Skript, Text, Werk, Album

Zu Alois Pichlers Umgang mit Wittgensteins Schreiben

Ein Essay von Gerhard GELBMANN0

I.


Die Befassung mit den verschiedenen Editionen dessen, was auf uns als "Werk WITTGENSTEINs" gekommen ist, hat Alois PICHLER zu vier Begriffen geführt, die als "Skript", "Text", "Werk", "Album" bezeichnet werden und ein Ineinandergreifen des editorisch-philologischen Gesichtspunktes mit hermeneutisch-exegetischen Methoden anzeigt. Etwas wird als Skript, Text, Werk, Album gelesen, verstanden, interpretiert, aber auch geschrieben, geplant, intendiert. Es ist viel über das Phänomen "WITTGENSTEIN" gesagt und publiziert worden, sein Stil und seine Art zu schreiben gehören aber nicht unbedingt zu den am meisten thematisierten Gesichtspunkten, und die Frage, inwiefern dieser Stil nicht nur zum Werk gehört, sondern Aspekt des Textes, ja selbst opus ist, wurde selten gestellt. Das ist eine der Gelegenheiten, wieder der Verwobenheit von Inhalt und Form, Ausdruck und Ausgedrücktem, Stil und Gehalt, matter und manner, nachzugehen.1 Angeregt wurde diese Betrachtung freilich durch die Vor-Arbeit eines Kollegen:
 

II.


Alois PICHLER ist zumindest Eingeweihten als langjähriger Mitarbeiter an der Bergenser elektronischen Edition des Nachlasses WITTGENSTEINs, als umtriebiger Forscher, und neuerdings als Projektleiter des Bergenser Wittgenstein-Archivs (WAB) bekannt. Mir ist Alois seit Jahren Freund, kennengelernt habe ich ihn im Herbst 1997, als ich erstmals und bloß für einige Wochen am WAB forschte (denen später mehrere und längere Forschungsaufenthalte folgten). Daher ist vorauszuschicken, daß dieser -- streckenweise rezensive -- Essay nicht nur als freiwillige Fleißaufgabe, sondern von einem Freund geschrieben ist, der sich sohin vielleicht in die vermeintliche Gefahr begibt, wohlwollender als nötig, einseitig entgegenkommend und unkritisch zu sein. Doch halte ich dem entgegen, daß dieser Essay, insoweit er Rezension ist, kein (öffentlich zugängliches) publiziertes Werk und kein in einem Laden käufliches Buch betrifft, sondern auch eine Publikationsempfehlung sein soll; denn obwohl es heutzutagen ja so leicht ist, ein Fachbuch zu publizieren und es meist "allein" eine Frage von Geld ist, ist das hier zu besprechende Werk der breiteren Öffentlichkeit und auch dem Fachpublikum bisher ziemlich unzugänglich geblieben.2 Zudem wäre eine nicht in dieser Gesinnung verfaßte Kritik dem Verfasser selbst zuwider, da sie leicht in die Gefahr gerät, zu einem Verriß zu werden, oder zumindest dem zu Besprechenden in den besprochenen Zügen nicht gerecht zu werden. Mag ich also PICHLERs Anliegen und Kenntnisse in manchen Details falsch einschätzen oder unrichtig beurteilen, so sei kein Zweifel darüber offen gelassen, daß ich seine Arbeit für ausgezeichnet befinde und für ein Zeugnis einer mehr als bloß kompilierten Forschertätigkeit halte, die mit dem behandelten Material schon lange vertraut ist. Es gibt wenige Kenner des Nachlasses und Werkes WITTGENSTEINs, die seine Manuskripte und Typoskripte so genau und dank jahrelanger Forschung kennen (ich zähle mich nicht ganz zu diesem Kreis, bin aber vielleicht auf dem Wege von der Peripherie mehr innerhalb seines Umfanges zu gelangen).

Darüber hinaus ist die vorliegende Arbeit auch ein Essay, der ganz persönliche Forschungsinteressen im Blickpunkt hat und aufgrund dieser an PICHLERs Arbeit herangeht, deren partielle Lesart damit bekannt sei. Zugleich ist der Bezug zu Ludwig WITTGENSTEIN unübersehbar, doch nicht etwa allein deshalb, weil der Anlaß dieser Arbeit, eben PICHLERs verschriftlichte Überlegungen, ihrerseits deutlich mit WITTGENSTEIN zu tun hat, vielmehr weil die Auffassung dessen, was "Skript", "Text", "Werk" und "Album" vorstellen und heißen, in Bezug auf WITTGENSTEIN gemeint ist und durch dessen philosophische und schriftstellerische Arbeit hervorragend exemplifiziert und konkretisiert wurde. Der Mythos, WITTGENSTEIN habe nach der Abfassung der Logisch-philosophischen Abhandlung kein Buch/Werk mehr zustande gebracht, ist fragwürdig und wohl nur insoferne gerechtfertigt, als die von ihm zuhauf zustandegebrachten "Werke", "Texte" und "Skripte" von ihm nicht mehr in jene papierene Buchform gebracht wurden, die einem Verleger und Buchhändler, Bibliothekar und Leser eher liegen; dennoch aber hat WITTGENSTEIN zumindest mit den Philosophische Untersuchungen ein Werk vorgelegt, dem das Fragmentarische und Unfertige, das aus Skripten und Texten Zusammengetragene und in Entwicklung Befindliche, daß Nicht-Verallgemeinerungsfähige und das linear Nicht-Lesbare anhaftet und inhäreriert: Es ist Collage, Puzzle, Gewebe (und hat als solches die Textur von Text), eben "Album", wie WITTGENSTEIN selbst sagt (Philosophische Untersuchungen, Vorwort), das in der besten Absicht herausgekommen ist, ein Buch zu schreiben, welches doch immer "nur" Sammlung und Zusammenstellung philosophischer Bemerkungen bleiben wird.

WITTGENSTEIN enttäuscht gewisse Erwartungshaltungen, die an das gestellt werden, was als philosophisch zu lesender Text genommen wird. Er ist in diesem Sinne nicht klassisch, und das Aphoristische seiner Thesen mag manchem widerständig sein in einem Versuch, sich diesem Denker zu widmen. Das Widerständige ist selbst ein Charakteristikum seines Schaffens gewesen, und die Textgenese spiegelt das wieder, wie hinlänglich aus der einschlägigen Literatur bekannt. WITTGENSTEIN ist keiner, der ein angeblich großes Werk in wenigen Wochen hinwirft, um damit gleichsam alles grundzulegen, was später erhoben, über alle Spannung gehoben und aufgehoben wird. Er ist auch kein Denker, der sich selbst Kritik ersparte, und der am Ende des Lebens alle Gewißheit zu verlieren scheint und zugleich in ein Gewebe von Annahmen, zu tolerierenden, geglaubten Inhalten verwurzelt sieht, der die Möglichkeit des Zweifelns an der Möglichkeit des Wissens begrenzte.3 Er macht es einem nicht leicht, und die moderne Zeit, in die auch er geraten ist, hätte ihn vielleicht gerne rascher verdaut und einer Arbeitsteilung des Geistes fabrikmäßig unterworfen.4 Er kommt statt dessen mit einem Album einher, das in unterschiedlicher Tiefe mehrfach Verwobenes zeigt, und er hinterläßt einen Nachlaß, der in höchst unterschiedlichem Grade Zeugnis seines Denkens sein will. Hinzu kommen all die Schüler, Biographen, der Nimbus des genialischen Gelehrten im liberalen und mit Talenten gesegneten Cambridge, der Mann mit seltsamen Manieren, grober Umgangsart, erstaunlichem Verhalten, der Freund und Lehrer. WITTGENSTEIN ist vielleicht eher deshalb populär, weil er ein so eigenartiges, für unser unphilosophisches Zeitalter höchst philosophietaugliches Dasein geführt habe, weil er Sprüche klopfte und ein starkes Auftreten hatte, weil er unangepaßt war. Er war kein Mann für jede Jahreszeit.

PICHLER, so glaube ich, weiß das, schätzt manches ähnlich ein, kennt Leben und Werk WITTGENSTEINs, und legt eine Arbeit vor, die gerade dem Werk des Philosophen in seiner eigentümlichen Gestalt gerecht werden will, ohne es rein aus dem Leben und der Biographie zu ergründen. Es ist zu einfach zu sagen, WITTGENSTEIN habe halt kein Buch schreiben können und daher nur Thesensammlungen hinterlassen, schon der Tractat sei nichts Besseres gewesen als eine Thesensammlung, die halt geordnet und seltsam nummeriert sei. Es ist zu einfach zu sagen, WITTGENSTEINs Werk spiegele seine Persönlichkeit wieder. Gerade weil man solchen Psychologismus hintanhalten muß, könnte man vermuten, eine rein textimmanente Interpretation käme dem Werk am gerechtesten, d.h. man brauche den Nachlaß und die Textgenese gar nicht zu studieren, die Edition der "Werke" und v.a. des Tractatus und der Philosophischen Untersuchungen seinen "Werks genug" und müßten als selbstständige, abgeschlossene Texte für sich lesbar sein und gedeutet werden. Nun ist es gerade ein Vorzug der Arbeit PICHLERs, daß er mit der Zurückweisung des Psychologismus und der Distanz zum Heros "WITTGENSTEIN" keineswegs zu einer rein textimmanenten Lesart neigt, sondern den Werkcharakter ganz anders versteht, als man ansonsten zumeist antrifft, indem der Buchcharakter für den Werkcharakter zur Bedingung wird. Dem Verfasser fiele es nicht schwer, darauf zu verweisen, daß mit einer zu engen Bindung des Werkcharakters an einen Buchcharakter viele Philosophen gewissermaße ihrer Werke verlustig gingen (NIETZSCHE, die Vorsokratiker, aber auch die Briefschreiber wie LEIBNIZ hätten dann auf einmal ein kaum eine mit "Werk" zu bezeichnende Arbeit hinterlassen, streckenweise auch SCHOPENHAUER etc.). Das kann keine ernstzunehmende Vorgangsweise in der Philosophie sein. Philosophie ist vom Buchcharakter unabhängig, und insoferne sie mit Werkcharakter zu tun hat, muß sie keineswegs in einer Endgültigkeit münden, die der junge WITTGENSTEIN mit seinem Tractatus erreicht glaubte, als er schrieb:

Der Tractatus ist als Buch konzipiert, und wird im Vorwort "Buch" genannt. Der Buchcharakter ist hier die richtige Weise, den Werkcharakter zum Erscheinen zu bringen. Doch selbst bei diesem Paukenschlag des Jünglings ist bereits die Distanz zu spüren, die andere Auffassung dessen, was mit Philosophie und schon gar mit deren Endgültigkeit getan wird, v.a. daß es nicht darauf ankommt, was man damit erreicht hat. Philosophie läßt sich nicht ummünzen. Denn der Wert der Arbeit besteht im Aufzeigen, wie wenig mit der Lösung dieser philosophischen Probleme getan ist, wie WITTGENSTEIN schließt, und das kann man durchaus und textimmanent so lesen, daß der Werkcharakter zumindest in der Ausschöpfung durch den Buchcharakter das Philosophieren nicht ausschöpft. Philosophieren ist, wie das Leben, mehr. Von ihrem Familienleben und privaten Leben haben viele Menschen (jedenfalls ist es unter Österreichern, Amerikanern und Norwegern eine oft anzutreffende Gewohnheit) seit Generationen mit gewisser Kontinuität Photoalben zuhause, als Dokumente für das Gedächtnis, für die Konstruktion einer persönlichen oder familiären Geschichte, zum Herzeigen und zur Pflege des Ritus gemeinschaftlicher Erinnerung. WITTGENSTEIN gab uns ein Philosophiealbum als sein Werk. Das ist von vornherein etwas Anderes als ein endgültiges, gedrucktes, gelesenes und geschriebenes Buch. Philosophie gleicht sich hier dem Leben mehr an, als ein Buch es jemals könnte.
 

III.


Dem Verfasser dieser Zeilen lag die mit "Draft 22. 8. 2001" übertitelte Arbeit PICHLER 2001 vor, also eine ihrerseits noch nicht vom Autor für fertig erachtete Fassung; ohne jetzt eine "diplomatische Edition" von PICHLERs "Skript" anzustreben, also eine Repräsentation der Arbeit PICHLERs geben zu wollen, die seine Überarbeitungen und die Ergebnisse seiner Schreibhandlungen in Transkriptionen der Skripte widergäbe. PICHLER ist nicht WITTGENSTEIN, bei letzterem hat man ja mit der Bergenser Electronic Edition genau eine solche Trans-Skription des gesamten Nachlasses und Werkes (soweit aufgefunden) vorgelegt. PICHLERs, mir vorliegender Draft ist ein Computer- bzw. Typoskript, das händisch etwas überarbeitet wurde, von PICHLER selbst, wie der Verfasser dieser Zeilen vermutet (und vielleicht von anderen Lesern, Kritikern, Kollegen). Es mag angebracht sein zu zitieren, was unter den Titel auf der ersten Seite mit Handschrift noch geschrieben steht:

Ich will versuchen, dieser Einladung (denn als solche qualifiziere ich diese Bemerkung, die doch für jenen, der sie liest, zu genau diesem, an ihn adressiertem Sprechakt wird, der vielleicht die Quintessenz der wissenschaftlichen Einstellung ausdrückt) lediglich partiell (und ohne den Einladenden arg zu enttäuschen) Folge zu leisten, denn ich kann dies angesichts der mir vorliegenden rund 400 Seiten nicht in jenem Umfange tun, der nach Vollständigkeit Ausschau hält, welcher manch einer möglicherweise anstrebt. Es gibt wenig, was ich wirklich verbessern könnte; ich sehe es nicht als Aufgabe eines rezensiven Essays, den Korrektor zu spielen, und ich glaube auch nicht, daß PICHLER dies erwartet. Kommentieren kann ich einiges, doch aus meinem eigenen Verständnishorizont heraus, und darin mag PICHLER sich mitunter mißverstanden fühlen oder jenes Gefühl erleben, das man hat, wenn man merkt, daß der Kritiker eigentlich auf etwas ganz Anderes hinaus will, indem er das vorliegende, angeblich besprochene Werk zum Sprungbrett für eigene Gedankenflüge benützt. Ich will daher nicht verhehlen, daß ich hier etwas auf eine Weise liefere, die zum Teil im Thema selbst (grob gesprochen: WITTGENSTEINs Schreiben) liegt und von PICHLER op. cit. auch thematisiert wird, will nämlich fragmentarisch und aspektiv an die Sache herangehen und einige mir wichtige Punkte behandeln. Vorerst mal rein systematisch:

PICHLERs Werk (und ein solches ist es fürwahr6) hat einen seiner Vorzüge in einem, gemessen an der gesamten Textlänge, wohl gewaltigen Anhang, der einerseits in "Appendices" zu den jeweiligen Kapiteln Textgenesen der Philosophischen Untersuchungen, des Vorworts zu den Philosophischen Untersuchungen, ferner die Überarbeitungsphase des Big Typescript (i.e. TS 213) in den Jahren 1933f., sowie Entsprechungen zwischen Eine Philosophische Betrachtung (MS 115r) und Philosophische Untersuchungen (MS 142, das entspricht ca. Philosophische Untersuchungen §§1-188) behandelt, was über die sozusagen philologische Feinarbeit hinaus vor allem die These unterstützt, daß

Nach akribischen, tabularisch angelegten Textabgleichungen von hoher Verläßlichkeit folgt eine nicht allein umfangreiche, sondern auch gut gegliederte Bibliographie, die schon Vorhandenes auf einen neuen Stand bringt. Wer jemals an solchen Anhängen gearbeitet hat, die der Leser ja doch fast ausschließlich zum Nachschlagen benützt und daher relativ selten braucht, der weiß, welch dichter Aufwand an Mühe und Präzision dahinter steckt; doch Wissenschaft ist gerade ohne solche Nachschlag-Ressourcen zumindest im Fache "Philosophie" kaum vorstellbar. Diese Ressourcen haben selbst Werkcharakter, den man freilich kaum wahrnimmt und dessen Autorenschaft man für seine utilitären Interessen selten würdigt. Die Qualität eines Buches ist genau an solchen Details, die leicht unbemerkt bleiben und marginal aussehen, zu bemessen; schade, daß die Draft-Version (noch ?) kein Register der Personen und Sachthemen enthält, jedenfalls sei die (gewiß sehr arbeitsintensive) Erstellung solcher Indices angeregt.
 

