Neologische Geschichtsphilosophie
Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Betrachtungen
über die vornehmsten Wahrheiten der Religion *
Andreas Urs Sommer
Zukunft ist
nur für Menschen.
(1,118)[1]
Ist in der Neologie mehr Aufklärungspotential verborgen, als heutiger Theologie lieb sein kann?[2] Was ist das für eine Theologie, die selbst Theologen widerwärtig ist? Um den Horizont dieser Fragen zu umreissen, soll im folgenden ein Schlüsselwerk der deutschen Aufklärungstheologie in seinem geistesgeschichtlichen Kontext ausführlicher zu Wort kommen. Zu eruieren wird sein, ob die Neologie, wenn schon nicht für moderne Theologen, so doch vielleicht für die Nichttheologen unter Jerusalems Zeitgenossen Anknüpfungspunkte bot. Gehörte die Theologie damals bereits einer anderen Welt an als die Philosophie, die 'profanen' Wissenschaften? Ist die Neologie das Rückzugsgefecht einer ihrer Pfründen nach und nach beraubten Amtskirche? Oder vielmehr einen Versuch der Theologie, in theoretischer Hinsicht auf der Höhe der Zeit zu sein? Exemplifizieren will ich diesen Fragenkatalog an einem spezifischen Problem: Wie verträgt sich die in der Neologie unternommene Modernisierung der Heilsgeschichtsschreibung mit den geschichtsphilosophischen Ideen der 'profanen' Aufklärung? Wie soll da 'Sinn' durch Geschichte gestiftet werden?
Zu jenen Theologen, die sich im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über Fach- und Duodezfürstentumsgrenzen hinaus allgemeiner Anerkennung erfreuten, gehörte zweifellos Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789). 1789 schreibt Alexander von Humboldt: "In Braunschweig spricht man von Jerusalem, wie man in Athen mag von Jupiter gesprochen haben. Will man etwas unwiderstreitlich machen, so sagt man, Jerusalem hat es gesagt, — und alle glauben's!"[3] Die von seiner fürstlichen "Freundin", Herzogin Philippine Charlotte von Braunschweig-Lüneburg verfasste Grabinschrift — "Zur Aufklärung legte er / den ersten Grund"[4] — verrät, dass Jerusalem mitnichten ein Mann der alten, orthodoxen Schule war. In den theologiegeschichtlichen Handbüchern hat sich der Brauch eingebürgert, ihn als hervorragenden Vertreter der Neologie anzuführen[5] — jener dem Vernehmen nach gemässigten, sich kirchlich festigenden Form der Aufklärung, die nicht nur die Philosophie Christian Wolffs und seiner Nachfolger selektiv aufgenommen hatte, sondern sich in Abwehrstellung gegenüber dem radikalen Deismus begriff und dem Pietismus in der Betonung des Individuums und der praktisch realisierten Frömmigkeit ähnelte.[6] Dennoch wäre es ein "Irrtum, sich die Theologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als von Wolffs Philosophie im Schulsinne beherrscht zu denken".[7] Vielmehr sind es allgemeine Leitlinien der Gedankenführung, des ‚Räsonierens‘, die die Neologie zu integrieren wusste. Ganz selbstverständlich verstand sie sich als Teil der "Aufklärung". So mag es heute überraschen, dass Jerusalem in seinen für Laien bestimmten Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheit der Religion ganz selbstverständlich die Diskussion sucht mit Leibniz, Bayle und Locke, Rousseau, Voltaire und Hume[8] — ebenso, dass kosmologisch-religiöse Lehren, die Jerusalem in seinen Predigten aus dem kopernikanischen Weltbild zieht, von Leonhard Euler als "vortrefflich" gewürdigt werden.[9]
Von etwa 1760 an begann die Neologie, das religiöse Leben mitzubestimmen. Während der bis zur Jahrhundertmitte dominierende Wolffianismus noch die ungeschmälerte Harmonie von Vernunft und Offenbarung herausgestrichen und die meisten dogmatischen Lehrstücke beibehalten hatte, ging die Neologie dazu über, die "markantesten Lehren der kirchlichen Vergangenheit […] mit philologisch-historischen Mitteln"[10] zu beseitigen, und hielt gleichwohl am Offenbarungsbegriff fest. Auf der Fluchtlinie dieser Entwicklung steht am Ende des Jahrhunderts der theologische Rationalismus mit seiner faktischen Verabschiedung des Offenbarungsbegriffes ganz zugunsten der religiösen Vernunftwahrheiten, welche beispielsweise die Bibel in nuce enthalte.
Dem Lessing-Arbeitsbuch von Wilfried Barner u. a. ist zu entnehmen, dass im Jahr 1750 von 1296 deutschsprachigen Neuerscheinungen 71,1%, im Jahr 1800 hingegen von 4012 neuen Büchern bereits 94% 'weltliche' Literatur gewesen seien. Gemäss der dort wiedergegebenen Aufstellung wurden 1750 noch 374 'geistliche' Werke gedruckt, 1800 nur noch deren 234. Die Folgerung liegt nahe: "Die wichtigste Veränderung ist im Rückgang der 'geistlichen' und demgegenüber in der starken Zunahme der 'profanen' oder 'weltlichen' Literatur zu sehen".[11] Diese grundsätzliche Feststellung trifft scheinbar auch auf die Analyse der Leipziger Ostermesskataloge von Albert Ward zu, der für 1740 einen 'geistlichen' Anteil von immerhin noch 38,54% errechnet, 1800 einen solchen von 13,55%. In absoluten Zahlen stellt Ward jedoch eine Zunahme von 246 (1740) bzw. 244 (1770) auf 339 deutschsprachige, 'geistliche' Publikationen im Jahr 1800 fest. Die lateinischen Schriften dieses Genres (1740: 45; 1800: 9) verschwinden demgegenüber fast ganz.[12] Nach dieser Erhebung lässt sich also kein "Rückgang" der 'geistlichen' Buchproduktion, sondern nur eine ungeheure Zunahme der 'weltlichen' beobachten. Genauso wie 1740 gab es auch 1800 noch einen intakten Markt für theologische Literatur, auch wenn damit weder etwas über die Auflagenhöhe, noch etwas über das tatsächliche Leseverhalten ausgesagt ist. Dass sich dieses stark in Richtung 'profaner' Literatur verschoben hat, darf man annehmen. Das zu Beginn des 18. Jahrhunderts die lesenden Schichten dominierende 'geistliche' Buch fristete am Ende des Jahrhunderts nur noch ein Nischendasein — gerade weil die im Verlaufe von 100 Jahren hinzugewonnenen Leserschichten mehrheitlich kein religiöses, sondern ein 'profanes' Lektüreinteresse gehabt haben.[13] Freilich waren beispielsweise Predigtsammlungen nach wie vor sehr beliebt, hatten aber nicht mehr die zentrale Stellung inne, die den Bibeln, den Postillen und dem Katechismus als Familienlektüre während Jahrhunderten zugekommen war.[14] Kann man aus diesen Befunden folgern, die Theologie sei im allgemeinen Bewusstsein der Zeit vollständig peripher geworden? Eine solche Folgerung wäre bestimmt vorschnell, zumal die Zahlen noch keinerlei Auskunft darüber geben, um welche Art 'geistlicher' Literatur es sich bei den statistisch erhobenen Werken handelt. Mit einiger Sicherheit fehlen darin die gedruckten (Einzel-)Predigten, die nur lokale Verbreitung fanden, aber dort doch eifrig rezipiert worden sein dürften. Überdies liesse sich fragen, wie viel von den traditionell durch das 'geistliche' Buch abgedeckten Sinnstiftungsfunktionen von Büchern übernommen wurden, die unter die Rubrik 'profan' fielen — oder aber, ob solche Bedürfnisse nach wie vor von der in absoluten Zahlen einigermassen konstanten theologischen Buchproduktion erfüllt wurden.
