15


Absolutheitsanspruch des spekulativen Idealismus bei Hegel und die Grenze der Rationalität


Andrej Kritschewskij


I. Hegels Drei-Schlüsse-Lehre

II. Der spekulative Symbolismus

III. Das Ich-Du-Verhältnis des Menschen und des Absoluten und der spekulative Symbolismus


Bekanntlich wollte Hegel seine Philosophie als System des absoluten Wissens verstanden wissen, wo sich das Absolute selbst auf eine ihm endgültig angemessene Weise erkennen läßt. Dieses Wissen soll bei Hegel keine bloß theoretische Realität sein, sondern eine geistig-praktische Tätigkeit des Subjektes, das sich durch Spekulation zu einer Stätte der Begegnung des endlichen Geistes mit dem Absoluten macht. Der Inhalt, das Subjekt und das Objekt dieses Wissens ist bei Hegel der absolute Geist. Zunächst möchte ich anhand der Hegelschen Lehre über die drei Schlüsse präzisieren, welcher metaphysische Status dem absoluten Geist bei Hegel zukommt. Dann sei das Verhältnis des endlichen Geistes zum absoluten Geist thematisiert sowie die Rolle der Spekulation in diesem Verhältnis.

I. Hegels Drei-Schlüsse-Lehre


Mit dieser Lehre schließt Hegel seine Enzyklopädie ab (§§ 475 - 477) und will damit auch sein System als abgeschlossen verstanden wissen.

  1. Im ersten Schluß (§ 475) ist die logische Idee der Ausgangspunkt, die Natur die Mitte, wodurch der Geist mit dem Logischen zusammengeschlossen wird. “Das Logische wird zur Natur, und die Natur zum Geiste”. Die Natur wird dabei “nur als Durchgangspunkt und Negatives Moment bestimmt”. Das Auseinandersein der logischen Idee und des Geistes als Extreme ist deshalb nur eine Erscheinung, deren höhere Wahrheit eben das Zusammengeschlossensein des Logischen und des Geistigen ist. Das vollendete Zusammengeschlossensein der Idee und des Geistes ist schon aber nichts anderes als der absolute Geist. Deshalb dürften wir auch sagen: Im ersten Schluß schließt die Natur die Idee und den Geist zusammen - mit der Reflexion in den absoluten Geist.

  2. Im zweiten Schluß (§476) ist die Erscheinung so Beschaffen, daß hier die Natur von dem Geist vorausgesetzt und mit dem Logischen zusammengeschlossen wird. Die Natur verklärt sich durch den Geist zur Idee. Die Erscheinungsform dieses Schlusses wird durch die Einsicht abgestreift, daß die vollendete Verklärung der Natur durch den Geist zu ihrem Resultat schon etwas Größeres hat als die reine logische Idee: hier geht nämlich wiederum der absolute Geist auf.

  3. (1) Den dritten Schluß (§ 477) können wir zunächst einmal auch für sich allein betrachten. Hier werden der Geist und die Natur durch die Idee zusammengeschlossen. Der Geist erreicht durch die Idee die Unmittelbarkeit der Natur. Das ist aber schon eine durch das Logische vermittelte und deshalb wissende, geistige Unmittelbarkeit. Auch das Umgekehrte ist wahr: die Natur, die ganz von der Idee durchdrungen ist, ist der unmittelbar daseiende Geist. Als vollendet ist diese Unmittelbarkeit auch das Dasein des absoluten Geistes. Die Idee als das Vermittelnde ist hier schon keine blinde, nur logische Realität, sondern “der wissende Begriff” oder die sich wissende Vernunft”, die sich in Geist und Natur entzweit”, diese Momente durch sich selbst miteinander zusammenschließt und sich in diesem Zusammenkommen in sich selbst reflektiert. Das ist aber die Tätigkeit des absoluten Geistes als solchen. Hier haben wir also die dritte Reflexion in den absoluten Geist.

(2) Diese in den ersten beiden Schlüssen an sich seiende Vollendung der Vermittlung (und deshalb nur an sich seiende dreifache Reflexion in den absoluten Geist) ist aber dadurch für sich gesetzt, daß mit dem dritten Schluß die Vermittlung endlich zu einem Totalitätskreis abgeschlossen wird. Der dritte Schluß ist deshalb auch die Synthese des ersten und des zweiten Schlusses. Er ist selbst das Vermittelnde, wodurch der erste und der zweite Schluß miteinander zu einem geistigen Ganzen zusammengeschlossen werden. Die Idee, die Natur und der Geist stehen durch diese Synthese im Kreise der totalen gegenseitigen Vermittlung.

