Die Befassung mit den verschiedenen Editionen dessen, was auf uns
als "Werk WITTGENSTEINs" gekommen ist, hat Alois PICHLER zu vier Begriffen
geführen, die als "Skript", "Text", "Werk", "Album" bezeichnet werden
und ein Ineinandergreifen des editorisch-philologischen Gesichtspunktes
mit hermeneutisch-exegetischen Methoden anzeigt. Etwas wird als Skript,
Text, Werk, Album gelesen, verstanden, interpretiert, aber auch
geschrieben,
geplant, intendiert. Es ist viel über das Phänomen "WITTGENSTEIN"
gesagt und publiziert worden, sein Stil und seine Art zu schreiben gehören
aber nicht unbedingt zu den am meisten thematisierten Gesichtspunkten,
und die Frage, inwiefern dieser Stil nicht nur zum Werk gehört, sondern
Aspekt des Textes, ja selbst opus ist, wurde selten gestellt. Das
ist eine der Gelegenheiten, wieder der Verwobenheit von Inhalt und Form,
Ausdruck und Ausgedrücktem, Stil und Gehalt, matter und manner,
nachzugehen.1 Angeregt wurde
diese Betrachtung freilich durch die Vor-Arbeit eines Kollegen:
Alois PICHLER ist zumindest Eingeweihten als langjähriger Mitarbeiter
an der Bergenser
elektronischen Edition des Nachlasses WITTGENSTEINs, als umtriebiger
Forscher, und neuerdings als Projektleiter des Bergenser Wittgenstein-Archivs
(WAB) bekannt. Mir ist Alois
seit Jahren Freund, kennengelernt habe ich ihn im Herbst 1997, als ich
erstmals und bloß für einige Wochen am WAB
forschte (denen später mehrere und längere Forschungsaufenthalte
folgten). Daher ist vorauszuschicken, daß dieser -- streckenweise
rezensive -- Essay nicht nur als freiwillige Fleißaufgabe, sondern
von einem Freund geschrieben ist, der sich sohin vielleicht in die vermeintliche
Gefahr begibt, wohlwollender als nötig, einseitig entgegenkommend
und unkritisch zu sein. Doch halte ich dem entgegen, daß dieser Essay,
insoweit er Rezension ist, kein (öffentlich zugängliches) publiziertes
Werk und kein in einem Laden käufliches Buch betrifft, sondern auch
eine Publikationsempfehlung sein soll; denn obwohl es heutzutagen
ja so leicht ist, ein Fachbuch zu publizieren und es meist "allein" eine
Frage von Geld ist, ist das hier zu besprechende Werk der breiteren Öffentlichkeit
und auch dem Fachpublikum bisher ziemlich unzugänglich geblieben.2
Zudem wäre eine nicht in dieser Gesinnung verfaßte Kritik dem
Verfasser selbst zuwider, da sie leicht in die Gefahr gerät, zu einem
Verriß zu werden, oder zumindest dem zu Besprechenden in den besprochenen
Zügen nicht gerecht zu werden. Mag ich also PICHLERs Anliegen und
Kenntnisse in manchen Details falsch einschätzen oder unrichtig beurteilen,
so sei kein Zweifel darüber offen gelassen, daß ich seine
Arbeit für ausgezeichnet befinde und für ein Zeugnis einer mehr
als bloß kompilierten Forschertätigkeit halte, die mit dem
behandelten Material schon lange vertraut ist. Es gibt wenige Kenner des
Nachlasses und Werkes WITTGENSTEINs, die seine Manuskripte und Typoskripte
so genau und dank jahrelanger Forschung kennen (ich zähle mich nicht
ganz zu diesem Kreis, bin aber vielleicht auf dem Wege von der Peripherie
mehr innerhalb seines Umfanges zu gelangen).
Darüber hinaus ist die vorliegende Arbeit auch ein Essay, der ganz persönliche Forschungsinteressen im Blickpunkt hat und aufgrund dieser an PICHLERs Arbeit herangeht, deren partielle Lesart damit bekannt sei. Zugleich ist der Bezug zu Ludwig WITTGENSTEIN unübersehbar, doch nicht etwa allein deshalb, weil der Anlaß dieser Arbeit, eben PICHLERs verschriftlichte Überlegungen, ihrerseits deutlich mit WITTGENSTEIN zu tun hat, vielmehr weil die Auffassung dessen, was "Skript", "Text", "Werk" und "Album" vorstellen und heißen, in Bezug auf WITTGENSTEIN gemeint ist und durch dessen philosophische und schriftstellerische Arbeit hervorragend exemplifiziert und konkretisiert wurde. Der Mythos, WITTGENSTEIN habe nach der Abfassung der Logisch-philosophischen Abhandlung kein Buch/Werk mehr zustande gebracht, ist fragwürdig und wohl nur insoferne gerechtfertigt, als die von ihm zuhauf zustandegebrachten "Werke", "Texte" und "Skripte" von ihm nicht mehr in jene papierene Buchform gebracht wurden, die einem Verleger und Buchhändler, Bibliothekar und Leser eher liegen; dennoch aber hat WITTGENSTEIN zumindest mit den Philosophische Untersuchungen ein Werk vorgelegt, dem das Fragmentarische und Unfertige, das aus Skripten und Texten Zusammengetragene und in Entwicklung Befindliche, daß Nicht-Verallgemeinerungsfähige und das linear Nicht-Lesbare anhaftet und inhäreriert: Es ist Collage, Puzzle, Gewebe (und hat als solches die Textur von Text), eben "Album", wie WITTGENSTEIN selbst sagt (Philosophische Untersuchungen, Vorwort), das in der besten Absicht herausgekommen ist, ein Buch zu schreiben, welches doch immer "nur" Sammlung und Zusammenstellung philosophischer Bemerkungen bleiben wird.
WITTGENSTEIN enttäuscht gewisse Erwartungshaltungen, die an das gestellt werden, was als philosophisch zu lesender Text genommen wird. Er ist in diesem Sinne nicht klassisch, und das Aphoristische seiner Thesen mag manchem widerständig sein in einem Versuch, sich diesem Denker zu widmen. Das Widerständige ist selbst ein Charakteristikum seines Schaffens gewesen, und die Textgenese spiegelt das wieder, wie hinlänglich aus der einschlägigen Literatur bekannt. WITTGENSTEIN ist keiner, der ein angeblich großes Werk in wenigen Wochen hinwirft, um damit gleichsam alles grundzulegen, was später erhoben, über alle Spannung gehoben und aufgehoben wird. Er ist auch kein Denker, der sich selbst Kritik ersparte, und der am Ende des Lebens alle Gewißheit zu verlieren scheint und zugleich in ein Gewebe von Annahmen, zu tolerierenden, geglaubten Inhalten verwurzelt sieht, der die Möglichkeit des Zweifelns an der Möglichkeit des Wissens begrenzte.3 Er macht es einem nicht leicht, und die moderne Zeit, in die auch er geraten ist, hätte ihn vielleicht gerne rascher verdaut und einer Arbeitsteilung des Geistes fabrikmäßig unterworfen.4 Er kommt statt dessen mit einem Album einher, das in unterschiedlicher Tiefe mehrfach Verwobenes zeigt, und er hinterläßt einen Nachlaß, der in höchst unterschiedlichem Grade Zeugnis seines Denkens sein will. Hinzu kommen all die Schüler, Biographen, der Nimbus des genialischen Gelehrten im liberalen und mit Talenten gesegneten Cambridge, der Mann mit seltsamen Manieren, grober Umgangsart, erstaunlichem Verhalten, der Freund und Lehrer. WITTGENSTEIN ist vielleicht eher deshalb populär, weil er ein so eigenartiges, für unser unphilosophisches Zeitalter höchst philosophietaugliches Dasein geführt habe, weil er Sprüche klopfte und ein starkes Auftreten hatte, weil er unangepaßt war. Er war kein Mann für jede Jahreszeit.
PICHLER, so glaube ich, weiß das, schätzt manches ähnlich ein, kennt Leben und Werk WITTGENSTEINs, und legt eine Arbeit vor, die gerade dem Werk des Philosophen in seiner eigentümlichen Gestalt gerecht werden will, ohne es rein aus dem Leben und der Biographie zu ergründen. Es ist zu einfach zu sagen, WITTGENSTEIN habe halt kein Buch schreiben können und daher nur Thesensammlungen hinterlassen, schon der Tractat sei nichts Besseres gewesen als eine Thesensammlung, die halt geordnet und seltsam nummeriert sei. Es ist zu einfach zu sagen, WITTGENSTEINs Werk spiegele seine Persönlichkeit wieder. Gerade weil man solchen Psychologismus hintanhalten muß, könnte man vermuten, eine rein textimmanente Interpretation käme dem Werk am gerechtesten, d.h. man brauche den Nachlaß und die Textgenese gar nicht zu studieren, die Edition der "Werke" und v.a. des Tractatus und der Philosophischen Untersuchungen seinen "Werks genug" und müßten als selbstständige, abgeschlossene Texte für sich lesbar sein und gedeutet werden. Nun ist es gerade ein Vorzug der Arbeit PICHLERs, daß er mit der Zurückweisung des Psychologismus und der Distanz zum Heros "WITTGENSTEIN" keineswegs zu einer rein textimmanenten Lesart neigt, sondern den Werkcharakter ganz anders versteht, als man ansonsten zumeist antrifft, indem der Buchcharakter für den Werkcharakter zur Bedingung wird. Dem Verfasser fiele es nicht schwer, darauf zu verweisen, daß mit einer zu engen Bindung des Werkcharakters an einen Buchcharakter viele Philosophen gewissermaße ihrer Werke verlustig gingen (NIETZSCHE, die Vorsokratiker, aber auch die Briefschreiber wie LEIBNIZ hätten dann auf einmal ein kaum eine mit "Werk" zu bezeichnende Arbeit hinterlassen, streckenweise auch SCHOPENHAUER etc.). Das kann keine ernstzunehmende Vorgangsweise in der Philosophie sein. Philosophie ist vom Buchcharakter unabhängig, und insoferne sie mit Werkcharakter zu tun hat, muß sie keineswegs in einer Endgültigkeit münden, die der junge WITTGENSTEIN mit seinem Tractatus erreicht glaubte, als er schrieb:
Dem Verfasser dieser Zeilen lag die mit "Draft 22. 8. 2001"
übertitelte Arbeit PICHLER 2001 vor, also eine ihrerseits noch nicht
vom Autor für fertig erachtete Fassung; ohne jetzt eine "diplomatische
Edition" von PICHLERs "Skript" anzustreben, also eine Repräsentation
der Arbeit PICHLERs geben zu wollen, die seine Überarbeitungen und
die Ergebnisse seiner Schreibhandlungen in Transkriptionen der Skripte
widergäbe. PICHLER ist nicht WITTGENSTEIN, bei letzterem hat man ja
mit der Bergenser
Electronic Edition genau eine solche Trans-Skription des gesamten
Nachlasses und Werkes (soweit aufgefunden) vorgelegt. PICHLERs, mir vorliegender
Draft
ist ein Computer- bzw. Typoskript, das händisch etwas überarbeitet
wurde, von PICHLER selbst, wie der Verfasser dieser Zeilen vermutet (und
vielleicht von anderen Lesern, Kritikern, Kollegen). Es mag angebracht
sein zu zitieren, was unter den Titel auf der ersten Seite mit Handschrift
noch geschrieben steht:
PICHLERs Werk (und ein solches ist es fürwahr6) hat einen seiner Vorzüge in einem, gemessen an der gesamten Textlänge, wohl gewaltigen Anhang, der einerseits in "Appendices" zu den jeweiligen Kapiteln Textgenesen der Philosophischen Untersuchungen, des Vorworts zu den Philosophischen Untersuchungen, ferner die Überarbeitungsphase des Big Typescript (i.e. TS 213) in den Jahren 1933f., sowie Entsprechungen zwischen Eine Philosophische Betrachtung (MS 115r) und Philosophische Untersuchungen (MS 142, das entspricht ca. Philosophische Untersuchungen §§1-188) behandelt, was über die sozusagen philologische Feinarbeit hinaus vor allem die These unterstützt, daß
Zum Inhaltlichen ist zu bemerken, daß PICHLER sein Anliegen
deklariert, bricht er doch gleich in der Einleitung für einen pragmatischen
Interpretationsansatz eine Lanze. Damit ist ein Interpretationsansatz
gemeint, der Interpretation als weder endgültige noch bei einem und
nur einem Ergebnis anlangende noch von den Interessen und intellektuellen
Bedürfnissen des Interpreten völlig zu trennende Arbeit versteht.