Bei Jerusalem ist gewährleistet, dass er über sein unmittelbares Wirkungsumfeld hinaus wahrgenommen wurde.[15] Seine Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion erschienen nicht nur in zahlreichen Auflagen, sondern auch in französischer, dänischer, holländischer und schwedischer Übersetzung.[16] Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem zählte zu jenen Denkern, die laut Goethe bei den Freunden von "deutscher Literatur und schönen Künsten" beliebt waren, weil sie "in Predigten und Abhandlungen durch einen guten und reinen Stil, der Religion und der ihr so nah verwandten Sittenlehre, auch bei Personen von einem gewissen Sinn und Geschmack Beifall und Anhänglichkeit zu erwerben suchten".[17] Das schriftstellerische Schaffen dieses "frei und zart denkenden Gottesgelehrten"[18] entsprach offensichtlich den Vorlieben der Zeit. Seine Werke fehlten nicht einmal in den katholischen Klosterbibliotheken Süddeutschlands und Österreichs.[19]
Als Sohn eines Superintendenten 1709 in Osnabrück geboren,[20] studierte Jerusalem in Leipzig — wo ihn der Alttestamentler Johann Gottlieb Carpzov mit Jean Le Clerc, Hugo Grotius und besonders Richard Simon bekannt machte,[21] während ihm Johann Christoph Gottsched Beredsamkeit und die Philosophie von Christian Wolff vermittelte[22] —, danach in Wittenberg. Schon in seiner Leipziger Zeit löste sich er sich von der lutherischen Orthodoxie. Nach ernüchternden Versuchen, in der Heimat als Prediger zu reüssieren, trat der begabte junge Mann mehrjährige Reisen nach Holland und Grossbritannien an, mit der Absicht, später eine akademische Karriere einzuschlagen. Seit 1740 als Hauslehrer in Hannover tätig, folgte er 1742 einem Ruf nach Wolfenbüttel als Erzieher des Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg (1735-1806).[23] Seit 1745 versah er auch das Direktorenamt des von ihm initiierten Collegium Carolinum, einer Akademie, die für Studium und nichtakademische Berufe vorbereiten sollte und eine der fortschrittlichsten Bildungsinstitutionen Deutschlands war. Weitere Ämter folgten (1752 Abt von Riddagshausen und Leiter des dortigen braunschweigischen Predigerseminares, 1771 Vizepräsidium des Konsistoriums als Dank für die Ablehnung der ihm angetragenen Kanzlerschaft der Universität Göttingen); sein Einfluss auf den Herzog, dem er, von Wolfenbüttel nach Braunschweig umgezogen, nahe stand, ohne doch je dem Kabinett anzugehören, trug zu einem aufgeklärten Klima im Herzogtum wesentlich bei. Johann Friedrich Jerusalem starb 1789 hochgeachtet und wurde in der Klosterkirche Riddagshausen beigesetzt.[24] Seine schriftstellerische Tätigkeit setzte, von Gelegenheitsschriften abgesehen, 1745 und 1752 mit zwei mehrfach aufgelegten Predigtbänden ein; 1762 folgten Briefe über die Mosaischen Schriften und Philosophie, von 1768 an die Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, mit denen er seinen Ruf als religiös-philosophischer Aufklärer festigte. Bei Jerusalem haben wir es mit einem die Geschicke seiner Zeit aktiv mitprägenden Mann der theologisch-kirchlichen Praxis zu tun. Mit Ausnahme Wilhelm Abraham Tellers (1734-1804), der einige Jahre als Theologieprofessor wirkte, waren die massgeblichen Neologen allesamt nicht im akademischen Lehrbetrieb tätig, sondern in ihren jeweiligen Kirchen.[25] So spricht auch aus Jerusalems Schriften trotz allem darin verarbeiteten Bildungsguts kein Theoretiker der Gottesgelehrsamkeit, sondern ein Praktiker religiös gefärbter Weltweisheit.
In traditionellen theologischen Entwürfen spielt die (durch Heilsgeschichtskonstruktionen bewirkte) Kontingenzbewältigung eine wesentliche Rolle. Diese Rolle wird von der Philosophie, die spätestens seit Christian Wolff einen universalen Geltungsanspruch einforderte — "philosophia est scientia possibilium quatenus esse possunt"[26] — für die eigenen Projekte adoptiert. So rückt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Geschichtsphilosophie zur Kontingenzbewältigungsinstanz ersten Ranges auf: Die Idee universalgeschichtlicher Kohärenz und fortschrittlicher Entwicklung, die im deutschsprachigen Raum erstmals von Isaak Iselins Geschichte der Menschheit (1764) auf den Gesamtstoff der Weltgeschichte appliziert worden ist,[27] gewährt dem Individuum mit seiner eigenen Geschichte und seinem eigenen Schicksal die Einbettung in ein Sinnganzes, das die neuzeitliche Philosophie bis dahin nicht erschlossen hatte.
Die Geschichtsphilosophie als eigenständige Sparte philosophischer Reflexion, die sich nicht länger damit zufrieden gab, die Taten der Altvorderen als exemplarisch für die Haupt- und Staatsaktionen der Gegenwart hinzustellen, sondern vielmehr die ganze Geschichte des Menschen als Rahmen zu begreifen lehrt, in welchem sich alles individuelle Handeln abspielt und der diesem Handeln eine überindividuelle Bedeutung verleiht — diese Geschichtsphilosophie ist eine recht junge Erfindung. Erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts erobert sich die Philosophie den Bereich der Geschichte als Kerngebiet eigener Kompetenzdemonstration. Während es die klassische Metaphysik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit den unwandelbaren Substanzen, der englische Empirismus hingegen mit den Gegenständen der Physik zu tun hatte, entdeckt die sogenannte nachwolffianische Popularphilosophie parallel zu ähnlichen Entwicklungen in Frankreich, aber auch in Italien und Schottland, die Geschichte. Geschichte wird nicht länger als wirre, wissenschaftsunfähige Abfolge von Ereignissen oder als Mustersammlung zu politischer Klugheit, sondern als ein von Gesetzmässigkeiten und übergeordneten Bedeutungszusammenhängen bestimmtes Ganzes begriffen. Man beginnt Geschichte als Einheit zu begreifen, die von dunklen Uranfängen bis in die Gegenwart reicht und auf diesem Gang einen Entwicklungsbogen beschreibt. Das Erkenntnisinteresse, über die Mechanismen und Zusammenhänge in der Menschheitsgeschichte unterrichtet zu sein, paart sich in dieser spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie von Anfang an mit einem pastoralen Interesse: Geschichtsphilosophie will den Einzelnen über die Sinnhaftigkeit seiner Existenz aufklären. Geschichtsphilosophie will Sinn- und Orientierungsdefizite decken, indem sie dem Individuum nicht nur einen Platz in der Gesellschaft zuweist, sondern eine Funktion im Gesamtgefüge all dessen, was geschieht. So ist es beispielsweise Immanuel Kants erklärte Absicht, etwaige "Unzufriedenheit mit der Vorsehung, die den Weltlauf im Ganzen regiert", zu beseitigen, sei es doch "von der grössten Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu sein".[28]
Diese Gedankenfigur, durch die Geschichtsbetrachtung Zufriedenheit mit dem eigenen Schicksal und dem Walten der Vorsehung zu stiften, ist minichten, wie eine modernistische Lesart gerne suggeriert, opportunistische Erbaulichkeitsrhetorik, sondern formuliert das Selbstbewusstsein und den Kompetenzanspruch der neuen Geschichtsphilosophie. Freilich ist die Gedankenfigur als solche keineswegs neu — nicht einmal Kants prägnante Formulierung ist es. Bei Jerusalems Neologen-Kollegen, dem reformierten Leipziger Prediger Georg Joachim Zollikofer (1730-1788) ist es 1777 die vornehmste Aufgabe "der Religion und des Christenthums", "Zufriedenheit mit allen Anordnungen und Schickungen der Vorsehung" zu stiften,[29] was er indes nicht unter Rekurs auf die Weltgeschichte, sondern auf traditionellere Theodizee-Argumente zu erreichen sucht. Aber auch hier sind wie in der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie die Übel nur Mittel zum Zweck, nämlich des Guten — in Zollikofers Fall der individuellen Glückseligkeit, im geschichtsphilosophischen Fall des Entwicklungszieles, etwa der "weltbürgerlichen Gesellschaft" (Kant). Die Geschichtsphilosophie — ohne blosses Säkularisat theologischer Konzeptionen zu sein[30] — teilt mit der ihr zeitgenössischen Theologie ein wesentliches Motiv. Und die Theologie hatte ja, im Unterschied zur Philosophie, immer schon eine zusammenhängende, sinnstiftende Geschichtserzählung — angefangen bei der Welterschaffung bis hin zum Jüngsten Tag — bieten können, um so das Einzelleben in einen Orientierungskontext einzubeten. Allerdings hatten die Erkenntnisse der historischen und philologischen Kritik die auf biblischer Grundlage stehenden, heilsgeschichtlichen Konstruktionen in Plausilibilitätsnotstand gebracht. Entsprechend selten werden im 18. Jahrhundert heilsgeschichtliche Gesamtentwürfe, die noch reklamieren, die profane Geschichte der Welt integrieren zu können.[31] Was jedoch stellt die Theologie — namentlich die der Aufklärung wohlwollende — angesichts der Formierung einer eigenständigen Philosophie der Geschichte nunmehr mit der Geschichte an? Immerhin liegen Stärke und Schwäche des Christentums darin, dass es nicht auf Mythen, sondern auf Geschichtstatsachen gegründet zu sein wähnt. Die Geschichte kann der Theologie auf keinen Fall gleichgültig sein.[32] Wie nun geht die Neologie mit Geschichte und Geschichtlichkeit um?
Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion[33] sind Torso geblieben, obwohl sie ursprünglich binnen zweier Jahre hätten fertiggestellt werden.[34] Gemäss dem "Verzeichniss aller Betrachtungen des ganzen Buchs" (1, unpag. Bl. VII-VIII) wollte das auf drei Teile projektierte Werk im ersten Teil rationaltheologisch die Fragen nach Gott, nach seiner "moralischen Natur", nach der "Vorsehung", nach dem "Bösen", nach dem "zukünftigen Leben", nach der "moralischen Natur des Menschen", nach der "Religion" im allgemeinen und schliesslich im Verhältnis zu "Aberglauben" und "Unglauben" klären. Dieser Teil liegt ausgeführt im ersten, 1768 erschienenen Band vor. Der zweite Teil hätte die biblische Geschichte von der Schöpfung bis zum späten Judentum zum Gegenstand gehabt, der dritte das Auftreten Jesu Christi und seine Folgen bis zur Gegenwart. Tatsächlich umfassen die 1774 und 1779 publizierten beiden Teilbände des zweiten Teils[35] nur die Zeit von der Welterschaffung bis zu Moses. 1792 legte Philippine Charlotte Jerusalem im ersten Band der nachgelassenen Schriften ihres Vaters die Jesus betreffenden Texte als "Hinterlassne Fragmente" vor.[36] Die fehlenden Passagen — von Moses bis Jesus und von diesem bis zur Gegenwart — wurden wahrscheinlich nicht ausgearbeitet.[37]
Die prominent als Titelbestandteil
der Betrachtungen firmierende Widmung
"An Se. Durchlaucht den Erbprinzen von Braunschweig und Lüneburg"
lässt erwarten, dass Jerusalems Ausführungen den Rahmen politischer
Opportunität in einer feudalen Gesellschaft nicht sprengen. Der Widmungsträger,
Prinz Karl Wilhelm Ferdinand, hatte von seinem Erzieher ausdrücklich eine
solche Darstellung der Glaubenswahrheiten verlangt. Indessen fehlte im ersten
Band die als zehnte angekündigte, für den erlauchten Auftraggeber besonders
einschlägige Betrachtung über "die Pflichten und Rechte des Fürsten gegen
die Religion, imgleichen das Recht der Gewissensfreyheit und dessen vernünftige
Schranken" (1, unpag. Bl. VI
verso). Als Adressaten der Buchfassung wünschte sich Jerusalem hingegen
nicht bloss gekrönte oder zu krönende Häupter, sondern ganz allgemein jene
"Classe von Lesern […], deren Stand und Geschäffte es nicht leiden in die
genauere und gelehrtere Untersuchungen sich einzulassen, denen es aber […] zu
ihrer Beruhigung so viel wichtiger ist, die Grundwahrheiten ihres Glaubens […]
kennen zu lernen" (1, unpag. Bl.
V recto/verso).
Bei dieser Umschreibung apologetischer Zielsetzungen fällt bereits einer jener Ausdrücke aus dem Wortfeld der "Ruhe", die leitmotivisch wiederkehren werden: Beruhigung ist das, was Jerusalems Reflexionen angesichts vielfältiger, freidenkerischer Anfechtungen — "[k]ann denn auch die Raserey eine Modephilosophie werden?" (1, 40) — zeitigen sollen. Derlei Beruhigung ist 1768 mit einer von den Zeitläuften unbeeindruckten Wiederholung der hergebrachten dogmatischen Lehrformeln nicht mehr zu gewinnen. Vielmehr schafft in Jerusalems Augen erst die Entrümpelung der alten, mit allerhand Monstrositäten vollgepferchten Speicher der Theologie die Voraussetzung für eine umfassende Beruhigung der Gemüter. Diese Entrümpelung nehmen die Betrachtungen unerschrocken in Angriff. Apologie heisst im Falle von Jerusalems Neologie zuallererst offensive Bestimmung des eigenen Standpunktes, nicht so sehr Besitzstandswahrung um jeden Preis.[38] Die Betrachtungen "bleiben immer Gedanken eines einzelnen Mannes, die jedem andern durch eigne Prüfung erst wahr werden können" (3, Vorrede, unpaginierte Bl. III recto). Damit distanziert sich Jerusalem von 'Autoritätsdiskurs', der die persönlichen Wahrheiten für das lautere Offenbarungswort ausgibt. Er ermuntert seine Leser, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. So verwirklicht er eine Forderung der Aufklärung nach der Aufhebung von Gewissenszwang und weist jede Interpretation zurück, die seine Darlegungen als offizielle oder offiziöse kirchenpolitische Verlautbarung deklarierte. Den Betrachtungen geht es nicht um kirchen- oder gesellschaftspolitische Programmatik, sondern um die Aufklärung von Individuen über das, was sie glauben und hoffen dürfen.
Jerusalem verschmäht es, sich primär an Fachtheologen zu richten, wie er überhaupt die Theologie als Disziplin verdächtigt, die Menschen der einfachen Religionswahrheiten zu entfremden.[39] Anstatt Theologie zu treiben — was für Jerusalem so viel heisst, wie sich in spitzfindigen, blutleeren Distinktionen zu ergehen —, will er die allgemeingültigen "vornehmsten Wahrheiten der Religion" darlegen; im ersten Band seines Werkes abgelöst von der biblischen Überlieferung kraft vernünftigen Nachdenkens, in den folgenden durch Nachvollzug des mit der Bibel "Geoffenbarten".[40]
Die Sätze einer Religion, die für alle Menschen seyn soll, müssen kurz und fasslich für den schlichtesten Menschenverstand seyn, und unmittelbaren Einfluss auf die Besserung, die Beruhigung und die Wohlfahrt der Menschen haben; sie müssen an sich selbst anziehend für den Menschen seyn, die Natur muss sie ihm schon fühlbar machen, er muss ihre Wahrheit und Wohlthätigkeit gleich empfinden; dagegen muss der Denker auch die Freiheit haben, sie mit allem Scharfsinn zu untersuchen, sie mehr auszubilden, nur nicht sie Andern aufzudringen.[41]
Jerusalem fasst diese Eigenschaften der Religion unter dem häufig wiederkehrenden Stichwort der "Simplicität" zusammen. Obwohl die Betrachtungen die lutherische Orthodoxie nie direkt angreifen,[42] sondern die namentlich genannten Feinde allein unter den "Deisten" und Atheisten suchen, unterliegt es keinem Zweifel, dass sich das Werk ebenso wie gegen die gottlosen Freigeister gegen die hergebrachte dogmatische Interpretation des Christentums richtet.[43] Die Betrachtungen stehen also in einer doppelten Frontstellung gegen "Aberglaube" und "Unglaube". Sie wollen aufzeigen, wie Religion in aller "Simplicität" jenseits von Fanatismus und Gottlosigkeit gelebt werden kann.