(3) Als Momente dieses Kreises sind sowohl die Natur als auch die Idee wie auch der Geist nichts anderes als der absolute Geist selbst. Jedes Moment ist durch den Kreis mit sich selbst zusammengeschlossen und in sich selbst reflektiert.

Damit ist aber schon die dreifache Reflexion in den absoluten Geist für sich gesetzt:

  1. der Geist ist die durch die Natur mit sich zusammengeschlossene Idee und insofern der absolute Geist;

  2. die Idee ist die durch den Geist mit sich zusammengeschlossene Natur und insofern der absolute Geist;

  3. die Natur ist der durch die Idee mit sich zusammengeschlossener Geist und insofern der absolute Geist.

Der Kreis stellt sich deshalb auch als Ein Punkt dar, denn die Momente seiner Peripherie sind durch kein Außereinander unterschieden und fallen miteinander zusammen. Diesen Punkt nenne ich den schlechthin absoluten Geist oder das Aleph1. Das Aleph sei hier eine lebendige Realität, die sich in sich selbst unterscheidet in die logische Idee, die Natur und den endlichen Geist, die sich als die Idee, die Natur und der endliche Geist setzt, diese Momente aber einander vermitteln läßt, wodurch eben erst dieser Vermittlungskreis gesetzt wird, wo jedes Moment nur als eine Reflexion ins Aleph als absolutes Zentrum besteht (der Metaschluß).

G I I - die Idee

À1 N - die Natur

N G - der Geist

À À - das Aleph als solcher

I G À1 - das Aleph als die Natur

G À3 À2 I À2 - das Aleph als der Geist

N N À3 - das Aleph als die Idee

In jedem Punkt des Kreises fällt das Zentrum mit sich selbst zusammen. Der Kreis als das Ganze ist auch nichts anderes als sein Zentrum. Das Aleph ist im Metaschluß überall. Durch seine setzende Kraft schafft das Aleph einen metaphysischen Raum mit drei Dimensionen: der der Idee, der der Natur und der des Geistes. Die Kraft des Alephs ist aber zugleich aufhebend: Dieser Raum bleibt im Zentrum eingeschlossen. Mehr noch: Das Eingeschlossensein und damit das Aufgehobensein dieses Raums im Zentrum ist es, wo er sein Bestehen hat.

Der absolute Geist erweist sich also am Ende des Systems nicht nur als das Letzte und Höchste, sondern auch als das absolute Prius. Das ist auch im System selbst ausdrücklich ausgesprochen. Denken wir z.B. an diese Stelle in der zweiten Ausgabe der “Wissenschaft der Logik”:

“So wird noch mehr der absolute Geist, der als die konkrete und letzte höchste Wahrheit alles Seins sich ergibt, erkannt, als am Ende der Entwicklung sich mit Freiheit entäußernd und sich zur Gestalt eines unmittelbaren Seyns entlassend, - zur Schöpfung einer Welt sich entschließend, welche alles das enthält, was in die Entwicklung, die jenem Resultat vorausgegangen, fiel, und das durch diese umgekehrte Stellung, mit seinem Anfang in ein von dem Resultate als dem Principe Abhängiges verwandelt wird”,2

oder diese Passage aus der “Philosophie der Religion”:

“...eben das Erste, entweder die logische Abstraktion des Seyns oder die endliche Welt, dieß Erste, Unmittelbare, nicht gesetzt Erscheinende, wird in dem Resultat selbst gesetzt als ein Gesetztes, nicht Unmittelbares und degradiert vom Unmittelbaren zum Gesetzten, so daß der absolute Geist vielmehr das Wahre ist, das Setzten der Idee, wie der Natur und des endlichen Geistes. Oder der absolute, seiner selbst sich bewußte Geist ist das Erste und einzige Wahre, in welchem die endliche Welt, die so ein Gesetztes ist, als ein Moment ist”3.

Ich darf mir jetzt eine vorläufige Zusammenfassung erlauben:

  1. Die höchste Definition des Absoluten ist für Hegel nur der absolute Geist.

  2. Der absolute Geist ist der Metaschluß als die Totalität der Selbstvermittlungstätigkeit des Absoluten, wo und wodurch es das Wissen seiner selbst oder das absolute Selbstbewußtsein ist.

