ definiert. Russell erkennt diese Zirkularität bei dem Versuch, Cantors Beweis, daß es keine größte Kardinalzahl geben kann, auf die Annahme anzuwenden, daß die Klasse aller Terme notwendig die größtmögliche Zahl von Elementen hat. Vereinfacht gesagt geht es um die Frage, ob die Klasse aller existierenden Dinge die größtmögliche Anzahl ist. Russell entdeckt die Antinomie also nicht in Freges Texten selbst, findet sie aber auch dort und teilt ihm am 16. Juni 1902 brieflich seine Einsicht mit. Schon eine knappe Woche später, am 22. Juni antwortet Frege, daß mit dem Paradox die Arithmetik in ihren Grundlagen erschüttert sei. Worum geht es in Russells Antinomie?

Es geht - wie Russell dies in seinem Brief knapp sagt - um die Frage, ob Prädikate sich selbst als Argumente enthalten können bzw. - wie Frege in seiner Antwort verbessert - , ob Prädikate ihre eigene Extension als Argumente enthalten können. In der Sprache der Mengen geht es darum, ob Mengen sich selbst als Elemente enthalten können. Russell selbst formuliert sein Paradox in den Principles of Mathematics mit dem Klassenbegriff. Sehen wir uns diese Version des Paradox’ in vereinfachter Form an. Es gibt Klassen, die sich selbst - nach der Form ‘w ist ein w ‘ - enthalten, andere enthalten sich nicht. Die Klasse aller Klassen gehört z.B. zu sich selbst, die Klasse aller Menschen hingegen nicht, denn diese Klasse ist ja kein Mensch. Da es also Klassen gibt, die sich selbst enthalten und Klassen, für die dies nicht zutrifft, können wir den Begriff bilden ‘die Klassen aller Klassen, die nicht zu sich selbst gehören’. Diesen Begriff verwenden wir als Definition dieser Klassen. Nennen wir ihn der Einfachheit halber ‘S’. Nehmen wir also diesen Begriff S und stellen dann die naheliegende Frage, ob S zu sich selbst gehört oder nicht. Entweder gehört S zu sich selbst oder nicht. Nehmen wir nun an, S gehört zu sich selbst, dann folgt unmittelbar aus der Definition von ‚S‘, daß S nicht zu sich selbst gehört. Da Sätze, die ihr Gegenteil implizieren, falsch sind, folgt, daß S nicht zu sich selbst gehört. Wenn aber S nicht zu sich selbst gehört, folgt aus der Definition von ‚S‘, daß S zu sich selbst gehört. S gehört daher zu sich selbst und S gehört nicht zu sich selbst. Der Begriff ‘die Klassen aller Klassen, die nicht zu sich selbst gehören’ schließt also einen Widerspruch ein. Wir können den widersprüchlichen Begriff bilden ‘die Klassen aller Klassen, die nicht zu sich selbst gehören, gehören zu sich selbst’. Solche Klassen kann es ihrem Begriff nach nicht geben. Der Begriff von Klassen, die zu sich selbst gehören, führt also zu dieser Paradoxie. Welche Folgen hat diese Paradoxie?

Sie stellt die Regel V in Freges Grundgesetzen der Arithmetik in Frage, daß "eine Werthverlaufsgleichheit immer in eine Allgemeinheit einer Gleichheit umsetzbar ist und umgekehrt". Wir haben bei der Ableitung der ‚0‘ gesehen, was dies heißt. Frege sieht nun aber ein, daß er die Regel V nicht immer anwenden kann. Sie ist zwar bei der Ableitung der Zahlen brauchbar, gilt aber nicht allgemein. Wir können – wie Russell zeigte - nicht annehmen, daß wir in allen möglichen Fällen bei gleichem Umfang von Begriffen auch eine Gleichheit der Begriffe haben, was immer unter diese Begriffe fallen mag.