Die erste Betrachtung über die "Wichtigkeit der Untersuchung, ob ein Gott sey" (1,1-16), stellt den individuellen Menschen, ein reflektierendes "Ich" ins Zentrum:[44] "Ohne mich ist die ganze Natur todt, alle ihre Ordnung nichts besser als ein Chaos." (1,8) Die für den Menschen (wie) geschaffene Welt kann ihn nicht auf Dauer befriedigen, "in meinen Begierden kenne ich keine Gränzen" (1,11). Während das Tier seine Natur ganz ausfüllt — "[d]er Stier, der Tieger sind an die engen Gränzen ihrer Natur gebunden" —, ist der Mensch ein exzentrisches Wesen, das nie in seinem Sosein aufgeht, und dessen "Triebe" von der "Vernunft" (ibd.) nur mühsam in Schach gehalten werden. Doch auch der Mensch werde seine Vollkommenheit finden. "[N]irgend ist eine absolute Nothwendigkeit, und alles ist in der vollkommensten Harmonie" (1,28). Aus diesen Elementen konstruiert Jerusalems zweite Betrachtung einen physikoteleologischen Gottesbeweis e contingentia mundi.[45] Das blosse Vorhandensein eines höchsten Wesens trägt indessen zur "Beruhigung", an der es Jerusalem gelegen ist, noch nicht viel bei:
Ist diess ewige unabhängige Wesen ein lebendiges, vernünftiges, freyes, und von der Welt verschiednes, oder ist es ein blindes, todtes Wesen, ist es die Welt selbst? Diess ist demnach die entscheidende grosse Untersuchung, wovon unsre Einsicht, unsre Ruhe, und zugleich unsre ganze Moralität abhängt. (1,24)
Der Hinweis auf die überaus vernünftige Anlage der Welt unterbindet deistische und pantheistische Verdachtsmomente: Alles Irdische stehe in Proportion zueinander und sei Beleg für die weltregierende Ordnungsmacht eines von der Welt unterschiedenen Gottes. Der alte Topos von der Heilsökonomie wird zu einem physikoteleologischen "Gesetz" erweitert, das den ganzen Kosmos durchwirke:
Eben dieses Gesetz der weisesten Sparsamkeit herrscht auch in dieser reichen Mannichfaltigkeit durch und durch; nichts ist mangelhaft, aber alles in Proportion des Endzwecks; nichts ist umsonst und allein für sich; es muss alles zugleich zur Erhaltung des andern, und zuletzt zur besten Vollkommenheit aller lebendigen Geschöpfe und endlich des Menschen nutzlich werden. (1,33f.)
Überdies meint Jerusalem den Nachweis erbringen zu können, dass das höchste Wesen "der Herr und Schöpfer der Welt und auch Mein Schöpfer ist, dadurch wird er mir Gott, auch Mein Gott" — dies sei "der allerwichtigste, der erleuchtendste, der beruhigendste Gedanke" (1,56). Das blosse Vorhandensein des Gottes der Philosophen — mag der noch so sehr mit Vollkommenheiten ausgestattet sein — reicht dem reflektierenden "Ich" nicht aus: "dieser Gott wäre mit allen seinen Vollkommenheiten für mich noch nicht da; er wäre Mein Gott noch nicht" (1,82). Dieser Passus macht deutlich, dass die Beruhigungsbedürfnisse des Individuums durch einige abgeraspelte metaphysische Erörterungen über das Wesen der Welt und das Wesen des Weltschöpfers keineswegs gestillt werden können. Es reicht nicht, zu wissen, dass man ein Ding in der "Kette der Dinge" (1,87) ist.[46] Aber gibt es Gründe, an eine Vorsehung zu glauben, für die der einzelne nicht nur ein Mittel zum Zweck darstellt? Der Deist bezweifelt es: „wo hat die Vorsehung je die Scheiterhaufen ausgelöscht, die ein Alba oder ein fanatischer Mönch zur Vertilgung der Vernunft und Wahrheit angezündet haben?“ (1,89) Entsprechend lautet der deistische Ratschlag: "Höre […] auf, von einer besondern Vorsehung zu träumen, die den Schöpfer der Welt erniedrigt, und dich nicht besser macht" (1,90). Dagegen revoltiert das religiöse Empfinden:
Gott zu erhaben, als dass er sich um mich und ein jedes einzelne Geschöpf besonders bekümmern sollte? — Ein schrecklicher Gedanke, […] der alle Würde der menschlichen Natur zernichtet, der den heiligsten Pflichten ihr Gewicht, der allen Gesetzen ihre Sicherheit nimmt, der Gott aus der ganzen Natur verbannet! (ibd.)
Jerusalem macht zwar den "Philosophen" das Zugeständnis, Gott regiere "die Welt nach allgemeinen, unveränderlichen Gesetzen; nicht nach einzelnen Gelegenheiten, nicht stückweise" (1,94). Einem unendlichen und allgegenwärtigen Wesen muss auch das Einzelne gegenwärtig sein; die faktisch bestehende Weltharmonie lasse sich nicht aus dem Vorhandensein allgemeiner Gesetze, sondern aus dem Zusammenspiel der konkreten, diesen Gesetzen unterworfenen Einzeldinge erklären.
Ohne die Gans im Capitolio wäre vielleicht kein Cäsar und kein Rom; die Bewegung des Meeres, die an der nordischen Küste einen Kiesel losspület, ist die Wirkung eines Sturms, der in dem entfernten Weltmeere eine Flotte zertrümmert; der Kiesel kömmt in die Hand eines Kindes, von da in die Hand des Naturkündigers, und giebt zu den wichtigsten Entdeckungen Anlass. Wie nahe steht der Apfel, der in Newtons Gegenwart vom Baume fiel mit der richtigen Erkenntniss des ganzen Weltsystems in Verbindung! (1,105)
Es ist für Jerusalem undenkbar, dass Gott ausgerechnet die "einzelne[n] Individua", die Menschen, von seiner besonderen Fürsorge ausgenommen hätte. In der lückenlosen Kausalökonomie der Vorsehung muss auch alles menschliche Tun einbegriffen sein: "Eine jede einzelne Handlung von mir setzet tausend andre in Bewegung; ich verliere sie vielleicht in der nächsten Verbindung schon aus dem Gesichte, aber ihr Einfluss kann nicht vernichtet werden; der Verstand des ewigen Regenten übersieht sie bis in die Ewigkeit." (1,110) Die Folgen unseres Tun können wir nicht abschätzen, da die aus ihm resultierenden Kausalketten für uns nicht überblickbar sind. Wenn freilich bei den guten Taten ebenso wie bei den schlechten eine unendliche kausale Verkettung zu erwarten ist, dann wäre es für den Übeltäter "besser wenn er nie gebohren wäre. Er stirbt, aber seine Sünde nicht; ihre Folgen bleiben, ihr Gift verbreitet sich durch unzählige Glieder, und ist vielleicht noch tödtlich am Ende der Welt." (1,112)
So fragt sich, wie weit die Vergegenwärtigung der lückenlosen Verkettung aller Dinge wirklich zur Beruhigung beiträgt, wenn man bei jeder Handlung fürchten muss, sie zeitige trotz der ihr zugrundeliegenden guten Maxime ungewollt negative Effekte, gerät einem doch die Kontrolle über alle Folgen aus der Hand, sobald die Handlung geschehen ist.[47] Das Denken in Kategorien kausaler Zusammenhänge braucht also mitnichten jene Seelenruhe herbeizuführen, um die es Jerusalem zu tun ist; vielmehr benötigt man eine Garantie jenseits des kausalverknüpften Geschehens, dass Handlungsabsichten und Handlungsfolgen am Ende übereinstimmen. Gleichfalls möchte sich die fromme Seele versichert wissen, dass "der Sünder", obwohl tot, nicht "vor aller Rechenschaft gegen seinen Schöpfer" (ibd.) geschützt sei. Wir sind zu unserer Beruhigung in der neologischen Theorie darauf angewiesen, dass es eine jenseitige Vergeltung gibt, und dass die Vorsehung auch sie bis ins Einzelne regelt. Diese "besondre Vorsehung" bewegt sich ausschliesslich in den Bahnen des einmal festgesetzten, "allgemeinen Plan[s] der Welt" (1,113):
Indessen denkt er [sc. der Christ], wenn er diese Vorsehung eine besondre Vorsehung nennet, an keine Ausnahme von der einmal gewählten Ordnung der Welt, an keine Aufhebung ihrer weisen Gesetze, an keine Wunder, an keine Veränderung in dem göttlichen Rathschlusse. Eine solche besondere Vorsehung liesse sich, ohne Gott zu erniedrigen, nicht denken: und von Ehrfurcht für dessen unendliche Weisheit durchdrungen, bestreitet der Weise eine solche Vorsehung mit Recht. Aber hierinn ist der Christ völlig mit ihm eins. (ibd.)
