Vom Berliner Philosophen Herbert Stachowiak stammt aus dem Jahre
1973 eine Auffassung des Modellbegriffes, die sich von der formal-semantischeni
unterscheidet und "pragmatologische" genannt sei (diese lehnt die statement-view
jener ab). Dieses Konzept sei als Attributionierung skizziert:ii
Gegeben seien das Original (der zu modellierende Gegenstand)
O und (s)ein Modell M. Der Ausdruck "Modell", so meine Lesart, ist
im weitesten Sinne als "Vorstellung" zu nehmen, die auch bloß rein
mental oder in einem dem originalen Gegenstand (bzw. einer solchen Vorstellung)
korrespondierenden Gegenstand existieren kann. "O" und "M" bezeichnen Klassen
von Attributen,iii
von welchen Unterklassen OPO
und MEM
gebildet werden, sodaß OP und ME einander eineindeutig
gemäß F korrespondieren. F bildet also gewisse Attribute
von O unter Vernachlässigung (Präterition) anderer Attributeiv
von O auf bestimmte Attribute von M ab, wobei einige (sog. "abundante")
Attribute von M keine Funktionswerte von F sind.v
Die Umsetzung einer solchen Attributionierung erfolgt innerhalb einer Theorie
Th,
wobei unter "Theorie" ein interessengeleiteter Prozeß verstanden
ist, der sukzessive die erzeugten Modelle mit den jeweiligen originalen
Gegenständen abgleicht.vi
Was eine Theorie also vom Original modelliert, ist unter dem Blickpunkt
der jeweiligen Interessen eine "Essenz" des Originals, die ihrerseits im
Modell vergegenständlicht wird.-vii
Soweit das Konzept.
Was aber bezeichnet der Terminus "Attribut"?- Farben, Qualitäten,
Eigenschaften, Relationen von Individuen, aber auch höherstufige Anwendungen
dieser aufeinander, fallen unter den Begriff "Attribut".viii
Dabei ist mehrerlei zu beachten:
Wenn wir die Fragestellung, ob Zahlen Attribute seien, ins Auge
fassen und (vorläufig) bejahen, dann müßten Zahlen Attribute
von etwas sein (sec. e.).xv
Aber das mittels Zahlen Gezählte hat nicht Zahlen als Attribute oder
Eigenschaften, sondern wird in Bezug auf die Reihe der natürlichen
Zahlen gebracht und sohin äquivalent zu dieser gezählt.xvi
Daher zählen die Zahlen, die als Typ oder Index auftreten (cf. sup. b.), Entitäten unserer Vorstellung (deren Menge bilden wir sec. sup. a. et d.), die, zu einer Menge zusammengefaßt, zur Menge der natürlichen Zahlen gleichmächtig ist. Es ist absurd, Zahlen als Attribute aufzufassen; gezählte Entitäten haben nicht notwendiger Weise (mindestens) ein Attribut gemeinsam, sondern werden als zählbar modelliert.xvii
Wollen wir also Zahlen unter pragmatologischer Kategorizität auffassen (sec. sup. c.), dann können sie nicht so ohne weiteres unter dem Aspekt jeder anderen Kategorie begriffen werden.xviiiZahlen sind keine Attribute. Attributivität ist von Zahlen nicht prädikabel. Dieser Essay läuft (u. a.) darauf hinaus, Zahlen als eigene Kategorie zu betrachten, die lediglich auf Modellierbares Anwendung findet.xix
Doch können Zahlen etwas sein (cf. sup. e.), von dem Modelle
gebildet werden, d. h. Zahlen sind genuine Originale; Zahlen können
modelliert werden, so wie alles andere auch, das in unserem Geiste vorkommt
oder unserem Geiste auffindbar ist. D. h., unter der Auffassung der
Modellierbarkeit von Zahlen kommen Zahlen selbst Attribute zu.xx
Modellierung von Zahlen ist unter pragmatologischer Perspektive das, was
z. B. der zahlentheoretische Zweig der Mathematik und die Arithmetik
vollzieht.xxi
Kreisel, Georg; Krivine, Jean-Louis (1966, 1972): Modelltheorie.