IV.


Zum Inhaltlichen ist zu bemerken, daß PICHLER sein Anliegen deklariert, bricht er doch gleich in der Einleitung für einen pragmatischen Interpretationsansatz eine Lanze. Damit ist ein Interpretationsansatz gemeint, der Interpretation als weder endgültige noch bei einem und nur einem Ergebnis anlangende noch von den Interessen und intellektuellen Bedürfnissen des Interpreten völlig zu trennende Arbeit versteht. (Es geht also nicht um den engen Interpretationsbegriff, der alle vorgefundenen Thesen in einen Wahrheitszusammenhang bringen will, welcher rein für sich besteht, oder gar um eine Lektüre in Immanenz, die sich in künstlicher Ermangelung aller anderen Quellen auf eine Lesart des vorfindlichen Geschriebenen zur Interpretation eines Textes beschränkt.) Die Beantwortung seiner eigenen "methodischen Fragen" in der Auseinandersetzung u.a. mit Eike von SAVIGNYs8 Interpretationsansatz mündet gleich zu Beginn in die hochinteressante, hier fokussierte Frage

Man muß selbstverständlich im Auge behalten, daß die Textlage (oder besser: Skriptlage) im Falle "WITTGENSTEINs Nachlaß" keineswegs eine unbezweifelbar eindeutige Antwort auf diese Frage zuläßt, deren Berechtigtheit bei einem anderen Autor in der Tat mit weniger Zweifeln versehen werden könnte (sodar das Brief-Werk eines DESCARTES oder LEIBNIZ ist hinsichtlich der Skriptlage, so diese dokumentierbar und rekonstruierbar ist, eindeutiger, wiewohl beide mit ihren berühmten Korrespondenzen gerade nicht ein Werk in Form eines Buches und vielleicht auch gar keine Publikation solcher Skriptwerke intendierten, cf. sup.; nichtsdestotrotz ist anhand dieser Schriftstücke eher klar als bei WITTGENSTEIN, welches Skript zum Texte welches Werkes mit der Intendiertheit genau dieses bestimmten Werkes zu zählen ist, denn Brief und Skript, Werk und Text des Briefes sind hier relativ leicht auszumachen). Jeder, der ein wenig über WITTGENSTEIN weiß und gelesen hat, hat von dem großen Anteil an zu Lebzeiten nicht Publiziertem und vielleicht gar nicht für die Publikation in diesem unfertigen Stadium Vorgesehenen gehört, wovon WITTGENSTEIN selbst ja keineswegs die Überzeugung hegte, es habe jenen Charakter eines Werkes, den man mit den Attributen "fertig" oder "abgeschlossen" oder gar "Buch" versieht.

PICHLER führt diese Frage auf eine mehr editions- und nachlaßbezogene Vorfrage zurück, nämlich:

denn da es sich bei WITTGENSTEIN im weiteren Verständnis um einen Schriftsteller handelte (also um jemanden, der Schreibhandlungen setzt und beim Schreiben bzw. durch das Schreiben Schriftliches als Geschriebenes in Form von Dokumenten hinterlassen hat), ist mit "Werk" wohl in erster Linie etwas Textuelles (und das heißt hier: etwas Schriftliches) gemeint. Die sogenannten Text- und Werkausgaben des opus postumus von WITTGENSTEIN sind jedenfalls von ihm selbst nicht autorisiert und nicht gewissermaßen mit jenem Siegel  versehen, mit dem er selbst für die "richtige" Ausgabe etwa seiner Logisch-Philosophischen Abhandlung durch penible Korrekturen (auch für spätere Ausgaben) sorgte.11 Nach Joachim SCHULTE 1989: 52 gelten für den Werkcharakter eines Textes (der von WITTGENSTEIN stamme, jedenfalls hat SCHULTE ihn mit dieser Charakteristik im Blick) drei Kriterien (die ich etwas komprimiere):

    (1) Die erkennbare Einschätzung des Textes als eigenständiges Gebilde und Werk von Seiten WITTGENSTEINs selbst;
    (2) eine von Seiten des Lesers ausmachbare Argumentationslinie mit Thesen und Gegenthesen, inklusive Beispielen;
    (3) die stilistisch-formale Durchgesteltung des Textes, die es erlaubt, von Abgeschlossenheit zu sprechen. (sec. PICHLER 2001: 26)

Ich will dazu kommentieren: Ad (1) Es muß in irgendeiner Form als dokumentierter oder bezeugter Akt eine Autorisation vorliegen, um eine solche Einschätzung zu rechtfertigen; ein solcher Akt ist als Vollzug eines performativen Sprechaktes bzw. dessen Kodierung in schriftlicher oder sonstiger konventionell gesicherter Form anzusehen. Solches liegt in einigen Fällen dessen, was schon zu Lebzeiten WITTGENSTEINs (etwa als Blue Book) in kleiner Auflage unter Studierenden kursierte, nicht nur nicht vor, vielmehr sind gegenteilige Akte dokumentiert, die gerade die Autorisation einer Publikation bestreiten und damit die Veröffentlichung selbst im Studentenkreis als nicht gewollt kennzeichnen. Bei dem, was im Nachlaß ediert wurde, finden sich gewiß zuhauf Skripte, die nicht als Buchwerke autorisiert wurden (cf. inf.). Daher wird man "Werk" (mit Autorisation seines Autors) und "Nachlaßwerk" (dank Autorisation bzw. Edition eines Redakteurs und/oder Herausgebers) differenzieren müssen und im Falle des Vorliegens eines Nachlaßwerkes die Bedingung (1) entsprechend abzuwandeln haben.

Ad (2) Das Ausmachen einer Argumentationslinie, wiewohl Folgerichtigkeit und Logik Verbindlichkeiten darstellen, liegt zunächst bei einem Leser und dessen semiotischer Subjektivität, welche jedenfalls aus dem Skript dessen, was ein Werk zu sein erheischt, einen Text lesen muß. An diesem Punkt (2) liegt es also, daß ein Werk ein und nur ein Text sein kann, denn unter (1) könnte man auch die Eigenständigkeit eines Skriptes fassen, welches als solches ja auch autorisiert worden sein könnte.

Ad (3) Die stilitisch-formale Durchgestaltung des Textes (nicht des Werkes oder Skriptes!) heißt in meinen Augen, daß der Rezipient, der das Werk-Urteil trifft, von dem Werkskript einen Text er-lesen kann, in dessen Gestalt und Form er eben diese Durchgestaltung und Einheitlichkeit ausmachen kann. Genau diese stilistische Frage ist aber angesichts von Texten WITTGENSTEINs fraglich, denn ist je im Nachlaß die Abgeschlossenheit und Durchgestaltung oder gar der Buchcharakter erreicht? Hier werden die Gewohnheiten des Text-Lesens ein wenig an der Nase herumgeführt, die Linearität, die schon unter (2) angesprochen wird, ist jedenfalls nicht die Vorstellung oder Leistbarkeit des Schreibens eines WITTGENSTEIN. Allerdings kann auch ein Album abgeschlossen sein, als Album eben; eine Collage kann als Collage fertig sein, nämlich für das Urteil des diese Werke Produzierenden, der ja sein eigener erster Leser ist und daher einen Text des Albums, einen Text der Collage er-liest, erarbeitet, nach-vollzieht. In anderer Hinsicht, vom externen und nicht mit dem Autor identen Leser aus gesehen, mag ein Text eines albumartigen Skriptes WITTGENSTEINs er-lesbar sein, welches eben den Album-Stil bis zur Perfektion treibt. (Und das ist sogar die trivialere Antwort.)

Nach PICHLER loc. cit. steht angesichts dieser drei Kriterien der Werkcharakter des Tractatus außer Zweifel (und wir fügen hinzu: weil sein Buchcharakter außer Zweifel steht), ja sogar Philosophische Untersuchungen I seien ein (wenngleich unvollendetes) Werk nach PICHLER (dessen Buchcharakter freilich nicht so eindeutig ist). SCHULTE 1989: 53 anerkenne sec. PICHLER noch Philosophische Bemerkungen als Werk "im eigentlichen Sinne". Das Autorisationsverständnis geht für SCHULTE aber nicht so weit, wie man meinen könnte, denn für SCHULTE ist die Beurteilung der Abgeschlossenheit von der Bewertung WITTGENSTEINs unabhängig, der Leser urteile darüber. PICHLER wendet dagegen ein, daß der Vorwortentwurf aus MS 109: 204ff. vom 6. Nov. 1930 nicht für die Bemerkungen geschrieben worden sein muß, vielmehr könnte damit ein Buch "angezielt"  worden sein (PICHLER 2001: 26), womit PICHLER wieder den Werkcharakter an den Buchcharakter zu binden scheint. Hingegen sei nach PICHLER TS 209 als Zettelsammlung ein Text, der mindestens eine Stufe vor dem Werk-Stadium zu stehen komme (weil er, wie ich, G.G., kommentiere, in dieser Form niemals dem Buchcharakter genügen kann). PICHLER schlägt mit Eleganz als weiteres Kriterium noch vor

    (4) daß nur das als Werk zu gelten habe, was nicht nur abgeschlossen ist, sondern auch Vorstufen hat (PICHLER 2001: 27),

wofür er in der deutschen Übersetzung des Brown Book im zweiten Teil von MS 115 aus dem Jahre 1936 einen Kandidaten sieht (der freilich Fragment bleibe). Hieße das, daß nur Typoskripte als (Nachlaß-)Werke WITTGENSTEINs gelten dürften? Aber das Big Typescript aus dem Jahre 1933 war bei weitem nicht abgeschlossen, das ist textgenetisch leicht zu sehen, und selbst seine Manuskriptteile bzw. die handschriftlichen Überarbeitungen haben Vorstufen.12 Doch WITTGENSTEIN selbst autorisierte das Big Typescript gerade nicht als abgeschlossen oder als publizierbares Buch, und vielleicht war es für ihn nicht einmal ein abgeschlossenes Werk (die Auffindung eines Dokumentes oder Zeugnisses, das Gegenteiliges erwiese, wäre eine Sensation und für die Herausgeberschaft von Rush RHEES etc. ein Skandal13), daher ist sup. Punkt (1) in diesem Falle verletzt.

Dazu sei kommentiert (um die Zahl der Anmerkungen einzuschränken): Es gibt den Fall, daß etwas vom Autor als Werk insoferne angesehen wird, als er es "abgelegt" hat, ohne daß er es als "abgeschlossen" oder "Buch" oder "publizierbar" autorisiert. Es ist dann opus ad acta, sozusagen ein vom Autor nicht mehr berührter oder auf aufgegriffener Strang seiner Gedankengänge, ein Dokument, das dem Autor fremd wurde. Oftmals vernichten Autoren solche opera ad acta, doch nicht minder häufig geraten sie in den Nachlaß, wiewohl sie vielleicht gar nicht als Nachzulassendes, als der Welt zu Vermachendes gedacht waren. Werden sie dann dennoch ediert, so sind sie wohl als Nachlaßwerke herausgegeben und von den Nachlaßherausgebern autorisiert. Vielleicht aber sind es auch Schriften, die der Autor der Nachwelt nicht zudachte (oder zumindest nicht der Öffentlichkeit oder gar Menschheit), etwa genau in dem Sinne, in dem Tagebücher geschrieben sind, eben Dokumente des eigenen Arbeitens, Erlebens, Denkens, aber nicht unbedingt aus einem bestimmten Bereich der Privatsphäre hinaustragend. Im Big Typescript hat WITTGENSTEIN ein Buch angestrebt, das steht fest, doch er hat das Werk nicht bis zur Buchreife gebracht, und ob es Werkreife hat und nicht selbst Vorstufe zu Späterem darstellt, ist eine schwierige Frage des Ermessens. Daß es aufbewahrt blieb, mag seinem Willen zu danken sein, der über die vielen Jahre hinweg, die es schon vor seinem Tod abgelegt war, nicht unbedingt als WITTGENSTEINs letzter Wille gelten kann (wohl aber, daß es in der einen oder anderen Form publiziert wurde, denn WITTGENSTEINs Testament räumt dies den Trustees ein, cf. inf. Anm. 32).-

PICHLER plädiert im weiteren dafür, daß mit der Ausgrenzung gewisser Schriften aus den eigentlichen Werken keineswegs deren Inhalt minder ernst zu nehmen sei. Das heißt doch, daß die Nachlaßeditionen ihrem Gehalt nach den vom Autor selbst autorisierten, eigenen und vielleicht gar herausgegebenen Werken nicht nachgereiht werden dürfen. Damit ist ganz allgemein zu sagen, daß Schriften bzw. Dokumente  zu lesen sind, auch wenn man des Epitheton "Werk" für sie nicht beanspruchen will. Doch ist eben die Frage, was dann als Inhalt solcher Schriftdokumente "textiert", als deren Text er-lesen wird. Nach PICHLER -- und das könnte man meiner Ansicht nach als Kriterium Nr. (5) der Liste hinzufügen -- stehe die Werkfrage im Zusammenhang mit der Publizierbarkeit des Nachlasses in handhabbaren Ausschnitten (das gilt also zum Nachlaßwerkcharakter); die Editionsarbeit an einer Gesamtausgabe hat diesbezüglich ohnehin nur Teile des Nachlasses zu edieren, ohne die Werkfrage endgültig zu beantworten. Die bereits erfolgten Editionen der Nachlaßverwalter scheinen ja ein vertretbares Ergebnis an "Werken" erbracht zu haben, die sich in der Fachwelt nicht nur Anerkennung, sondern nach wie vor fleißiger und kaum bestrittener Benützung zur Referenz und Zitation erfreuen.

Doch muß man sich im Klaren sein, daß mit dieser sozio-pragmatischen Erwägung und Begründung die Autorisation dessen, was als Nachlaßwerk angenommen wird, auf die Gemeinschaft einer Fachwelt geschoben wird, konventionellen Charakter bekommt und der Autorisation durch den Autor dieser Skripte entzogen ist und bleibt. Es könnte, wenn man dies bis zum Äußerten treibt (ohne daß im Falle WITTGENSTEINs dafür ein Skript als Kandidat vorgeschlagen sei), so weit führen, daß ein vom Autor verworfenes und der Vernichtung zufällig entgangenes Skript als Nachlaßwerk "fremd-autorisiert", ediert, publiziert und WITTGENSTEIN als Werk zugeschrieben wird. Das mag eine etwas absurde Übertreibung sein, doch ist der Fall für immer und unter allen Umständen als unmöglich (um nicht das Unwort "a priori" zu gebrauchen) auszuschließen? (Gibt es vielleicht gar einen "religiösen Glauben an den Werkcharakter" eines Skriptes, welchen dieses zu einem werkgetreuen Text in einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung erhebt?)
 

V.


Die "Gretchen-Frage" des Werk-Problems verortet PICHLER dann in folgendermaßen:

Das geht den Kern des Problems an, das ich nunmehr mit dem Vorteil des Überblickes, den ein Kritiker haben kann und beanspruchen darf, als ein semiotisches klassifizieren will. PICHLER führt eine Unterscheidung ein, die sich meines Erachtens in einen umfassenderen semiotischen oder vielleicht pragmatologischen Rahmen fügen läßt, was gleich anschließend versucht sei (cf. inf. VI.). Die Unterscheidung differenziert "Skript" von "Text" (was wir implizit bereits gebrauchten und voraussetzten, sodaß der werte Leser eines Textes dieses elektronischen Skripts die Gelegenheit hat, sich der Definition der maßgeblichen Termini zu widmen). PICHLER fügt hinzu, daß "objektiv" nur die Skripte seien, nicht die Texte (und schon gar nicht die Werke, sieht sich der Vf. zu ergänzen veranlaßt). Doch was ist hier mit "objektiv" gemeint? In einem physischen Substrat verkörpert? Implementiert in einer decodierbaren Weise? Intersubjektiv als Textträger wahrnehmbar, als solcher wahrgenommen?- Jedenfalls scheint der Sinn von "Objektivität von Skripten" als Ausgang für die Modellierung eines Textes aus Skripten und sohin als relatives Original eines Textes, welchen so ein Skript "trägt", konstruiert werden können. Doch das Werk, das in einem (er-lesenen) Text erblickt wird, ist dann in einem anderen Verständnis "objektiv" als das Skript, wiewohl es eine Gültigkeit beansprucht, die nicht privatim bleibt und intersubjektiv vermittelbar sein will. Ein bestimmtes Werk in Vollgültigkeit sozusagen als mentales Dokument in Form eines vorerst skriptlosen, zu verschriftlichenden Textes vor Augen und im Sinne zu haben, ist am ehesten noch dem Autor zuzusprechen, ehe er überhaupt mit Schreibhandlungen anfängt, sozusagen noch bevor die Creatio einsetzt; in diesem Sinne wäre dann der im Skript repräsentierte Text nicht Werkträger, sondern das Skript wäre vom Werk in seiner Prä-Form des mentalen Dokumentes getragen, indem es den Text des Werkes ermöglicht. Damit wäre das Werk Skriptträger und das Skript Textträger (indes der Ausdruck "Werkträger" sinnlos und leer ist).