Die in der Auseinandersetzung zwischen Theologie und aufklärerischer Philosophie so exzessiv geführte Debatte um die Wunder wird hier von Jerusalem in aufklärerischem Sinne entschieden: Wunder im Sinne eines Durchbrechens der Schöpfungsordnung, contra naturam, kann es nicht geben, müsste man dann doch die Unvollkommenheit der Schöpfung konzedieren, wenn Gott an seinem Werk nachträglich durch Eingriffe de potentia absoluta herumzubessern sich genötigt sähe. Wenn Jerusalem etwa bei Moses und Jesus von Wundern spricht, ist damit nichts Widervernünftiges, sondern etwas Übervernünftiges gemeint, das erzieherischen Zwecken dient(e).[48] Leibniz-Wolffsche Prämisse lehrten Jerusalem die Welt als eine Uhr verstehen, die keiner ungeplanten Reparaturen seitens des Uhrmachers mehr bedarf. Die Denkmöglichkeit göttlichen Eingreifens mittels contranaturaler Wundertaten würde ohnehin die Seelenruhe gefährden, auf die es Jerusalem ja ankommt.[49] Vielmehr gehe der Christ davon aus, dass Gott der Menschen Vollkommenheit ebenso wolle und bereite, wie er diejenige aller geringeren Geschöpfe bereitet habe. "Diess ist die specielle Vorsehung, die der Christ sich denkt, die specielleste, die er zu seiner Ruhe sich denken kann." (1,115)[50] Im folgenden konstruiert Jerusalem ein Konzept, dass es ihm erlaubt, trotz der offenkundigen Unvollkommenheit der lebenden menschlichen Individuen deren Aussicht auf Vollkommenheit zu begründen. Gott richtet alles so ein, dass es „zur besten Vollkommenheit des Ganzen sich allemal entwickeln muss“ (1,115f.). Entwicklung ist die Leitidee, mit der sowohl die gegenwärtige Unvollkommenheit des Menschen als auch das Vorhandensein des Bösen legitimiert wird. Die Übel sind in der Schöpfung nur vorhanden als Möglichkeitsbedingungen des Guten; wir haben es hier mit dem spätestens seit Leibnizens Théodicée alle Reflexion über die Übel dominierenden Bonum-durch-Malum-Schema[51] zu tun: Die Übel — darin inbegriffen das gewollt Böse — sind einzig dazu da, das Gute zu ermöglichen. Plausibilisiert wird diese Prämisse erst, wenn man, was Leibniz nicht tut, das irdische Geschehen in eine zielgerichtete, historische Erzählung einbaut; — kurz, wenn man den Beweis für den bloss instrumentellen Charakter all der Übel in der Welt von der Zukunft erwartet.
Nun ist mir selbst die dürftige Geschichte meines eigenen Lebens wichtig; der Punkt, wo ich stehe, wichtig; die geringste Begebenheit, die mich betreffen kann, wichtig; es ist alles mit der besten Vollkommenheit des Ganzen verbunden, von der höchsten Weisheit damit verbunden. […] Denn Zufall ist nicht möglich; für einen unendlichen Verstand kann kein Zufall seyn, für die höchste Weisheit darf kein Zufall seyn; der allergeringste könnte den ganzen Plan derselben umkehren. (1,120)
Dieser Passage ist zu entnehmen, dass es vor allem die mögliche Wirklichkeit der Kontingenz ist, die einem nach Jerusalem die "Ruhe" raubt. Seelenfrieden kann erst einkehren, wenn der letzte Verdacht, dass der blinde Zufall seine Hände im Spiel hat, eliminiert ist. Gewährte man ihm auch nur den kleinsten Spielraum, wäre das Ganze schon verloren, hätte Gott dann eben nicht die Zügel fest in der Hand und müsste gegebenenfalls doch als Reparateur direkt eingreifen, was wiederum nicht mit der prästabilierten Weltharmonie zusammenzudenken wäre. Beruhigung bedeutet für Jerusalem Ausschaltung der Kontingenz — und dies kann er angesichts der vermeintlich kontingenzbedingten Unordnung in der alltäglichen Welt nur erreichen, indem er in dieser vermeintlichen Unordnung Vollkommenheit entstehen sieht. "Meine Pflicht zur Arbeit, meine Pflicht meiner besten Vernunft zu folgen, meine Verantwortung, hören dabey so wenig auf, als sein [sc. Gottes] Gnadenbeystand dabey überflüssig oder unmöglich wird." (1,121) Ganz im Sinne klassischer theologischer Metaphysik beharrt Jersualem auf der Willensfreiheit, die (wie z.B. in der Theodicée von Leibniz) mit dem Vorsehungswirken zusammengedacht werden könne.[52] Diese Freiheit ist im Unterschied zur dogmatischen Lehrtradition nicht durch Erbsündenlasten eingeschränkt — die Natur des Menschen wurde nach neologischer Auffassung keineswegs durch den Sündenfall Adams korrumpiert, auch wenn an der eben zitierten Stelle eine Allusion an die alte Gnadenlehre nicht zu überlesen ist.
Wer an die unendliche Vollkommenheit Gottes, seine Vorsehung und schliesslich unsere Unsterblichkeit als Menschen (siehe 1,308) glaube, könne "die ganze Geschichte [s]eines Lebens […] als ein Tagebuch dieser Vorsehung" lesen (1,126). In der Betrachtung über den "Ursprung des Bösen" bleiben gegen die Anfechtung der Franzosen (namentlich Voltaires[53]) die Grundpfeiler Leibnizscher Theodizee aufrecht: "Diese Erde hat zwar auch ihre Unvollkommenheiten, aber diese sind offenbar nach der weisesten Einrichtung da." (1,143) Diese Äusserung bezieht sich nicht auf die Handlungen des Menschen, denen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem im Unterschied zu seinem Sohn Karl Wilhelm sehr wohl wissentliche und willentliche Bosheit zutraut,[54] sondern auf die von der Natur hervorgebrachten Übel. Aber selbst das gewollt Böse der Menschen ist im göttlichen Vorsehungsplan einberechnet und kommt dem allgemein Besten zugute.
Hier zeichnet sich ein Zwiespalt ab, ist Jerusalem doch keineswegs so von einem optimistischen Zeitgeist beseelt, dass er seine Gegenwart in den rosigsten Farben und überhaupt in der Welt alles zum besten bestellt sähe. Vielmehr brandmarkt er die Übel und Laster, die die Zeit mehr denn je bedrücken, in einer Weise, wie sie Theologen immer schon gebrandmarkt haben. Im Unterschied zur theologischen Tradition kann der Neologe zur Erklärung dieser Zustände jedoch nicht mehr auf eine pessimistische Anthropologie, auf die Erbsünde und den status corruptus der menschlichen Existenz rekurrieren, um diese Probleme zu rationalisieren. Leibniz und seine Epigonen gebieten ihm vielmehr, von der besten aller möglichen Welten auszugehen, was ihm einzig dann möglich wird, wenn er die Übel als Mittel der Vorsehung zur Erreichung des für alle Besten anschauen kann. In diesem Fall jedoch wären alle moralischen Übel, d.h. die bewusst gewollten und gewählten bösen Gesinnungen und Taten der Menschen als Mittel zur Erreichung der Vorsehungszwecke gerechtfertigt — wären, um Hegels Terminologie abzuwandeln, in die List der göttlichen Vernunft und Vorsehung eingespannt und also im Blick aufs Ganze schwerlich moralisch zu qualifizieren. Demgegenüber polemisiert Jerusalem in der letzten, Betrachtung des ersten Bandes gegen Bernard de Mandevilles Bienenfabel und die ihr zugrundeliegende Idee, die Summierung der Privatlaster erbrächten in der Gesellschaft am Ende das gemeinsame Wohl (1,495-499). Eine solche Vorstellung ist dem Moralisten Jerusalem in politicis inakzeptabel; erst recht blasphemisch müsste sie ihm angewendet auf den göttlichen Weltvervollkommnungsplan erscheinen. Und doch bliebe ihm, wollte er die faktische Unordnung mit der besten aller möglichen Welten zusammendenken, letztlich keine andere Wahl, als das gewollte und wissentliche menschliche Böse für vollkommenheitsnotwendig anzusehen. Damit wäre es legitimierbar, selbst wenn es von Gott nicht gewollt, sondern nur zugelassen ist (vgl. 1,115f.).