Eine Einführung in die mathematische Logik und Grundlagentheorie /
Eléments de logique mathématique. Paris: Dunod / Berlin:
Springer
Stachowiak, Herbert (1973): Allgemeine Modelltheorie. Wien: Springer
Stachowiak, Herbert (Hrg.) (1989a): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens. Band III Allgemeine philosophische Pragmatik. Hamburg: Meiner
Stachowiak, Herbert (1989b): "Theorie und Metatheorie des Gesellschaftlichen und das pragmatische Desiderat". In: Stachowiak 1989a: 315-342
Thiel, Christian (1995): Philosophie und Mathematik. Eine Einführung in ihre Wechselwirkungen und in die Philosophie der Mathematik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Waismann, Friedrich (1936, 1947, 1996): Einführung in das mathematische Denken. Die Begriffsbildung der modernen Mathematik. Wien: Gerold; Darmstadt: Wiss. Buchges.
Whitehead, Alfred North; Russell, Bertrand (1984 [1910ff.]): Principia Mathematica. Vorwort und Einleitungen. Mit einem Beitrag von Kurt Gödel. Wien: Medusa
i Cf. z. B. Kreisel & Krivine 1972. (back)-
ii Cf. Stachowiak 1989b. (back)-
iii Wenn Ai, Bi, Ci, … Attribute signifizieren, sei O = {A1, B5, C9, D4} und M = {A1, C3, D2, E2}. Dabei wird man Sorten von Attributen unterscheiden und bestimmte Arten von Eigenschaften und Qualitäten, Formen von Relationen, etc., aber auch Farben jeweils einer solchen Sorte Ai, Bi, Ci, Di, Ei … zuordnen. (back)-
iv Die präterierten Attribute ergeben sich also aus der Klassensubtraktion O \ OP. (back)-
v Die abundanten Attribute ergeben sich demnach
aus der Klassensubtraktion M \ ME und seien auch als MA
bezeichnet. MAME
= M. Sec. nota iii:
F(A1OP)
= A1ME
(O und M können Attribute gemein haben); F(C9OP)
= C3ME;
F( D4OP)
= D2ME.
Das Attribut B5O
wird präteriert, also B5(O
\ OP), und das Attribut E2M
ist abundant, ergo E2MA:
~x(x = F(B5))
und ~y(F(E2)
= y). (back)-
vi Eine Theorie ist eine fünfstellige
Relation Th = <O, M, k, t, Z>, wobei "k" den die Attributionierung
umsetzenden Operator bezeichnet, der zum Zeitpunkt t unter Maßgabe
der Interessenlage Z (also von Zielvorgaben u. dgl.) das Original in das
Modell überführt.
"Theorie" im pragmatologischen Verständnis ist eine Operation,
die von semiotischen Subjekten vollzogen wird (und nicht bloß eine
Ansammlung von strukturierten Sätzen bzw. ein interpretierter Kalkül
wie in der formal-semantischen Auffassung). (back)-
vii Hierbei kann das "Original" selbst bereits modelliert sein (wir sprechen daher auch vom "relativen Original"). O kann also auch für ein Modell M bzw. eine Theorie Th stehen, und ein solches O zu modellieren, führt dann zu Modellen höherer Ordnung (cf. inf. nota xi). (back)-
viii D. h., Relationen von Eigenschaften von Entitäten oder Qualitäten von Relationen von Individuen oder Eigenschaften von Eigenschaften sind auch Attribute, desgleichen Relationen dritter Ordnung von Relationen zweiter Ordnung von Eigenschaften von Individuen, etc. Cf. Stachowiak 1973: 134. (back)-
ix Perzeption hat also einen (pragmatologisch) modellierenden Charakter! Vorstellung ebenso. (back)-
x Etwa daß geometrische Objekte eine begrenzte Anzahl von Dimensionen haben, Punkte ohne Ausdehnung sind, etc. (back)-
xi Gemäß der logischen Typentheorie
von Whitehead & Russell 1910ff. "Typen" werden aufsteigend (oder absteigend)
gezählt, und da sie eine hierarchische Ordnung darstellen, kann man
von einer Entität mit Typ n auch einfach sagen, sie sei von n-ter
Ordnung. So ist z. B. ein Modell einer Theorie ein Modell n-ter Ordnung
(i. e. MnTh), sofern die Theorie Th ein
Original (n-2)-ter Ordnung (On-2) in einem Modell (n-1)-ter
Ordnung (Mn-1) modellierte.