Daran sei angefügt, daß für mich das Interessante des vorangegangenen Absatzes nicht in der Frage nach "Objektivität" liegt, sondern in der seltsamen Umkehrung, die mit dem Uranfang des Werkes als mentales Dokument (skriptloser Text) gelungen ist. Die Werk-Idee eines Autors (bzw. die Nachlaßwerk-Idee eines Editors) ist "objektiv", insofern sie zu einem Original einer gestaltenden Modellierung und als zu Repräsentierendes anleitet, deren Text dann vor dem Skript da ist, ohne daß er gelesen oder geschrieben wäre. Ist das nun ein Paradox der Schreibhandlung? Ein Spiel mit Worten? Es ist vor allem ein Versuch, dem Autor ein Wissen um das Werk zuzuschreiben, das jenem des Lesers vorausgehen muß, selbst wenn der Leser der Autor selbst ist, ein Wissen, das in jedem Falle Intentionen enthält und realisiert (und das keineswegs alles an Wissen erschöpft, das in diesem Bereich zur Anwendung kommt, denn in manchem Sinne weiß der Leser wieder mehr als der Autor, und der Autor als sein eigener Leser mag von sich selbst überrascht sein). Der Begriff des mentalen Dokumentes, der sonst leicht als "Erinnerung" oder "Gedanke" abgetan wird, führt etwas in das Verständnis des Werkcharakters ein, das man bislang vermißt haben könnte. Schreiben fängt nicht mit den Tintenhügeln und Bleistifterosionen des Papiers an.
 

VI.


Ich will und kann in der hier gebotenen Kürze nicht all den Beispielen nachgehen, die PICHLER 2001: 28ff., instruktiv und immer exakt am Nachlaß bleibend, entwickelt. Ich sehe es vielmehr als eine philosophische Gelegenheit, der sich der produktive Rezensent nicht entziehen mag, dem nachzugehen, was ich oben schon andeutete und worin ich mich glücklich schätze, PICHLERs Gedankengang in Nähe zu meinem eigenen jüngeren Denkweg zu sehen. Ich meine damit jene Überlegungen zur pragmatologischen Modelltheorie im Ausgang von Herbert STACHOWIAK, die ich in jüngerer Zeit anstellte.15 Dazu will ich rasch zwei Konzepte einführen, das des "(pragmatologischen) Modells" M und das der "(pragmatologischen) Theorie" Th.

Zum Ersten: Ein (pragmatologischen) Modell M sei eine Menge von Attributen, d.h. die Elemente dieser Menge M sind Attribute, die der Zahl nach zählbar, wenngleich unendlich sein können. Kurz: A1, A2, A3, etc. Ein Attribut kann hierbei eine Eigenschaft, eine Qualität, eine Farbe, eine Relation, eine Relation von Prädikaten, eine Relation von Relationen, ein Zustand, auch eine Qualität von Prädikaten, etc. sein (cf. STACHOWIAK 1973: 134), und wir wollen selbstverständlich nicht ausschließen, daß ein solches Attribut bereits seinerseits modelliert ist (das wird für die Token/Type-Differenz wichtig werden).

Es ist wichtig anzumerken, daß der Ausdruck "Modell" hier nichts mit Erfüllbarkeit zu tun hat (das wäre der Zugang, den man von der formal-semantischen bzw. formalistisch mathematischen Seite her kennt, doch dieser Zugang zu diesem Term führt zu einem anderen Konzept, das rein äquivok mit demgleichen Wort bezeichnet wird); im formal-semantischen Verständnis einer sog. statement-view wäre ein "Modell" eine Interpretation einer (kalkülgemäß gebauten, deduktiven) Theorie, welche alle Sätze der Theorie wahr macht (gegeben die Wahrheit ihrer Prämissen), d.h. diese erfüllt. Doch der hiesige Begriff des (pragmatologischen) Modells betrachtet gar keine Sätze, schon gar keine Kalküle, vielmehr entstammt er einer non-statement-view (und hat darum den touch von Pragmatik). Das Konzept des (pragmatologischen) Modells gilt einfach der operationalen Abbildung von Attributen einer Entität, die dann "Objekt", kurz O, genannt wird, in die einer anderen Entität, die dann "Modell", kurz M, heißt (wir wollen hier einfügen, daß es auch Auto-Modellierungen gibt, indem eine Menge von Attributen einer Entität in sich bzw. in eine Untermenge von diesen Attributen derselben Entität abgebildet werden; gewisse, gar nicht so seltene Fälle von Skript-Produktion werden auch diesen Charakter aufweisen).

O und M sind dann jeweils Attributenklassen, wobei aus O eine Operation F (die sog. "ikostrukturelle Funktion" der attributenabbildenden Modellierung) Attribute der Subklasse OP auswählt und in Attribute der Subklasse ME überführt: ME=F(OP). Gewisse Attribute von O={B1, B2, B3, B4, B5, B6, ... Bn}werden hierbei ausgelassen und finden sich nicht in OP, das mit OP={B3, B4, B5, ... Bn-4} aufgezählt sei. Ebenso finden sich gewisse Attribte von M={A1, A2, A3, A4, A5, A6, ... Am} nicht in z.B. ME={A4, A5, ... Am-5}.16 Die präterierten Objektattribute werden nicht modelliert, die überzähligen sog. abundanten Modellattribute sind kein Ergebnis einer Modellierung, wohl aber Teil des Modells: Die Menge der abundanten Attribute von M wäre bei diesem Beispiel MA={A1, A2, A3, Am-4, Am-3, Am-2, Am-1, Am}. In den meisten Fällen einer Modellierung (etwa eines Autos durch ein Spielzeugauto oder eines Gebäudes durch ein architektonisches Modell) wird gelten, daß weder OP={} noch daß ME={}, aber auch daß weder (O\OP)={} noch (M\ME)=MA={}.17 Dieses Modellkonzept ist ein intensionales, doch die Darstellung in Mengenschreibweise ist mitunter rein extensional, betrifft dann aber Charaktere, die ihrerseits intensional sein können.

Zum Zweiten: Eine (pragmatologische) Theorie Th sei eine aus fünf Relata, den sog. "Parametern", gebildete geordnete, fünfstellige Relation Th=<O, M, k, t, Z>, wobei "O" und "M" wieder für "Objekt" und "Modell" (im pragmatologischen Sinne18) und damit für Attributklassen stehen, cf. sup., "k" einen Operateur oder Akteur bezeichnet, der ein semiotisches Subjekt sein wird (bzw. eine Person), indes "t" für einen Zeitpunkt und "Z" für eine bestimmte pragmatische Interessenlage bzw. (wenn man mehr kybernetisch denkt und näher an STACHOWIAK bleibt) für eine (externe) Zielvorgabe steht.19 Sohin erscheint eine Theorie nicht mehr im neo-positivistischen (oder sonstigen) Verständnis einer statement-view als deduktive Ordnung von (hypothetischen) Sätzen, sondern ihrer schematischen Form nach als ein Tupel von fünf Paramtern,20 die kybernetisch in soziologischer Implementation zusammen wirken in der Art, daß der zweite Paramter eine modellierende Abbildung des ersten unter der Führungsgrößte des fünften Paramters als Resultat einer Operation des dritten Paramters zu einem als vierter Paramter gegebenen Zeitpunkt ist, wobei dieser Prozeß durch Rückkoppelung so lange wiederholt werden mag, bis mit dem Erreichen der Zielwerte Z dieser Prozeß ein Ende findet und als "Modell" M das gewünschte Produkt bzw. die gewünschte Transformation von (Attributen von) O in M erscheint (und wobei jeder Parameter selbst unter die Kategorie des seinerseits Modellierten fallen kann).
 

VII.


Wie ist diese Konzeption, die ja doch sehr schematisch verbleibt, auf PICHLERs Verständnis von "Skript", "Text" und "Werk" zur Explikation dieser Termini anzuwenden?- Nun, das ist ein gewisses Wagnis, wie jede Applikation, doch verspreche ich mir davon einen praktischen Gewinn, insoferne die ein wenig relativistische klingende Text- und Werkauffassung PICHLERs21 besser verständlich wird und sich durchaus klar analysieren läßt mit Formeln und Zeichen, ganz in der Art vieler moderner, logisch-analytisch orientierter Philosophen.

Zuerst einmal zum Ausdruck "Skript": Ich würde sagen, ein bestimmtes Skript S (ob nun etwa ein Manuskript oder Typoskript WITTGENSTEINs) kann durch eine Menge von perzeptions- und trainingsabhängig erkennbaren Attributen charakterisiert werden, die, grob skizziert, Merkmale umfassen wie "in der Handschrift WITTGENSTEINs gemalter Buchstabe" inklusive weiterer Schrift- und Zifferzeichen des Deutschen, aber auch des Französischen, Englischen sowie des Arabischen und Römischen mathematischen Ziffern- und Zeichensatzes (wie er in Europa üblich ist), mit den üblichen diakritischen, Klammern- und Satzzeichen. Die Sache ist nicht ganz so trivial, wie sie hier dargestellt wird, da in den Manuskripten nicht nur die "offiziellen" Schriftzeichen (wie Buchstaben, Beistriche, Apostrophe oder Umlaute) auftauchen, sondern auch Qualitäten und Modifikationen dieser Schriftzeichen feststellbar sind, welche z.B. Durchstreichungen, Hochstellungen, Einfügungen, vor Absätzen gestellte Merkzeichen, etc. betreffen. Ich bin hier nicht imstande, eine genaue Aufstellung all der Elemente zu geben, die wir als die Attributenmenge eines Skripts S konstituierende ansehen wollen. Es ist klar, daß die Transkriptionsarbeit darin bestand, diese Zeichen insgesamt zu erfassen und elektronisch zu kodieren; das Code-Book am WAB ist die dafür zu konsultierende Ressource. Die (germanistische, österreichische) Diplomarbeit Alois PICHLERs (op. cit. inf. 3) liefert einen (nicht-quantitativen)

Im weiteren zählt PICHLER 1997a: 121f. dann auf, welche Arten solcher Zeichen-types22 er unterscheiden würde. Es ist klar, daß die Anzahl dieser finit ist, doch sie abzuschätzen, fällt gar nicht so einfach, wenn man einrechnet, daß WITTGENSTEIN die Eigenart hatte, bestimmte Absätze eigens zu markieren, verschiedene Formen der Hervorhebung zu benutzen, mitunter kleine Bildchen neben einige Zeilen oder zwischen sie zu zeichnen, etc. Es ist z.B. schon eine schwierige Sache zu entscheiden, ob solche Kritzeleien und Skizzen als Zeichen eines Skripts im Sinne von Schriftzeichen (im weitesten Verständnis des Wortes) bzw. als Zeichen-types aufzufassen sind; erkennt man sie nicht als solche an, dann wird man sie auch nicht transkripieren, sondern wohl als Original bzw. Graphik direkt übernehmen bzw. abbilden (d.h., das Modell übernimmt dann einfach Attribute des Originals). Eine konkrete Zahl hier zu nennen, birgt gewisse Gefahren, doch nach mündlichen Gesprächen und eigenen Abschätzungsversuchen dürfte sie mit ca. 200 nicht zu hoch angesetzt sein (doch selbst wenn es 1000 solcher Zeichencharaktere bzw. Types wären, ist das eine Größe, die in der praktischen Transkriptionsarbeit eines Teams wohl handhabbar bleibt). Man beachte, es ist von einer bestimmten zählbaren finiten Menge von Zeichen-types die Rede, jedes von ihnen kann theoretisch für eine praktisch unendliche (aber abzählbare) Anzahl von tokens in scriptu stehen.

Nun wird es wohl angebracht sein, die Elemente des Skripts wie die Elemente eines zu modellierenden Originals attributiv zu charakterisieren. D.h. diese Zahl von Zeichen-types wird wohl für eine erste Angabe der Attributenzahl des Originals herhalten. Darüber hinaus wird es noch Attribute wie "Unterstrichen" und andere Modifikationen von Typesetc. geben, die man ihrerseits als bereits modelliert ansehen kann, indem sie auf schon vorhandene Skript-Elemente (Zeichen-tokens in concreto, in der Transkription auf Zeichen-types) appliziert werden. Hiermit erreichen wir (nochmals und diesmal in der Applikation) den für die pragmatologische Modelltheorie interessanten Punkt, daß Attribute bereits selbst Modelle sein können (cf. sup.), etwas, was wir zum Verständnis des Skript-Begriffes unbedingt brauchen. Denn nach wie vor ist es nicht so einfach und allgemein entscheidbar oder festzustellen, was nun wirklich ein Schriftzeichen bzw. Skriptzeichen bei WITTGENSTEIN ist.

Es ist klar, daß die Buchstaben und sonstigen allgemein in unserer Kultur gebräuchlichen, durch Schreibhandlungen (im weitesten Sinne) produzierbaren und reproduzierbaren Zeichen als Skriptzeichen und damit in Form von Zeichen-types als Attribute eines Skript-Originals zu verstehen sind. Doch wenn man den Begriff der "Schreibhandlung" nach PICHLER loc. cit. sup. nimmt, dann wird man bestimmte Zeichen-types (und ohnehin jedes oder fast jedes Zeichen-token) als bereits einer Handlung bzw. Modellierung entstammend betrachten können, insbesondere die von WITTGENSTEIN selbst erfundenen und spezifisch angewandten Zeichen. Dies setzt voraus, daß man dieses pragmatologische Konzept der Modellierung innerhalb einer pragmatologischen Theorie allgemein genug nimmt, um Schreibhandlungen zu umfassen. Damit wird ein Skript oder bloß ein String23 eines Skripts (kurz: Skript-String) bereits zu einer Mischung von basalen oder originalen und bereits modellierten Attributen bzw. (minimalen, partiellen) Modellen. Wie nun ein Token im konkreten Ko-Text eines Skripts bzw. im Kon-Text einer Rezeption gelesen wird, d.h. als was es genommen und als welcher Type es gelesen wird, ist selbst zum Teil von dem abhängig, was ich oben als "pragmatologische Theorie" schematisierte, d.h. abhängig von bestimmten konventionellen, soziologischen Gegebenheiten ihres Modellierens seitens der jeweiligen "am Werke befindlichen" semiotischen Subjektivität des Operateurs dieser Modellierungen im Rahmen von pragmatologischen Theorien, abhängig von bestimmten Interessenlagen und Zielvorstellungen, und natürlich auch von bestimmten historischen, situativen Gegebenheiten.

Ein Chinese ohne Kenntnis des lateinischen Alphabets wird ein handschriftliches "e" in einem Skript WITTGENSTEINs unter Umständen als etwas ganz anderes sehen oder lesen als ein Germanistikprofessor in Wien, insbesondere wenn es ohne Ko-Text genommen wird. Die Transkriptionsarbeit wird mitunter solche Debatten (etwa über die von WITTGENSTEIN verwendeten "Sonderzeichen" und spezifischen Tokens) sehr pragmatisch und simplifiziert führen müssen bzw. geführt haben, einfach um Resultate zu liefern (schließlich gibt es auch noch externe Faktoren wie Kostendruck und Verträge, Erwartungshaltungen und spezifische soziologische Bedingungen, unter denen solche Arbeit statthat, welche auf dokumentierbare Ergebnisse drängen).
 

VIII.