  3. Der absolute Geist setzt die Idee, die Natur und den endlichen Geist und damit den ganzen Selbstvermittlungskreis. Das Setzen ist in diesem Zusammenhang etwas prinzipiell Größeres als ein “Übergang” oder ein “Sich-Entlassen”. Wenn Hegel sagt, die logische Idee entlasse sich “frei” in ihr Anderssein, so ist hier eigentlich nur eine absolute innere Notwendigkeit des Überganges ausgesprochen, der die Idee aus ihrer eigenen Kraft nicht widerstehen kann, denn ihre innere Natur (ihre innere Beschaffenheit) ist es eben, in die äußere Natur überzugehen. Sie muß sich zu einem Außersichsein entäußern, weil ihr Insichsein noch keine geistige Totalität ist. Als solche ist sie nichts anderes als das, was Schelling unter dem Begriff eines absolut notwendig existierenden Wesens versteht. Sie ist das sich seiner Existenz nicht enthalten Könnende oder das blind existieren Müssende. Sie müßte schon “unvordenklicherweise” in der Existenz stecken, denn nur aus der logischen Idee heraus ist der Zustand ihres Nur-in-sich-selbst-Seins “keinen Augenblick” denkbar. Und nun kommen wir zu einem entscheidenden Moment: Die Kraft, wodurch das Außereinandersein der Idee und der Natur bestehen kann, geht vom absoluten Geist aus. Der absolute Geist setzt dieses Außereinandersein in der Tätigkeit des Sich-Urteilens, wodurch auch das Spannungsfeld gesetzt wird, in dem die Welt und der endliche Geist das Element ihres Bestehens haben und auf diese Weise auch mitgesetzt werden. Und Schelling scheint hier recht zu haben, indem er behauptet, in seiner Absoluter-Geist-Lehre versuche Hegel, “bis zur Idee einer freien Schöpfung zu gelangen”4.

Und dieser Ansatz ist bei Hegel nicht zufällig (wie es Schelling meint): er entsteht nämlich aus dem Bedürfnis, konsequent seine ursprüngliche Intuition des wahren Unendlichen zu entwickeln, das sich in seinem System letzten Endes als absolutes Selbstbewußtsein oder absolute Persönlichkeit erweist. Um diesem Ansatz gerecht zu werden, ist es nicht genug, festzustellen, daß das am Ende des Systems Erreichte in Wahrheit das metaphysisch Erste ist. Diese Umkehrung muß um System selbst unternommen werden, und sie muß etwas Größeres sein als eine sozusagen umgekehrte Bewegung von oben nach unten durch denselben Inhalt. Das absolute Prius muß als solches zum Ausgangspunkt der spekulativen Betrachtung werden. Wenn wir schon zur Idee eines freien Setzens kommen, so ist damit auch die folgende Frage gestellt: wie ist das Subjekt des Setzens in sich selbst beschaffen? Außer wenigen im System zerstreuten Stellen finden wir bei Hegel diese Umkehrung nur in einigen spekulativ-metaphysischen Ausführungen seiner Religionsphilosophie und in der Lehre von den drei Schlüssen (der “dritte” Schluß). Eine systematische Realisierung dieses Ansatzes läßt sich bei Hegel vermissen. Hegel kam auch nicht zu dem Punkt, wo sein System als abgeschlossen angesehen werden dürfte, denn es ist nicht genug, den absoluten Geist als ein Aleph zu erkennen, um ihn auch als das frei Setzende zu begreifen. Dazu gehört nämlich ein Gedankengang, den wir bei Hegel vergebens suchen würden, und zwar - über ein freies Subjekt des Seins, d.h. eine Realität, die frei ist, zu sein, aber auch nicht zu sein, die es aus eigener Kraft vermag, sich der Existenz zu enthalten, und deren Existenz eben deshalb frei ist. Aus dem rekonstruiertem Zusammenhang dürfte aber wohl einleuchtend sein: Hegel war darauf aus und blieb ganz dicht davor stehen. Dieser Schritt wurde von Schelling in der Lehre vom Seinkönnenden getan. Eben das Seinkönnen scheint der Punkt zu sein, wo sich der absolute Geist von der bloß logischen Idee wirklich unterscheidet. Nur aus dem Begriff des Seinkönnens heraus ließe sich über die freie Setzung sinnvoll sprechen.

Die freie Setzung bedeutet folgendes:

  1. das Aleph setzt die Idee, die Natur und den Geist;

  2. das Aleph selbst ist das von ihm Gesetzte: die Idee, die Natur und der Geist;

  3. das Aleph bleibt im Gesetzten - in seinem Idee- , Natur- und Geist-Sein etwas Größeres als Idee, Natur oder Geist, und zwar: es bleibt es selbst. Es verliert sich in seinem Anderssein nicht (das wird eigentlich eben mitgedacht, wenn von der dreifachen Reflexion in den absoluten Geist die Rede ist).