3.2 Analytisches Verstehen

Die Therapie, die Russell nach der Diagnose seiner Paradoxie erfand, ist seine Typentheorie. Sie geht von der Frage aus, wie wir Aussagefunktionen auffassen, wie wir sie verstehen und welche Bedeutung sie haben können. Nicht von ungefähr stellt auch Wittgenstein später die Frage, wie wir Funktionen, Sätze, Begriffe, Wörter, Gleichungen und Regeln auffassen und verstehen können. Russell widmet sich der Frage, wie wir Aussagefunktionen verstehen, ganz unvoreingenommen. Er geht nicht von formalistischen Voraussetzungen aus. Deswegen kann er ein breites Spektrum von logischen und erkenntnistheoretischen Interessen mit Aspekten der Philosophie des Geistes verbinden. Wie vereint er diese Interessen und Aspekte? Indem er frägt, wie wir Aussagefunktionen auffassen, welche logische Form sie haben und was wir mit ihnen erkennen.

Russell hat zwei starke theoretische Motive für diese Fragen, zum einen die Vermeidung von Paradoxien, nicht nur seiner eigenen, zum andern die notorische Vieldeutigkeit von Aussagefunktionen. Vor allem das erste dieser beiden Motive interessiert uns hier. Alle Paradoxien kommen durch vitiöse Zirkel zustande. Mit ‘w ist ein w ‘ haben wir schon der Form nach eine Aussage kennengelernt, die einen vitiösen Zirkel und dann ein Paradox bildet.

Russell glaubt, die von ihm behandelten Zirkel bzw. Paradoxien entstehen alle aus der - meist stillschweigenden - Vermutung, daß eine Menge von Objekten Elemente enthält, die nur durch die Gesamtmenge dieser Objekte bestimmt werden kann. Wer würde z.B. nicht annehmen, daß die Menge der Aussagen eine enthält, die besagt ‘Alle Aussagen sind entweder wahr oder falsch’? So eine Aussage ist aber erst dann zulässig, wenn sich der Ausdruck ‘alle Aussagen’ auf eine bereits vorher definierte und damit festgelegte Menge von Aussagen bezieht. Das gerade ist aber nicht möglich, wenn neue Aussagen gebildet werden, in denen etwas über ‘alle Aussagen’ gesagt wird. Nehmen wir z.B. an, die Menge aller Aussagen sei N, dann erhöht die Aussage ‘Alle Aussagen sind entweder wahr oder falsch’ diese Menge um genau eine. Wir haben damit also die neue Gesamtmenge (N + 1). Also ist N gar nicht die Menge aller Aussagen, sondern (N + 1). Natürlich können wir versuchen, dieses Manko wettzumachen, indem wir diese neue (N + 1)-Menge als Gesamtmenge annehmen. Nennen wir sie M. Wenn wir dann aber über diese Menge M eine Aussage bilden, indem wir auch für sie fordern, daß alle Aussagen entweder wahr oder falsch sind, haben wir wieder eine neue Gesamtmenge, nämlich (M + 1) und damit das alte Dilemma.

Russell zieht daraus die Konsequenz, daß Aussagen über ‘alle Aussagen’ bedeutungslos sind. Entsprechend ist jede Aussage, die eine Gesamtmenge von Objekten voraussetzt, bedeutungslos. In diesem Sinn meint Russell, daß die Menge der Aussagen kein Gesamt hat und kein geschlossenes Ganzes ist. Analoges gilt auch für die Aussagefunktionen und deren Einsetzungen. Trotz dieser Schwierigkeiten wollen wir mit guten Gründen Aussagen über Gesamtmengen von Objekten machen. Nach Maßgabe der Typentheorie können wir dies, indem wir die Gesamtmenge aller Dinge in kleinere Mengen aufteilen, von denen jede ein Gesamt haben kann bzw. ein Ganzes ist. Die Typentheorie ist genau für diese Auflösung in Untermengen, über die dann Aussagen möglich sind, da. Statt ‘Auflösung’ können wir auch ‘Analyse’ sagen. Dann sehen wir noch deutlicher, welche Relevanz die Typentheorie für die Bedeutung von ‘Verstehen’ oder ‘Auffassen’ hat. Sie sagt, daß Verstehen nur analytisch möglich ist, wenn fundamentalistische Annahmen vermieden werden. Nach Auffassung Russells können wir nur analytische Aussagen verstehen. Das sind Aussagen, die nicht über alles gehen, weder über alle Dinge einer Art, noch über andere Ganzheiten oder Totalitäten. Idealtypisch ist analytisches Verstehen von Beziehungen zwischen Einzeldingen möglich.