Nun, für ein Skript Sn der Bearbeitungsstufe n läßt sich folgendes rekursive Schema (eigentliche eine Matrix) schreiben, wobei wir für die Zeichen-types das Symbol "TypZi", für die theorieabhängige Modellierung von Strings das Symbol "MTh", für die dabei wohl transkriptionsdependente und -applizierte Theorie das Symbol "ThT" und für Zeichen-tokens das Symbol "TokZj"24 gebrauchen:

    (A) Sn-1h={TypZ1, TypZ2, TypZ3, ..., TypZi}
    (B) (x) (x=TypZ --> x=MTh) mit MTh=F1Th{TokZ1, TokZ2, TokZ3, ..., TokZj}
    (C) ThT=<{TokZ1, TokZ2, TokZ3, ..., TokZj}, MTh, Rez, t, Z>
    (D) Sn=F2Th{Sn-11, Sn-12, Sn-13, ..., Sn-1h}
    (E) ~N(F1Th=F2Th)

Dies ist zu erläutern: Die Zeile (A) besagt, daß jedes partielle Skript Sn-1h mindestens eine Stufe unter dem betrachteten Skript Sn aus Zeichen-types besteht.25 Die Zeile (B) ist ein Versuch zu explizieren, daß, wenn etwas ein Zeichen-type ist, es nach einer Funktion der (relativen) ersten Stufe aus Zeichen-tokens theorieabhängig modelliert wurde (wobei dieser Fall einer pragmatologischen Theorie hier kultur- und sprachabhängig sein wird), wobei die Zeile (C) diese dabei angewandte Theorie ThT je nach der Rezeptionsleistung des semiotischen Subjekts Re Zeichen-tokens zu einer Menge von Zeichen-types modelliert, gemäß einer Interessenalge Z und zu einem Zeitpunkt t.26 Die Zeile (D) sieht nun das gesuchte Skript Sn als Resultat einer Operation mit den Teil-Skripte Sn-11 bis Sn-1h, wobei hier eigentlich wieder eine Akt "pragmatologischer Theorie" bzw. eine Schreibhandlung in der Charakterisierbarkeit pragmatologischer Theoretizität einfließt, welche in diesem Schema nicht mehr ausgedrückt wird (implizit aber im Zeichen "F2Th" vorhanden ist; wie jede Modellierung, geschieht auch die Operation dieser im Rahmen eines pragmatologischen Theoriekonzepts). Ich halte es aber für nicht zu vernachlässigen, daß in Zeile (E) konstatiert wird, daß die beiden Operationen, die einerseits zu den Teil-Skripten gemäß F1Th und andererseits zum vorläufig endgültigen Skript Sn nach F2Th führen, nicht notwendigerweise ident sein müssen (was sicherlich vorsichtig gesagt ist).

Ad Zeile (C) will ich außerdem noch kommentieren, daß im Falle eines Lesers oder Transkribenten der Zeitpunkt t deutlich nach jenem Zeitpunkt liegen wird, zu welchem die Zeichen-tokens bzw. die ursprüngliche Schreibhandlung gesetzt wurde, was quasi als Th0q=<-, TokZq, Au, 0, P> zu schematisieren wäre.27 Hierbei stehe das indizierte (subskribierte) "q" für "beliebig", "Au" für "Autor", die Null "0" für den Zeitpunkt der ersten Schriftlegung als jenen der ersten Schreibhandlung überhaupt, indes "P" jene Interessenlage des semiotischen Subjekts "Autor" bezeichne, die dank Phantasie und Vorstellungskraft diesen zum Schreiben bringt. Das Minus "-" an der Stelle des Objekt-Parameters soll aufzeigen, daß hierfür keine originären Vorgaben mehr auszumachen sind bzw. rein mentale Dokumente vorliegen, die in Gesamtheiten von Schreibhandlungen Realisierung finden (die Fähigkeit zu schreiben und zu denken, irgendwelche mentalen Modellierungen zu vollziehen, etc., werden wir als der ersten Schreibhandlung vorausgehend annehmen können, doch deren Attribute zu charakterisieren ist uns nicht gegeben bzw. nicht in der schematischen Allgemeinheit möglich, deren wir uns hier bedienen, doch soll dieser Essay ja Schreibhandlungen ja nicht selbst ihrem Zustandekommen bzw. ihrer dispositionalen Ermöglichung nach behandeln). Wir gehen davon aus, daß jemand, der schreiben kann, dies bereits auch mentaliter kann, ohne sich der physischen Konkretisierung in tokens bedienen zu müssen, und daß er/sie diese Fähigkeit immer schon vor jedem konkreten Schreibakt hat, der tokens hinterläßt, die als types lesbar sind.

Diese Darstellung erlaubt es uns schon jetzt, noch ehe wir den Text-Begriff behandeln, zu verstehen, daß in die Erstellung eines Skripts durch Schreibhandlungen pragmatische Theorien- und Interessenelemente einfließen, die bereits aspektiv und prozessual festlegen, welche Zeichen-types in die vorgefundenen Zeichen-tokens quasi hineingesehen werden. Ich bin der Ansicht, daß die Erstellung eines mentalen Skripts von types den Lesevorgang ausmacht (aber auch dem Schreibvorgang vorausgeht), oder jedenfalls ist es meine Intention und Hoffnung, daß man zu dieser Auffassung vordringt, wenn man dem bisherigen Gedankengang gefolgt ist. Es ist klar, daß es ohne Lesen keine Transkription gibt, und es ist weiters klar, daß hier eine seltsame Schleife statthat, daß man nämlich WITTGENSTEIN schlecht transkripieren kann, ohne den Inhalt v.a. seiner Betrachtungen zum "Sehen Als" und zum "Aspektwechsel" zu be(tr)achten.28
 

IX.


Zur Charakterisierung des Text-Konzepts wollen wir uns der gleichen Methodik bedienen, freilich in etwas anderer Applikation. Wir setzen voraus, daß bereits Skripte existieren (d.h. wir bleiben die Charakterisierung des Konzeptes des "skriptlosen Textes des mentalen Dokumentes" schuldig). Dann ist das, was wir aus einer Menge von Skripten als Text gewinnen, wieder das Resultat einer Modellierung, die, wie jede (pragmatologische) Modellierung, im Rahmen einer (pragmatologischen) Theorie vollzogen wird. Ich will das, diesmal kürzer, schematisieren, wobei "TXcb" für Text der Lesart (oder "Textierung") b stehe (im Unterschied zu einem Text der Lesart a, also "TXca"), indes "Sc-11", "Sc-12", ..., "Sc-1d" wieder für (partielle) Skripte 1 bis d der Stufe c-1 geschrieben und die sonstigen Zeichengebräuche beibehalten sind:

    (1) TXcg=F3Th{Sc-11, Sc-12, ..., Sc-1d}
    (2) ThT=<{Sc-11, Sc-12, ..., Sc-1d}, TXcg, Rez, t', Z'>
    (3) (x) (x=TXcg --> x=Sce) mit TXc+1a=F4Th{Sc1, Sc2, ..., Sce},29 wobei für ein beliebiges Skript aus dieser Menge gilt:
    (4) M(Sc-1q=Sqq ),

Man gestatte mir, das zu kommentieren: Die Zeilen (1) und (2) sollen zeigen, daß ein Text TXcg aus Skripten gebildet wird, die um mindestens eine Stufe der Modellierung darunter liegen, wobei die Attribute der Skripten durchaus bis auf das unterste Niveau eines Zeichen-tokens bzw. konkreten Schriftzeichens bzw. Resultates eines Schreibhandlung genommen und in solche abgebildet werden können. Diese Textierung wird durch einen RezipientenRez der Skripte vollzogen, welcher wiederum derselbe Autor dieser Skripte sein kann, der damit zugleich zu deren Leser wird; doch ein Text kann auch durch einen Transkripteur, einen Editor, etc., aus Skripten (mental) erzeugt werden, v.a. insoferne in diese redaktionell "eingegriffen" wird. Der Zeitpunkt t', zu welchem dies geschieht, ist unter Umständen mit der Erlebenszeit des semiotischen Subjektes, das als Autor bzw. Leser fungiert, nicht kommensurabel und daher typographisch abgesetzt symbolisiert. Für die Interessenlage gilt dasselbe, auch sie mag sich zu derjenigen, die für die Erstellung von Skripten galt, geändert haben. Die Zeile (3) wirft nun das aus, was jene kennen, die in WITTGENSTEINs Nachlaß Einblick haben und/oder selbst so schreiben, indem sie auf den Text vorliegender Skripte zurückkreifen, nämlich daß ein Text, wie relativ er immer aus Skripten und Schreibhandlungen bzw. Textierungen gewonnen sein mag, selbst wieder zum Skript verschriftlicht und damit zur (relativen) Primärquelle von Schreibhandlungen und Textierungen werden kann. Es ist außerdem zu beachten, daß es meines Erachtens noch unausgemacht ist, ob Textierungen Schreibhandlungen sind, wenn man unter letzteren das eng verstandene "Skriptieren" nimmt und nicht "Lesehandlungen" zählt.30

Vieles, was mit den Attributen geschieht, die aus Schreibhandlungen auf Skript-Niveau geliefert werden, ist bei Textierungen gerade zu den Schreibhandlungen inkommensurabel und/oder abundant. Wenn z.B. in einer Textierung eine Tabelle erstellt (d.h. vorgestellt) wird, welche dann einem edierenden Skript erläuternd beigefügt wird, so ist das für den entstandenen Text als Rezeption des (relativ originalen) Skripts wichtig, aber möglicherweise im rezipierten Skript so nicht vorhanden. Es gibt sicherlich bessere Beispiele  -  WITTGENSTEIN scheint jedenfalls beim Textieren und skriptierenden Überarbeiten von Skripten und schon Textiertem soetwas wie "neue Schreibhandlungen" auf token-Niveau angewandt haben, das sind jene Zeichen, die er handschriftlich in die oder über die bzw. an Stelle der jeweilige/n Vorlage fügte, inklusive vielleicht auch der Handhabung von Schere und Kleber, die für das skriptierte Produkt der (mentalen) textierenden Modellierung notwendige Mittel, wenngleich selbst nicht unbedingt in deren Resultat repräsentiert waren.

Schließlich hält sup. die Zeile (4) fest, daß es möglich ist, daß ein beliebiges Skript der unter dem Text liegenden Stufe ident mit einem beliebigen (anderen) Skript ist (und diese Aussage ist nur sinnvoll, wenn man von Strings als Zeichen-types spricht), d.h. daß zur Textierung von Texten auch Skripte herangezogen werden können, die bereits in andere Texte oder Skripte eingearbeitet sind oder jedenfalls auf einer Stufe der Schreib- und Modellierungshandlungen liegen, die weit unter der jetzigen Textierung steht, sodaß der Autor beim Überarbeiten schon vorhandener Skripte hermeneutische Arbeit an daraus entstehenden Skripten leisten muß, um dann ein Skript und einen Text zu produzieren, der den jetzigen Stand markiert (wobei der mentale Text bzw. das Leseverständnis, das der Autor von diesem letzten Skript hat, keineswegs verbindlich oder gar der einzige diesem Skript entsprechende Text sein muß). Dies ist in meinen Augen der Punkt, wo man Skript und Text als prozessuale, aufeinander folgende Aspekte dessen zu sehen lernt, was "Werkhandlung" oder "Creatio" genannt werden kann; doch ein "(rezipiertes) Werk" selbst will dann nicht mehr Aspekt eines Textes, sondern ein Text des finalen Gesamtskriptes sein, dem Werkcharakter zukommt.
 

X.


Die Deutung eines Werkes kann freilich Aspekte des Textes vor Augen führen, doch kann ein Werk für den Rezipienten im Augenblick einer konsistenten Werkinterpretation nicht mehrere Texte zugleich enthalten, vielmehr kann der Leser als Rezipient des finalen Skriptes dieses einmal unter dem Aspekt jenes Textes, ein anderes Mal unter dem Aspekt eines anderen Textes auffassen und so gesehen das Werk als etwas jeweils Anderes rezipieren.31 Man kann den Text der Bibel lesen als theologischen Traktat oder als historiographisches Material; das Skript ist dasselbe, doch die Texte nicht, und abhängig von den Texten wird man unter dem Werk "Bibel" Verschiedenes verstehen. Man könnte fragen, ob der Gesamtcharakter des Werkes nicht alle Texte, die das finale Skript aspektiv zuläßt, umfaßt  -  doch in diesem Verständnis ist das Werk offen, denn wie will ein einzelnes semiotisches Subjekt feststellen, ob es alle Aspekte des Skriptes erfaßt und daher alle möglichen Texte erlesen hat? Erst eine Sozietät semiotischer Subjekte wird eine "regelgerechte" oder "verbindliche" Werktreue durch eine Praxis und konventionelle Regelung erzwingen, und dann hängt der Gesamtcharakter des Werkes eben von der Lebensform der Rezipienten ab.

Das (verfaßte, nicht mehr rein mentale) "Werk" schließlich ist etwas, was diesen modellierenden und theoriebeladenen Abfolgen von Skriptierung und Textierung relativ äußerlich sein kann. Den Werk-Begriff zu explizieren, kommt in meinen Augen nun um eine bedeutsame Fragestellung nicht herum: Geht es beim Werk (I) um die Handlung, die spezifisch charakterisiert ist (als Schreibhandlungen, Performationen von mentalen Texten, etc.), oder (II) um die Repräsentation ihres Resultats (also des Ergebnisses von (I))?

Im Lichte des schon Gesagten ist wohl darauf zu verweisen, daß der Werkcharakter unter Umständen den Schreibhandlungen (inkl. Lesehandlungen), also Skriptierungen und Textierungen, relativ fremd oder besser: extern ist. Das semiotische Subjekt als Autor ist unter Umständen im Augenblick und Geschehen der einzelnen Schreibhandlungen nicht zu jener Objektivierung fähig, die es beurteilen läßt, ob das zuletzt erstellte Skript nun "Werk" ist und damit die Arbeit ein Ende gefunden hat  -  die Arbeit des Schreibens natürlich, nicht die Arbeit des Lesens (und auch nicht zwangsläufig die Arbeit des Autors, welcher als Leser seines eigenen Werkes ja zu neuen, anderen, werk-fremden Schreibhandlungen angeregt werden kann; der Autor ist eben einmal unter dem Aspekt des Schreibenden, dann wieder unter dem Aspekt des Lesenden des eigenen Geschriebenen und der Skripte anderer tätig). Wird aber die Objektivierung, die dem finalen (vorfindlichen) Skript "Werkcharakter" zuspricht bzw. durch Edition ein finales Skript erstellt, von einem anderen semiotischen Subjekt als dem Autor vorgenommen, von einem Redakteur oder Editor, dann ist die Zusprechung des Werkcharakters ohnehin der ursprünglichen, autorisierten Schreibhandlung fremd. Das kann soweit führen, daß Skripte als ein Text gelesen und finalisiert werden, die vom Editor als Werk gelten und publiziert werden, ohne daß der Autor sie überhaupt in einen Text bzw. mit der Intention eines Werkes geschrieben hätte.

Die Repräsentation einer Werkhandlung, sec. sup. (II), wird in meinen Augen immer eine mentale sein, doch heißt das keineswegs, daß sie privat ist oder nicht von mehreren Personen mitvollzogen werden könnte. Ein Buch, als opus genommen, ist nichts Physisches, ist kein Skript, sondern der gelesene oder besser: zu lesende, zum Lesen aufgegebene Text dessen, was als finales Skript und die Intentionen des Autors oder Editors erreichend genommen wird. Bereits der Text ist etwas Mentales und Konstruiertes, doch darum keineswegs etwas Privates, Subjektives, da die Regeln, nach denen diese mentale Konstruktion vonstatten geht, nicht privat und nicht als Regel rein subjektiv sind (wiewohl man ihnen alleine und nur einmal folgen kann). Der mens, der hier in Anwendung kommt, ist Wesen semiotischer Subjektivität, d.h. eignet einem (personalen) Subjekt, welches freilich in seinem semiotischen Tun an soziale und sprachliche, kommunikative und die Codierung betreffende Voraussetzungen gebunden ist, in Sprachspielen und Lebensvollzügen steht. Lesen ist eine praktische Tätigkeit, keine theoretische; es hat mit Regelfolgen in bestimmten Umständen zu tun, und es setzt das Teilen einer Lebensform insoferne voraus, als dem gelesenen Skript Decodierbares entnehmbar sein muß in einer Weise, die auf allgemeine Regeln der Codes zurückgreift. Das Werk kann auch nur darum auf Öffentlichkeit hin orientiert sein, weil das Verstehen geschriebener Sprache an den öffentlichen Charakter von Sprache (und anderen sozialen Zeichensystemen) gebunden ist. Publiziert wird ein Skript eigentlich immer in der Annahme, daß es Werkcharakter (oder Nachlaßwerkcharakter) hat und daher ein Text eines als Ganzes genommenen Skriptes ist bzw. sein kann.
 