(Es geht also nicht um den engen Interpretationsbegriff, der alle vorgefundenen
Thesen in einen Wahrheitszusammenhang bringen will, welcher rein für
sich besteht, oder gar um eine Lektüre in Immanenz, die sich in künstlicher
Ermangelung aller anderen Quellen auf eine Lesart des vorfindlichen Geschriebenen
zur Interpretation eines Textes beschränkt.) Die Beantwortung seiner
eigenen "methodischen Fragen" in der Auseinandersetzung u.a. mit Eike von SAVIGNYs8
Interpretationsansatz mündet gleich zu Beginn in die hochinteressante,
hier fokussierte Frage
PICHLER führt diese Frage auf eine mehr editions- und nachlaßbezogene Vorfrage zurück, nämlich:
(1) Die erkennbare Einschätzung des Textes als
eigenständiges Gebilde und Werk von Seiten WITTGENSTEINs selbst;
(2) eine von Seiten des Lesers ausmachbare Argumentationslinie
mit Thesen und Gegenthesen, inklusive Beispielen;
(3) die stilistisch-formale Durchgesteltung des
Textes, die es erlaubt, von Abgeschlossenheit zu sprechen. (sec.
PICHLER 2001: 26)
Ich will dazu kommentieren: Ad (1) Es muß in irgendeiner Form als dokumentierter oder bezeugter Akt eine Autorisation vorliegen, um eine solche Einschätzung zu rechtfertigen; ein solcher Akt ist als Vollzug eines performativen Sprechaktes bzw. dessen Kodierung in schriftlicher oder sonstiger konventionell gesicherter Form anzusehen. Solches liegt in einigen Fällen dessen, was schon zu Lebzeiten WITTGENSTEINs (etwa als Blue Book) in kleiner Auflage unter Studierenden kursierte, nicht nur nicht vor, vielmehr sind gegenteilige Akte dokumentiert, die gerade die Autorisation einer Publikation bestreiten und damit die Veröffentlichung selbst im Studentenkreis als nicht gewollt kennzeichnen. Bei dem, was im Nachlaß ediert wurde, finden sich gewiß zuhauf Skripte, die nicht als Buchwerke autorisiert wurden (cf. inf.). Daher wird man "Werk" (mit Autorisation seines Autors) und "Nachlaßwerk" (dank Autorisation bzw. Edition eines Redakteurs und/oder Herausgebers) differenzieren müssen und im Falle des Vorliegens eines Nachlaßwerkes die Bedingung (1) entsprechend abzuwandeln haben.
Ad (2) Das Ausmachen einer Argumentationslinie, wiewohl Folgerichtigkeit und Logik Verbindlichkeiten darstellen, liegt zunächst bei einem Leser und dessen semiotischer Subjektivität, welche jedenfalls aus dem Skript dessen, was ein Werk zu sein erheischt, einen Text lesen muß. An diesem Punkt (2) liegt es also, daß ein Werk ein und nur ein Text sein kann, denn unter (1) könnte man auch die Eigenständigkeit eines Skriptes fassen, welches als solches ja auch autorisiert worden sein könnte.
Ad (3) Die stilitisch-formale Durchgestaltung des Textes (nicht des Werkes oder Skriptes!) heißt in meinen Augen, daß der Rezipient, der das Werk-Urteil trifft, von dem Werkskript einen Text er-lesen kann, in dessen Gestalt und Form er eben diese Durchgestaltung und Einheitlichkeit ausmachen kann. Genau diese stilistische Frage ist aber angesichts von Texten WITTGENSTEINs fraglich, denn ist je im Nachlaß die Abgeschlossenheit und Durchgestaltung oder gar der Buchcharakter erreicht? Hier werden die Gewohnheiten des Text-Lesens ein wenig an der Nase herumgeführt, die Linearität, die schon unter (2) angesprochen wird, ist jedenfalls nicht die Vorstellung oder Leistbarkeit des Schreibens eines WITTGENSTEIN. Allerdings kann auch ein Album abgeschlossen sein, als Album eben; eine Collage kann als Collage fertig sein, nämlich für das Urteil des diese Werke Produzierenden, der ja sein eigener erster Leser ist und daher einen Text des Albums, einen Text der Collage er-liest, erarbeitet, nach-vollzieht. In anderer Hinsicht, vom externen und nicht mit dem Autor identen Leser aus gesehen, mag ein Text eines albumartigen Skriptes WITTGENSTEINs er-lesbar sein, welches eben den Album-Stil bis zur Perfektion treibt. (Und das ist sogar die trivialere Antwort.)
Nach PICHLER loc. cit. steht angesichts dieser drei Kriterien der Werkcharakter des Tractatus außer Zweifel (und wir fügen hinzu: weil sein Buchcharakter außer Zweifel steht), ja sogar Philosophische Untersuchungen I seien ein (wenngleich unvollendetes) Werk nach PICHLER (dessen Buchcharakter freilich nicht so eindeutig ist). SCHULTE 1989: 53 anerkenne sec. PICHLER noch Philosophische Bemerkungen als Werk "im eigentlichen Sinne". Das Autorisationsverständnis geht für SCHULTE aber nicht so weit, wie man meinen könnte, denn für SCHULTE ist die Beurteilung der Abgeschlossenheit von der Bewertung WITTGENSTEINs unabhängig, der Leser urteile darüber. PICHLER wendet dagegen ein, daß der Vorwortentwurf aus MS 109: 204ff. vom 6. Nov. 1930 nicht für die Bemerkungen geschrieben worden sein muß, vielmehr könnte damit ein Buch "angezielt" worden sein (PICHLER 2001: 26), womit PICHLER wieder den Werkcharakter an den Buchcharakter zu binden scheint. Hingegen sei nach PICHLER TS 209 als Zettelsammlung ein Text, der mindestens eine Stufe vor dem Werk-Stadium zu stehen komme (weil er, wie ich, G.G., kommentiere, in dieser Form niemals dem Buchcharakter genügen kann). PICHLER schlägt mit Eleganz als weiteres Kriterium noch vor
(4) daß nur das als Werk zu gelten habe, was nicht nur abgeschlossen ist, sondern auch Vorstufen hat (PICHLER 2001: 27),
wofür er in der deutschen Übersetzung des Brown Book im zweiten Teil von MS 115 aus dem Jahre 1936 einen Kandidaten sieht (der freilich Fragment bleibe). Hieße das, daß nur Typoskripte als (Nachlaß-)Werke WITTGENSTEINs gelten dürften? Aber das Big Typescript aus dem Jahre 1933 war bei weitem nicht abgeschlossen, das ist textgenetisch leicht zu sehen, und selbst seine Manuskriptteile bzw. die handschriftlichen Überarbeitungen haben Vorstufen.12 Doch WITTGENSTEIN selbst autorisierte das Big Typescript gerade nicht als abgeschlossen oder als publizierbares Buch, und vielleicht war es für ihn nicht einmal ein abgeschlossenes Werk (die Auffindung eines Dokumentes oder Zeugnisses, das Gegenteiliges erwiese, wäre eine Sensation und für die Herausgeberschaft von Rush RHEES etc. ein Skandal13), daher ist sup. Punkt (1) in diesem Falle verletzt.
Dazu sei kommentiert (um die Zahl der Anmerkungen einzuschränken): Es gibt den Fall, daß etwas vom Autor als Werk insoferne angesehen wird, als er es "abgelegt" hat, ohne daß er es als "abgeschlossen" oder "Buch" oder "publizierbar" autorisiert. Es ist dann opus ad acta, sozusagen ein vom Autor nicht mehr berührter oder auf aufgegriffener Strang seiner Gedankengänge, ein Dokument, das dem Autor fremd wurde. Oftmals vernichten Autoren solche opera ad acta, doch nicht minder häufig geraten sie in den Nachlaß, wiewohl sie vielleicht gar nicht als Nachzulassendes, als der Welt zu Vermachendes gedacht waren. Werden sie dann dennoch ediert, so sind sie wohl als Nachlaßwerke herausgegeben und von den Nachlaßherausgebern autorisiert. Vielleicht aber sind es auch Schriften, die der Autor der Nachwelt nicht zudachte (oder zumindest nicht der Öffentlichkeit oder gar Menschheit), etwa genau in dem Sinne, in dem Tagebücher geschrieben sind, eben Dokumente des eigenen Arbeitens, Erlebens, Denkens, aber nicht unbedingt aus einem bestimmten Bereich der Privatsphäre hinaustragend. Im Big Typescript hat WITTGENSTEIN ein Buch angestrebt, das steht fest, doch er hat das Werk nicht bis zur Buchreife gebracht, und ob es Werkreife hat und nicht selbst Vorstufe zu Späterem darstellt, ist eine schwierige Frage des Ermessens. Daß es aufbewahrt blieb, mag seinem Willen zu danken sein, der über die vielen Jahre hinweg, die es schon vor seinem Tod abgelegt war, nicht unbedingt als WITTGENSTEINs letzter Wille gelten kann (wohl aber, daß es in der einen oder anderen Form publiziert wurde, denn WITTGENSTEINs Testament räumt dies den Trustees ein, cf. inf. Anm. 32).-
PICHLER plädiert im weiteren dafür, daß mit der Ausgrenzung gewisser Schriften aus den eigentlichen Werken keineswegs deren Inhalt minder ernst zu nehmen sei. Das heißt doch, daß die Nachlaßeditionen ihrem Gehalt nach den vom Autor selbst autorisierten, eigenen und vielleicht gar herausgegebenen Werken nicht nachgereiht werden dürfen. Damit ist ganz allgemein zu sagen, daß Schriften bzw. Dokumente zu lesen sind, auch wenn man des Epitheton "Werk" für sie nicht beanspruchen will. Doch ist eben die Frage, was dann als Inhalt solcher Schriftdokumente "textiert", als deren Text er-lesen wird. Nach PICHLER -- und das könnte man meiner Ansicht nach als Kriterium Nr. (5) der Liste hinzufügen -- stehe die Werkfrage im Zusammenhang mit der Publizierbarkeit des Nachlasses in handhabbaren Ausschnitten (das gilt also zum Nachlaßwerkcharakter); die Editionsarbeit an einer Gesamtausgabe hat diesbezüglich ohnehin nur Teile des Nachlasses zu edieren, ohne die Werkfrage endgültig zu beantworten. Die bereits erfolgten Editionen der Nachlaßverwalter scheinen ja ein vertretbares Ergebnis an "Werken" erbracht zu haben, die sich in der Fachwelt nicht nur Anerkennung, sondern nach wie vor fleißiger und kaum bestrittener Benützung zur Referenz und Zitation erfreuen.