Alles inf. als "Kategorie" Bezeichnete kann in verschiedenen
Typen auftreten; Typen sind keine pragmatologischen Kategorien (sonst gäbe
es Typen von Typen). Es gibt natürlich Theorien höheren Typs
(die Allgemeine Modelltheorie wäre soetwas), d. h., obige Formel "MnTh"
müßte korrekt "MnThn-1" lauten,
wobei gilt: Thn-1 = <Thn-2, Mn-1,
k, t, Z> und Thn-2 ist hier das relative Original On-2.
(back)-
xii Die Ausdrücke "Index" und "Symbol"
sind hier jetzt nicht im eminent semiotischen Verständnis (nach Charles
S. Peirce) zu nehmen.
Achtung aber bei Symbolen der gleichen Kategorie mit verschiedenem
Typ: X310X410;
denn das Attribut X310 ist dritter
Ordnung, doch X410 vierter. Daß
die Indizes ident sind, ist Zufall. (back)-
xiii Es gibt auch Termini, die Konzepte in grundlegender Funktion bezeichnen, welche außerhalb der rein pragmatologischen Zugangsweise liegen und unter Allgemeine Semiotik (z. B. "Zeichen"), Mathematik (wie "Klasse", "Funktion") bzw. Logik (z. B. "Typ", "Prädikat", "Variable", "Quantor") fallen (wobei "Prädikat" in pragmatologischer Hinsicht zum "prädikativen Attribut" wird, indes ein "attributives Prädikat" zur Linguistik gehört). (back)-
xiv Z. B. können Originale einer Modellierung selbst Modelle sein; Theorien könnten Attribute sein. (back)-
xv Dann wären Zahlen übrigens Attribut von allem, was modellierbar ist; dem Unendlichen müßte dann auch "Zahl" (oder gar: "eine Zahl") zukommen. Das ist ebenfalls absurd. (back)-
xvi Dabei erweist sich keineswegs alles als abzählbar (cf. inf. nota xxi). (back)-
xvii Im Rahmen einer zu einer Theorie gehörigen Operation. Zählbarkeit ist also Attribut von Modellierendem, Zählen selbst bedarf modellierender Akte. (back)-
xviii Auch wenn Zahlen logischen Typen repräsentieren können, werden aus Typen nicht Kategorien. (back)-
xix Typen sind (für die Allgemeine Modelltheorie) nicht modellierbar. Sie haben keine (pragmatologisch repräsentierbaren) Attribute. Sie sind weder Originale noch Modelle. (back)-
xx Diese Attribute sind (auch) prädikative Attribute, d. h. wir können Sätze über Zahlen bilden. (Attribute kommen natürlich auch Zahlzeichen – wie allen Zeichen überhaupt – zu.) (back)-
xxi Etwa in den berühmten mathematischen Beweisen nach dem Mengentheoretiker Georg Cantor ("Diagonalbeweise"), welche die Prädikation von Abzählbarkeit bzw. Überabzählbarkeit über die Zahlenmengen der natürlichen Zahlen, der rationalen Zahlen und der reellen Zahlen betreffen (in der Standardinterpretation). Cf. dazu z. B. Waismann 1947, Thiel 1995. (back)-
last update by G.G. on 15th April 2002