XI.


Die oben genannten Bedingungen  für den Werkcharakter (1)-(3) sec. SCHULTE 1989: 52 und (4) sec. PICHLER lauteten:

    (1) Die erkennbare Einschätzung des Textes als eigenständiges Gebilde und Werk von Seiten des Autors selbst;
    (2) eine von Seiten des Lesers ausmachbare Argumentationslinie mit Thesen und Gegenthesen, inklusive Beispielen;
    (3) die stilistisch-formale Durchgesteltung des Textes, die es erlaubt, von Abgeschlossenheit zu sprechen. (sec. PICHLER 2001: 26);
    (4) daß nur das als Werk zu gelten habe, was nicht nur abgeschlossen ist, sondern auch Vorstufen hat (PICHLER 2001: 27).

In vielen edierten Manu- und Typoskripten WITTGENSTEINs ist wohl die Kondition (1) nicht erfüllt, daher ist die Herausgabe des Nachlasses nach meinem Dafürhalten nur mit Vorbehalt als "Werk" zu titulieren (daher sprachen wir vom "Nachlaßwerkcharakter"). Vielleicht mag man dafür besser den Term "Nachlaßwerk" reservieren, für dessen Charakter dann eben eine entsprechende Dispension bzw. Modifikation der Bedingung (1) gilt. Viele dieser Manu- und Typoskripte sind keine vom Autor als finale autorisierten Skripte (und wenn man das eng nimmt, dann wären die uns bekannten Philosophischen Untersuchungen in der Edition von G. E. M. ANSCOMBE, G. H. von WRIGHT und Rush RHEES auch kein Werk, sondern "nur" Nachlaßwerk, und ich füge hier hinzu, daß RHEES' Edition der Philosophischen Grammatik in dieser meiner Terminologie Nachlaßwerkcharakter hat, womit die Frage, inwieweit das Big Typescript nicht das zu edierende Werk gewesen wäre, müssig ist, weil dieses eben kein vom Autor anerkanntes Werk war bzw. ist und daher ohnehin nur als Nachlaßwerk edierbar ist).

Die Bedingung (2) ist wohl erfüllt, zumindest meist und bei allem, was bereits herausgegeben ist (es sei denn, man hängt Thesen an, die WITTGENSTEIN Dyslexie attestieren).

(3) ist eine aus jetziger Sicht unglückliche Formulierung, denn eine stilistisch-formale Gestaltung des "Textes" kann nicht die Abgeschlossenheit eines Skriptes liefern, vielmehr ist der Text das hermeneutische und mentale Produkt der Rezeption von Skripten bzw. eines finalen Skriptes (dann kann man ihn "Text des Werkes" nennen). Dennoch würde ich sagen, daß die Herausgabe der Skripten WITTGENSTEINs jedenfalls finale Skripte angestrebt hat und auch aus WITTGENSTEINs Selbstäußerungen entnommen werden kann, daß sein Schreiben solches (zumindest mitunter) anstrebte. Die Abgeschlossenheit dieser Skripte wurde freilich oft oder gar zumeist nicht vom Autor WITTGENSTEIN selbst erreicht, sodaß hier bereits (neben Selbst-Redaktion) Redaktionen für Editionen durch andere Personen vorliegen.

Der Punkt (4) erscheint mir klar zu sein, wenn nicht trivial, da jedem publizierbaren Werk ein Skript vorliegt, der zumindest partiell für den Autor schon Text war. Ist das Skript ein finales Skript und damit die Intention des Autors, einen bestimmten Text durch es zu repräsentieren und lesbar zu machen, (für den Autor oder Editor) erreicht, dann liegt dem Werk bereits mit dem Vorhandensein nur einer einzelnen Schreibhandlung, die ein Zeichen-token als Zeichen-type sieht (d.h. als solches schreibt und liest), bereits eine Vorstufe vor. Werke fallen nicht vom Himmel  -  sie müssen in Konkretionen der Creatio repräsentiert werden, bleiben aber darum keineswegs in ihrem Nachvollzug und ihrer Erfassung, in ihrer Rezeption und in ihrem Verstehen darauf beschränkt. Das wiederum führt uns zu der bekannten hermeneutischen Einsicht, daß die spezifische Werkhandlung sec. sup. (I) nicht alleine dem Autor angelastet bleiben darf, um zu Repräsentationen sec. sup. (II) zu führen, vielmehr sind die Repräsentationen des Werkes der Gemeinschaft von Leser und Autor aufgetragen und daher ihrerseits immer schon ein sozio-semiotisches Ereignis bzw. eine sozio-semiotische Geschichte.
 

XII.


Ein letztes Wort zu diesem Punkt dieses Essays, der durch eine Arbeit PICHLERs (ja durch ein Werk PICHLERs) angeregt wurde: Ein finales Skript habe WITTGENSTEIN mit seinen Philosophischen Untersuchungen angestrebt. Welcher Instanz obliegt es, das zu beurteilen? Nun, der semiotischen Subjektivität des Autors bzw. Herausgebers (und angesichts eines vorliegenden Corpus bestimmter Skripten können deren Meinungen diesbezüglich durchaus variieren), und natürlich jedem Kenner und Leser der Skripte, Texte, Werke, Alben.

Ich will damt eigens darauf hinweisen, daß für die Aktuierung semiotischer Subjektivität immer pragmatologische Theoretizität appliziert wird, d.h. es gibt an diesem Punkte ebenfalls die Abhängigkeit von pragmatischen, situativen, kontextuellen, historischen, interessesensitiven Entscheidungen. Nichts zeichnet ein Werkskript in diesem Sinne von anderen Schreibhandlungen aus, als eben das Gefühl oder die Befriedigung jenes semiotischen Subjektes, welches in ihm ein endgültiges Stadium festzumachen glaubt. Die Perfektion oder Abgeschlossenheit muß dabei keineswegs heißen, daß es nicht Fragment sein darf, denn ein Fragment kann duchaus angestrebtes Werkphänomen sein! (Auch ein Fragment kann in seiner Fragmentarizität eine Perfektion für sich erreichen.)

Ebenso kann ein Nachlaßwerk vom Autor angestrebt sein (was vielleicht ab einem bestimmten Stadium eine heimliche Überlegung WITTGENSTEINs war, sein Testament läßt meines Erachtens diese Spekulation zu32)  -  man sollte nicht den Aspekt außer Acht lassen, daß Skripte fabriziert werden, die gar nicht für die Publikation als Werke zu Lebzeiten des Autors gedacht sind, sondern von vornherein dem Nachlaß zu Lebzeiten des Autors von diesem selbst zugerechnet werden (ohne oder mit Hinsicht darauf, daß dieser Nachlaß später als Nachlaßwerk ediert und publiziert wird). Eine gewisse Pietät mag da insofern angebracht sein, als Tagebücher in meinen Augen z.B. genau diesen Charakter haben; der Tagebuchcharakter ist kein Werkcharakter in dem Verständnis, daß damit Veröffentlichbarkeit verbunden sein muß oder Publikationsintention wie bei einem Werk zu Lebzeiten gegeben ist. Nichtsdestoweniger sind die Tagebücher (soweit aufgefunden) WITTGENSTEINs als Nachlaßwerke ediert  -  doch das lag offenkundig in den Intentionen der Nachlaßverwalter, und mir ist kein Zitat WITTGENSTEINs bekannt, wo er eine solche Intention geäußert oder uns überliefert hätte. Das soll nicht heißen, daß ich mich gegen die Nachlaßedition der Tagebücher (oder etwa der Briefe) stelle  -  bloß ist nur mit Vorsicht diesen jener Werkcharakter zuzusprechen, der als der vom Autor intendierte gelten möge.---




 

Anmerkungen:


0 Verfaßt im April 2002 am Wittgensteinarkivet ved Universitetet i Bergen WAB. Ich, G.G., lege keinen Wert darauf, ohnehin bekannte Werke für diese Arbeit genau zu zitieren, daher ist keine Bibliographie angeführt. Bücher und Aufsätze (inklusive eventueller elektronischer Dokumente), deren Bekanntheitsgrad als hoher nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, sind dann in Anmerkungen zitiert (nach der sog. "Harvard-Zitation", nach welcher auch auf sie referiert wird). Dieser Essay ist als elektronisches Dokument konzipiert und wird als solches im Internet öffentlich zugänglich gemacht.
Ich danke Alois PICHLER für Anregungen und Hinweise, Kritik und Verbesserungsvorschläge, aber auch Herbert HRACHOVEC, mit dem ich bereits früher (wohl im Frühjahr 1998 in Norwegen und nochmals in Wien im Jahre 1998 oder 1999 bei einer Radio-Sendung) über dieses Problemfeld und seine Kritik an RHEES und NEDO sprach. Ferner bin ich für die intellektuelle Atmosphäre, die mich hier in Bergen kreativ und zu meiner Zufriedenheit arbeiten läßt, gerne all den Kollegen hier verbunden. (back)-


1 Cf. GELBMANN, Gerhard (2000): Die pragmatische Kommunikationstheorie. Rekonstruktion, wissenschaftsphilosophischer Hintergrund, Kritik. Dissertation, Universität Wien; Frankfurt am Main: DHS; GELBMANN, Gerhard (2002c): Observations on Transaction. A Discussion of Watzlawick’s Second Axiom. Frankfurt am Main: Peter Lang (forthcoming). (back)-


2 Cf. PICHLER, Alois (2001): Wittgensteins 'Philosophische Untersuchungen': Vom Buch zum Album.- (back)-


3 Cf. WIITGENSTEINs Über Gewißheit und MALCOLM, Norman (1986): Wittgenstein: Nothing Is Hidden. Oxford: Blackwell, loc. cit. S. 201ff.- (back)-


4 Ich kann mir hier eine zeitkritische Anmerkung nicht verkneifen: WITTGENSTEINs berühmtes Privatsprachenargument kann man auch politisch lesen, indem es folgenden Satz, der doch so sehr unser neo-liberalistisches Zeitalter kennzeichnet, zurückweist: "Privately I can follow any rule!".- (back)-


5 Ich gebe handschriftliche Einfügungen kursiv wieder, in Manuskriptpassagen Hervorgehobenes sind (kursiv und) unterstrichen gebracht. Zitate aus Typoskriptpassagen werden unverändert belassen. Wo PICHLER mitunter doppeltes "s" statt dem scharfen "ß" setzt, gebe ich ihn oder anderes in der mir geläufigen (alten) Orthographie des Deutschen wieder. Weiter möchte ich meine editorische Arbeit nicht treiben (auch, um nicht in den Ruf einer leichten Ironie zu geraten, da PICHLER doch genau in diesem Felde sozusagen am Nachlaßleib WITTGENSTEINs einiges geleistet hat). (back)-


6 Die Frage nach dem Werkcharakter von WITTGENSTEINs Schriften ist einer der zentralen Punkte in PICHLERs Arbeit, der sich schon in seiner Diplomarbeit ankündigte, cf.: PICHLER, Alois (1997a): Wittgenstein und das Schreiben: Ansätze zu einem Schreiberporträt. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. (back)-


7 PICHLERs Zitationsweise arbeitet mit subskribierten römischen Ziffern "i" und "ii" für den ersten und zweiten Teil eines Skripts. In Zitaten stammen in eckigen Klammern eingefügte Textteile vom Rezensenten, i.e. G.G., Auslassungen sind als eckig eingeklammerte drei Punkte gekennzeichnet.
PICHLER ist übrigens schon einmal mit einer Teilbearbeitung dieser frühen Fassungen der Philosophischen Untersuchungen hervorgetreten, cf. PICHLER, Alois (1997b): "Wittgensteins Philosophische Untersuchungen: Zur Textgenese von PU §§1-4", Skriftserie fra Wittgensteinarkivet ved Universitetet i Bergen 14. (back)-


8 Cf. SAVIGNY, Eike von (1988): Wittgensteins 'Philosophische Untersuchungen'. Ein Kommentar für Leser. Bd. I und II. Frankfurt am Main: Klostermann; SAVIGNY, Eike von (1996): Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins 'Philosophische Untersuchungen'. München: dtv. (back)-


9 PICHLER stellt diese Frage mit Hinweis auf Joachim SCHULTE (1989): Wittgenstein. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, und auf Josef G. F. ROTHHAUPT Farbthemen in Wittgensteins Gesamtnachlaß. Philologisch-philosophische Untersuchungen im Längsschnitt und in Querschnitten. Weinheim: Beltz Athenäum. Cf. i.a. PICHLER, Alois (1992): "Wittgensteins spätere Manuskripte: einige Bemerkungen zu Stil und Schreiben", Mitteilungen aus dem Brenner Archiv 12: 8-26; PICHLER, Alois (1993b): "What is Transcription Really?". In: The 1993 Joint International Conference, The Association for Computers and the Humanities, The Association for Literary and Linguistic Computing. Georgetown University, Washington D.C. 16th-19th June 1993. Conference Abstracts 88-91; PICHLER, Alois (1995): "Transcriptions, Texts and Interpretation". In: Culture and Value. Beiträge des 18. Internationalen Wittgenstein Symposiums 13.-20. August 1995, Kirchberg am Wechsel. 690-695. (back)-


10 Die systematische Vorfrage, nämlich "Was ist (überhaupt) ein Text?" bleibe hier ausgeklammert, nicht zuletzt weil sie sehr schwierig und in dieser Allgemeinheit kaum beantwortbar ist. Doch es sei immerhin erwähnt, daß der Rezensent sich ihr bereits in Auseinandersetzung mit Alois PICHLER gewidmet hat, cf. die elektronische Notiz GELBMANN, Gerhard (1998, 1999): "Was ist das, »Text«? Eine Anmerkung zum Unverständlichen einiger Selbstverständlichkeiten", http://h2hobel.phl.univie.ac.at/~yellow/textual/textual.htm (last update Feb. 1999). Die Antwort, die ein wenig frech dort gewagt wird, lautet:

Diese Antwort, mag sie sonst nicht ganz passen, hat in Anbetracht von WITTGENSTEINs Nachlaß eine gewisse Relevanz; denn es gibt kaum einen Satz in diesen vielen überarbeiteten Manuskripten und Typoskripten, in all den Vorgängerversionen dessen, was später in der Werkausgabe erschien, auf den nicht innerhalb des Gesamtwerkes in irgendeiner Form Bezug genommen würde, meist indem er überarbeitet wurde, mitunter auch, indem er selbst zitiert wird oder in einen anderen Kontext eingeordnet wird bzw. gerät, sodaß in der Tat im Nachlaß "keine ungehobenen systematisch-philosophischen Schätze" (PICHLER 2001: 23) insofern vorhanden sind, als die Werkausgaben (als "normalized transcriptions") eben die wahrscheinlichen Endversionen dieser Sätze und Notizen, Zettel, Bemerkungen, Manuskripte und Typoskripte liefern. Es ist klar, daß diese Werkfassungen Texte sind, sowohl vom Alltagsverständnis her gesehen, als auch nach der eben vorgestellten Definition.
Doch auch inhaltlich muß man WITTGENSTEIN ein eigenes Textverständnis zubilligen, insofern dann Text bzw. die Arbeits- und Schreibweise dieses Philosophen selbst das widerspiegelt, was er wohl ab dem Blauen Buch unter "Sprache" versteht, welche sich ebenfalls als ein Gewirr und Gewebe von familienähnlichen Verweisstrukturen voller Abzweigungen und ohne der Vorgabe eines Ideals zu gehorchen enträtselt.
Beide Punkte sind, so liest der Rezensent "seinen" PICHLER, dem Albumcharakter des angestrebten Werkes, der Philosophischen Untersuchungen, inhärent und entsprechend. In einem gewissen Sinne kann man sogar sagen, daß Sprache als Ganzes Albumcharakter hat und Text ist oder besser: immer wieder wird. (back)-


11 Cf. i.a. McGUINNESS, Brian; SCHULTE, Joachim (Hrg.) (1989, 2001): Ludwig Wittgenstein. Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Siehe auch WITTGENSTEIN, Ludwig (1973): Letters to C. K. Ogden with comments on the English translation of the Tractatus Logico-Philosophicus. Edited by G. H. von Wright, with an appendix of letters by Frank Plumpton Ramsey. Oxford: Blackwell. (back)-