Eine Analyse von Ganzheiten in Untermengen ist nur mit Hilfe klarer Voraussetzungen und Regeln möglich. Am Ende der Analyse sollen die Typen stehen, die der Theorie ihren Namen geben. Eine entscheidende Voraussetzung der Analyse in Typen ist, Aussagen nicht als Einzeldinge (single entities), sondern als Relationen zwischen mehreren Einzeldingen aufzufassen. Damit unmittelbar verbunden ist diese entscheidende Analyse-Regel: Wenn in einem Satz an der Subjektstelle selbst eine Aussage erscheint, hat er nur dann eine Bedeutung, wenn diese Aussage auf eine weitere Aussage über die in ihr enthaltenen Terme zurückgeführt werden kann. Dies ist die Regel der Analyse von Mengen in Untermengen und schließlich in deren einzelne Bestandteile. Sinn der Analyse-Regel ist es, die eigentlichen Subjekte von Aussagen zu finden. Dies ist ein klassisches Anliegen der logischen Analyse, das Wittgenstein später aufnimmt und im Tractatusauf seine Weise vertritt. Der Analyseprozeß folgt einer Reihe von weiteren Regeln, z.B. dem Prinzip des vitiösen Zirkels, daß eine Funktion keine Terme enthalten kann, die nur durch die Funktion selbst definierbar sind. Wir können diese Regel auch als Prinzip der Nichtreflexivität bezeichnen. Sie verbietet nämlich, daß sich eine Funktion auf sich selbst beziehen kann. Auch diese Regel übernimmt Wittgenstein, und zwar nicht nur im Tractatus; er beachtet sie in veränderter Form auch später.

4. Verstehen in Kontexten

Es scheint, als wäre nach der Kritik am analytischen Fundamentalismus ein Begriff des Verstehens im Geist der Analyse formulierbar, der ohne hermeneutische Hilfe alle Ansprüche erfüllt. Das Verstehen von Zahlbegriffen durch logisches Ableiten ist übrigens nicht falsch. Unhaltbar ist allein der fundamentale Anspruch der rein logischen Grundlegung. Die Zahlbegriffe selbst können dennoch klar und richtig verstanden werden. Die Botschaft heißt, es ist kein vorraussetzungsfreies logisches und begriffliches Verstehen möglich, auch nicht in der Arithmetik. Wer das Gegenteil glaubt, nimmt Paradoxien vom Typ der Russell’schen in Kauf.

Paradoxien sind vermeidbar, wenn wir zwei Gebote analytischen Verstehens beachten. Wir dürfen, erstens, keine Aussagen über Totalitäten, z.B. über alle Sätze oder alle Dinge oder alle Sachverhalte der Welt, machen. Dagegen sind All-Aussagen wie ‚alle Körper sind ausgedehnt‘ oder ‚alle Menschen sind Personen‘ sinnvoll, weil sie auf nicht-zirkuläre Weise einer bestimmten Menge von lebenden Wesen oder Gegenständen ein bestimmtes Merkmal zuschreiben. Außerdem darf, zweitens, keine Aussage sich selbst als Teil enthalten, wie z.B. in ‚alle von Menschen geäußerten Sätze sind wahr oder falsch‘. Das erste Gebot analytischen Verstehens ist das der Analytizität, das zweite das der Nicht-Reflexivität.