Jedenfalls ist auffällig, dass in Jerusalems Welt die Übel nicht mehr von so verschwindender Proportion zu sein scheinen wie in Leibnizens Welt, in der sie als Kontrastfolie zu all dem Schönen und Guten wie die Schatten auf einem Bild ebenso notwendig waren wie zur Markierung der metaphysischen Differenz zwischen allervollkommenstem Schöpfer und der besten aller möglichen Welten, die nicht so vollkommen sein darf, dass sie mit der Vollkommenheit des Schöpfers verwechselt werden kann. Die Essais de théodicée bieten keine geschichtsphilosophische Bonifizierung der Übel,[55] fordern sie aber für den Fall heraus, dass man die Übel nicht mehr mit ästhetisch-metaphysischen Argumenten kleinreden kann. Spätestens nach der Jahrhundertmitte, mit sich akzentuierenden Zweifeln an der Veränderungskraft der Aufklärung (Rousseau) und mit einem im Erdbeben von Lissabon (1755) symbolisch Ausdruck findenden Pessimismus (Voltaire), tritt dieser Fall ein.[56] In Jerusalems Betrachtungen wird zunächst als religiöser Kernsatz die individuelle Vervollkommnung in Aussicht gestellt und somit nach herkömmlicher pastoraler Gewohnheit schon einmal für die Individualbiographie das Übel bonifiziert. Das zwischen "Selbstliebe und Vernunft" (1,173) hin und her gerissene "Polypen-Geschlecht" (1,175), dem wir angehören, ist im Unterschied zu den Pflanzen und Tieren nicht dazu bestimmt, seine Natur, all seine Anlagen schon in diesem Leben zu verwirklichen. Und da liegt der springende Punkt: Es ist nicht denkbar, dass die "Oekonomie" der "göttliche[n] Weisheit" (1,181) etwas vergeblich und unsorgfältig getan hätte, was wir indessen annehmen müssten, wenn der Mensch mit seinen grossen Gaben dazu verurteilt wäre, sie unverwirklicht zu lassen, ganz einfach, weil er einem frühzeitigen Tod erläge. Also ist der Mensch für ein ewiges Leben bestimmt.
In der ersten Betrachtung des zweiten Teiles strebt Jerusalem nach der Delegitimierung einer rein auf Vernunft basierenden Gotteserkenntnis und macht etwa gegen Voltaire geltend, dass gerade die Vernunft trotz ihrer äusserlich glänzenden Entwicklung in Griechenland und Rom sich nicht zu einem geläuterten, sittlich-religiösen Bewusstsein habe durchringen können, sondern nach wie vor dem schändlichsten Polytheismus gehuldigt habe. Ursprünglich habe es — stipuliert Jerusalem gegen David Hume — einen reinen Monotheismus gegeben, der im Verlaufe der Zeit aber korrumpiert worden sei (2,48) Freilich soll das historische Argument vom ursprünglichen Monotheismus nicht etwa der Vernunft jede Legitimität beim Mitreden in theologischen Dingen absprechen. Vielmehr will Jerusalem ihren Primatsanspruch beschneiden und die direkte Offenbarung Gottes als Erziehung des Menschengeschlechts, als "fremden Unterricht" (2,52) für vorrangig ausgeben. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge seien sich Offenbarung und gesunde Vernunft vollständig einig — beide gingen von denselben metaphysischen Prinzipien aus. Jesus, der "grosse Urheber des Christenthums" (1,186), habe keine anderen Intentionen gehabt, als diese reine, ursprüngliche, im Verlaufe der Zeit verschwundene Religion neuerlich ans Licht zu fördern.
Wir können also in der Geschichte keinen linearen Fortschritt der Vernunfterkenntnis beobachten — keinen ununterbrochenen Prozess vernünftiger Selbstaufklärung. Vielmehr gerät die Vernunft zumindest in den frühen Phasen ihrer Entwicklung leicht auf Abwege und erreicht das Gegenteil dessen, was sie erreichen sollte, nämlich die Einsicht in die Einheit und Vollkommenheit Gottes, in seine allumfassende Vorsehung sowie in die menschliche Bestimmung zur Unsterblichkeit. Jerusalem benötigt die Offenbarung, um mögliche andere Verwendungen von "Vernunft" (etwa in der Art der ‚gottlosen‘ Franzosen) als inadäquat zu entlarven und zugleich die Bindung der 'profanen' Vernunft an die Theologie sicherzustellen. Freilich soll damit kein Theologenregiment im Sinn der alten Orthodoxie restituiert werden, die alle Äusserungen daran misst, ob sie mit den elaborierten Loci der Dogmatik übereinstimmt. Die Offenbarung zeichnet sich genauso wie die Religion durch äusserste Simplizität aus und muss sich selbst an den strengen Massstäben aufgeklärter Vernunft messen lassen: Die Offenbarung kann unmöglich lehren, was vernunftwidrig ist — und auch nur noch wenig von dem, was übervernünftig zu sein scheint. Ihre Grundlagen sind durch Vernunft einhol- und nachvollziehbar. Damit werden Vernunft und Offenbarung in ein System gegenseitiger Kontrolle eingebunden: Die Vernunft wacht darüber, dass die Theologen nichts als Offenbarung ausgeben, was widervernünftig ist, während die Sachwalter der Offenbarung darüber wachen, dass die Philosophen nichts als vernünftig behaupten, was den Prinzipien der Offenbarung widerstreitet.
Die Möglichkeit einer vernünftigen Offenbarung beruht auf der Vernunftfähigkeit des Menschen. Darum ist es freilich prekär bestellt:
Lassen Sie uns auf die ursprüngliche Natur unserer Leidenschaften noch einmal zurück gehen. Was sind sie? Ein blinder unumschränkter Trieb, die Selbstliebe. Gott hat uns zwar die Vernunft zur Leitung dieses Triebes gegeben, aber zur Ordnung des Ganzen thut dieselbe nichts. […] Einfach und heftig würde dieser Trieb also noch nichts als ein beständiger Sturm seyn, der alles nach Einem Ufer mit sich fortrisse, wenn der weise Regent der Welt […] nicht […] die Neigungen und Grade dieses Triebes durch seine Weisheit dergestalt abzuändern, und in so viel besondere Neigungen zu vervielfältigen wüsste. (1,192f.)