12 Cf. KRÜGER, Heinz Wilhelm (1993): "Die Entstehung des Big Typescript". In: Wittgensteins Philosophie der Mathematik. Akten des 15. Internationalen Wittgenstein-Symposiums 2: 303-312; KENNY, Anthony (1976): "From the Big Typescript to the Philosophical Grammar", Acta Philosophica Fennica XXVIII, 1-3: 41-53. (back)-


13 Rush RHEES hat bekanntlich 1969 die Philosophische Grammatik großteils aufgrund des Big Typescript von 1933 herausgegeben, freilich unter Berücksichtigung von WITTGENSTEINs Anweisungen zur Umarbeitung dieses TS 213 (das seinerseits auf TS 210 und TS 211 beruhte). Es besteht kein Zweifel, daß RHEES dabei einer (von ihm so nicht deklarierten) Editions-Strategie folgte, die danach fragte, was WITTGENSTEIN gewollt hätte, dessen Vertrauen er sich aus persönlicher Freundschaft und wegen des Auftrages im letzten Willen RHEES sich sicher war. Cf. RHEES, Rush (1977); edited and introduced by PHILLIPS, Dewi Zephaniah (1996): "Discussion. On Editing Wittgenstein", Philosophical Investigations 19: 55-61. D. Z. PHILLIPS loc. cit. kommentiert und publiziert einen Brief von RHEES (dessen Adressaten PHILLIPS nicht offenlegen will), geschrieben am 2. März 1977 als "a response to some adverse criticisms of his editorial work". Vom Anfang des publizierten Briefes allein kann man leicht erraten, daß RHEES sich hauptsächlich gegen KENNY 1976 verteidigt. PHILLIPS lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß RHEES' editorische Arbeit als "interference" und sogar "scandal" attribuiert wurde. Doch RHEES' "scholarship" und sein "unparalleled knowledge of Wittgenstein's work" muß in meinen Augen auf jeden Fall anerkannt und gewürdigt werden. PHILLIPS macht es klar, daß er folgendes will: "to point out that he [RHEES; G.G.] had such a conception [of editing], and [...] was prepared to defend it." Aber PHILLIPS, wie PICHLER, ich und andere, kommt ebenso zu der Konklusion: "[it] cannot be sustained that there is only one conception of editing", und RHEES "ignored its elementary requirements" (PHILLIPS op. cit. S. 57).
Ohne den ganzen Brief zu zitieren, sei vorweg RHEES zugestanden, daß er zweifellos mit gutem Willen und mit der Absicht handelte, dem letzten Willen WITTGENSTEINs bestmöglich (d.h. nach Maßgabe von RHEES' Kenntnissen und Können) zu entsprechen. Andererseits sagt er dezidiert:

RHEES war also der Überzeugung, er habe, aufgrund der Freundschaft mit und Einsicht in die Arbeitsweise und Philosophie von WITTGENSTEIN, Kenntnis dessen, was WITTGENSTEIN gewollt hätte bzw. angestrebt hätte, wäre WITTGENSTEIN bei der Editionsarbeit zugegen und befragbar gewesen. Es ist freilich eine Tatsache, daß WITTGENSTEIN eben zu Lebzeiten ein solches Werk nicht fertigstellte, wenngleich vielleicht zeitweise anstrebte. RHEES beruft sich darauf, daß WITTGENSTEIN ihm und ANSCOMBE vertraute und es deren Urteil überließ, was ausgelassen werden sollte und was nicht. Das muß respektiert werden, zumal es durch das Testament dokumentierbar ist. In diesem Sinne hat ein Autor seine eigenen Nachlaßherausgeber autorisiert (das war z.B. nicht bei MONTINARIs Edition NIETZSCHEs der Fall).- RHEES Brief ist in emotionalem Ton geschrieben, doch gerade in Anbetracht dessen, was mit PICHLER "Schreibhandlung" zu nennen ist, muß man RHEES Recht geben, wenn er sagt: RHEES spielt darauf an, daß die Skript-Lage von TS 213 (und anderen Quellen) eben mehrere Lesarten eines Textes, mehrere Text-Lagen zuläßt. Welche Textlage ist zu edieren? Seiner Meinung nach das, was WITTGENSTEINs Willen näher kommt bzw. entspricht, und RHEES glaubt mit gutem Grund, diesen Willen eher erforschen zu können bzw. zu kennen, als andere. Eigentlich wäre für RHEES nur noch eine diplomatic version als Edition der Skript-Lage möglich gewesen, ohne eine endgültige Text-Lage zu edieren, doch darauf würde er vielleicht sagen, daß dies nicht in WITTGENSTEINs Sinn war. RHEES wollte ein Werk als Nachlaßwerk herausgeben, das von ihm edierte Nachlaßwerk sollte dem Werk der WITTGENSTEINschen Intention nahe kommen, zumindest zu jener Zeit, als WITTGENSTEIN diese Werke schrieb. Daher wehrt sich RHEES gegen die naive Anforderung, man hätte TS 213 "as it stood" herausgeben sollen  --  denn es ist eben nicht klar, auf welche Skript-Lage dieses "as it stood" referiert! Um editorische Entscheidungen, welche Textlage man in der Skriptlage sieht, kommt man nicht herum (auch dann nicht, wenn man den Willen WITTGENSTEINs nicht kennt, nicht erfüllen will, nicht nachzukommen versucht).- Der spürbare Zorn bei RHEES macht sich noch in Worten Luft, die nachher bei der Betrachtung von KENNYs Kritik nochmals zur Erhellung aufgesucht werden sollten: Aus diesen Bemerkungen rekonstruiere ich (im Einverständnis wohl mit Alois PICHLER), daß die Annahme plausibel ist, RHEES habe eine bestimmte Schaffensphase aus dem Leben WITTGENSTEINs herausgegriffen, weil diese Phase offensichtlich ein Werk anstrebte, um danach eben editorisch vorzugehen. RHEES ist nicht frei von der Rhetorik, mit der sich jener zornig und verletzt verteidigt, der sich ungerechtfertigt angegriffen fühlt: RHEES wehrt sich auch dagegen (und das ist ein Punkt, der die Interessensensitivität dessen zeigt, was als Text eines Werkes wahrgenommen wird) anzunehmen oder zu vermeinen (wie KENNY 1976 es tut), es gäbe einen kontinuierlichen Übergang vom Big Typescript (bzw. der Philosophischen Grammatik) zu den Philosophischen Untersuchungen. Das untermauert in meinen Augen RHEES' Überzeugung, aus welcher sich seine Lesart der Skript-Lage speist, daß er die Text-Lage im Sinne WITTGENSTEINs sieht und daher dessen Willen kennt. Der mentale Text, den WITTGENSTEIN anstrebte, mag in der Tat für RHEES ebenfalls ein mentaler Text eines zu edierenden Werkes sein  --  doch nachvollziehbar ist das wohl für keinen sonst. Wenn man aber davon ausgeht, wofür RHEES gute Gründe hat, daß ein solches Werk angestrebt war und sich eindeutig von der teilweise vielleicht gleichzeitig vonstatten gehenden Arbeit an den Philosophischen Untersuchungen unterscheidet, dann kann RHEES subjektiv gar nicht Unrecht damit haben, sozusagen an Stelle von WITTGENSTEIN dessen damaliges Werk als Nachlaßwerk fertigzustellen bzw. edieren, mit all der Sorgfalt, die RHEES abzusprechen, dieser als Beleidigung empfinden mußte und durfte (das wollen wir ihm zugestehen).-
Der Titel "Philosophische Grammatik", den RHEES dem von ihm edierten Nachlaßwerk (um nicht von "RHEES' Nachlaßwerk" zu sprechen) gab, anstatt es z.B. trocken "Großes Typoskript" zu taufen, taucht bereits im Juil 1931 (in MS 110: 254) auf und wird Ende Nov. 1931 als Überschrift zu Band IX verwendet (in MS 113), er bildet auch die Überschrift zu Band X im Mai 1932 (in MS 114: 1r); cf. KENNY 1976: 42. Der erste Teil der Philosophischen Grammatik und ihr Titel beruht auf MS 114ii (also auf den zweiten Teil von MS 114); cf. PICHLER, Alois (1994): "Untersuchungen zu Wittgensteins Nachlaß". Skriftserie fra Wittgensteinarkivet ved Universitetet i Bergen 8: 124 Anm. 60. Der Titel scheint also für WITTGENSTEIN selbst nach längerem Erwägen so festgestanden zu haben, und für RHEES' Edition (von deren "policy" er nicht sprechen will) ist damit seine Titelwahl gerechtfertigt. Fassen wir zusammen, was die Editionsinteressenlage bei RHEES betrifft:
Rush RHEES hat mit seiner Herausgabe also ein bestimmtes Arbeitsstadium WITTGENSTEINs zu Beginn der Dreißiger im Auge gehabt (so eine wahrscheinliche Vermutung), und die Edition der Philosophischen Grammatik ist eine spezielle Nachlaßwerkedition (natürlich autorisiert von den Trustees, abgesichert durch das absolute Vertrauen von WITTGENSTEIN, dokumentiert durch das Testament, das in diesem Punkt keine Unklarheiten offen läßt). Das ist eine Edition, die keineswegs zum Ziele hatte, das sagenumwobene Big Typescript als solches herauszugeben, welches bekanntlich gar nicht abgeschlossen und von WITTGENSTEIN selbst nicht als Werk (als fertiges Buch) betrachtet wurde (wiewohl KENNY 1976: 41 mit G. H. von WRIGHT nicht darauf hinzuweisen vergißt, daß der dritte Teil von TS 213 sogar aus der Sicht des Autors relativ abgeschlossen war). Michael NEDO spricht davon, daß die Komplexität der Überarbeitungen WIITGENSTEINs zu einem "virutellen Manuskript" führte, cf. NEDO, Michael (1993): Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe. Einführung -- Introduction. Wien: Springer in op. cit. S.82, cf. ebenso PICHLER 1994: loc. cit.; ich, G.G., lese diesen Ausdruck "virtuelles Manuskript" als "Hypertext" (oder als "Text" im Sinne meiner eigenen alten Definition, cf. sup. Anm. 10).
Nun wurde RHEES vorgeworfen, er habe mit seiner Herausgabe der Philosophischen Grammatik ein Werk WITTGENSTEINs konstruiert, er hätte das Big Typescript in der Form von TS 213 edieren sollen. KENNY loc. cit. drückt sich anfangs vorsichtiger aus, scheint aber zu diesem Schluß zu kommen; Anthony KENNY hatte ja 1974 die von R. RHEES 1969 besorgte Ausgabe der Philosophischen Grammatik ins Englische übersetzt: Doch sind diese Worte KENNYs unweigerlich und zwingender Anlaß, RHEES Vorwürfe zu machen? Müssen sie (von uns) so gelesen werden? KENNY legt in seinem paper dar, inwiefern RHEES editorisch eingegriffen hat und eingreifen mußte. KENNY fährt fort (und das kann man auch als Verteidigung manch editorischer Entscheidung lesen): Diese, gekürzt wiedergegebenen Überlegungen KENNYs erweisen in meinen Augen mit den letzten Sätzen deutlich, daß RHEES eben ein Nachlaßwerk WITTGENSTEINs herausgegeben hat und kein genuines, autorisiertes Werk WITTGENSTEINs (auch wenn RHEES dabei WITTGENSTEINs Willen möglichst erfüllte), und daß KENNY dies (vielleicht nolens volens) anerkennt, da ein solches autorisiertes Werk von diesem selbst gar nicht vorlag, vielmehr nur als "virtuelles Manuskript" bzw. "im Fluß befindliches Schreiben". Eben im Wissen darum, daß nicht klar zu sagen ist, wo ein solches Werk beginnt und sich an welchem Punkt eindeutig von den Philosophischen Untersuchungen abgrenzt, ist eine editorische Entscheidung unumgänglich, will man überhaupt etwas edieren, was im Nachlaß befindlich und noch nicht zugänglich ist, ohne den gesamten Nachlaß herauszugeben (was in Buchform meines Erachtens, trotz NEDOs Unternehmung der Wiener Ausgabe, letztlich nicht möglich ist, weshalb die Bergenser elektronische Edition eben die einzige andere Alternative ist, die Nachlaßwerkcharakter und Werkcharakter wieder näher und ohne allzu große editorische Eingriffe zusammenführen will, die, mit anderen Worten, die editorische Intervention minimieren und auf Transkription beschränken will). Also selbst wenn man dem Kontinuitätsargument zustimmt (was RHEES nicht tut, cf. sup.), bleibt die Notwendigkeit der editorischen Interferenz und des mitunter willkürlich wirkenden Eingriffes prinzipiell unvermeidbar.
RHEES hat die Entscheidung anders getroffen, als KENNY sie getroffen hätte; ein anderer Herausgeber hätte sie vielleicht wieder anders getroffen, denn jeder Herausgeber liest aus der Skriptlage eine möglicherweise andere Textlage (an diesem Punkt waren wir schon, ein Text ist ein Aspekt eines Skripts, aber beileibe nicht der einzige, und das trifft auch auf die Lesarten zu, die Herausgeber und Nachlaßverwalter oder deren Übersetzer bewerkstelligen). Es kann offenbar rein prinzipiell gar nicht die einzige und korrekte, autorisierte Nachlaßwerkedition geben. Ein Nachlaßwerk spiegelt gerade in solch schwierigen Fällen wieder, was an Interessen, Absichten und Vorstellungen der Herausgeberschaft vorlag und in die Arbeit einfloß; RHEES las WITTGENSTEIN anders als KENNY. RHEES ist der Überzeugung, mehr oder weniger WITTGENSTEIN so zu lesen, wie WITTGENSTEIN sich selbst gelesen hätte, indes bei KENNY solche Überzeugungen nicht herauszuspüren sind, KENNY aber auch nicht mit dieser persönlichen Nähe und Kenntnis privilegiert ist, die RHEES eben in Anspruch nehmen darf. RHEES hatte ganz offenkundig nicht das Interesse, ein von WITTGENSTEIN selbst (großteils) als unvollendet liegengelassenes Werk (i.e. TS 213) als Nachlaßwerk zu edieren, sondern er wollte soetwas wie eine Kompilation und Rekonstruktion einer bestimmten Arbeitsphase inklusive deren intendiertem Werk-Stadium erreichen, die er, aufgrund der Skriptlage und der Titel-Geschichte, mit "Philosophische Grammatik" richtig überschrieben sah.
KENNY kommt zu folgendem Schluß, der bislang oft als Kritik an der Edition RHEES gelesen wurde, die aber in meinen Augen eben nicht zwischen Werkcharakter und Nachlaßwerkcharakter genau genug unterscheidet oder aber andere Interessen in der Nachlaßherausgabe verfolgt, als RHEES es bewies, Interessen, die näher an das kommen, was man kritische Nachlaßedition nennen könnte, um insbesondere etwas zu rekonstruieren, was längere Zeit in WITTGENSTEINs Interesse lag, nämlich mit dem Big Typescript ein abgeschlossenes Werk vorzulegen, woran WITTGENSTEIN freilich scheiterte, und was sowohl WITTGENSTEIN selbst als auch RHEES bewußt war, sodaß KENNY etwas will, was WITTGENSTEIN selbst nicht wollte (soweit wir wissen bzw. uns auf Zeugnisse verlassen können), indes RHEES etwas tut, was, möglicherweise ohne Rücksichtnahme auf den (Werk-)Willen WITTGENSTEINs (den dieser selbst in seinem Testament gegenüber dem Urteil der Erben zurückstellte), einfach in Buchform darstellen will, was sich aus einer bestimmten Lebensphase als Nachlaßwerk kompillieren und den Intentionen WITTGENSTEINs entsprechend edieren läßt. KENNY schließt also: Doch, um einen mündlich vorgebrachten Einwand PICHLERs zu wiederholen, wenn es wirklich um das Skript TS 213 als Nachlaßwerk geht, dann könnte man ja gleich die Cornell-Bände 89a-89d lesen bzw. transkribieren (und deren Transkription inklusive der handschriftlichen Überarbeitungen liegt ja mit der diplomatic version der Bergenser Electronic Edition vor).
Falls ein Streit zwischen KENNY und RHEES besteht, dann dreht er sich mehr um die Frage, inwieweit ein Nachlaßwerk an den auszumachenden Intentionen des Autors bleiben muß und kann, um überhaupt noch als Werk dieses Autors herausgegeben werden zu können; RHEES wählte als Entscheidungshilfe einen zeitlichen Rahmen und seine persönliche Kenntnis der Person des Autors, seine Überzeugung, WITTGENSTEINs absolutes Vertrauen zu haben; KENNY bemerkt oder ahnt, daß vielleicht die Repräsentation eines Nachlaßwerkes, wie immer es auch gerechtfertigt wird, mit der Buchform und linearen Setzung in typographischem Text einen definitive Zustand des Werkes vorgaukelt, der in einem präsupponierten Original (das in Wirklichkeit einem Kontinuum von Spuren und Dokumenten von Schreibhandlungen näher kommt als einem abgeschlossenen Endstadium) gar nicht bestand. Doch wie soll man dann dieses Original wiedergeben (falls es nicht überhaupt nur das war, was ich "mentaler Text" nenne), wenn es doch ein "virtuelles Manuskript" sec. NEDO ist? Ich glaube, die Antwort liegt vor, mit der Bergenser Electronic Edition (op. cit.), die zu der Zeit, als KENNY seinen Artikel schrieb, noch in weiter Ferne lag (und hier hatte die technische Entwicklung ein gewichtiges Wörtchen mitzureden, denn die technische Entwicklung erlaubt es nun, den Nachlaß in seiner Skriptlage transkribiert herauszugeben, ohne durch Buchausgaben von abgeschlossenen Nachlaßwerken einen Werkcharakter zu insinnuieren).
Nun spricht NEDO 1993: 82 RHEES indirekt von dem Vorwurf frei, RHEES habe mit seiner Nachlaßwerkedition der Philosophischen Grammatik den echten WITTGENSTEINschen Werkcharakter gefälscht oder verfehlt, indem er auf ein Diktat hinweist (ein von WITTGENSTEIN diktiertes Typoskript, wobei nicht klar sein dürfte, wem diktiert wurde), dessen Einsichtnahme offenbar nicht leicht zugänglich ist oder von NEDO selbst erschwert wird: Wie ist das nun mit dem Nachlaß von Moritz SCHLICK? Das Diktat sanktioniere RHEES Editionsleistung? Wer außer NEDO (und dem verblichenen SCHLICK sowie demjenigen/derjenigen, dem es diktiert wurde, falls diese Person nicht ident ist mit Moritz SCHLICK) hat dieses ominöse Diktat (sozusagen Skript D 32x) gesehen? Wodurch kann man diese Verteidigung RHEES' verifizieren, ohne seinerseits an NEDO eine Kritik zu richten, die sich mehr oder minder gegen die nicht nachvollziehbare Anführung von Diktatskripten richtet? Hier besteht nach wie vor ein Argumentationsnotstand und ein Forschungsbedarf, der aber nicht RHEES selbst gilt oder sich gegen ihn wendet (es gibt für mich auch keinen Anlaß zu der Hypothese, der Brief RHEES 1977 habe irgendwie auf NEDO Bezug, was ja ein Anachronismus wäre, indes PHILLIPS 1996 NEDO nicht einmal erwähnt). NEDO gab 1993 RHEES diese Hilfestellung ohne RHEES' Wissen oder Zustimmung, da RHEES bereits Ende der Achtziger starb!
Die Kritik an RHEES ist in meinen Augen dadurch zu kritisieren, daß man anerkennt, welche Editionsinteressen seine Nachlaßwerkkonstruktion bzw. -rekonstruktion bestimmten und daß diese nicht jene des Autors sind oder gar sein können, wohl aber gewesen sein könnten, insoferne eine bestimmte zeitliche Phase gemeint ist (und ich bin PICHLER dankbar, daß er meine Sensitivität für diesen Punkt erweckte, nachdem ich den Haupttext dieser Arbeit ohne die vorliegende Anmerkung 13 bereits verfaßt hatte). Doch muß das von einer Frage an NEDO begleitet werden, welche nach meinem Kenntnisstand unbeantwortet geblieben ist, nämlich wie es nun genau mit dem in SCHLICKs Nachlaß aufgefundenen Diktat steht und was dieses genau besagt, wie es aussieht und welche Überarbeitungen es enthält (und warum es RHEES nicht vorlag, oder, wenn es ihm vorlag, er es nicht eigens anführte als Quelle seiner Editionsarbeit, was dann in der Tat als Vorwurf an RHEES' Adresse ginge).
Selbst wenn die Frage an NEDO nicht beantwortet wird bzw. unbeantwortet bleibt oder aber NEDO gar Unsauberkeiten nachgewiesen werden könnten (etwa eine Erfindung einer Quelle zur Verteidigung von RHEES), folgt daraus nicht, daß die Kritik an RHEES berechtigt wäre des Inhaltes, daß RHEES ein Werk von WITTGENSTEIN durch seine Herausgabe gefälscht oder konstruiert hätte. RHEES hat Einblick in eine bestimmte Schaffensperiode gegeben mit dem ihm zur Verfügung stehenden editorischen und publikatorischen Mitteln, getragen und berechtigt durch seine Kenntnisse und durch den persönlichen als auch testamentarischen Auftrag, in einen Lebensabschnitt WITTGENSTEINs, der bedeutsam mit dem Big Typescript und dessen Bewertung und Virtualisierung durch WITTGENSTEIN selbst zu tun hat, der aber gerade in dieser Phase der Schreibhandlungen und des Denkens (also des mentalen Textierens) bei WITTGENSTEIN insoferne in einem Fluß war, als sich noch keine fixen Werkideen herauskristalisiert hatten, welche zu Skripten mit Werkcharakter führten (bekanntlich ist ihm das seit der Logisch-philosophischen Abhandlung bei philosophischen Werken nie mehr gelungen). Der Fehler, der an der Kritik an RHEES und an RHEES selbst zu kritisieren ist, besteht darin, daß man davon ausgeht, die Herausgabe von Nachlaßwerken müsse dieselben Interessen haben, die man beim Autor dieser Skripten rekonstruieren kann oder kennt. Doch eine Edition kann auch den Zweck verfolgen, eine nicht im dokumentierten Interesse des Autors liegende Phase von dessen Schaffen anhand von Dokumenten und Skripten durch eine textierende Zusammenstellung so zu edieren, daß ein Einblick mithilfe eines Nachlaßwerkes entsteht, welcher den Autor in einer Weise zeigt, die dem Autor selbst weder ein Anliegen war noch von ihm autorisiert würde. Das Recht einer solchen Darstellung leitet sich aus ihrer Deklarierung als Nachlaßwerk her, das in bestimmten Hinsichten produziert wurde, wovon eine wesentliche die versuchsweise Reproduktion dessen war, was oben mit NEDO "virutelles Manuskript" genannt wurde. (Im Falle NIETZSCHEs ging man bekanntlich anders vor, man konstruierte aus dem Nachlaß Texte, die NIETZSCHE als "Werk" untergeschoben wurden; die von mir vertretene editorische Liberalität verlangt zugleich die klare Kenntlichmachung des Unterschiedes von Werkcharakter und Nachlaßwerkcharakter; ein Nachlaßwerk kann konstruiert werden, darf es, wenn das deklariert und ausgewiesen wird, doch darf es dann niemals ein echtes Werk genannt werden; Eklektizismus darf man nicht verbieten, kann man nicht verbieten, Fälschungen muß man verbieten und verhindern.)
RHEES mag man den Vorwurf machen, er habe seine Herausgeberinteressen nicht expliziert, sofern sie ihm damals überhaupt bewußt waren und er sie explizieren hätte können, der er ja glaubte, einfach im Sinne WITTGENSTEINs gerade aufgrund der testamentarischen Autorisierung zu handeln (und die war so global, daß sie eigentlich jedes Editionsergebnis von RHEES gerechtertigt wäre, freilich eingeschränkt dadurch, daß RHEES selbst nicht jedes Editionsergebnis anerkannt hätte, ganz im Gegenteil, und gerade das rechtfertigt das Vertrauen WITTGENSTEINs); NEDO mache ich den Vorwurf, daß er nichts zur Klärung der Behauptung der Existenz eines bislang unbekannten Diktats in SCHLICKs Nachlaß beiträgt, sofern er dazu beitragen kann (was wohl nicht so schwer sein dürfte), obwohl er selbst dieses Diktat-Skript ins Spiel brachte. Den Kritikern RHEES', die ihm eine schlechte Editionsarbeit vorwerfen und die gerne das "originale Big Typescript" herausgegeben sähen (das in meinen Augen nicht einmal ein fertiger mentaler Text war, obgleich ihm bis zum Schluß und vielleicht auch in der von RHEES insgeheim beanspruchten Form eine Intention eines mentalen Textes vorgelegen haben mag), halte ich vor, daß sie an eine Originalität und ein Werkstadium glauben, das so nicht vorhanden war, wie KENNY 1976 selbst zugibt (loc. cit. sup.), und das RHEES, unbewußt oder bewußt, explizit oder implizit, als das von WITTGENSTEIN letztlich intendierte herauszugeben versuchte mit einer Akuratesse, an die sich jene KENNYs messen lassen muß, genauso wie sich RHEES' Arbeit an der Akuratesse seiner Kritiker messen lassen muß.
Die Diskussion um diese Herausgeberleistung ist in anderer Hinsicht, wiewohl Emotionen und Rhetorik damit verbunden sind, eine von großem wissenschaftlichen Wert und Niveau, und ihr Vorhandensein ist zu begrüßen.-