Doch muß man sich im Klaren sein, daß mit dieser sozio-pragmatischen
Erwägung und Begründung die Autorisation dessen, was
als Nachlaßwerk angenommen wird, auf die Gemeinschaft einer
Fachwelt geschoben wird, konventionellen Charakter bekommt und der
Autorisation durch den Autor dieser Skripte entzogen ist und bleibt. Es
könnte, wenn man dies bis zum Äußerten treibt (ohne daß
im Falle WITTGENSTEINs dafür ein Skript als Kandidat vorgeschlagen
sei), so weit führen, daß ein vom Autor verworfenes und der
Vernichtung zufällig entgangenes Skript als Nachlaßwerk "fremd-autorisiert",
ediert, publiziert und WITTGENSTEIN als Werk zugeschrieben wird. Das mag
eine etwas absurde Übertreibung sein, doch ist der Fall für immer
und unter allen Umständen als unmöglich (um nicht das Unwort
"a priori" zu gebrauchen) auszuschließen? (Gibt es vielleicht gar
einen "religiösen Glauben an den Werkcharakter" eines Skriptes, welchen
dieses zu einem werkgetreuen Text in einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung
erhebt?)
Die "Gretchen-Frage" des Werk-Problems verortet PICHLER dann in
folgendermaßen:
Daran sei angefügt, daß für mich das Interessante des
vorangegangenen Absatzes nicht in der Frage nach "Objektivität" liegt,
sondern in der seltsamen Umkehrung, die mit dem Uranfang des Werkes
als mentales Dokument (skriptloser Text) gelungen ist. Die Werk-Idee eines
Autors (bzw. die Nachlaßwerk-Idee eines Editors) ist "objektiv",
insofern sie zu einem Original einer gestaltenden Modellierung und als
zu Repräsentierendes anleitet, deren Text dann vor dem Skript da ist,
ohne daß er gelesen oder geschrieben wäre. Ist das nun ein Paradox
der Schreibhandlung? Ein Spiel mit Worten? Es ist vor allem ein Versuch,
dem Autor ein Wissen um das Werk zuzuschreiben, das jenem des Lesers
vorausgehen muß, selbst wenn der Leser der Autor selbst ist,
ein Wissen, das in jedem Falle Intentionen enthält und realisiert
(und das keineswegs alles an Wissen erschöpft, das in diesem Bereich
zur Anwendung kommt, denn in manchem Sinne weiß der Leser wieder
mehr als der Autor, und der Autor als sein eigener Leser mag von sich selbst
überrascht sein). Der Begriff des mentalen Dokumentes, der sonst leicht
als "Erinnerung" oder "Gedanke" abgetan wird, führt etwas in das Verständnis
des Werkcharakters ein, das man bislang vermißt haben könnte.
Schreiben
fängt nicht mit den Tintenhügeln und Bleistifterosionen des Papiers
an.
Ich will und kann in der hier gebotenen Kürze nicht all den
Beispielen nachgehen, die PICHLER 2001: 28ff., instruktiv und immer exakt
am Nachlaß bleibend, entwickelt. Ich sehe es vielmehr als eine philosophische
Gelegenheit, der sich der produktive Rezensent nicht entziehen mag, dem
nachzugehen, was ich oben schon andeutete und worin ich mich glücklich
schätze, PICHLERs Gedankengang in Nähe zu meinem eigenen jüngeren
Denkweg zu sehen. Ich meine damit jene Überlegungen zur pragmatologischen
Modelltheorie im Ausgang von Herbert STACHOWIAK, die ich in jüngerer
Zeit anstellte.15 Dazu
will ich rasch zwei Konzepte einführen, das des "(pragmatologischen)
Modells" M und das der "(pragmatologischen) Theorie" Th.
Zum Ersten: Ein (pragmatologischen) Modell M sei eine Menge von Attributen, d.h. die Elemente dieser Menge M sind Attribute, die der Zahl nach zählbar, wenngleich unendlich sein können. Kurz: A1, A2, A3, etc. Ein Attribut kann hierbei eine Eigenschaft, eine Qualität, eine Farbe, eine Relation, eine Relation von Prädikaten, eine Relation von Relationen, ein Zustand, auch eine Qualität von Prädikaten, etc. sein (cf. STACHOWIAK 1973: 134), und wir wollen selbstverständlich nicht ausschließen, daß ein solches Attribut bereits seinerseits modelliert ist (das wird für die Token/Type-Differenz wichtig werden).
Es ist wichtig anzumerken, daß der Ausdruck "Modell" hier nichts mit Erfüllbarkeit zu tun hat (das wäre der Zugang, den man von der formal-semantischen bzw. formalistisch mathematischen Seite her kennt, doch dieser Zugang zu diesem Term führt zu einem anderen Konzept, das rein äquivok mit demgleichen Wort bezeichnet wird); im formal-semantischen Verständnis einer sog. statement-view wäre ein "Modell" eine Interpretation einer (kalkülgemäß gebauten, deduktiven) Theorie, welche alle Sätze der Theorie wahr macht (gegeben die Wahrheit ihrer Prämissen), d.h. diese erfüllt. Doch der hiesige Begriff des (pragmatologischen) Modells betrachtet gar keine Sätze, schon gar keine Kalküle, vielmehr entstammt er einer non-statement-view (und hat darum den touch von Pragmatik). Das Konzept des (pragmatologischen) Modells gilt einfach der operationalen Abbildung von Attributen einer Entität, die dann "Objekt", kurz O, genannt wird, in die einer anderen Entität, die dann "Modell", kurz M, heißt (wir wollen hier einfügen, daß es auch Auto-Modellierungen gibt, indem eine Menge von Attributen einer Entität in sich bzw. in eine Untermenge von diesen Attributen derselben Entität abgebildet werden; gewisse, gar nicht so seltene Fälle von Skript-Produktion werden auch diesen Charakter aufweisen).
O und M sind dann jeweils Attributenklassen, wobei aus O eine Operation F (die sog. "ikostrukturelle Funktion" der attributenabbildenden Modellierung) Attribute der Subklasse OP auswählt und in Attribute der Subklasse ME überführt: ME=F(OP). Gewisse Attribute von O={B1, B2, B3, B4, B5, B6, ... Bn}werden hierbei ausgelassen und finden sich nicht in OP, das mit OP={B3, B4, B5, ... Bn-4} aufgezählt sei. Ebenso finden sich gewisse Attribte von M={A1, A2, A3, A4, A5, A6, ... Am} nicht in z.B. ME={A4, A5, ... Am-5}.16 Die präterierten Objektattribute werden nicht modelliert, die überzähligen sog. abundanten Modellattribute sind kein Ergebnis einer Modellierung, wohl aber Teil des Modells: Die Menge der abundanten Attribute von M wäre bei diesem Beispiel MA={A1, A2, A3, Am-4, Am-3, Am-2, Am-1, Am}. In den meisten Fällen einer Modellierung (etwa eines Autos durch ein Spielzeugauto oder eines Gebäudes durch ein architektonisches Modell) wird gelten, daß weder OP={} noch daß ME={}, aber auch daß weder (O\OP)={} noch (M\ME)=MA={}.17 Dieses Modellkonzept ist ein intensionales, doch die Darstellung in Mengenschreibweise ist mitunter rein extensional, betrifft dann aber Charaktere, die ihrerseits intensional sein können.
Zum Zweiten: Eine (pragmatologische) Theorie Th sei eine aus
fünf Relata, den sog. "Parametern", gebildete geordnete, fünfstellige
Relation Th=<O, M, k, t, Z>,
wobei "O" und "M" wieder für "Objekt" und "Modell" (im
pragmatologischen Sinne18)
und damit für Attributklassen stehen, cf. sup., "k"
einen Operateur oder Akteur bezeichnet, der ein semiotisches
Subjekt sein wird (bzw. eine Person), indes "t" für einen
Zeitpunkt und "Z" für eine bestimmte pragmatische Interessenlage
bzw. (wenn man mehr kybernetisch denkt und näher an STACHOWIAK bleibt)
für eine (externe) Zielvorgabe steht.19
Sohin erscheint eine Theorie nicht mehr im neo-positivistischen (oder sonstigen)
Verständnis einer statement-view als deduktive Ordnung von
(hypothetischen) Sätzen, sondern ihrer schematischen Form nach als
ein Tupel von fünf Paramtern,20
die kybernetisch in soziologischer Implementation zusammen wirken in der
Art, daß der zweite Paramter eine modellierende Abbildung des ersten
unter der Führungsgrößte des fünften Paramters als
Resultat einer Operation des dritten Paramters zu einem als vierter Paramter
gegebenen Zeitpunkt ist, wobei dieser Prozeß durch Rückkoppelung
so lange wiederholt werden mag, bis mit dem Erreichen der Zielwerte Z
dieser Prozeß ein Ende findet und als "Modell"
M das gewünschte
Produkt bzw. die gewünschte Transformation von (Attributen von)
O
in M erscheint (und wobei jeder Parameter selbst unter die Kategorie
des seinerseits Modellierten fallen kann).
Wie ist diese Konzeption, die ja doch sehr schematisch verbleibt,
auf PICHLERs Verständnis von "Skript", "Text" und "Werk" zur Explikation
dieser Termini anzuwenden?- Nun, das ist ein gewisses Wagnis, wie jede
Applikation, doch verspreche ich mir davon einen praktischen Gewinn, insoferne
die ein wenig relativistische klingende Text- und Werkauffassung PICHLERs21
besser verständlich wird und sich durchaus klar analysieren läßt
mit Formeln und Zeichen, ganz in der Art vieler moderner, logisch-analytisch
orientierter Philosophen.
Zuerst einmal zum Ausdruck "Skript": Ich würde sagen, ein bestimmtes Skript S (ob nun etwa ein Manuskript oder Typoskript WITTGENSTEINs) kann durch eine Menge von perzeptions- und trainingsabhängig erkennbaren Attributen charakterisiert werden, die, grob skizziert, Merkmale umfassen wie "in der Handschrift WITTGENSTEINs gemalter Buchstabe" inklusive weiterer Schrift- und Zifferzeichen des Deutschen, aber auch des Französischen, Englischen sowie des Arabischen und Römischen mathematischen Ziffern- und Zeichensatzes (wie er in Europa üblich ist), mit den üblichen diakritischen, Klammern- und Satzzeichen. Die Sache ist nicht ganz so trivial, wie sie hier dargestellt wird, da in den Manuskripten nicht nur die "offiziellen" Schriftzeichen (wie Buchstaben, Beistriche, Apostrophe oder Umlaute) auftauchen, sondern auch Qualitäten und Modifikationen dieser Schriftzeichen feststellbar sind, welche z.B. Durchstreichungen, Hochstellungen, Einfügungen, vor Absätzen gestellte Merkzeichen, etc. betreffen. Ich bin hier nicht imstande, eine genaue Aufstellung all der Elemente zu geben, die wir als die Attributenmenge eines Skripts S konstituierende ansehen wollen. Es ist klar, daß die Transkriptionsarbeit darin bestand, diese Zeichen insgesamt zu erfassen und elektronisch zu kodieren; das Code-Book am WAB ist die dafür zu konsultierende Ressource. Die (germanistische, österreichische) Diplomarbeit Alois PICHLERs (op. cit. inf. 3) liefert einen (nicht-quantitativen)
Nun wird es wohl angebracht sein, die Elemente des Skripts wie die Elemente eines zu modellierenden Originals attributiv zu charakterisieren. D.h. diese Zahl von Zeichen-types wird wohl für eine erste Angabe der Attributenzahl des Originals herhalten. Darüber hinaus wird es noch Attribute wie "Unterstrichen" und andere Modifikationen von Typesetc. geben, die man ihrerseits als bereits modelliert ansehen kann, indem sie auf schon vorhandene Skript-Elemente (Zeichen-tokens in concreto, in der Transkription auf Zeichen-types) appliziert werden. Hiermit erreichen wir (nochmals und diesmal in der Applikation) den für die pragmatologische Modelltheorie interessanten Punkt, daß Attribute bereits selbst Modelle sein können (cf. sup.), etwas, was wir zum Verständnis des Skript-Begriffes unbedingt brauchen. Denn nach wie vor ist es nicht so einfach und allgemein entscheidbar oder festzustellen, was nun wirklich ein Schriftzeichen bzw. Skriptzeichen bei WITTGENSTEIN ist.