Das alles (a, b ,c) wird eben in dem Satz gemeint: Das Aleph ist als die Idee, die Natur und der Geist. Dieses Größer-als-das-Gesetzte-Sein des Setzenden wird im Seinkönnen fixiert: Der absolute Geist ist z.B. die Natur, aber er kann sich dieser Existenz enthalten. Hier taucht aber eine Schwierigkeit auf, die aus dem Hegelschen System heraus kaum überwunden werden kann. Wenn wir nämlich sagen, das Aleph setzt den totalen Vermittlungskreis, kann sich aber dieses Setzens auch enthalten, so fragt sich nämlich, wie es eben jenseits des Kreises beschaffen ist, um sich des Setzens enthalten zu können. Die am nächsten liegende Antwort lautet: das Aleph ist schon in sich selbst dieser Kreis. Diese Antwort ist aber selbst fragwürdig: ist es in diesem Fall nicht so, daß das Aleph diesen Kreis in sich eigentlich nicht loswerden kann und deshalb schon kein Seinkönnendes, sondern ein Seinmüssendes ist? Ob und wie Schelling mit diesem Problem in seiner “Philosophie der Offenbarung” fertig wird, sei hier dahingestellt. Wir müssen jetzt nur konstatieren, daß Hegels System nicht genug artikuliert ist, um dieses Problem zu behandeln. Oder stehen wir hier schon an der Grenze des sinnvoll ausgesprochen werden Könnenden?

In der Umkehrung des im System erreichten Resultates steckt noch ein prinzipielles Problem, das zu artikulieren und zu lösen ist, wenn nämlich diese Umkehrung ernst genommen und konsequent vorgenommen werden soll. Das ist das Problem des Verhältnisses des menschlichen und des absoluten Geistes. Einerseits soll der absolute Geist bei Hegel das Resultat einer spekulativen Steigerung des menschlichen Selbstbewußtseins sein. Andererseits ist er das absolute Prius. Für dieses Paradoxon gibt es eine Lösung, die dem Systemzusammenhang nicht nur gar nicht widerspricht, sondern der einzige Weg zu sein scheint, auf dem man der Hegelschen Intention gerecht werden könnte. Zu dieser Lösung gehört ein Gedankengang, der bei Hegel auch nicht ausgesprochen ist, denn dazu müßte der systematische Begriffsapparat weiter differenziert werden, was bei Hegel gerade nicht der Fall ist.

II. Der spekulative Symbolismus


Erstens muß eben der Unterschied ausgesprochen werden zwischen dem absoluten Geist als Prius und dem “menschlichen” absoluten Geist. Zweitens muß der absolute Geist trotzdem als Eine Realität begriffen werden. Diese Einheit wird durch die Einsicht begreiflich, daß der “menschliche” absolute Geist nichts anderes ist als ein Durchbruch, eine Anwesenheit des schlechthin absoluten Geistes im menschlichen Bewußtsein. Diesen Durchbruch dürften wir auch das spekulative Symbol des schlechthin absoluten Geistes nennen. Das spekulative Symbol ist nämlich die Weise der Anwesenheit des Unendlichen im Endlichen, oder das als das Endliche daseiende Unendliche.5 Die Grundstruktur dieses Als-etwas-Seins haben wir schon gesehen bei der Erörterung des Verhältnisses des absoluten Geistes zur logischen Idee, der Natur und dem endlichen Geist. Die höchste metaphysische Aufgabe des menschlichen Geistes ist in diesem Zusammenhang, sich zu einem Ort zu gestalten, in den sich der schlechthin absolute Geist ausgießt. Dazu muß das endliche Bewußtsein einen bestimmten Steigerungsweg zurückgelegt haben. Diesen Weg will Hegel als einen Weg der Spekulation verstanden wissen.

Was ist bei Hegel Spekulation? Ich fasse kurz die wichtigsten Momente zusammen:

  1. Spekulation ist das Bewußtwerden und das Bewußtsein der absoluten Idee. Wenn der Mensch sich dieses Inhaltes bewußt wird, so verleiht er sozusagen diesem Inhalt sein Bewußtsein, so daß nun die Idee dadurch im menschlichen Geist zu ihrem Selbstbewußtsein kommt. Der Inhalt der absoluten Idee ist aber nichts anderes als der Begriff des absoluten Geistes. Wenn wir uns nun mit der Behauptung begnügen würden (die freilich auch als solche wohl nicht ganz trivial ist), daß der Begriff des absoluten Geistes es sei, das Selbstbewußtsein der logischen Idee zu sein, so müßten wir zur Folgerung kommen: Die bewußte Einsicht in diesen Begriff ist zugleich eine metaphysische Realisation dieses Begriffes und damit ein wirkliches Entstehen des absoluten Geistes im Geiste des Menschen