Das erste dieser Gebote widerspricht direkt einer Bedingung des hermeneutischen Verstehens. Die Hermeneutik fordert, daß der Sinn des Ganzen, in dem der Interpret und sein Text stehen, für die Auslegung konstitutiv ist, was immer dieses Ganze sein mag. Was das Gebot der Nicht-Reflexivität angeht, herrscht eine gewisse Unklarheit. Einerseits lehnt Gadamer die sog. Reflexionsphilosophie ab (WuM 424), andererseits sagt er, der Interpret gehöre zu seinem Text (WuM 434). Ersteres bedeutet, daß der Interpret die Bedingtheit seiner Auslegung nicht reflexiv aufheben kann. Das Bewußtsein der Bedingtheit befreit das Verstehen nicht von seinen Bedingungen. Anders ausgedrückt, die Selbstthematisierung des Verstehens ändert das, was verstanden wird, nicht. Dies entspricht bei entsprechender Lesart dem analytischen Gebot der Nicht-Reflexivität. Auch im bewußtseinstheoretischen Sinn gilt das Gebot. Das Verstehen kann nicht Teil seiner selbst sein. Widerspricht dem aber nicht, daß der Interpret Teil seines Textes sei? Es widerspricht weniger dem Reflexionsverbot als dem Gebot der Analytizität. Als Teil seines Textes soll der Interpret zum Ganzen dessen gehören, was er auslegt. Die mit dieser Forderung verbundene Paradoxie kennen wir.

Wenn wir Paradoxien des Verstehens vermeiden wollen, müssen wir sowohl das Gebot der Analytizität als auch das der Nicht-Reflexivität beachten. Allerdings können wir das, was die Hermeneutik fordert, die Integration des Interpreten in seinen Text, so verstehen, daß das Gebot der Analytizität nicht verletzt wird. Wir müssen es lediglich holistisch als Kontextprinzip interpretieren. Damit geben wir die atomistische Konnotation der Russell’schen Analytizität auf. Die Gründe dafür liegen in der Unhaltbarkeit des logischen Atomismus selbst, die uns hier aber nicht interessieren. Das Kontextprinzip ist in einem holistischen Sinn analytisch. Daß wir - nach Freges Anweisung - nach der Bedeutung der Wörter im Satzzusammenhang und nicht "in ihrer Vereinzelung" fragen sollen, bedeutet, wir sollen den Satz als Rahmen nehmen, in dem Wörter Bedeutung haben. Entsprechend können wir den Gedanken, den ein Satz ausdrückt, als Rahmen für den Sinn der Wörter nehmen.

Das Kontextprinzip bestimmt die Teile einer Sprache, die Voraussetzungen des Sinns und der Bedeutung von Wörtern sind. Es ist in diesem Sinn ein analytisches Prinzip. Es bestimmt nur Relationen zwischen Teilen einer Sprache und setzt nicht deren Gesamtheit voraus. Außerdem ist das Kontextprinzip ein Verstehensprinzip. Sätze sind die Bedingungen dafür, daß Wörter richtig verstanden werden können. Wir können das Kontextprinzip als Verstehensprinzip noch erweitern. Dann nehmen wir für jeden Satz als Teil einer Sprache größere Einheiten dieser Sprache, z.B. Geschichten, Texte oder Theorien, als Bedingungen des Verstehens an. Für jeden Satz gilt dann, daß er nur in einer bestimmten Menge von Sätzen Sinn und Bedeutung hat.

Ein Kontextprinzip dieser Art vertritt auch die Hermeneutik. Gadamer schreibt: "Wie das einzelne Wort in den Zusammenhang des Satzes, so gehört der einzelne Text in den Zusammenhang des Werkes seines Schriftstellers und dieses in das Ganze der betreffenden literarischen Gattung bzw. der Literatur." (WuM 275) Natürlich bezieht sich hier der Sinn und die Bedeutung der Wörter und Sätze nicht logisch oder syntaktisch auf einen Text. Es handelt sich um keine Übertragung von Freges logischer Satz-Syntax auf Texte. Es geht, wie es scheint, um Beziehungen zwischen größeren und kleineren Einheiten einer Sprache, die dem Kontextprinzip analog sind. In einer bestimmten Hinsicht trifft dies zu, in einer anderen nicht. Wittgenstein drückt den Zusammenhang, in dem das, was Gadamer sagt, mit dem Kontextprinzip vereinbar ist, klarer aus: "Etwas ist ein Satz nur in einer Sprache. Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen." Er könnte auch sagen, ein Wort oder einen Satz verstehen, heiße, ein Sprachspiel verstehen. Am Ende spricht er vom Weltbild als einem System von Überzeugungen, auf dessen überkommenem Hintergrund es erst den Unterschied zwischen wahr und falsch geben könne.