Es ist klar, daß die Buchstaben und sonstigen allgemein in unserer Kultur gebräuchlichen, durch Schreibhandlungen (im weitesten Sinne) produzierbaren und reproduzierbaren Zeichen als Skriptzeichen und damit in Form von Zeichen-types als Attribute eines Skript-Originals zu verstehen sind. Doch wenn man den Begriff der "Schreibhandlung" nach PICHLER loc. cit. sup. nimmt, dann wird man bestimmte Zeichen-types (und ohnehin jedes oder fast jedes Zeichen-token) als bereits einer Handlung bzw. Modellierung entstammend betrachten können, insbesondere die von WITTGENSTEIN selbst erfundenen und spezifisch angewandten Zeichen. Dies setzt voraus, daß man dieses pragmatologische Konzept der Modellierung innerhalb einer pragmatologischen Theorie allgemein genug nimmt, um Schreibhandlungen zu umfassen. Damit wird ein Skript oder bloß ein String23 eines Skripts (kurz: Skript-String) bereits zu einer Mischung von basalen oder originalen und bereits modellierten Attributen bzw. (minimalen, partiellen) Modellen. Wie nun ein Token im konkreten Ko-Text eines Skripts bzw. im Kon-Text einer Rezeption gelesen wird, d.h. als was es genommen und als welcher Type es gelesen wird, ist selbst zum Teil von dem abhängig, was ich oben als "pragmatologische Theorie" schematisierte, d.h. abhängig von bestimmten konventionellen, soziologischen Gegebenheiten ihres Modellierens seitens der jeweiligen "am Werke befindlichen" semiotischen Subjektivität des Operateurs dieser Modellierungen im Rahmen von pragmatologischen Theorien, abhängig von bestimmten Interessenlagen und Zielvorstellungen, und natürlich auch von bestimmten historischen, situativen Gegebenheiten.
Ein Chinese ohne Kenntnis des lateinischen Alphabets wird ein handschriftliches
"e" in einem Skript WITTGENSTEINs unter Umständen als etwas ganz anderes
sehen oder lesen als ein Germanistikprofessor in Wien, insbesondere wenn
es ohne Ko-Text genommen wird. Die Transkriptionsarbeit wird mitunter solche
Debatten (etwa über die von WITTGENSTEIN verwendeten "Sonderzeichen"
und spezifischen
Tokens) sehr pragmatisch und simplifiziert führen
müssen bzw. geführt haben, einfach um Resultate zu liefern (schließlich
gibt es auch noch externe Faktoren wie Kostendruck und Verträge, Erwartungshaltungen
und spezifische soziologische Bedingungen, unter denen solche Arbeit statthat,
welche auf dokumentierbare Ergebnisse drängen).
Nun, für ein Skript Sn der Bearbeitungsstufe
n
läßt sich folgendes rekursive Schema (eigentliche eine Matrix)
schreiben, wobei wir für die Zeichen-types das Symbol "TypZi",
für die theorieabhängige Modellierung von Strings das
Symbol "MTh", für die dabei wohl transkriptionsdependente
und -applizierte Theorie das Symbol "ThT" und für
Zeichen-tokens das Symbol "TokZj"24
gebrauchen:
(A) Sn-1h={TypZ1,
TypZ2,
TypZ3,
..., TypZi}
(B) (x) (x=TypZ --> x=MTh)
mit MTh=F1Th{TokZ1,
TokZ2,
TokZ3,
..., TokZj}
(C) ThT=<{TokZ1,
TokZ2,
TokZ3,
..., TokZj},
MTh,
Rez, t,
Z>
(D) Sn=F2Th{Sn-11,
Sn-12,
Sn-13,
..., Sn-1h}
(E) ~N(F1Th=F2Th)
Dies ist zu erläutern: Die Zeile (A) besagt, daß jedes partielle Skript Sn-1h mindestens eine Stufe unter dem betrachteten Skript Sn aus Zeichen-types besteht.25 Die Zeile (B) ist ein Versuch zu explizieren, daß, wenn etwas ein Zeichen-type ist, es nach einer Funktion der (relativen) ersten Stufe aus Zeichen-tokens theorieabhängig modelliert wurde (wobei dieser Fall einer pragmatologischen Theorie hier kultur- und sprachabhängig sein wird), wobei die Zeile (C) diese dabei angewandte Theorie ThT je nach der Rezeptionsleistung des semiotischen Subjekts Re Zeichen-tokens zu einer Menge von Zeichen-types modelliert, gemäß einer Interessenalge Z und zu einem Zeitpunkt t.26 Die Zeile (D) sieht nun das gesuchte Skript Sn als Resultat einer Operation mit den Teil-Skripte Sn-11 bis Sn-1h, wobei hier eigentlich wieder eine Akt "pragmatologischer Theorie" bzw. eine Schreibhandlung in der Charakterisierbarkeit pragmatologischer Theoretizität einfließt, welche in diesem Schema nicht mehr ausgedrückt wird (implizit aber im Zeichen "F2Th" vorhanden ist; wie jede Modellierung, geschieht auch die Operation dieser im Rahmen eines pragmatologischen Theoriekonzepts). Ich halte es aber für nicht zu vernachlässigen, daß in Zeile (E) konstatiert wird, daß die beiden Operationen, die einerseits zu den Teil-Skripten gemäß F1Th und andererseits zum vorläufig endgültigen Skript Sn nach F2Th führen, nicht notwendigerweise ident sein müssen (was sicherlich vorsichtig gesagt ist).
Ad Zeile (C) will ich außerdem noch kommentieren, daß im Falle eines Lesers oder Transkribenten der Zeitpunkt t deutlich nach jenem Zeitpunkt liegen wird, zu welchem die Zeichen-tokens bzw. die ursprüngliche Schreibhandlung gesetzt wurde, was quasi als Th0q=<-, TokZq, Au, 0, P> zu schematisieren wäre.27 Hierbei stehe das indizierte (subskribierte) "q" für "beliebig", "Au" für "Autor", die Null "0" für den Zeitpunkt der ersten Schriftlegung als jenen der ersten Schreibhandlung überhaupt, indes "P" jene Interessenlage des semiotischen Subjekts "Autor" bezeichne, die dank Phantasie und Vorstellungskraft diesen zum Schreiben bringt. Das Minus "-" an der Stelle des Objekt-Parameters soll aufzeigen, daß hierfür keine originären Vorgaben mehr auszumachen sind bzw. rein mentale Dokumente vorliegen, die in Gesamtheiten von Schreibhandlungen Realisierung finden (die Fähigkeit zu schreiben und zu denken, irgendwelche mentalen Modellierungen zu vollziehen, etc., werden wir als der ersten Schreibhandlung vorausgehend annehmen können, doch deren Attribute zu charakterisieren ist uns nicht gegeben bzw. nicht in der schematischen Allgemeinheit möglich, deren wir uns hier bedienen, doch soll dieser Essay ja Schreibhandlungen ja nicht selbst ihrem Zustandekommen bzw. ihrer dispositionalen Ermöglichung nach behandeln). Wir gehen davon aus, daß jemand, der schreiben kann, dies bereits auch mentaliter kann, ohne sich der physischen Konkretisierung in tokens bedienen zu müssen, und daß er/sie diese Fähigkeit immer schon vor jedem konkreten Schreibakt hat, der tokens hinterläßt, die als types lesbar sind.
Diese Darstellung erlaubt es uns schon jetzt, noch ehe wir den Text-Begriff
behandeln, zu verstehen, daß in die Erstellung eines Skripts
durch Schreibhandlungen pragmatische Theorien- und Interessenelemente einfließen,
die bereits aspektiv und prozessual festlegen, welche Zeichen-types
in die vorgefundenen Zeichen-tokens quasi hineingesehen werden.
Ich bin der Ansicht, daß die Erstellung eines mentalen Skripts
von types den Lesevorgang ausmacht (aber auch dem Schreibvorgang
vorausgeht), oder jedenfalls ist es meine Intention und Hoffnung, daß
man zu dieser Auffassung vordringt, wenn man dem bisherigen Gedankengang
gefolgt ist. Es ist klar, daß es ohne Lesen keine Transkription
gibt, und es ist weiters klar, daß hier eine seltsame Schleife
statthat, daß man nämlich WITTGENSTEIN schlecht transkripieren
kann, ohne den Inhalt v.a. seiner Betrachtungen zum "Sehen Als" und zum
"Aspektwechsel" zu be(tr)achten.28
Zur Charakterisierung des Text-Konzepts wollen wir uns der
gleichen Methodik bedienen, freilich in etwas anderer Applikation. Wir
setzen voraus, daß bereits Skripte existieren (d.h. wir
bleiben die Charakterisierung des Konzeptes des "skriptlosen Textes des
mentalen Dokumentes" schuldig). Dann ist das, was wir aus einer Menge von
Skripten als Text gewinnen, wieder das Resultat einer Modellierung, die,
wie jede (pragmatologische) Modellierung, im Rahmen einer (pragmatologischen)
Theorie vollzogen wird. Ich will das, diesmal kürzer, schematisieren,
wobei "TXcb" für Text der Lesart (oder
"Textierung")
b stehe (im Unterschied zu einem Text der Lesart a,
also "TXca"), indes "Sc-11",
"Sc-12", ..., "Sc-1d"
wieder für (partielle) Skripte 1 bis d der Stufe c-1 geschrieben
und die sonstigen Zeichengebräuche beibehalten sind:
(1) TXcg=F3Th{Sc-11,
Sc-12,
..., Sc-1d}
(2) ThT=<{Sc-11,
Sc-12,
..., Sc-1d},
TXcg,
Rez,
t',
Z'>
(3) (x) (x=TXcg
--> x=Sce) mit TXc+1a=F4Th{Sc1,
Sc2,
..., Sce},29
wobei für ein beliebiges Skript aus dieser Menge gilt:
(4) M(Sc-1q=Sqq
),
Man gestatte mir, das zu kommentieren: Die Zeilen (1) und (2) sollen zeigen, daß ein Text TXcg aus Skripten gebildet wird, die um mindestens eine Stufe der Modellierung darunter liegen, wobei die Attribute der Skripten durchaus bis auf das unterste Niveau eines Zeichen-tokens bzw. konkreten Schriftzeichens bzw. Resultates eines Schreibhandlung genommen und in solche abgebildet werden können. Diese Textierung wird durch einen RezipientenRez der Skripte vollzogen, welcher wiederum derselbe Autor dieser Skripte sein kann, der damit zugleich zu deren Leser wird; doch ein Text kann auch durch einen Transkripteur, einen Editor, etc., aus Skripten (mental) erzeugt werden, v.a. insoferne in diese redaktionell "eingegriffen" wird. Der Zeitpunkt t', zu welchem dies geschieht, ist unter Umständen mit der Erlebenszeit des semiotischen Subjektes, das als Autor bzw. Leser fungiert, nicht kommensurabel und daher typographisch abgesetzt symbolisiert. Für die Interessenlage gilt dasselbe, auch sie mag sich zu derjenigen, die für die Erstellung von Skripten galt, geändert haben. Die Zeile (3) wirft nun das aus, was jene kennen, die in WITTGENSTEINs Nachlaß Einblick haben und/oder selbst so schreiben, indem sie auf den Text vorliegender Skripte zurückkreifen, nämlich daß ein Text, wie relativ er immer aus Skripten und Schreibhandlungen bzw. Textierungen gewonnen sein mag, selbst wieder zum Skript verschriftlicht und damit zur (relativen) Primärquelle von Schreibhandlungen und Textierungen werden kann. Es ist außerdem zu beachten, daß es meines Erachtens noch unausgemacht ist, ob Textierungen Schreibhandlungen sind, wenn man unter letzteren das eng verstandene "Skriptieren" nimmt und nicht "Lesehandlungen" zählt.30
Vieles, was mit den Attributen geschieht, die aus Schreibhandlungen auf Skript-Niveau geliefert werden, ist bei Textierungen gerade zu den Schreibhandlungen inkommensurabel und/oder abundant. Wenn z.B. in einer Textierung eine Tabelle erstellt (d.h. vorgestellt) wird, welche dann einem edierenden Skript erläuternd beigefügt wird, so ist das für den entstandenen Text als Rezeption des (relativ originalen) Skripts wichtig, aber möglicherweise im rezipierten Skript so nicht vorhanden. Es gibt sicherlich bessere Beispiele - WITTGENSTEIN scheint jedenfalls beim Textieren und skriptierenden Überarbeiten von Skripten und schon Textiertem soetwas wie "neue Schreibhandlungen" auf token-Niveau angewandt haben, das sind jene Zeichen, die er handschriftlich in die oder über die bzw. an Stelle der jeweilige/n Vorlage fügte, inklusive vielleicht auch der Handhabung von Schere und Kleber, die für das skriptierte Produkt der (mentalen) textierenden Modellierung notwendige Mittel, wenngleich selbst nicht unbedingt in deren Resultat repräsentiert waren.