Die List des göttlichen Planes besteht also darin, dass er zwar das Wesen des Menschen aus Vernunft und einem überaus mächtigen Trieb zusammensetzt, diesen Trieb aber in viele einzelne "Neigungen" aufsplittert, die sich gegenseitig konkurrieren und neutralisieren. So wird die Gefahr abgewendet, dass die Vernunft von vornherein die Zügel nicht in der Hand hielte, auch wenn dies nicht ausschliesst, dass sie faktisch sehr wohl die Zügel aus der Hand verlieren kann. Anthropologisch ist der Gedanke eines sich in der Vielfalt unterschiedlichster "Neigungen" ausdifferenzierenden Triebes bedeutsam, weil er eine Bonifizierung der nichtvernünftigen Bestandteile des menschlichen Wesens erlaubt. Er negiert die alte theologische Furcht vor der nicht handhabbaren, abgründigen Verdorbenheit des Unvernünftigen und konstruiert auch keine Einheit und Einhelligkeit eines einzigen, zu einer metaphysischen Wesenheit erhobenen Triebes. Vielmehr gehört die Vielgestaltigkeit der sinnlichen Regungen unabdingbar zur menschlichen Ausstattung. Als solche sind sie mitnichten per se verdammungswürdig, lastet auf ihnen doch nicht länger der Verdacht, bitterste Folge der Erbsünde zu sein (vgl. 1,155). Die "an sich blinden und reissenden Triebe" erhielten „die ganze Ordnung der Welt […]. Täglich werden tausend Alexander und Catilinen gebohren, und durch die Verbindung, worinn sie gebohren werden, führen sie alle ruhig den Pflug, und bauen die Erde, die sie nach ihrer Neigung verwüsten würden.“ (1,194f.)[57]
Freilich könne es nicht sein, dass der allervollkommenste Gott die Leidenschaften will oder gar als "Mittel zum Guten unmittelbar" wählte (1,199) — auch wenn er sie aus "höhern Absichten" zuliess. Denn diesem Gott ist das Individuum unbedingt wertvoll — nur so vermag Jerusalem die erwünschte "Beruhigung" zu gewinnen. Und wenn Gott jeden einzelnen Menschen liebt, dann kann er unmöglich sein persönlich Schlechtestes, nämlich das Beherrschtwerden durch die Leidenschaften wollen, bloss um irgendeinen Gattungs- oder Geschichtszweck zu erreichen. Die Vorsehung soll nicht auf Kosten der individuellen moralischen Vervollkommnung die allgemeine Vervollkommnung betreiben, ist doch der Mensch (im Unterschied zur lutherischen sola-fide-Tradition) nur als sittliches oder wenigstens als um Sittlichkeit bemühtes Wesen vor Gott und sich selber zu rechtfertigen.
Trotz aller Verhaltenheit in der Ausmalung euphorischer Perspektiven für die Zukunft steht es für Jerusalem, dass es keine "überflüssige[n] Uebel" gibt, die "das menschliche Geschlecht ohne Endzweck unglücklich machen" (1,199). Diese letzte Äusserung nimmt freilich die Bonum-durch-Malum-Figur in einer Weise auf, die die individuellen Interessen an Wohlergehen, Vervollkommnung und Glückseligkeit zu nivellieren scheint. Es könnte also durchaus sein, dass ich Unglück erleide, das zwar nicht für "das menschliche Geschlecht", wohl aber für mich selber "ohne Endzweck" ist. Das Verhältnis Individuum-Gattung gerät auf jene abschüssige Bahn, auf der dann der Einzelne dem (prätendierten) Gattungsinteresse geopfert werden kann. Doch diese Tendenz prägt sich bei Jerusalem noch nicht derart pointiert aus wie in der Geschichtsphilosophie am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bei ihm bleibt die Sorge um die moralische Besserung der Individuen in der Jetztzeit vorrangig — eine Sorge, die wiederum der Dynamik des sich andeutenden, gattungsgeschichtlichen Entwicklungsmodells zuwiderläuft, weil sie verhindert, dass im Gattungsinteresse alle Individualinteressen geopfert werden, und ebensowenig erlaubt, jegliches Geschehen als ein für den vernünftigen "Endzweck" notwendiges Mittel gut- und heiligzusprechen — "wir haben nicht nöthig anzunehmen, dass er [sc. Gott] um des Ganzen willen das Schicksal der einzelnen Geschöpfe übersehe" (1,210). Es fehlt die Konkretion dessen, was als "Endzweck" ins Auge gefasst wird: Ist er ein transmundaner, eschatologischer Zustand des Individuums oder der Gattung? Ist er ein irdisches Ziel des Geschichtsprozesses?
Die Vorsehung könnte […] [ihre] Wirkungen schneller hervorbringen; aber durch den langsamern Weg erhält sie unendlich viel weise Nebenabsichten; die Welt wird zu dem grossen Endzwecke, den sie sich dabey vorgesetzt, besser zubereitet; die Wirkung selbst wird so viel sicherer, so viel reifer. (1,230)[58]
Dies freilich ändert nichts daran, dass sich das "menschliche Geschlecht" nach wie vor in einem "schwachen Zustande" (ibd.) befinde. Mit dem Fortschreiten der Freiheit werde auch die Versuchung des Unglaubens stärker. Aber dies sei im Sinne der Vorsehung, die schon im Falle der allmählichen Beseitigung von Aberglauben und Fanatismus ihre Umsicht bewiesen habe. So war die Reformation nur eine Vorstufe der Aufklärung und mit ihr in der Sache ganz einig. Wer wie Lessing in der Erziehung des Menschengeschlechts (§ 91) von Zweifeln an der Schrittfestigkeit der Vorsehung bedroht ist, wird auch bei Lessings Inspirator Jerusalem auf die Unmerklichkeit ihres Ganges verwiesen.[59] Dass der Fortschritt zum Besseren derart lange braucht, hängt eben an der Gewundenheit des Weges, den die Vorsehung nimmt, um auch wirklich das allerbeste Resultat zu erzielen. Die Vorsehung ist die handelnde Person; allmählich lichtet sie die Nebel des Aberglaubens, wozu sie sich gerade des Unglaubens als Mittel bedient — "alles, was sich jetzt gegen seine Angriffe erhält, [ist] sichere, unüberwindliche, göttliche Wahrheit" (1,237). Dank der aggressiven Agitation der Freigeister erhält die von Aberglauben überwucherte Religion "ihre eigenthümliche göttliche Simplicität wieder" (ibd.). Gemeint, wiewohl hier nicht namentlich genannt, sind Hume[60] und Voltaire;[61] sie beide vermöchten keine irgendwie haltbaren Gründe gegen die wahre Religion vorzubringen: "Der Angriff und die Vertheidigung bleiben sich immer gleich. Gegen die Angriffe eines Celsus war die Philosophie eines Origenes überwichtig stark" (1,239).[62]
Das jetzige menschliche Geschlecht ist offenbar noch, wenn sich der Ausdruck schickt, in seiner Kindheit, und ist nach aller Wahrscheinlichkeit nicht älter, als die gemeine Rechnung es angiebt. (1,242)
Dass Jerusalem offensichtlich der Mitte des 17. Jahrhunderts von Isaac de la Peyrère aufgebrachten These von einer präadamitischen Menschheit nichts abgewinnen kann[63] und also das Alter der Welt nur auf ein paar tausend Jahre veranschlagt, ist weniger bemerkenswert als das plötzliche Eingeständnis, wir befänden uns im Kindheitsstadium der Menschheit und erblickten erst die "Morgenröthe des Lichts" (1,243), während es fünf Seiten vorher geheissen hatte: "das volle Licht ist da“ (1,238). Es hat beinah den Anschein, als ob Jerusalem unter dem Druck fehlender Vorsehungs- und Fortschrittsevidenz die Aussicht auf Erfüllung der "Hoffnung" (1,241) in immer fernere Zukunft verlegen wolle. Mehr als "Hoffnung" scheint ohnehin nicht angebracht zu sein; jedenfalls spricht Jerusalem nun nicht mehr von Gewissheiten. Gleichwohl baue jede Zeit auf der vorangegangenen auf: "Die finstern Perioden, die darzwischen kommen, sind nur neue Anstalten der Vorsehung, das Licht so viel allgemeiner und glänzender zu machen." (1,244) Diese Feststellung erstreckt sich sowohl auf den Bereich der Politik als auch auf denjenigen der Wissenschaften.