Die Sprache oder ein Weltbild sind der Rahmen, innerhalb dessen Wörter und Sätze Bedeutungen haben. Dieser Rahmen ist zwar eine Ganzheit, aber nicht das Ganze überhaupt. Ein solches Ganzes kann auch für Wittgenstein nicht verstanden werden. Über das Weltbild selbst können wir keine wahren oder falschen Aussagen machen. Wir können es auch nicht verstehen. Es ist kein Gegenstand, sondern eine Voraussetzungen des Verstehens. Daß ein Ganzes ein Rahmen des Verstehens ist, bedeutet, daß es nicht als Ganzes Gegenstand von Aussagen, Texten oder Beschreibungen werden kann. Nur in Mythologien und in der Metaphysik ist vom Ganzen der Welt oder der Geschichte die Rede, allerdings auf paradoxe Weise. Die Metaphysik verwendet Sprache übrigens nicht notwendig paradox, nämlich dann nicht, wenn sie berücksichtigt, daß der Sinn ihrer Sätze kontextabhängig ist. Bedeutung verstehen wir nur relativ zu einem Rahmen, auf diese knappe Formel können wir das holistisch verstandene Kontextprinzip als Prinzip des Verstehens bringen.

Den Unterschied zwischen diesem Prinzip und seiner hermeneutischen Variante dürfen wir nicht verwischen. Denn das hermeneutische Kontextprinzip macht eine metaphysische Vorraussetzung, das Sein als ganzes. Die Hermeneutik nimmt an, daß die Sprache ontologisch fundiert ist und das Ganze unseres Verhältnisses zur Welt erschließt (WuM 425). Dieses Ganze - des Seins - ist kein Rahmen neben möglichen anderen, sondern der Rahmen aller Rahmen. Es ist der allen Rahmen vorausgesetze Rahmen. Eben diesen Allrahmen können wir aber nicht verstehen. Zu ihm können wir uns in sprachlicher, verstehbarer Form nicht ins Verhältnis setzen. Wir können uns, wie Russells Paradox zeigt, die Bedingung, die ein Allrahmen darstellen soll, nicht widerspruchsfrei formulieren. Dies gilt für jede Art von Verstehen, sowohl für das analytische als auch für das hermeneutische. Wir können nicht verstehen, wie das Verhältnis von Sätzen, Texten, Theorien und Geschichten zur Menge aller Mengen von Rahmenbedingungen des Verstehens aussieht. Verstehen ist nur in Kontexten möglich. Kontexte, seien es Texte, Theorien oder Geschichten, sind überschaubare Ganzheiten, kein Ganzes im Sinn einer Totalität. Relativ zum metaphysischen Ganzen, zur absoluten Totalität, können wir nichts verstehen, wenn Verstehen Widersprüche ausschließt. Wenn wir allerdings Widersprüche zulassen, ist alles erlaubt. Dann können wir auch nicht mehr zwischen richtigem und unrichtigem Verstehen unterscheiden. Wir würden in diesem Fall das Dilemma der Hermeutik in Kauf nehmen, die richtiges nicht von falschem Verstehen unterscheidet. Ohne die metaphysischen Vorausetzungen würde das Kontextprinzip der Hermeneutik dem des analytischen Verstehens entsprechen. Wir können dies verallgemeinern: die metaphysischen Ansprüche der Hermeneutik lassen nur einen paradoxen Begriff des Verstehens zu.