  2. Aber der absolute Geist ist, wie schon gesagt, etwas prinzipiell Größeres als nur das Selbstbewußtsein der logischen Idee: er ist eben der sich in sich selbst reflektierende Selbstbewußtseinsakt des schlechthin absoluten Geistes als solchen. Auf der ersten Stufe der Spekulation kommt aber der menschliche Geist noch nicht dazu, sich mit diesem Akt zu identifizieren. Deshalb muß er eine zweite Steigerung unternehmen, und zwar eine Umkehrung seines den logischen Begriff denkenden Bewußtseins, die darin besteht, daß dieses Bewußtsein sich auf diesen Akt des Denkens und des Sich-der-absoluten-Idee-bewußt-Werdens richtet. Diese Auf-sich-selbst-Gerichtetheit des durch das spekulative Denken geläuterten Selbstbewußtseins ist eine über die logische Idee, die Natur und den endlichen Geist hinausragende Spitze des menschlichen Ich. Und das sollte der metaphysische Ort der “Begegnung” und der geistigen Einung des Menschen mit dem Absoluten sein.

  3. Aber es scheint hier leider nicht so “automatisch” zu gehen wie auf der ersten Stufe der Steigerung. Es ist nämlich gar nicht selbstverständlich, daß der Mensch durch diese Umkehrung seines Bewußtseins den Punkt erreicht, wo dieses Bewußtsein mit dem absoluten Selbstbewußtsein identisch wird. Wenn sich der Mensch in der Spekulation auf sein Selbstbewußtsein besinnt, warum soll dieser Akt eben dieselbe Eine Realität sein, die wir die Selbstbezüglichkeit des absoluten Selbstbewußtseins nennen? Fällt diese Spitze der menschlichen Persönlichkeit wirklich mit der Spitze des Absoluten zusammen? Das dürfte schon aus folgenden formellen Gründen bezweifelt werden.

  4. Das, was der Mensch in seinem Ich durch Spekulation haben kann, ist nicht diejenige Realität, welche als der schlechthin absolute Geist die logische Idee, die Natur, die Welt und den endlichen Geist in sich durchdringend umfaßt und als wirklich aufgehobene Momente enthält.

  5. Das ist auch nicht die Realität, die diese Momente frei setzt.

  6. Die Spekulation kann die Einkehr des schlechthin Absoluten auch darum nichtautomatisch bewirken, weil der schlechthin absolute Geist immer frei ist, sich dem Menschen mitzuteilen oder sich der Selbstmitteilung zu enthalten. Diese Dimension der Beziehung des Menschen zum Absoluten dürften wir ein Ich-Du-Verhältnis nennen. Betrachten wir diese Dimension etwas näher.

III. Das Ich-Du-Verhältnis des Menschen und des Absoluten und der spekulative Symbolismus


Der schlechthin absolute Geist als das unendliche Selbstbewußtsein, das auch “außer und unabhängig” vom menschlichen Bewußtsein besteht und aus dieser seiner souveränen, freien Transzendenz heraus den endlichen Geist anspricht, ist für den letzteren eben als ein Du. Das als ein Du Sein des absoluten Geistes wäre nichts anderes als dessen Sein für den endlichen Geist, sofern der letztere sich von dem ersteren unterscheidet. Dieser Unterschied ist aber im spekulativen Symbol nicht weiter wegzudenken, denn der schlechthin absolute Geist läßt sich nicht auf seine Anwesenheit im endlichen Bewußtsein reduzieren. Sonst hätten wir einen “Durchbruch” ohne das Durchbrechende, also keinen eigentlichen Durchbruch, sondern nur eine flache, “kriechende” Immanenz des Absoluten im Sinne der “linken” Seite der Hegelschen Schule. Hier tauchen aber folgende Probleme auf.