Schließlich hält sup. die Zeile (4) fest, daß
es möglich ist, daß ein beliebiges Skript der unter dem Text
liegenden Stufe ident mit einem beliebigen (anderen) Skript ist (und diese
Aussage ist nur sinnvoll, wenn man von Strings als Zeichen-types
spricht), d.h. daß zur Textierung von Texten auch Skripte herangezogen
werden können, die bereits in andere Texte oder Skripte eingearbeitet
sind oder jedenfalls auf einer Stufe der Schreib- und Modellierungshandlungen
liegen, die weit unter der jetzigen Textierung steht, sodaß der
Autor beim Überarbeiten schon vorhandener Skripte hermeneutische Arbeit
an daraus entstehenden Skripten leisten muß, um dann ein Skript
und einen Text zu produzieren, der den jetzigen Stand markiert (wobei der
mentale Text bzw. das Leseverständnis, das der Autor von diesem letzten
Skript hat, keineswegs verbindlich oder gar der einzige diesem Skript entsprechende
Text sein muß). Dies ist in meinen Augen der Punkt, wo man Skript
und Text als prozessuale, aufeinander folgende Aspekte dessen zu sehen
lernt, was "Werkhandlung" oder "Creatio" genannt
werden kann; doch ein "(rezipiertes) Werk" selbst will dann nicht mehr
Aspekt eines Textes, sondern ein Text des finalen Gesamtskriptes
sein, dem Werkcharakter zukommt.
Die Deutung eines Werkes kann freilich Aspekte des Textes vor Augen
führen, doch kann ein Werk für den Rezipienten im Augenblick
einer konsistenten Werkinterpretation nicht mehrere Texte zugleich enthalten,
vielmehr kann der Leser als Rezipient des finalen Skriptes dieses einmal
unter dem Aspekt jenes Textes, ein anderes Mal unter dem Aspekt eines anderen
Textes auffassen und so gesehen das Werk als etwas jeweils Anderes rezipieren.31
Man kann den Text der Bibel lesen als theologischen Traktat oder als historiographisches
Material; das Skript ist dasselbe, doch die Texte nicht, und abhängig
von den Texten wird man unter dem Werk "Bibel" Verschiedenes verstehen.
Man könnte fragen, ob der Gesamtcharakter des Werkes nicht alle Texte,
die das finale Skript aspektiv zuläßt, umfaßt -
doch in diesem Verständnis ist das Werk offen, denn wie will
ein einzelnes semiotisches Subjekt feststellen, ob es alle Aspekte des
Skriptes erfaßt und daher alle möglichen Texte erlesen hat?
Erst
eine Sozietät semiotischer Subjekte wird eine "regelgerechte"
oder
"verbindliche"
Werktreue durch eine Praxis und konventionelle Regelung erzwingen, und
dann hängt der Gesamtcharakter des Werkes eben von der Lebensform
der Rezipienten ab.
Das (verfaßte, nicht mehr rein mentale) "Werk" schließlich ist etwas, was diesen modellierenden und theoriebeladenen Abfolgen von Skriptierung und Textierung relativ äußerlich sein kann. Den Werk-Begriff zu explizieren, kommt in meinen Augen nun um eine bedeutsame Fragestellung nicht herum: Geht es beim Werk (I) um die Handlung, die spezifisch charakterisiert ist (als Schreibhandlungen, Performationen von mentalen Texten, etc.), oder (II) um die Repräsentation ihres Resultats (also des Ergebnisses von (I))?
Im Lichte des schon Gesagten ist wohl darauf zu verweisen, daß der Werkcharakter unter Umständen den Schreibhandlungen (inkl. Lesehandlungen), also Skriptierungen und Textierungen, relativ fremd oder besser: extern ist. Das semiotische Subjekt als Autor ist unter Umständen im Augenblick und Geschehen der einzelnen Schreibhandlungen nicht zu jener Objektivierung fähig, die es beurteilen läßt, ob das zuletzt erstellte Skript nun "Werk" ist und damit die Arbeit ein Ende gefunden hat - die Arbeit des Schreibens natürlich, nicht die Arbeit des Lesens (und auch nicht zwangsläufig die Arbeit des Autors, welcher als Leser seines eigenen Werkes ja zu neuen, anderen, werk-fremden Schreibhandlungen angeregt werden kann; der Autor ist eben einmal unter dem Aspekt des Schreibenden, dann wieder unter dem Aspekt des Lesenden des eigenen Geschriebenen und der Skripte anderer tätig). Wird aber die Objektivierung, die dem finalen (vorfindlichen) Skript "Werkcharakter" zuspricht bzw. durch Edition ein finales Skript erstellt, von einem anderen semiotischen Subjekt als dem Autor vorgenommen, von einem Redakteur oder Editor, dann ist die Zusprechung des Werkcharakters ohnehin der ursprünglichen, autorisierten Schreibhandlung fremd. Das kann soweit führen, daß Skripte als ein Text gelesen und finalisiert werden, die vom Editor als Werk gelten und publiziert werden, ohne daß der Autor sie überhaupt in einen Text bzw. mit der Intention eines Werkes geschrieben hätte.
Die Repräsentation einer Werkhandlung, sec. sup. (II), wird
in meinen Augen immer eine mentale sein, doch heißt das keineswegs,
daß sie privat ist oder nicht von mehreren Personen mitvollzogen
werden könnte. Ein Buch, als opus genommen, ist nichts Physisches,
ist kein Skript, sondern der gelesene oder besser: zu lesende,
zum Lesen aufgegebene Text dessen, was als finales Skript und die Intentionen
des Autors oder Editors erreichend genommen wird. Bereits der Text ist
etwas Mentales und Konstruiertes, doch darum keineswegs etwas Privates,
Subjektives, da die Regeln, nach denen diese mentale Konstruktion vonstatten
geht, nicht privat und nicht als Regel rein subjektiv sind (wiewohl man
ihnen alleine und nur einmal folgen kann). Der mens, der hier in
Anwendung kommt, ist Wesen semiotischer Subjektivität, d.h. eignet
einem (personalen) Subjekt, welches freilich in seinem semiotischen Tun
an soziale und sprachliche, kommunikative und die Codierung betreffende
Voraussetzungen gebunden ist, in Sprachspielen und Lebensvollzügen
steht. Lesen ist eine praktische Tätigkeit, keine theoretische;
es hat mit Regelfolgen in bestimmten Umständen zu tun, und es setzt
das Teilen einer Lebensform insoferne voraus, als dem gelesenen Skript
Decodierbares entnehmbar sein muß in einer Weise, die auf allgemeine
Regeln der Codes zurückgreift. Das Werk kann auch nur darum auf Öffentlichkeit
hin orientiert sein, weil das Verstehen geschriebener Sprache an den öffentlichen
Charakter von Sprache (und anderen sozialen Zeichensystemen) gebunden ist.
Publiziert
wird ein Skript eigentlich immer in der Annahme, daß es Werkcharakter
(oder
Nachlaßwerkcharakter) hat
und daher ein Text eines als
Ganzes genommenen Skriptes ist bzw. sein kann.
Die oben genannten Bedingungen für den Werkcharakter
(1)-(3)
sec. SCHULTE 1989: 52 und (4) sec. PICHLER lauteten:
(1) Die erkennbare Einschätzung des Textes als
eigenständiges Gebilde und Werk von Seiten des Autors selbst;
(2) eine von Seiten des Lesers ausmachbare Argumentationslinie
mit Thesen und Gegenthesen, inklusive Beispielen;
(3) die stilistisch-formale Durchgesteltung des
Textes, die es erlaubt, von Abgeschlossenheit zu sprechen. (sec.
PICHLER 2001: 26);
(4) daß nur das als Werk zu gelten habe, was
nicht nur abgeschlossen ist, sondern auch Vorstufen hat (PICHLER 2001:
27).
In vielen edierten Manu- und Typoskripten WITTGENSTEINs ist wohl die Kondition (1) nicht erfüllt, daher ist die Herausgabe des Nachlasses nach unserem Dafürhalten nur mit Vorbehalt als "Werk" zu titulieren (daher sprachen wir vom "Nachlaßwerkcharakter"). Vielleicht mag man dafür besser den Term "Nachlaßwerk" reservieren, für dessen Charakter dann eben eine entsprechende Dispension bzw. Modifikation der Bedingung (1) gilt. Viele dieser Manu- und Typoskripte sind keine vom Autor als finale autorisierten Skripte (und wenn man das eng nimmt, dann wären die uns bekannten Philosophischen Untersuchungen in der Edition von G. E. M. ANSCOMBE, G. H. von WRIGHT und Rush RHEES auch kein Werk, sondern "nur" Nachlaßwerk, und ich füge hier hinzu, daß RHEES' Edition der Philosophischen Grammatik in dieser meiner Terminologie Nachlaßwerkcharakter hat, womit die Frage, inwieweit das Big Typescript nicht das zu edierende Werk gewesen wäre, müssig ist, weil dieses eben kein vom Autor anerkanntes Werk war bzw. ist und daher ohnehin nur als Nachlaßwerk edierbar ist).
Die Bedingung (2) ist wohl erfüllt, zumindest meist und bei allem, was bereits herausgegeben ist (es sei denn, man hängt Thesen an, die WITTGENSTEIN Dyslexie attestieren).