Die Hermeneutik könnte auf ihre metaphysischen, fundamentalontologischen Ansprüche verzichten und sich auf die Auslegunglehre beschränken. Das richtige Verstehen eines Textes hat eine Fülle von Voraussetzungen. Sie aufzuklären ist wichtig und unverzichtbar. Reinhard Brandt hat diese Voraussetzungen jüngst am Beispiel philosophischer Werke untersucht. Er zeigt, daß es entscheidend für das richtige Verstehen solcher Werke ist, ihre literarische Form, die Auseinandersetzung, in dem sie stehen, die Begründung ihrer zentralen Ansprüche und die Vergleichbarkeit mit anderen Werken zu kennen. Jedes Werk ist ein strukturiertes und artikuliertes Ganzes, ein Kontext, der erst zu verstehen ist, wenn er richtig und umfassend erschlossen wird. Es ist nicht leicht, dies zu tun, aber unverzichtbar, wenn der Anspruch der Interpretation nicht beliebig sein will. Er wird beliebig, wenn er Widersprüche zuläßt oder sogar zum Bewegungsprinzips der Auslegung macht.

5. Verstehen als Beschreiben

Die Frage nach der Richtigkeit des Verstehens interessiert Ludwig Wittgenstein zwar nicht als solche. Sie interessiert ihn aber als Frage nach dem Unterschied zwischen dem Regelfolgen und dem vermeintlichen Regelfolgen. Das richtige Verständnis einer Regel zeigt sich darin, daß ich tatsächlich einer Regel folge und dies nicht nur glaube. Die Differenz zwischen dem vermeintlichen und dem tatsächlichen Regelfolgen ist – wie Wittgenstein zeigt - theoretisch nicht zu überwinden. Es gibt also keine theoretischen und begrifflichen Kriterien, die es erlauben, das richtige vom vermeintlichen Regelfolgen zu unterscheiden. Allein die Praxis, die Gepflogenheiten, zeigen, was es heißt, einer Regel zu folgen. Das Wie, das Knowing-How des Regelfolgens zeigt sich in den Beschreibungen des Sprachgebrauchs, z.B. in der Verwendung von 'ich‘ in ‚ich habe Schmerzen‘.

Ludwig Wittgenstein hat sich in den Philosophischen Untersuchungen (Abk.: PhU) unkonventionell an das Kontextprinzip des Verstehens und an das Gebot der Nicht-Reflexivität gehalten. Wenn wir ihm eine Auffassung des Verstehens zuschreiben können, ist sie in dem enthalten, was er ‚Beschreiben‘ nennt. Alle Erklärung müsse fort und an ihre Stelle müsse Beschreibung treten, meint er. Beschrieben werden soll der Gebrauch der Wörter im Kontext der Sprachspiele, in denen sie gebraucht werden. Auf diese Weise will Wittgenstein Klarheit und Übersicht über den Gebrauch der Wörter gewinnen (PhU §122). ‘Klarheit und Übersicht’ bedeuten soviel wie ‘Verstehen’. Wie sollen wir eine Sprache verstehen? Nicht introspektiv, nicht durch Einblicke in das Innere, etwa in das eigene Empfinden oder das eigene Ich. Die Beschreibung oder das beschreibende Verstehen will den Gebrauch der Wörter in einem Sprachspiel möglichst in allen seinen Schattierungen erfassen. Auf diese Weise zeigt sich z.B. wie unsinnig es ist, das Seelische als das Innere zu betrachten oder nach dem Ort des Denkens zu suchen. Durch Beschreiben gewinnen wir Übersicht.