  1. Das Du als solches scheint sich jeder vergegenständlichenden Erkenntnis zu entziehen. Auf einem rein immanenten Wege, durch eine spekulative logische Entwicklung kann ich aber das Absolute als Du auch nicht für mich und in mir entstehen lassen. Das Du ist eben nicht ich. Hier taucht wieder ein Moment der Vor-Stellung auf. Es hat hier aber einen ganz spezifischen Sinn: Nicht ich stelle mir ein Du vor, sondern ein Du stellt sich mir vor. Und dieses Moment läßt sich nicht durch die Spekulation spurlos abschaffen. Ich muß nämlich erst eine vom Absoluten selbst ausgehende Mitteilung seiner selbst bekommen. Zu dieser Mitteilung gehört nämlich der freie Anspruch des Absoluten an den Menschen, und das ist eben, was sich durch die “natürliche” Magie der Spekulation nicht zwingend hervorbringen läßt. Etwas ist für mich als ein Du erst dann, wenn es sich mir aktiv kundgibt. Die Tätigkeit des Sich-selbst-Eröffnens geht von diesem Etwas aus und richtet sich auf mich, spricht mich aus dessen Freiheit heraus an. Nur aus meinen eigenen Kräften kann ich schon eigentlich auch ein endliches Subjekt nicht als ein Du erkennen, denn zu dieser meiner Erkenntnis gehört eben auch die Aktivität dieses Subjektes. Rein theoretisch geht es hier grundsätzlich nicht. Das Erkennen des Du ist deshalb kein theoretisches Resultat, sondern immer eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist für mich ein lebendiges Geschehen, wo eine andere geistige Realität auf mich zukommt und sich mir offenbart. Durch diese Offenbarung wird mir dieses Geschehen eigentlich geschenkt, und wenn von einer höheren, meine Endlichkeit überragenden geistigen Realität die Rede sein muß, so ist hier auch das Moment der Gnade wesentlich zu beachten. Wenn schon der schlechthin absolute Geist sich dem zu einem spekulativen Symbolismus gesteigerten menschlichen Geist offenbart, so ist diese Offenbarung kein Resultat einer theoretischen Deduktion. Eine spekulative Steigerung bereitet bestenfalls nur einen Platz vor, wo sich die metaphysische Geschichte abspielen kann, nicht aber abspielen muß. Denn der sich offenbarende Inhalt ist die Freiheit selbst. Das sich Offenbarende bleibt immer das sich offenbaren Könnende, nicht aber das sich offenbaren Müssende. Deduziert werden kann ein absolut notwendiges Wesen (eine spinozistische Substanz, eine bloß logische Idee - blind, “unvordenklicherweise” in die Existenz übergegangen), nicht aber das absolut freie Subjekt alles Seins, nicht das Seinkönnende.

Wenn wir aber sagen, daß das spekulative Symbol nur ein Ort ist, wo das Geschehen der Offenbarung stattfinden kann, so ist damit auch folgendes mitgesagt: Der Ort der möglichen Begegnung des Menschen und des Absoluten ist aber noch nicht die angestrebte Begegnung selbst. Dieser Ort kann noch so “rein” und “leer” gemacht werden, eine Notwendigkeit des Sich-Ausgießens des absoluten Selbstbewußtseins ist damit kaum gesetzt. Das Gesetz von kommunizierenden Gefäßen, das als Gleichnis in verschiedenen Formen wohl auch Meister Eckhart vorschwebte, scheint zu physikalisch, zu naturalistisch zu sein, um auf eine freie geistige Realität zutreffen zu können. Es sei dem Menschen nach diesem Gleichnis genug, seinen Geist vom endlichen Inhalt leer und für das Unendliche “offen” zu machen, und - weil die “Natur” keine Leere duldet - der absolute Geist sei schon da. Wenn aber dabei vom Seinkönnenden die Rede sein soll, so müßten wir, um die Geltung dieses Gleichnisses aufrechtzuerhalten, annehmen, daß der endliche Geist unter einem ständigen Druck eines von dem Absoluten ausgehenden und an ihn gerichteten Anspruches steht. Diese Annahme scheint aber doch fragwürdig zu sein. Wir können freilich sagen, daß alles vom absoluten Geist durchdrungen und in ihm enthalten ist, daß wir nur diese Immanenz für unseren Geist aktualisieren müssen, daß wir diese Aktualisierung aus eigenen Kräften erreichen können und daß eigentlich unser eigener individueller endlicher Geist nur eine Daseinsweise des absoluten Geistes ist, weshalb die Gegenüberstellung des endlichen und des absoluten Geistes nicht verabsolutiert werden darf. Auch mein eigenes Bewußtsein ist nichts anderes als das absolute Ich, das als mein Bewußtsein da ist. Mein Bewußtsein ist nur ein besonderer endlicher Gesichtspunkt, aus dem der absolute Geist das Universum betrachtet und der von dem absoluten Geist gesetzt wird. Auch als endliches Bewußtsein gehöre ich schon dem absoluten Selbstbewußtsein. Und mehr noch: auch die Reflexion meines Bewußtseins in sich (mein Selbstbewußtsein) gehört dem absoluten Geist. Und hier wird es seinerseits fragwürdig, ob das Ich-Du-Verhältnis die letzte Wahrheit in der Beziehung des Menschen zum Absoluten ist. Denn das Ich-Du-Verhältnis ist eben nur eine besondere Weise des Ich-Ich-Verhältnisses des absoluten Geistes. Und der Übergang zu dieser höheren Stufe vom endlichen Geist her ist nicht grundsätzlich versperrt. Aber das wichtigste Moment des Ich-Du-Ver­hältnisses bleibt auch bei diesem Übergang gültig: Zu dieser Steigerung gehört nämlich eine aus dem absoluten setzenden Zentrum eigens ausgehende und frei ans endliche Ich gerichtete Aktivität, die als solche nicht dem endlichen Ich gehört. Wir sollen dabei nicht vergessen, daß es die freie Immanenz einer Realität ist, die immer in sich selbst reflektiert bleibt und letzten Endes nur für sich selbst ist.