(3) ist eine aus jetziger Sicht unglückliche Formulierung, denn eine stilistisch-formale Gestaltung des "Textes" kann nicht die Abgeschlossenheit eines Skriptes liefern, vielmehr ist der Text das hermeneutische und mentale Produkt der Rezeption von Skripten bzw. eines finalen Skriptes (dann kann man ihn "Text des Werkes" nennen). Dennoch würde ich sagen, daß die Herausgabe der Skripten WITTGENSTEINs jedenfalls finale Skripte angestrebt hat und auch aus WITTGENSTEINs Selbstäußerungen entnommen werden kann, daß sein Schreiben solches (zumindest mitunter) anstrebte. Die Abgeschlossenheit dieser Skripte wurde freilich oft oder gar zumeist nicht vom Autor WITTGENSTEIN selbst erreicht, sodaß hier bereits (neben Selbst-Redaktion) Redaktionen für Editionen durch andere Personen vorliegen.
Der Punkt (4) erscheint mir klar zu sein, wenn nicht trivial, da jedem
publizierbaren Werk ein Skript vorliegt, der zumindest partiell für
den Autor schon Text war. Ist das Skript ein finales Skript und damit die
Intention des Autors, einen bestimmten Text durch es zu repräsentieren
und lesbar zu machen, (für den Autor oder Editor) erreicht, dann liegt
dem Werk bereits mit dem Vorhandensein nur einer einzelnen Schreibhandlung,
die ein Zeichen-token als Zeichen-type sieht (d.h. als solches
schreibt und liest), bereits eine Vorstufe vor. Werke fallen nicht vom
Himmel - sie müssen in Konkretionen der Creatio repräsentiert
werden, bleiben aber darum keineswegs in ihrem Nachvollzug und ihrer Erfassung,
in ihrer Rezeption und in ihrem Verstehen darauf beschränkt. Das wiederum
führt uns zu der bekannten hermeneutischen Einsicht, daß die
spezifische Werkhandlung sec. sup. (I) nicht alleine dem Autor angelastet
bleiben darf, um zu Repräsentationen sec. sup. (II) zu führen,
vielmehr sind die Repräsentationen des Werkes der Gemeinschaft
von Leser und Autor aufgetragen und daher ihrerseits immer schon
ein sozio-semiotisches Ereignis bzw. eine sozio-semiotische Geschichte.
Ein letztes Wort zu diesem Punkt dieses Essays, der durch eine Arbeit
PICHLERs (ja durch ein Werk PICHLERs) angeregt wurde: Ein finales Skript
habe WITTGENSTEIN mit seinen Philosophischen Untersuchungen angestrebt.
Welcher Instanz obliegt es, das zu beurteilen? Nun, der semiotischen
Subjektivität des Autors bzw. Herausgebers (und angesichts eines vorliegenden
Corpus
bestimmter Skripten können deren Meinungen diesbezüglich durchaus
variieren), und natürlich jedem Kenner und Leser der Skripte, Texte,
Werke, Alben.
Ich will damt eigens darauf hinweisen, daß für die Aktuierung semiotischer Subjektivität immer pragmatologische Theoretizität appliziert wird, d.h. es gibt an diesem Punkte ebenfalls die Abhängigkeit von pragmatischen, situativen, kontextuellen, historischen, interessesensitiven Entscheidungen. Nichts zeichnet ein Werkskript in diesem Sinne von anderen Schreibhandlungen aus, als eben das Gefühl oder die Befriedigung jenes semiotischen Subjektes, welches in ihm ein endgültiges Stadium festzumachen glaubt. Die Perfektion oder Abgeschlossenheit muß dabei keineswegs heißen, daß es nicht Fragment sein darf, denn ein Fragment kann duchaus angestrebtes Werkphänomen sein! (Auch ein Fragment kann in seiner Fragmentarizität eine Perfektion für sich erreichen.)
Ebenso kann ein Nachlaßwerk vom Autor angestrebt sein (was vielleicht ab einem bestimmten Stadium eine heimliche Überlegung WITTGENSTEINs war, sein Testament läßt meines Erachtens diese Spekulation zu32) - man sollte nicht den Aspekt außer Acht lassen, daß Skripte fabriziert werden, die gar nicht für die Publikation als Werke zu Lebzeiten des Autors gedacht sind, sondern von vornherein dem Nachlaß zu Lebzeiten des Autors von diesem selbst zugerechnet werden (ohne oder mit Hinsicht darauf, daß dieser Nachlaß später als Nachlaßwerk ediert und publiziert wird). Eine gewisse Pietät mag da insofern angebracht sein, als Tagebücher in meinen Augen z.B. genau diesen Charakter haben; der Tagebuchcharakter ist kein Werkcharakter in dem Verständnis, daß damit Veröffentlichbarkeit verbunden sein muß oder Publikationsintention wie bei einem Werk zu Lebzeiten gegeben ist. Nichtsdestoweniger sind die Tagebücher (soweit aufgefunden) WITTGENSTEINs als Nachlaßwerke ediert - doch das lag offenkundig in den Intentionen der Nachlaßverwalter, und mir ist kein Zitat WITTGENSTEINs bekannt, wo er eine solche Intention geäußert oder uns überliefert hätte. Das soll nicht heißen, daß ich mich gegen die Nachlaßedition der Tagebücher (oder etwa der Briefe) stelle - bloß ist nur mit Vorsicht diesen jener Werkcharakter zuzusprechen, der als der vom Autor intendierte gelten möge.---
0 Verfaßt im April 2002 am Wittgensteinarkivet
ved Universitetet i Bergen WAB.
Ich, G.G., lege keinen Wert darauf, ohnehin bekannte Werke für diese
Arbeit genau zu zitieren, daher ist keine Bibliographie angeführt.
Bücher und Aufsätze (inklusive eventueller elektronischer Dokumente),
deren Bekanntheitsgrad als hoher nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden
kann, sind dann in Anmerkungen zitiert (nach der sog. "Harvard-Zitation",
nach welcher auch auf sie referiert wird). Dieser Essay ist als elektronisches
Dokument konzipiert und wird als solches im Internet öffentlich zugänglich
gemacht.
Ich danke Alois PICHLER für Anregungen und Hinweise, Kritik und
Verbesserungsvorschläge, aber auch Herbert HRACHOVEC, mit dem ich
bereits früher (wohl im Frühjahr 1998 in Norwegen und nochmals
in Wien im Jahre 1998 oder 1999 bei einer Radio-Sendung) über dieses
Problemfeld und seine Kritik an RHEES sprach. Ferner bin ich für die
intellektuelle Atmosphäre, die mich hier in Bergen kreativ und zu
meiner Zufriedenheit arbeiten läßt, gerne all den Kollegen hier
verbunden. (back)-
1 Cf. GELBMANN, Gerhard (2000): Die pragmatische Kommunikationstheorie. Rekonstruktion, wissenschaftsphilosophischer Hintergrund, Kritik. Dissertation, Universität Wien; Frankfurt am Main: DHS; GELBMANN, Gerhard (2002c): Observations on Transaction. A Discussion of Watzlawick’s Second Axiom. Frankfurt am Main: Peter Lang (forthcoming). (back)-
2 Cf. PICHLER, Alois (2001): Wittgensteins 'Philosophische Untersuchungen': Vom Buch zum Album.- (back)-
3 Cf. WIITGENSTEINs Über Gewißheit und MALCOLM, Norman (1986): Wittgenstein: Nothing Is Hidden. Oxford: Blackwell, loc. cit. S. 201ff.- (back)-
4 Ich kann mir hier eine zeitkritische Anmerkung nicht verkneifen: WITTGENSTEINs berühmtes Privatsprachenargument kann man auch politisch lesen, indem es folgenden Satz, der doch so sehr unser neo-liberalistisches Zeitalter kennzeichnet, zurückweist: "Privately I can follow any rule!".- (back)-
5 Ich gebe handschriftliche Einfügungen kursiv wieder, in Manuskriptpassagen Hervorgehobenes sind (kursiv und) unterstrichen gebracht. Zitate aus Typoskriptpassagen werden unverändert belassen. Wo PICHLER mitunter doppeltes "s" statt dem scharfen "ß" setzt, gebe ich ihn oder anderes in der mir geläufigen (alten) Orthographie des Deutschen wieder. Weiter möchte ich meine editorische Arbeit nicht treiben (auch, um nicht in den Ruf einer leichten Ironie zu geraten, da PICHLER doch genau in diesem Felde sozusagen am Nachlaßleib WITTGENSTEINs einiges geleistet hat). (back)-
6 Die Frage nach dem Werkcharakter von WITTGENSTEINs Schriften ist einer der zentralen Punkte in PICHLERs Arbeit, der sich schon in seiner Diplomarbeit ankündigte, cf.: PICHLER, Alois (1997a): Wittgenstein und das Schreiben: Ansätze zu einem Schreiberporträt. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. (back)-
7 PICHLERs Zitationsweise arbeitet mit subskribierten
römischen Ziffern "i" und "ii" für den ersten und zweiten Teil
eines Skripts. In Zitaten stammen in eckigen Klammern eingefügte Textteile
vom Rezensenten,
i.e. G.G., Auslassungen sind als eckig eingeklammerte
drei Punkte gekennzeichnet.
PICHLER ist übrigens schon einmal mit einer Teilbearbeitung dieser
frühen Fassungen der Philosophischen Untersuchungen hervorgetreten,
cf.
PICHLER, Alois (1997b): "Wittgensteins Philosophische Untersuchungen: Zur
Textgenese von PU §§1-4", Skriftserie fra Wittgensteinarkivet
ved Universitetet i Bergen 14. (back)-
8 Cf. SAVIGNY, Eike von (1988): Wittgensteins 'Philosophische Untersuchungen'. Ein Kommentar für Leser. Bd. I und II. Frankfurt am Main: Klostermann; SAVIGNY, Eike von (1996): Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins 'Philosophische Untersuchungen'. München: dtv. (back)-
9 PICHLER stellt diese Frage mit Hinweis auf Joachim SCHULTE (1989): Wittgenstein. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, und auf Josef G. F. ROTHHAUPT Farbthemen in Wittgensteins Gesamtnachlaß. Philologisch-philosophische Untersuchungen im Längsschnitt und in Querschnitten. Weinheim: Beltz Athenäum. Cf. i.a. PICHLER, Alois (1992): "Wittgensteins spätere Manuskripte: einige Bemerkungen zu Stil und Schreiben", Mitteilungen aus dem Brenner Archiv 12: 8-26; PICHLER, Alois (1993b): "What is Transcription Really?". In: The 1993 Joint International Conference, The Association for Computers and the Humanities, The Association for Literary and Linguistic Computing. Georgetown University, Washington D.C. 16th-19th June 1993. Conference Abstracts 88-91; PICHLER, Alois (1995): "Transcriptions, Texts and Interpretation". In: Culture and Value. Beiträge des 18. Internationalen Wittgenstein Symposiums 13.-20. August 1995, Kirchberg am Wechsel. 690-695. (back)-
10 Die systematische Vorfrage, nämlich "Was ist (überhaupt) ein Text?" bleibe hier ausgeklammert, nicht zuletzt weil sie sehr schwierig und in dieser Allgemeinheit kaum beantwortbar ist. Doch es sei immerhin erwähnt, daß der Rezensent sich ihr bereits in Auseinandersetzung mit Alois PICHLER gewidmet hat, cf. die elektronische Notiz GELBMANN, Gerhard (1998, 1999): "Was ist das, »Text«? Eine Anmerkung zum Unverständlichen einiger Selbstverständlichkeiten", http://h2hobel.phl.univie.ac.at/~yellow/textual/textual.htm (last update Feb. 1999). Die Antwort, die ein wenig frech dort gewagt wird, lautet:
11 Cf. i.a. McGUINNESS, Brian; SCHULTE, Joachim (Hrg.) (1989, 2001): Ludwig Wittgenstein. Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Siehe auch WITTGENSTEIN, Ludwig (1973): Letters to C. K. Ogden with comments on the English translation of the Tractatus Logico-Philosophicus. Edited by G. H. von Wright, with an appendix of letters by Frank Plumpton Ramsey. Oxford: Blackwell. (back)-
12 Cf. KRÜGER, Heinz Wilhelm (1993): "Die Entstehung des Big Typescript". In: Wittgensteins Philosophie der Mathematik. Akten des 15. Internationalen Wittgenstein-Symposiums 2: 303-312; KENNY, Anthony (1976): "From the Big Typescript to the Philosophical Grammar", Acta Philosophica Fennica XXVIII, 1-3: 41-53. (back)-
13 Rush RHEES hat bekanntlich 1969 die Philosophische
Grammatik großteils aufgrund des Big Typescript von 1933
herausgegeben, freilich unter Berücksichtigung von WITTGENSTEINs Anweisungen
zur Umarbeitung dieses TS 213 (das seinerseits auf TS 210 und TS 211 beruhte).