Nicht nur der Gebrauch von Wörtern soll beschrieben werden, sondern auch der Gebrauch von Regeln, selbst von einem System von Regeln, wie es in der Mathematik zu finden ist. Für jeden Beweis ist z.B. Übersichtlichkeit nötig (BGM I, §154, III, §1). Und Übersicht erlaubt Orientierung und bietet eine Richtschnur. Da es Wittgenstein um das Verstehen von Sprache, Regeln oder Beweisen geht, können wir Übersicht als ein Kriterium des richtigen Verstehens deuten. Übersicht besteht nicht im Wissen von Lösungen, sondern im Vertrautsein mit der Art und Weise, wie wir uns z.B. in einem Beweis bewegen können, oder wie wir uns in den Regeln der Mathematik verfangen; es ist ein Verstehen, das "vor der Lösung des Widerspruchs" steht (PhU §125). Verstehen durch Beschreiben deckt nichts Verborgenes auf, führt nicht zur Klärung von Rätseln. Das Verborgene interessiert nicht (PhU §126), und wenn nur das, was "offen daliegt", Gegenstand der Philosophie ist, beschäftigt sie sich in gewisser Weise mit dem Trivialen, mit dem, was unumstritten ist. In diesem Sinn nennt Wittgenstein Philosophie das, "was vor allen neuen Entdeckungen und Erfindungen möglich ist" (PhU §126). Das ist kein Wissen a priori, kein Grundlagenwissen, sondern der Zustand der Sprache, der von allem wissenschaftlichen Wissen, von allen Erklärungen und besonderen Kenntnissen über die Natur der Dinge und der Welt unbeeinflußt ist. Was vor allen Entdeckungen und dem wissenschaftlichen Wissen möglich ist, ist das, was naheliegend, alltäglich, offensichtlich, auffallend und verstehbar ist. All das soll beschrieben werden. Das ist es aber gerade, was wir in der Philosophie nicht sehen und erst durch übersichtliche Darstellung verstehen lernen müssen. Dann erst kommen wir zu den Gegenständen der Philosophie, zu dem, was uns allen klar sein sollte.

Das Verstehen durch Beschreiben eignet sich nicht nur für die Untersuchung der gesprochenen Sprache, sondern für jede Art von Sprachgebrauch. Wörter werden auch in Texten oder Theorien in bestimmten Sprachspielen verwendet. ‘Beweisen’ ist z.B. ein regelgeleitete Tätigkeit, die in Logik und Mathematik, in philosophischen Texten, aber auch in gerichtlichen Verfahren unterschiedlichen Regeln folgt. Es gibt nicht ein einziges Sprachspiel des Beweisens. Deswegen wäre es unsinnig, vom Wesen des Beweises in allen Sprachspielen zu sprechen. Es gibt keine Kontexte des Verstehens jenseits der Sprachspiele, obwohl der Gebrauch von Wörtern in unterschiedlichen Sprachspielen ähnlich sein kann. In vielen Sprachspielen des Beweisens wird für das Bewiesene Gültigkeit gefordert. Was dies im einzelnen heißt, ist aber so unterschiedlich wie Wahrheit, Tautologie, Täter, Ursache und Schuld. Um all dies und mehr kann es in Beweisen gehen.

Verstehen durch Beschreiben wird den vielen Verwendungsweisen von ‘Verstehen’ gerecht. Beschreiben ist aber umgekehrt auch Verstehen in einem eminenten Sinn, nämlich als Tätigkeit, die uns ermöglicht zu verstehen, was immer es sein mag. Es ist eine Tätigkeit, die ohne Sprache nicht denkbar ist. Sie kommt nicht umhin, sich der Wörter und Sätze einer Sprache zu bedienen. Nur das, wofür wir Wörter finden, mit denen wir den Gebrauch von Wörtern, aber auch Handlungen, Kunstwerke, Personen, literarische Figuren etc. beschreiben können, verstehen wir. Richtig verstehen werden wir all dies nur, wenn wir dabei die Regeln verwenden, denen unsere Beschreibung folgen soll. Und diese Regeln liegen unserem Sprachgebrauch zugrunde. Sie bilden die Kontexte unseres Verstehens. Diese Kontexte und das, was in ihnen richtig und falsch ist, lassen sich aber nicht begründen. Ihre Regeln lassen sich nicht rechtfertigen. Irgendwann stoßen wir im Sprachspiel des Begründens auf harten Fels. Wenn wir da angelangt sind, sagt Wittgenstein, biege sich der Spaten zurück. "Ich bin dann geneigt zu sagen: ‘So handle ich eben.’" (PhU §217) Entsprechend können wir sagen, ‘so verstehen wir dies eben’ oder ‘anders kann ich es nicht verstehen’. Dies ist kein Dezisionismus und keine Ausflucht. Auch das Verstehen erreicht dann den harten Untergrund, in den es nicht tiefer eindringen kann. Das Verstehen hat dort seine Grenze. Genauer gesagt hat die Richtigkeit des Verstehens ihre Grenze innerhalb des beschreibbaren Sprachgebrauchs.