  1. Hier begegnen wir aber auch einer weiteren Schwierigkeit. Es fragt sich nämlich: Was wird aber eigentlich dann im menschlichen Geist von Gott angesprochen? Ist das zu einem spekulativen Symbol geläuterte Selbstbewußtsein des Menschen nicht im Grunde eben nur ein metaphysischer Raum, wo sich das Absolute nur an sich selbst wendet und sein ewiges “Selbstgespräch” führt? Was bleibt hier eigentlich für das menschliche Selbstbewußtsein als solches übrig?

  2. Wir müssen uns auch fragen, ob und wie überhaupt das Selbstbewußtsein als ein bloßer Ort für einen bestimmten Inhalt gedacht werden kann. Denn das Selbstbewußtsein als Element scheint so beschaffen zu sein, daß in diesem Fall der angestrebte Inhalt schon außerhalb dieses Elementes liegen muß. Oder: das Selbstbewußtsein nur als ein bloßer Ort der Begegnung des Menschen mit dem Absoluten gedacht muß eben durch diese seine Blöße schon kein Ort der Begegnung überhaupt sein.

Dürfen wir uns aber in unserem Zusammenhang mit einem folgenden allgemeinen Gedankengang begnügen: Wenn etwas eben im Selbstbewußtsein ist, so sei es schon dadurch zugleich für das Selbstbewußtsein?

  1. Das Selbstbewußtsein des Menschen ist das Ich-Ich-Verhältnis im menschlichen Geist.

  2. Das Selbstbewußtsein Gottes ist das Ich-Ich-Verhältnis im göttlichen Geist.

  3. Aber das Selbstbewußtsein des Menschen ist nichts anderes denn das als das Selbstbewußtsein des Menschen daseiende absolute Selbstbewußtsein.

Dieser Punkt ist näher zu betrachten: wie wäre nämlich das als mein Selbstbewußtsein daseiende absolute Ich zu begreifen?

  1. Das absolute Ich ist in meinem Bewußtsein (das Moment der Immanenz);

  2. Das absolute Ich bleibt auch in meinem Selbstbewußtsein das Ich-Ich-Verhältnis des absoluten Geistes (das Moment der Transzendenz);

  3. Am schwierigsten zu begreifen ist aber folgendes: die Selbstbezogenheit des absoluten Geistes geht hier eben durch die Selbstbezogenheit meines Geistes hindurch.

Aus dem Begriff des Seinkönnenden heraus muß auch hier das Moment der Immanenz nur in seiner Einheit mit dem Moment der Transzendenz begriffen werden. Apophatisch ausgedrückt: Wenn ich den Selbstbezug meines eigenen Bewußtseins vollziehe, so kann das noch nicht bedeuten, daß ich mir damit (wieder “automatisch”) auch des absoluten Selbstbewußtseins bewußt werde. Und das muß nicht nur auf das “objektive”, sondern auch auf das “subjektive” Dasein meines Selbstbewußtseins im absoluten Geist zutreffen. Im ersteren Fall bedeutet es: der absolute Geist ist als mein Selbstbewußtsein, ohne daß ich mir dabei des absoluten Geistes in mir bewußt werde. Er ist in mir für sich, ohne dabei für mich zu sein. Im letzteren Fall ist der absolute Geist als mein Selbstbewußtsein so, daß er mir in mir bewußt wird. Aber auch hier muß mein eigener Selbstbewußtseinsakt etwas enthalten, was ihm nicht gehört, und zwar: Das Seinkönnend-Sein des absoluten Geistes. Das Für-mich-Sein des absoluten Geistes wird eben nicht von mir gesetzt. Das absolute Fürsichsein ist hier auch für mich, ohne aufzuhören, sich auf sich selbst zu beziehen und jedenfalls ohne für mich sein zu müssen.

* * *

Aus dem Gesagten dürfte schon einleuchtend sein, daß der Absolutheitsanspruch der Spekulation nur dazu führt, daß sie ihr eigenes Ziel verfehlt. Wird aber doch etwas Positives durch die Erfahrung der Spekulation gewonnen? Wir dürften diese Frage bejahen, indem wir folgendes beachten.

  1. Die Spekulation ist eine dialektische Disziplin des Geistes, die den Menschen anregt, das Absolute in sich selbst zu suchen, indem sie die Aufforderung des Absoluten an den Menschen folgenderweise vernehmen läßt: “Werde zu meinem lebenden Symbol!”