Anmerkung vom 12. Mai 2002: Mittlerweile haben Lars HERTZBERG und Aleksander MOTTURI einen zentralen Teil von TS 213 in Deutsch-Schwedischem Paralleltext ediert, der einer jener Auslassungen in der Philosophischen Grammatik seitens RHEES war, die oftmals beklagt wurden. Cf.: WITTGENSTEIN, Ludwig (1930-1932, 1999): Filosofi. German - Swedish edition of TS 213: §§ 86-93 by Lars Hertzberg and Aleksander Motturi. Göteborg: Glänta. Ein Nachwort von A. MOTTURI gibt nicht nur Aufschluß über die editorische Tätigkeit, sondern legt auch die Bedeutsamkeit dieses "Philosophiekapitels" im Big Typescript (loc. cit.) im Kontext von WITTGENSTEINs Denkweg dar.
Allerdings wird kaum auf den in dieser Anmerkung dargelegten Streit um die Herausgabe der Philosophischen Grammatik durch RHEES eingegangen, den KENNY op. cit. auslöste. Und wenn auch eine Darlegung von Überlegungen zur Philosophie, die einst WITTGENSTEIN selbst zusammengetragen hat, publikationswürdig ist, so ist doch zu beachten, daß WITTGENSTEIN selbst in seinem weiteren Denkweg diese Textpassagen nicht mehr als Ganzes irgendwo aufnahm, vielmehr nur gewisse Teile und Absätze übernahm (v.a. in die Philosophischen Untersuchungen). Es ist also ein Fehlschluß und Anachronismus zu vermeinen, was WITTGENSTEIN vom Juli 1930 bis Juli 1932 unter der Kapitelüberschrift "Philosophie" niederschrieb, für eine sein ganzes Leben umfassende, unverändert gültige Darlegung zu diesem Thema zu nehmen, zumal er sich gegenüber seinem vielleicht besten Freund, Maurice O'Connor DRURY, gegen die Verwendung des Wortes "Philosophie" in einem Buchtitel (etwa für das, was später Philosophische Untersuchungen hieß) aussprach, wie MOTTURI in op. cit. S.66 selbst bemerkt; cf. DRURY, Maurice O’Connor (1996): The Danger of Words and writings on Wittgenstein. Bristol: Thoemmes, loc. cit. S.78.
Die Herausgabe von MOTTURI und HERTZBERG liefert in meinen Augen zwar ein Nachlaßwerk WITTGENSTEINs, das von großem Interesse und aufschlußreich ist, doch unterliegt seine Edition derselben rekonstruierbaren Motivation, die wir Rush RHEES mit der Edition der Philosophischen Grammatik zusprachen, nämlich aus einer bestimmten Denkperiode Texte zu wählen und in einem Werk vor die Öffentlichkeit zu bringen, Texte, die nicht von WITTGENSTEIN selbst in diese Form gebracht wurden. Es ist interessant, daß MOTTURI und HERTZBERG etwas edieren, was RHEES ausließ, ohne allerdings den Ko-Text dessen zu bringen, in dem das Philosophie-Kapitel im TS 213 und der damaligen Denkentwicklung steht, indessen RHEES, wie gesagt, mit seinem Nachlaßwerk etwas herausgibt, was er von WITTGENSTEIN selbst für intendiert hält.
Auch hier also kann man sehen, daß es verschiedene Weisen gibt, Nachlaßwerke herauszugeben. Wichtig erscheinende und v.a. der Öffentlichkeit unbekannte Textabschnitte und Kapitel einzeln zu veröffentlichen, ist a priori kein schlechter Weg, und indem diese Vorgangsweise deklariert wurde, ja die Herausgeber von Filosofi ihr eigenes Tun um vieles durchsichtiger machen, als es RHEES tat, kann ich ihr nur Lob und Anerkennung zollen, verbunden freilich mit der Warnung, daß dies nicht für die ultimative Selbsterklärung WITTGENSTEINs zu seinem Philosophie-Begriff genommen werden darf. Es ist in Erinnerung zu behalten, was Eike von SAVIGNY schrieb, indem er im 14. Kapitel von SAVIGNY 1996: 269-287 davon schrieb, daß es in den Philosophischen Untersuchungen kein Kapitel über Philosophie gäbe, um die Auffassung zurückzuweisen, WITTGENSTEIN habe schon im Big Typescript seine "Metaphilosophie" niedergelegt.- (back)-


14 Daß eine zeitliche Abfolge von Skripten innerhalb des Nachlasses zur Ausmachung von "Werken" beiträgt, versteht sich von selbst, da die Chronologie von für sich stehenden Skripten, mag auch die zeitliche und räumliche Struktur der Schreibhandlungen sehr verworren sein, jedenfalls der Annäherung an einem vom Autor als Text intendierten Werktext entsprechen wird.
In typographischer und manographischer Form liegen nun mal physische Dokumente vor, die Skripten in räumlicher Anordnung vorstellen. Diese Skripten können ihrerseits bereits in einem anderen Medium Abbildung gefunden haben, etwa als Photographien (Faksimile) oder Transkriptionen. Doch um Skripten in dieser Form zu modellieren (um bereits jetzt auf das weiter Auszuführende anzuspielen), müssen sie bereits zumindest als Skripten wahrgenommen worden sein. Ich würde außerdem noch vorschlagen, den Überbegriff von "Skript" und "Text" mit "Dokument" zu bezeichnen (ja, es gibt auch mentale Dokumente!), damit dann solche Aussagen getroffen werden können, wie etwa daß ein Dokument auf Text-Niveau bei WITTGENSTEIN durchaus als Skript für ein Werk (und damit ein anderes Dokument auf Text-Niveau) dienen kann. Für mich folgen daraus drei weitere Beobachtungen:
(a) Werke sind Dokumente.
(b) Werke sind intendiert als in Skriptform dokumentierte Texte.
(c) Gemäß den sup. genannten Kriterien (1)-(3), inkl. insbesondere (4) (und eventuell (5)), gehen jedem Werk mindestens ein Skript voraus, wenngleich dieses vorausgehende Skript (was im Falle WITTGENSTEINs aber nicht vorkommen d&uum>


Transfer interrupted!