Es ist nicht zu übersehen, daß Analyse und Hermeneutik beim späten Wittgenstein in einigen Punkten konvergieren. Dazu zählen vor allem die Überzeugungen, daß das Verstehen an einen bestimmten sprachlichen und kulturellen Horizont – an eine Lebensform - gebunden und in diesem Sinn immanent ist, daß es kein absolutes Kriterium richtigen Verstehens geben kann, sondern daß dessen Richtigkeit immer relativ zu einem Sprachgebrauch – einer Praxis - zu verstehen ist. Wittgensteins Integration des Verstehens in ein Weltbild, das in Bewegung bleibt, läßt sich allerdings mit dem ontologischen Fundamentalismus der Hermeneutik nicht vereinbaren. Unverkennbar sind mit der analytischen und der hermeneutischen Tradition unterschiedliche philosophische Mentalitäten und entsprechend unvereinbare Grundbegriffe verbunden. Die Kriterien der holistisch verstandenen Analytizität und Nicht-Reflexivität setzen dem Verstehen dort eine Grenze, wo das, was wir nicht mehr verstehen können, beginnt. Der hermeneutische Gedanke der Seinserfahrung setzt dem Verstehen dagegen keine Grenze. Es ist ohne Zweifel vernünftig, richtiges von vermeintlich richtigem oder falschem Verstehen unterscheiden zu wollen. Wir können diesem Bedürfnis aber nur gerecht werden, wenn wir dem Verstehen eine Grenze setzen. Genau genommen setzen aber nicht wir, sondern der Sprachgebrauch, die Praxis dem Verstehen eine Grenze. Unsere Aufgabe ist es, diese Grenze zu erkennen.

Das Sinn-Problem, die Frage nach den Kriterien richtigen Verstehens, hat sich gemessen an den ursprünglichen Erwartungen als unlösbar erwiesen. Wir konnten kein Kriterium der Richtigkeit von Sätzen und anderen Äußerungen finden, das dem Kriterium der Wahrheit analog wäre. Die Kriterien der Analytizität und der Nicht-Reflexivität helfen uns zwar, Paradoxien des Verstehens zu vermeiden. Sie wirken aber lediglich negativ und punktuell, nämlich dann und nur dann, wenn Totalaussagen – im wahrsten Sinn über Gott und die Welt - oder wenn zirkuläre Aussagen gemacht werden. Nur in solchen Fällen zeigen uns diese Kriterien, daß Aussagen keinen Sinn haben. Das Sinn-Problem lösen diese Kriterien also nur in sehr eingeschränktem Maß. Wittgensteins Spätphilosophie zeigt uns, daß das Sinn-Problem keine theoretische, sondern nur eine praktische Lösung im Sprachgebrauch haben kann. Nur die Praxis des Verstehens kann darüber entscheiden, ob eine Äußerung einen Sinn hat, und wie sie richtig verstanden werden kann. Allerdings müssen wir diese Praxis beschreiben, sonst fällt uns der Unterschied zwischen dem, was wir verstehen und dem, was wir nur scheinbar verstehen, tatsächlich aber nicht verstehen können, nicht weiter auf. Durch das Beschreiben werden Scheinprobleme, die entstehen können, weil die Sprache unseren Verstand verhext (PhU §109), aufgelöst. Eines ist klar, wenn unsere Sprache unseren Verstand verhexen kann und wir dann – wie Wittgenstein sagt – "grammatischen Täuschungen" (PhU §110) unterliegen, ist zumindest das Sinn-Problem selbst kein Scheinproblem. Wir würden es allerdings zu einem Scheinproblem machen, wenn wir meinen würden, seine Lösung setze einen ähnlichen Maßstab voraus wie die Wahrheit.
 

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