Der Titel "Philosophische Grammatik" taucht bereits im Juil 1931 (in MS
110: 254) auf und wird Ende Nov. 1931 als Überschrift zu Band IX verwendet
(in MS 113), er bildet auch die Überschrift zu Band X im Mai 1932
(in MS 114: 1r); cf. KENNY 1976: 42. Der erste Teil der Philosophischen
Grammatik und ihr Titel beruht auf MS 114ii (also auf den
zweiten Teil von MS 114); cf. PICHLER, Alois (1994): "Untersuchungen
zu Wittgensteins Nachlaß".
Skriftserie fra Wittgensteinarkivet
ved Universitetet i Bergen 8: 124 Anm. 60.
Rush RHEES hat mit seiner Herausgabe also ein bestimmtes Arbeitsstadium
WITTGENSTEINs zu Beginn der Dreißiger im Auge gehabt (so eine
wahrscheinliche Vermutung), und die Edition der Philosophischen Grammatik
ist eine spezielle Nachlaßwerkedition (natürlich autorisiert
von den Trustees), die keineswegs zum Ziele hatte, das
sagenumwobene Big Typescript als solches herauszugeben, welches bekanntlich
gar nicht abgeschlossen und von WITTGENSTEIN selbst nicht als Werk betrachtet
wurde (wiewohl KENNY 1976: 41 mit G. H. von WRIGHT nicht darauf hinzuweisen
vergißt, daß der dritte Teil von TS 213 sogar aus der Sicht
des Autors relativ abgeschlossen war). Michael NEDO spricht davon,
daß die Komplexität der Überarbeitungen WIITGENSTEINs zu
einem "virutellen Manuskript" führte,
cf. NEDO, Michael (1993):
Ludwig
Wittgenstein. Wiener Ausgabe. Einführung -- Introduction. Wien:
Springer in op. cit. S.82, cf. ebenso PICHLER 1994:
loc.
cit.; ich, G.G., lese diesen Ausdruck "virtuelles Manuskript" als "Hypertext"
(oder als "Text" im Sinne meiner eigenen alten Definition,
cf. sup.
Anm. 10).
Nun wurde RHEES vorgeworfen, er habe mit seiner Herausgabe der Philosophischen
Grammatik ein Werk WITTGENSTEINs konstruiert, er hätte das Big
Typescript in der Form von TS 213 edieren sollen. KENNY loc. cit.
drückt sich anfangs vorsichtiger aus, scheint aber zu diesem Schluß
zu kommen; Anthony KENNY hatte ja 1974 die von R. RHEES 1969 besorgte Ausgabe
der Philosophischen Grammatik ins Englische übersetzt:
14 Daß eine zeitliche Abfolge von
Skripten innerhalb des Nachlasses zur Ausmachung von "Werken" beiträgt,
versteht sich von selbst, da die Chronologie von für sich stehenden
Skripten, mag auch die zeitliche und räumliche Struktur der Schreibhandlungen
sehr verworren sein, jedenfalls der Annäherung an einem vom Autor
als Text intendierten Werktext entsprechen wird.
In typographischer und manographischer Form liegen nun mal physische
Dokumente vor, die Skripten in räumlicher Anordnung vorstellen. Diese
Skripten können ihrerseits bereits in einem anderen Medium Abbildung
gefunden haben, etwa als Photographien (Faksimile) oder Transkriptionen.
Doch um Skripten in dieser Form zu modellieren (um bereits jetzt auf das
weiter Auszuführende anzuspielen), müssen sie bereits zumindest
als Skripten wahrgenommen worden sein. Ich würde außerdem noch
vorschlagen, den Überbegriff von "Skript" und "Text" mit "Dokument"
zu bezeichnen (ja, es gibt auch mentale Dokumente!), damit dann
solche Aussagen getroffen werden können, wie etwa daß ein Dokument
auf Text-Niveau bei WITTGENSTEIN durchaus als Skript für ein Werk
(und damit ein anderes Dokument auf Text-Niveau) dienen kann. Für
mich folgen daraus drei weitere Beobachtungen:
(a) Werke sind Dokumente.
(b) Werke sind intendiert als in Skriptform dokumentierte Texte.
(c) Gemäß den sup. genannten Kriterien (1)-(3), inkl.
insbesondere (4) (und eventuell (5)), gehen jedem Werk mindestens ein Skript
voraus, wenngleich dieses vorausgehende Skript (was im Falle WITTGENSTEINs
aber nicht vorkommen dürfte) nicht unbedingt zumindest in Spuren vorliegen,
so doch in seinem Vorhandensein irgendwie dokumentiert (erwähnt, zitiert,
offenkundig oder vermutlich gebraucht) sein muß - und daher durchaus
nur als Text eines mentalen Dokumentes vorhanden sein kann, sodaß
mentale Dokumente Texte sind, denen selbst keine Skripten in physischer
Form vorliegen (womit freilich ein Problem entstanden ist, nämlich
daß es mentale Dokumente als Texte ohne Skript(e) gibt).
Dieser letzte Punkt (c) bringt aber wieder eine gewisse Freiheit des
Editors, so nicht Willkür ins Spiel, insoferne das Vorliegen oder
Vorhandensein eines solches Skripts, das einem Werktext vorausgeht, Sache
der Interpretation bleibt und mitunter erst rekonstruktiv (und dann wieder
als Werk) zustande gebracht wird (das führt zu der Problematik, inwiefern
etwa eine Proto-Philosophische-Untersuchung wie ein Proto-Tractatus
aus diversen Notizen, Zetteln, Tagebüchern, Aufzeichnungen zu rekonstruieren
wäre, um dann als "Werk", sprich Buch, ediert zu werden, sozusagen
ein "vorgelassenes" opus, um ein ironisches Wortspiel anzubringen).
(back)-
15 Cf. STACHOWIAK, Herbert (1973): Allgemeine Modelltheorie. Wien: Springer; STACHOWIAK, Herbert (1989b): "Theorie und Metatheorie des Gesellschaftlichen und das pragmatische Desiderat". In: STACHOWIAK, Herbert (Hrg.) (1989a): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens. Band III: Allgemeine philosophische Pragmatik. Hamburg: Meiner. 315-342; GELBMANN, Gerhard (2002a): "Sind Zahlen Attribute?", electronic document: http://h2hobel.phl.univie.ac.at/~yellow/Stachowiak/attribut.html (last update: April 2002); GELBMANN, Gerhard (2002b): "The Neopragmatistic Conception of Model", Proceedings of the 10th International Symposium of the Austrian Association for Semiotics »Myths, Rites, Simulacra. Semiotic Viewpoints«, University of Applied Arts Vienna, Dec. 2000, Angewandte Semiotik 18/19, Vol. I, 2001: 595-614; electronic document:http://h2hobel.phl.univie.ac.at/~yellow/Stachowiak/ncm.rtf (last update: Jan. 2002); GELBMANN, Gerhard (2002/2003): The Pragmatologic Conception of »Model«. An Essay into Theoreticity, Objectivism and an Algebra of Mind. In preparation (book). (back)-
16 Es sei hierbei beachtet, daß die Indices "n" und "m" eine natürliche, beliebig hohe Zahl signifizieren und keineswegs gelten muß, daß n=m. Es ist vorstellbar, daß die Zahl der Attribute des Objektes als auch des Modells jeweils sehr groß, ja sogar unendlich ist, doch hat es meines Erachtens (zumindest für unser jetziges Anliegen) wenig Sinn, die Attributenzahl als überabzählbar zu nehmen. Ferner kann und wird in praxi der Fall auftreten, daß sich die Attributenmengen O und M bzw. OP und ME überschneiden, d.h. OP und ME können gewisse Attribute gemeinsam haben (und die modellierende Operation F wird dann insofern ikostrukturell, weil identisch funktionieren, als Attribute in sich selbst übergeführt werden). (back)-
17 Das Zeichen "\" wird als Abkürzung für die Subtraktion (der Elemente) einer Menge von (den Elementen) einer anderen gebraucht, deren Resultat wieder eine Menge ist. (back)-
18 Ein Characteristicum des pragmatologischen Modell-Begriffes ist es, daß Modelle selbst als Originale einer Modellierung höherer Ordnung aufgefaßt werden können (das gilt für die formal-semantische Konzeption nicht, dort ruft ein Ausdruck wie "Meta-Modell" nur Verwirrung vor). In Formeln: M2 ist das Meta-Modell (also das Modell zweiter Ordnung) eines Modells M oder M1, das seinerseits Modell eines Objektes O ist (indes man den Ausdruck "M0" für ein relatives und daher seinerseits modellierendes Original gebrauchen könnte). Daraus folgt nicht, daß auch M2 Modell von O sein muß (egal ob O hier M0 und sohin relatives Original ist oder nicht). Allgemein gesprochen, wird ein Modell der Ordnung k von einer objektivierten (semiotischen) Entität der Ordnung k-1 erzeugt. Diese mit "Ordnung" oder hochgestellten kursiven Ziffern bezeichneten Zählzeichen können als logische Typen genommen werden und entstammen der Menge der natürlichen Zahlen bzw. der Menge der ganzen Zahlen. (back)-
19 Diese Zielvorgaben Z können freilich selbst einerseits modelliert werden, andererseits abhängig von einer Theorie ThZ sein, welche z.B. bestimmte Vorgaben macht. Konventionen werden durch Theorien der Art ThZ durch eine soziale Gruppe von interagierenden Operateuren implementiert, und es stellt sich für soziale Konstruktivisten die Frage, ob nicht überhaupt die Modellierung von Attributen von solchen Konventionen abhängt. (back)-
20 Hier sei eingeworfen, daß diese "Paramter" Attribute höherer Art sind; in einer anderen pragmatologischen Modelltheorie wäre ihre Zahl vielleicht größer oder geringer (oder vielleicht gar unendlich). In der Tat ist eine statement-view der Versuch, eine Theorie nur mehr auf Parameter zu gründen, die in der Form prädikativer Attribute die Bildung von Sätzen und deren Formation und Transformation erlauben; die statement-view ist also eine bestimmte pragmatologische Parametrisierung und erzeugt dadurch eine Auffassung von Theoretizität, die rein syntaktisch-semantisch bleibt. (back)-
21 Andernorts sprach ich von (PICHLERs) Textauffassung als "algebraische Texttheorie mit konstruktivistischem Einschlag": Cf. loc. cit. sup. 7. (back)-
22 Mit "Zeichen-types" sind jetzt
keine typentheoretische Markierungen des Ordnungsgrades bzw. der Stufe
einer Modellierung gemeint. Ein Modell der k-ten Stufe, Mk,
ist selbst ein token von einem allgemein genommenen Objekt mit Zeichencharakter.