Spuren vorliegen, so doch in seinem Vorhandensein irgendwie dokumentiert (erwähnt, zitiert, offenkundig oder vermutlich gebraucht) sein muß - und daher durchaus nur als Text eines mentalen Dokumentes vorhanden sein kann, sodaß mentale Dokumente Texte sind, denen selbst keine Skripten in physischer Form vorliegen (womit freilich ein Problem entstanden ist, nämlich daß es mentale Dokumente als Texte ohne Skript(e) gibt).
Dieser letzte Punkt (c) bringt aber wieder eine gewisse Freiheit des Editors, so nicht Willkür ins Spiel, insoferne das Vorliegen oder Vorhandensein eines solches Skripts, das einem Werktext vorausgeht, Sache der Interpretation bleibt und mitunter erst rekonstruktiv (und dann wieder als Werk) zustande gebracht wird (das führt zu der Problematik, inwiefern etwa eine Proto-Philosophische-Untersuchung wie ein Proto-Tractatus aus diversen Notizen, Zetteln, Tagebüchern, Aufzeichnungen zu rekonstruieren wäre, um dann als "Werk", sprich Buch, ediert zu werden, sozusagen ein "vorgelassenes" opus, um ein ironisches Wortspiel anzubringen). (back)-


15 Cf.  STACHOWIAK, Herbert (1973): Allgemeine Modelltheorie. Wien: Springer; STACHOWIAK, Herbert (1989b): "Theorie und Metatheorie des Gesellschaftlichen und das pragmatische Desiderat". In: STACHOWIAK, Herbert (Hrg.) (1989a): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens. Band III: Allgemeine philosophische Pragmatik. Hamburg: Meiner. 315-342; GELBMANN, Gerhard (2002a): "Sind Zahlen Attribute?", electronic document: http://h2hobel.phl.univie.ac.at/~yellow/Stachowiak/attribut.html (last update: April 2002); GELBMANN, Gerhard (2002b): "The Neopragmatistic Conception of Model", Proceedings of the 10th International Symposium of the Austrian Association for Semiotics »Myths, Rites, Simulacra. Semiotic Viewpoints«, University of Applied Arts Vienna, Dec. 2000, Angewandte Semiotik 18/19, Vol. I, 2001: 595-614; electronic document:http://h2hobel.phl.univie.ac.at/~yellow/Stachowiak/ncm.rtf (last update: Jan. 2002); GELBMANN, Gerhard (2002/2003): The Pragmatologic Conception of »Model«. An Essay into Theoreticity, Objectivism and an Algebra of Mind. In preparation (book). (back)-


16 Es sei hierbei beachtet, daß die Indices "n" und "m" eine natürliche, beliebig hohe Zahl signifizieren und keineswegs gelten muß, daß n=m. Es ist vorstellbar, daß die Zahl der Attribute des Objektes als auch des Modells jeweils sehr groß, ja sogar unendlich ist, doch hat es meines Erachtens (zumindest für unser jetziges Anliegen) wenig Sinn, die Attributenzahl als überabzählbar zu nehmen. Ferner kann und wird in praxi der Fall auftreten, daß sich die Attributenmengen O und M bzw. OP und  ME überschneiden, d.h. OP und  ME können gewisse Attribute gemeinsam haben (und die modellierende Operation F wird dann insofern ikostrukturell, weil identisch funktionieren, als Attribute in sich selbst übergeführt werden). (back)-


17 Das Zeichen "\" wird als Abkürzung für die Subtraktion (der Elemente) einer Menge von (den Elementen) einer anderen gebraucht, deren Resultat wieder eine Menge ist. (back)-


18 Ein Characteristicum des pragmatologischen Modell-Begriffes ist es, daß Modelle selbst als Originale einer Modellierung höherer Ordnung aufgefaßt werden können (das gilt für die formal-semantische Konzeption nicht, dort ruft ein Ausdruck wie "Meta-Modell" nur Verwirrung vor). In Formeln: M2 ist das Meta-Modell (also das Modell zweiter Ordnung) eines Modells M oder M1, das seinerseits Modell eines Objektes O ist (indes man den Ausdruck "M0" für ein relatives und daher seinerseits modellierendes Original gebrauchen könnte). Daraus folgt nicht, daß auch M2 Modell von O sein muß (egal ob O hier M0 und sohin relatives Original ist oder nicht). Allgemein gesprochen, wird ein Modell der Ordnung k von einer objektivierten (semiotischen) Entität der Ordnung k-1 erzeugt. Diese mit "Ordnung" oder hochgestellten kursiven Ziffern bezeichneten Zählzeichen können als logische Typen genommen werden und entstammen der Menge der natürlichen Zahlen bzw. der Menge der ganzen Zahlen. (back)-


19 Diese Zielvorgaben Z können freilich selbst einerseits modelliert werden, andererseits abhängig von einer Theorie ThZ sein, welche z.B. bestimmte Vorgaben macht. Konventionen werden durch Theorien der Art ThZ durch eine soziale Gruppe von interagierenden Operateuren implementiert, und es stellt sich für soziale Konstruktivisten die Frage, ob nicht überhaupt die Modellierung von Attributen von solchen Konventionen abhängt. (back)-


20 Hier sei eingeworfen, daß diese "Paramter" Attribute höherer Art sind; in einer anderen pragmatologischen Modelltheorie wäre ihre Zahl vielleicht größer oder geringer (oder vielleicht gar unendlich). In der Tat ist eine statement-view der Versuch, eine Theorie nur mehr auf Parameter zu gründen, die in der Form prädikativer Attribute die Bildung von Sätzen und deren Formation und Transformation erlauben; die statement-view ist also eine bestimmte pragmatologische Parametrisierung und erzeugt dadurch eine Auffassung von Theoretizität, die rein syntaktisch-semantisch bleibt. (back)-


21 Andernorts sprach ich von (PICHLERs) Textauffassung als "algebraische Texttheorie mit konstruktivistischem Einschlag": Cf. loc. cit. sup. 7. (back)-


22 Mit "Zeichen-types" sind jetzt keine typentheoretische Markierungen des Ordnungsgrades bzw. der Stufe einer Modellierung gemeint. Ein Modell der k-ten Stufe, Mk, ist selbst ein token von einem allgemein genommenen Objekt mit Zeichencharakter. Mit "Zeichen-types" sind eben Attribute von Zeichen und nicht bestimmte Erscheinungsbilder eines einzelnen Zeichenskripts gemeint. Ob WITTGENSTEIN ein handschriftliches "a" einmal mit geschwungenen Linien, ein andermal wie einen Druckbuchstaben hingesetzt hat, wird auf diesem Type-Niveau bereits irrelevant. Daraus folgt, daß für das Ansehen von Skript-Elementen auf type-Ebene bereits Modellierungen der jeweils wahrgenommenen und gelesenen Skriptzeichen im Original, die ja auf token-Ebene stehen, vorgenommen werden müssen. Cf. dazu auch: HOFSTADTER; Douglas R. (1995): "on seeing A's and seeing As". http://www.stanford.edu/group/SHR/4-2/text/hofstadter.html (accessed: Sept. 2000).
Wie schon andernorts betont, hat Wahrnehmung einen modellierenden Charakter (der über sinnliche Gewißheit in gewissem Sinne hinausragt bzw. mit dieser nichts gemein hat): Cf. GELBMANN 2000: 221ff. Dieser Charakter, daß das Wahrgenommene modelliert und nach gewissen Attributionierungen aufgefaßt wird, gilt auch beim Lesen. Wir erreichen also durch die rein semiotische Überlegung am Leitfaden der type/token-Differenz den Gedanken, daß die Attribute sowohl des Originals als auch des Modells selbst bereits Modelle bzw. partiell Modelle vorstellen können. Wir werden das oben noch ein wenig entfalten. (back)-


23 Ein String als eine endliche Reihe von Zeichen-tokens definiert werden, doch ihn bereits lesen zu können, heißt, ihn als eine Reihe von Zeichen-tokens zu nehmen. D.h., wir können einen String nur dann lesen, wenn er unter dem Aspekt von Zeichen-types gesehen werden kann. Ein Skript-String ist dann eine endliche Reihe von Zeichen-types eines Skripts, ein Text-String wäre eine endliche Reihe von Zeichen-types eines Textes (und über die Sinnhaftigkeit eines Terminus "Werk-String" ließe sich eigens streiten). (back)-


24 Das heißt, für ein Skript Sn, dem bereits h partielle Skripte höchstens der Stufe n-1 vorausgingen, denen ihrerseits y partielle Skripte höchstens der Stufe n-2 vorausgingen (wobei h und y voneinander verschiedene natürliche Zahlen sind), etc., wobei für den Fall, daß n=1 das Skript Sn-1h selbst als eine nicht-leere Menge von Zeichen-tokens genommen wird. Dabei stehen die Indices "h", "y", "i" und "j" für natürliche Zahlen (die voneinander verschieden sein können, aber nicht müssen), um einfach die verschiedenen semiotischen Entitäten gleicher Art (sowohl gleicher Sorte als auch gleichen Typs) voneinander zu unterscheiden. (back)-


25 Dies ist freilich bereits eine konzeptuelle Vorentscheidung, denn warum sollten partielle Skripte bzw. Strings nicht einfach immer nur als token gelesen werden? Ich denke, der Begriff der Schreibhandlung steht dem entgegen, denn was der Autor aufs Papier bringt, sind zwar jeweils konkrete, physisch realisierte Zeichen-tokens, doch intendiert er sie immer schon als Zeichen-types. Der Autor schreibt ein "e" und nicht irgendetwas Geschwungenes, das als "e" gelesen werden könnte. Der Autor schreibt (im Idealfall zumindest und abgesehen von den Fällen, wo sein Schreibwerkzeug ausgleitet oder er sich unaufmerksam "verschreibt", "vertippt", etc.) das, was er schreiben will bzw. intendiert, er schreibt eigentlich ein Skript nach einem mentalen Text, ein mentales Skript von types, das sich freilich nur als token konkretisiert. Ein Skript entsteht durch Schreibhandlungen, die tokens als types lesbar machen wollen, und eine Schreibhandlung, die nicht types schreiben will, ist keine Schreibhandlung, vielmehr irgendein Kritzeln oder Zeichnen, ähnlich dem, was Kinder tun, ehe sie zu schreiben gelernt haben. (back)-


26 Es ist klar, daß der oben verwendete Ausdruck "transkriptionsdependente und -applizierte Theorie" äußerst unglücklich ist, denn das semiotische Subjekt Re kann ein Leser, der Autor selbst oder auch ein Transkribent sein. (back)-


27 In GELBMANN 2002b bezeichne ich solche nur teil-erfüllten (bzw. partiell parametrisierten) pragmatologische Theorie-Schemata als "Simulacra". Damit wäre die Schreibhandlung, die zu token führt und durch den Autor zum Schreibanfang gesetzt wird, simulakrös in dem Sinne, daß nicht anzugeben ist, wovon sie eine Modellierung erzeugt. Doch die Schreibhandlung, die tokens setzt, ist selbst eben ursprünglich, und Schreibhandlungen produzieren nun einmal tokens, genau das ist ihr Wesen. Die Konkretion von tokens ist daher keine Transformation von Attributen, und Schreibhandlungen in diesem Falle unter das pragmatologische Theoriekonzept bringen zu wollen, ist die eigentliche Quelle des Simulakrösen. (back)-


28 Man erspare mir, hier Stellen zu nennen. Jedenfalls hat sich eine Reihe von Autoren damit befaßt, cf. i.a. ALDRICH, Virgil Charles (1958): "Pictorial Meaning, Picture-Thinking, and Wittgenstein's Theory of Aspects", Mind: a Quarterly Review of Psychology and Philosophy N. S. 67: 70-79; AUSTIN, John Langshaw (1962): Sense and Sensibilia. London: Oxford Univ. Press; HARK, Michel ter (1990): Beyond the Inner and the Outer. Wittgenstein's Philosophy of Psychology. Dordrecht: Kluwer. (back)-


29 Hier ist es angebracht zu sagen, daß die Angabe der (logischen) Typen der jeweiligen Operations-Symbole F mit bestimmten Zahlen irreführend ist, denn diese Zahlen geben nur den relativen Typ in Bezug auf das Modellierungsniveau wieder. Es ist an sich leicht, diesen Mangel durch eine bessere Symbolisierung zu beheben, doch kann man das noch einfacher machen, indem man Typenzählungen als (fast) immer relativ charakterisiert. (back)-


30 Zählen zu den Schreibhandlungen, deren Produkt(e) als Skript(e) repräsentiert werden, nicht unweigerlich auch Lesehandlungen, sodaß in der Entstehung eines Skripts immer schon Textierung eingebunden ist? Kann man, anders gefragt, überhaupt schreiben, ohne sich wenigstens selbst, also das eigene Geschriebene, beim (primären) Schreiben zumindest zu lesen?-
Ich neige dazu, dies eher zu bejahen. In der Tat ist kein Skript erstellbar, ohne daß dessen Autor es nicht zugleich textierte; allerdings kann der Autor im "Bewußtsein seiner semiotischen Subjektivität" (um einen gewagten Ausdruck zu bringen) wissen, daß seine parallele oder spontante Textierung, sein automatisches oder "intransitives Verstehen", bloß eine von vielen möglichen Textierungen für dieses gerade erzeugte Skript ist, und dieses Wissen kann seinerseits zur Fortführung des Skripts beitragen.
Nun ist es aber die Meinung des Verfassers (und in diesem Punkt mag er sich von PICHLER unterscheiden), daß der Album-Charakter von WITTGENSTEINs Philosophischen Untersuchungen genau diesem Erkennen entspringt: WITTGENSTEIN las sich selbst beim Schreiben, sah die Deutungsmöglichkeiten und intendierte keine Textierung, die nur einen nicht-albumartigen, d.h. rein linearen Text als den Richtigen anstrebt oder anzustreben vorgibt, zugleich wollte er aber stilistisch im Erstellen des Skripts und in seinen Schreibhandlungen so perfekt sein, daß eine finale Version des Skripts als Werk duchgeht und ihm als dem Autor nicht nochmals zu Skriptierungen Anlaß gibt. Er wollte ein vollendetes Werk schaffen, das mehrere partielle Texte enthält, sodaß es einen Album-Text vorstellt, und er wollte von vornherein in seiner Gestaltaltung die Lesarten schon allein durch die Zusammenstellung von Text-Abschnitten nicht auf Linearität hin ordnen. (So will ich seine Schreibhaltung und Intention hypothetisch rekonstruieren.)
Die inhaltliche Verwobenheit der von ihm behandelten Themen spiegelt sich in der Gestalt seines Buches wieder, deren fragmentarischer Charakter so zum Werkcharakter wird. Es gibt eben das absichtlich erzeugte Fragment, die intendierte Collage von Texten, das gewollte Album als Werk! Und ich glaube, daß hinsichtlich dieses Album-Werkcharakters der Text des Nachlaßwerkes durchaus mit dem Text des intendierten (mentalen) Werkes WITTGENSTEINs großteils ident ist oder jedenfalls sich diesem in genügendem Grade annähert (das genügt nämlich insoweit, als wir überhaupt imstande sind, WITGENSTEINs Intentionen und "mentales Werk" zu rekonstruieren, und es erscheint mir hier nicht unvernünftig, sich mit dieser Annäherung zu begnügen, auch wenn sie möglicherweise WITTGENSTEIN etwas unterstellt). (back)-


31 Wenn ein Text ein Aspekt eines Skriptes ist, ein Werk aber ein rezipierter Text eines finalen Skriptes, dann ist ein Werk ein Aspekt eines finalen Skriptes. Ein Aspekt eines Werkes wäre dann Aspekt eines Aspektes eines finalen Skriptes, und genau das halte ich für nicht im Begriff "Aspekt" liegend und daher für eine semiotische Absurdität.
Der Begriff "Aspekt" kann nämlich keine höheren Stufen haben; daher werden keine "Typen von Aspekten" betrachtet werden können, m.a.W.: es gibt keine Aspekte höherer Ordnung bzw. Aspekte von Aspekten. Dementsprechend wird der Ausdruck "Aspekt eines Werkes" metaphorisch zu nehmen sein und für "andere Lesart desselben Skripts" und daher "anders konstruierter Text" genommen werden können.
Ich räume aber ein, daß das Wort "Werk" in der Alltagssprache und in mancher spezifischer Redeweise der Literaturwissenschaften und Philologie, etc. diese Engführung seiner Bedeutung nicht kennt. (back)-


32 Das Testament ist in den wesentlichen Teilen in NEDO 1993: 52 publiziert. Der mir am wichtigsten erscheinende Punkt darin ist, daß WITTGENSTEIN die Entscheidung darüber, was aus seinem Nachlaß publiziert werden soll (und das inkludiert offenbar auch Tagebücher und persönlichere Schriften), R. RHEES, G. E. M. ANSCOMBE und G. H. von WRIGHT überläßt. Mit der zitierten Bergenser elektronischen Edition des Nachlasses WITTGENSTEINs hat man nun offensichtlich den Weg beschritten und (bis auf vielleicht noch auftauchendes Material) hinter sich gebracht, alles aus diesem Nachlaß und daher den gesamten Nachlaß (soweit vorhanden) zu publizieren. (back)-



last update by G.G. on 12th May 2002

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