  2. Das scheint aber ein Weg zu sein, der erst der Würde des Menschen als freies Wesen gerecht wird. Die Freiheit ist hier eben das Element, wo das Absolute als das absolut Freie auch im Menschen und für den Menschen symbolischerweise auftauchen kann, und zwar nicht nur als Du, sondern auch als Kern seines eigenen Ich. Die Spekulation begreift die Freiheit nicht als eine bloße Willkür, aber auch nicht als eine blinde “innere Notwendigkeit”, sondern als das in der inneren Unendlichkeit des Subjektes liegendes Seinkönnen. Das ist eben, was mit dem Aufheben des vor-stellenden Verhältnisses des Menschen zum Absoluten gemeint ist. Auf diesem Weg soll der Mensch nicht nach außen und nicht nach oben schauen, sondern in sich selbst hinein und durch sich selbst hindurch zu seinem eigenen Selbst. Das Selbst-Sein ist für den Menschen eine Aufgabe, deren Erfüllung er sich im Prozeß der Individuation (C.G. Jung) annähert, indem er allmählich aus seinem Infantilismus erwacht, um freie Persönlichkeit zu werden. Zu diesem Prozeß gehört aber, daß der Mensch aufhört, an einen höheren Geist zu appellieren, Trost und Belohnung aus einem oder in einem Jenseits zu verlangen und zu erhoffen. Hier kommt der Mensch zu der Einsicht, daß seine Vorstellung davon, wie das Absolute beschaffen ist, eine Projektion der Struktur seiner eigenen Geistigkeit nach außen ist. Und diese Projektion muß eingestellt und nach innen gekehrt werden, damit sich der Mensch dessen bewußt werden kann, was in seiner Vorstellung aus seiner noch nicht aus- und abgelebten Infantilität und was aus seinem höheren Selbst kommt, das erst erweckt werden muß.

  3. Dieses Erwachen bedeutet aber schon etwas prinzipiell Höheres als bloße Spekulation: das ist nämlich nicht nur eine kontemplative Einstellung, sondern auch eine geistig-praktische Tätigkeit, wo der Mensch es lernt, ohne eine äußere Stütze, die er in seiner Vorstellung von einem höheren Geist hat, doch nicht aus seiner Endlichkeit, sondern aus seiner Unendlichkeit heraus zu handeln. Und dieses Handeln aus der Freiheit lernt der Mensch erst dann wirklich, wenn er auf diesen Blick nach außen und nach oben verzichtet und daran arbeitet, seine geistige (und überhaupt all seine vitale Energie) in einem inneren Brennpunkt zu konzentrieren, wo das Absolute selbst aufflammt. Diese von der mystischen Tradition (in Deutschland in erster Linie von Meister Eckhart) herrührende Aufgabe an den Menschen macht auch den Hauptinhalt der spekulativen Einstellung aus: Der Mensch als Geist verklärt seine Natur entsprechend der Idee, um in sich selbst den dreifachen Schluß des absoluten Geistes zu vollenden.

Die Spekulation will aber schon in sich selbst diese Vollendung sein. Aber durch die spekulative Steigerung wird eigentlich nur eine rein theoretische Realität erreicht und im besten Fall die (auch nur theoretische) Einsicht, wie das lebendige Symbol des Absoluten beschaffen werden soll, was auch im spekulativen Symbolismus ahnungsweise dargestellt wird. Deren Anspruch aber, eine wirkliche Praxis der Einung des Menschen mit dem Absoluten zu sein, erweist sich in unserem Zusammenhang eher als eine ziemlich fragwürdige Anmaßung einer einseitigen theoretischen Vernunft, die ihre Grenzen weder kennt noch kennenlernen will.

1 Vgl. die gleichnamige Erzählung von J. L. Borges, wo ein Punkt beschrieben wird, der das ganze Universum umfaßt, wobei jeder Punkt des Ganzen in sich wiederum das Ganze darstellt.

2 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik, in: G.W.F. Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. von H. Glockner, Bd. 4, S. 74 - 75.

3 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Erster Band, in: G.W.F. Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. von H. Glockner, Bd. 15, S. 217.

4 F.W.J. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchner Vorlesungen (1827), in: F.W.J. Schelling: Werke, fünfter Hauptband, München 1979, S 226.

5 Eine ausführliche Erörterung hierzu sieh bei A. Kritschewskij: “Spekulativ-theologischer Symbolismus als das Denken des Absoluten. Zum Problem des absoluten Selbstbewußtseins bei Hegel” in: Der Mensch und seine Frage nach dem Absoluten: Ein deutsch-russisches Symposion, München 1994. S. 129 - 155.