Mit "Zeichen-types" sind eben Attribute von Zeichen und nicht bestimmte
Erscheinungsbilder eines einzelnen Zeichenskripts gemeint. Ob WITTGENSTEIN
ein handschriftliches "a" einmal mit geschwungenen Linien, ein andermal
wie einen Druckbuchstaben hingesetzt hat, wird auf diesem Type-Niveau
bereits irrelevant. Daraus folgt, daß für das Ansehen von Skript-Elementen
auf type-Ebene bereits Modellierungen der jeweils wahrgenommenen
und gelesenen Skriptzeichen im Original, die ja auf token-Ebene
stehen, vorgenommen werden müssen. Cf. dazu auch: HOFSTADTER;
Douglas R. (1995): "on seeing A's and seeing As". http://www.stanford.edu/group/SHR/4-2/text/hofstadter.html
(accessed: Sept. 2000).
Wie schon andernorts betont, hat Wahrnehmung einen modellierenden Charakter
(der über sinnliche Gewißheit in gewissem Sinne hinausragt bzw.
mit dieser nichts gemein hat): Cf. GELBMANN 2000: 221ff. Dieser
Charakter, daß das Wahrgenommene modelliert und nach gewissen Attributionierungen
aufgefaßt wird, gilt auch beim Lesen. Wir erreichen also durch die
rein semiotische Überlegung am Leitfaden der type/token-Differenz
den Gedanken, daß die Attribute sowohl des Originals als auch des
Modells selbst bereits Modelle bzw. partiell Modelle vorstellen können.
Wir werden das oben noch ein wenig entfalten. (back)-
23 Ein String als eine endliche Reihe von Zeichen-tokens definiert werden, doch ihn bereits lesen zu können, heißt, ihn als eine Reihe von Zeichen-tokens zu nehmen. D.h., wir können einen String nur dann lesen, wenn er unter dem Aspekt von Zeichen-types gesehen werden kann. Es Skript-String ist dann eine endliche Reihe von Zeichen-types eines Skripts, ein Text-String wäre eine endliche Reihe von Zeichen-types eines Textes (und über die Sinnhaftigkeit eines Terminus "Werk-String" ließe sich eigens streiten). (back)-
24 Das heißt, für ein Skript Sn, dem bereits h partielle Skripte höchstens der Stufe n-1 vorausgingen, denen ihrerseits y partielle Skripte höchstens der Stufe n-2 vorausgingen (wobei h und y voneinander verschiedene natürliche Zahlen sind), etc., wobei für den Fall, daß n=1 das Skript Sn-1h selbst als eine nicht-leere Menge von Zeichen-tokens genommen wird. Dabei stehen die Indices "h", "y", "i" und "j" für natürliche Zahlen (die voneinander verschieden sein können, aber nicht müssen), um einfach die verschiedenen semiotischen Entitäten gleicher Art (sowohl gleicher Sorte als auch gleichen Typs) voneinander zu unterscheiden. (back)-
25 Dies ist freilich bereits eine konzeptuelle Vorentscheidung, denn warum sollten partielle Skripte bzw. Strings nicht einfach immer nur als token gelesen werden? Ich denke, der Begriff der Schreibhandlung steht dem entgegen, denn was der Autor aufs Papier bringt, sind zwar jeweils konkrete, physisch realisierte Zeichen-tokens, doch intendiert er sie immer schon als Zeichen-types. Der Autor schreibt ein "e" und nicht irgendetwas Geschwungenes, das als "e" gelesen werden könnte. Der Autor schreibt (im Idealfall zumindest und abgesehen von den Fällen, wo sein Schreibwerkzeug ausgleitet oder er sich unaufmerksam "verschreibt", "vertippt", etc.) das, was er schreiben will bzw. intendiert, er schreibt eigentlich ein Skript nach einem mentalen Text, ein mentales Skript von types, das sich freilich nur als token konkretisiert. Ein Skript entsteht durch Schreibhandlungen, die tokens als types lesbar machen wollen, und eine Schreibhandlung, die nicht types schreiben will, ist keine Schreibhandlung, vielmehr irgendein Kritzeln oder Zeichnen, ähnlich dem, was Kinder tun, ehe sie zu schreiben gelernt haben. (back)-
26 Es ist klar, daß der oben verwendete Ausdruck "transkriptionsdependente und -applizierte Theorie" äußerst unglücklich ist, denn das semiotische Subjekt Re kann ein Leser, der Autor selbst oder auch ein Transkribent sein. (back)-
27 In GELBMANN 2002b bezeichne ich solche nur teil-erfüllten (bzw. partiell parametrisierten) pragmatologische Theorie-Schemata als "Simulacra". Damit wäre die Schreibhandlung, die zu token führt und durch den Autor zum Schreibanfang gesetzt wird, simulakrös in dem Sinne, daß nicht anzugeben ist, wovon sie eine Modellierung erzeugt. Doch die Schreibhandlung, die tokens setzt, ist selbst eben ursprünglich, und Schreibhandlungen produzieren nun einmal tokens, genau das ist ihr Wesen. Die Konkretion von tokens ist daher keine Transformation von Attributen, und Schreibhandlungen in diesem Falle unter das pragmatologische Theoriekonzept bringen zu wollen, ist die eigentliche Quelle des Simulakrösen. (back)-
28 Man erspare mir, hier Stellen zu nennen. Jedenfalls hat sich eine Reihe von Autoren damit befaßt, cf. i.a. ALDRICH, Virgil Charles (1958): "Pictorial Meaning, Picture-Thinking, and Wittgenstein's Theory of Aspects", Mind: a Quarterly Review of Psychology and Philosophy N. S. 67: 70-79; AUSTIN, John Langshaw (1962): Sense and Sensibilia. London: Oxford Univ. Press; HARK, Michel ter (1990): Beyond the Inner and the Outer. Wittgenstein's Philosophy of Psychology. Dordrecht: Kluwer. (back)-
29 Hier ist es angebracht zu sagen, daß die Angabe der (logischen) Typen der jeweiligen Operations-Symbole F mit bestimmten Zahlen irreführend ist, denn diese Zahlen geben nur den relativen Typ in Bezug auf das Modellierungsniveau wieder. Es ist an sich leicht, diesen Mangel durch eine bessere Symbolisierung zu beheben, doch kann man das noch einfacher machen, indem man Typenzählungen als (fast) immer relativ charakterisiert. (back)-
30 Zählen zu den Schreibhandlungen,
deren Produkt(e) als Skript(e) repräsentiert werden, nicht unweigerlich
auch Lesehandlungen, sodaß in der Entstehung eines Skripts immer
schon Textierung eingebunden ist? Kann man, anders gefragt, überhaupt
schreiben, ohne sich wenigstens selbst, also das eigene Geschriebene, beim
(primären) Schreiben zumindest zu lesen?-
Ich neige dazu, dies eher zu bejahen. In der Tat ist kein Skript
erstellbar, ohne daß dessen Autor es nicht zugleich textierte;
allerdings kann der Autor im "Bewußtsein seiner semiotischen Subjektivität"
(um einen gewagten Ausdruck zu bringen) wissen, daß seine parallele
oder spontante Textierung, sein automatisches oder "intransitives Verstehen",
bloß eine von vielen möglichen Textierungen für dieses
gerade erzeugte Skript ist, und dieses Wissen kann seinerseits zur Fortführung
des Skripts beitragen.
Nun ist es aber die Meinung des Verfassers (und in diesem Punkt mag
er sich von PICHLER unterscheiden), daß der Album-Charakter von WITTGENSTEINs
Philosophischen
Untersuchungen genau diesem Erkennen entspringt: WITTGENSTEIN las sich
selbst beim Schreiben, sah die Deutungsmöglichkeiten und intendierte
keine Textierung, die nur einen nicht-albumartigen, d.h. rein linearen
Text als den Richtigen anstrebt oder anzustreben vorgibt, zugleich wollte
er aber stilistisch im Erstellen des Skripts und in seinen Schreibhandlungen
so perfekt sein, daß eine finale Version des Skripts als Werk duchgeht
und ihm als dem Autor nicht nochmals zu Skriptierungen Anlaß gibt.
Er wollte ein vollendetes Werk schaffen, das mehrere partielle Texte enthält,
sodaß es einen Album-Text vorstellt, und er wollte von vornherein
in seiner Gestaltaltung die Lesarten schon allein durch die Zusammenstellung
von Text-Abschnitten nicht auf Linearität hin ordnen. (So will ich
seine Schreibhaltung und Intention hypothetisch rekonstruieren.)
Die inhaltliche Verwobenheit der von ihm behandelten Themen spiegelt
sich in der Gestalt seines Buches wieder, deren fragmentarischer Charakter
so zum Werkcharakter wird. Es gibt eben das absichtlich erzeugte Fragment,
die intendierte Collage von Texten, das gewollte Album als Werk! Und
ich glaube, daß hinsichtlich dieses Album-Werkcharakters der
Text des Nachlaßwerkes durchaus mit dem Text des intendierten (mentalen)
Werkes WITTGENSTEINs großteils ident ist oder jedenfalls sich diesem
in genügendem Grade annähert (das genügt nämlich insoweit,
als wir überhaupt imstande sind, WITGENSTEINs Intentionen und "mentales
Werk" zu rekonstruieren, und es erscheint mir hier nicht unvernünftig,
sich mit dieser Annäherung zu begnügen, auch wenn sie möglicherweise
WITTGENSTEIN etwas unterstellt). (back)-
31 Wenn ein Text ein Aspekt eines Skriptes
ist, ein Werk aber ein rezipierter Text eines finalen Skriptes, dann ist
ein Werk ein Aspekt eines finalen Skriptes. Ein Aspekt eines Werkes wäre
dann Aspekt eines Aspektes eines finalen Skriptes, und genau das halte
ich für nicht im Begriff "Aspekt" liegend und daher für eine
semiotische Absurdität.
Der Begriff "Aspekt" kann nämlich keine höheren Stufen haben;
daher werden keine "Typen von Aspekten" betrachtet werden können,
m.a.W.: es gibt keine Aspekte höherer Ordnung bzw. Aspekte von
Aspekten. Dementsprechend wird der Ausdruck "Aspekt eines Werkes" metaphorisch
zu nehmen sein und für "andere Lesart desselben Skripts" und daher
"anders konstruierter Text" genommen werden können.
Ich räume aber ein, daß das Wort "Werk" in der Alltagssprache
und in mancher spezifischer Redeweise der Literaturwissenschaften und Philologie,
etc.
diese Engführung seiner Bedeutung nicht kennt. (back)-
32 Das Testament ist in den wesentlichen Teilen in NEDO 1993: 52 publiziert. Der mir am wichtigsten erscheinende Punkt darin ist, daß WITTGENSTEIN die Entscheidung darüber, was aus seinem Nachlaß publiziert werden soll (und das inkludiert offenbar auch Tagebücher und persönlichere Schriften), R. RHEES, G. E. M. ANSCOMBE und G. H. von WRIGHT überläßt. Mit der zitierten Bergenser elektronischen Edition des Nachlasses WITTGENSTEINs hat man nun offensichtlich den Weg beschritten und (bis auf vielleicht noch auftauchendes Material) hinter sich gebracht, alles aus diesem Nachlaß und daher den gesamten Nachlaß (soweit vorhanden) zu publizieren. (back)-
last update by G.G. on 24th April 2002