Die Frage, die wir im Auge behalten müssen, ist, inwiefern Jerusalem Fortschrittsgeschichte statt Heilsgeschichte schreibt. Bisher konnten wir jedenfalls nicht feststellen, dass Jerusalem eine klassische Heilsgeschichte parallel oder kontrastierend zur Fortschrittsgeschichte ablaufen sieht. Viel eher scheint Heilsgeschichte in der Fortschrittsgeschichte impliziert zu sein, was auf der Grundlage der Leibniz-Wolffschen Prämissen auch folgerichtig wäre — hat es Gott doch nicht nötig, die Naturordnung durch einen Einbruch der Transzendenz zu durchkreuzen, denn sein Welt- und Vorsehungsplan macht derlei Eingriffe vollständig überflüssig, und Gott tut nichts, was überflüssig ist. Alles hat seinen zureichenden Grund — das Kommen eines unverursacht hereinbrechenden Gottesreiches aber nicht. So scheint die Eschatologie bei Jerusalem mit dem Fortschrittsdenken zu kongruieren, wobei es am Ende dann doch auf den Fortschritt in der Sittlichkeit ankommt. Und der wird als durch göttliche Erziehung bewirkt gedacht, nicht als reine, unangeleitete Vernunfterkenntnis. Zwar ist Fortschritt in der Sittlichkeit etwas, woran wir sehr wesentlich — durch unsere Arbeit, unser Erzogenwerden — beteiligt sind, jedoch ist er ohne die Tatkraft der Vorsehung nicht denkbar.
Mit der Verbreitung des Handels kommen sie [sc. die Menschen] nach und nach in die entferntesten Gegenden; die Wohlthaten der Natur werden dadurch so viel allgemeiner; auch die Verbindungen unter den Menschen werden so viel ausgebreiteter und freundschaftlicher; der verwüstende wilde Eroberungsgeist wird so viel mehr eingeschränkt; die Kriege werden schonender und seltner […]. [S]ollte diese grössre Erleuchtung der Vernunft nicht auch ihren Einfluss auf eine grössere und allgemeinere Sittlichkeit haben? Wenn jene wächst, so kann diese nicht ganz zurück bleiben; sie bleiben nothwendig in einem gewissen sich immer ähnlichen Verhältnisse. (1,246)
Jerusalem rekapituliert die Fortschritte in vielfältigen Bereichen menschlicher Tätigkeit, lässt dabei die Ökonomie so wenig aus wie die Politik oder die Wissenschaft, und folgert aus deren allgemeinem Fortschreiten eine "nothwendige" analoge Entwicklung im Bereich der Moralität. Denn bloss auf zivilisatorischen Gewinn, nicht aber auf Moralität zielender Fortschritt wäre gerade ein starkes Argument gegen das Walten einer göttlichen Vorsehung. Es besteht für Jerusalem also ein enger Zusammenhang von Sitten und Sittlichkeit; ein allgemeines Sanfter- und Gefälliger-Werden des zwischenmenschlichen Umgangs ist ihmzufolge bereits ein moralischer Fortschritt. Jerusalem gibt hier kein Kriterium an, nach dem wir die Moralität von Handlungsweisen beurteilen könnten, sondern begnügt sich mit der Feststellung, alles werde "menschlicher“. Tatsächlich spielt die verborgene Motivation des menschlichen Tuns am Ende keine Rolle mehr, da ja die Vorsehung auch noch die insgeheim schwärzeste Seele für ihre guten Zwecke instrumentalisieren kann. Wenn ihr Werk vollendet ist, dann sind bestimmt auch die bloss sittlich scheinenden Seelen geläutert. Und die Entwicklung der "schönen Wissenschaften und Künste" (1,249) gehe nun einmal mit dem Fortschritt in der Moralität einher, macht Jerusalem explizit gegen Jean-Jacques Rousseau geltend, der das Gegenteil behaupte und sich "zum Beweise auf das alte Rom" berufe:
Aber das alte Rom hatte auch keine Religion, und Rousseau kennet die Wohlthätigkeit und Stärke der wahren christlichen Religion nicht. Ohne diese, (darinn hat er wohl Recht,) würde die stärkere Reizung der Sinnlichkeit, der Sittlichkeit gefährlich werden können; aber unter dieser ihrem Einfluss ist die Tugend, auch bey dem feinsten Geschmacke, gesichert. (ibd.)
Ohne das Christentum — das heisst: ohne seine Hauptwahrheiten Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit — sind alle zivilisatorischen Anstrengungen eitel und führen schnurstracks in Ausschweifung und Aberglauben. Das wahrhaft christliche Zeitalter bricht für Jerusalem erst in der Gegenwart an, wo sich ein glückliches Zusammenwirken von Religion und den anderen kulturbestimmenden Mächten abzeichne. Nun klärt sich auch Jerusalems Metapher vom Kindheitsstadium, in dem sich die Menschheit befinde: "diese Religion ist noch in ihrem Anfange, und dennoch hat sie der Menschheit schon die unschätzbarsten Vortheile erworben." (1,250) Sie habe die "Erkenntniss des höchsten Wesens" offenbart, habe die "helle Aussicht in die Ewigkeit erst eröffnet, und dadurch der Tugend ihre eigentliche Verbindlichkeit" gegeben, habe die "Laster […] aus der Welt zuerst verbannet" (ibd.), habe das "Völkerrecht eingeführet" (1,251), "die Regierungsform so glücklich gemässigt", "die unnatürliche Knechtschaft abgeschaft, die ersten Anstalten zur Erhaltung der Armen und zur Erziehung der Waisen zuerst in die Welt gebracht" (ibd.). Mit anderen Worten: Alle humanitären Entwicklungen des Abendlandes gehen einzig und allein auf das Konto der wahren christlichen Religion. "China und Japan sind mächtige blühende Staaten; aber wie unmenschlich sind ihre Gesetze, wie gross ist die Sclaverey, wo ist der Fortgang in der Philosophie?" (1,251)[64] Die Erleuchtung Europas hingegen verdanke sich dem Christentum, denn wo sonst könne man solche Fortschritte feststellen ausser im christlichen Abendland? Und was immer uns in der Geschichte der christlichen Religion daran hindert, sie mit der wahren Religion zu identifizieren, sei einzig der damals und anhaltend unvollkommenen Entfaltung dieser Religion zuzuschreiben. Nicht allein die 'profane' Welt ist einem Prozess des Werdens, möglichst des Besser-Werdens unterworfen, sondern ebenso die einzig wahre Religion: "Es ist eine irrige Einbildung, dass das Christenthum bey seinem Anfange das erleuchtetste und lauterste habe sein müssen." (1,252) Zwar sei es in "seiner Anlage […] göttlich vollkommen" gewesen — "seine Grundlehren waren unmittelbar göttlich lauter" (ibd.) —, was jedoch die Korrumpierung durch andere Elemente nicht unterbunden habe.
Da schreckliche und groteske Züge realen Christentums weder zu leugnen noch gutzuheissen sind, werden sie als ephemer qualifiziert, und der Idealtypus des Christentums von seinem Phänotypus unterschieden. Das Originelle dieser aufklärungstheologischen Kirchengeschichtsbetrachtung im Vergleich beispielsweise zur pietistischen, die sich ja auch auf das wahre, von allen Unreinheiten gesäuberte Christentum besinnen wollte, besteht in der Vorstellung, dieser Idealtypus werde sich im Verlaufe einer historischen Entwicklung herausbilden. Ja, genau besehen leitet die Überzeugung, nicht am Anfang, sondern am Ende der Geschichte sei das wahre Christentum zu finden, eine radikale Umwälzung des christlichen Bewusstseins ein: Alle Orthodoxen gleich welcher Konfession haben sich bis dahin ebenso wie die meisten Dissidenten auf die absolute Normativität der Ursprünge berufen. Das wesentliche Konfliktpotential lag darin, in welchem Verhältnis man das auf die Ursprünge Folgende zu den Ursprüngen stehen sah: Während beispielsweise der radikale Pietismus eines Gottfried Arnold alles Nach-ursprünglich-Kirchliche für verderblichen Abfall hielt,[65] galt ein nicht unerheblicher Teil dieses Nach-Ursprünglichen der lutherischen Orthodoxie als genuine Auslegung der Ursprünge. Über sämtliche Denominationsgrenzen hinweg hätte man sich auf den Satz des anglikanischen Normaldogmatikers John Pearson leicht einigen können: "In Christianity there can be no concerning Truth which is not ancient; and whatsoever is truly new, is certainly false".[66] Die Frage war immer nur, was für authentisch alt gehalten werden sollte.
Und nun stellt Jerusalems Neologie — die diesen Namen, "neue Lehre", mehr verdient, als die Theologiegeschichtsschreibung gewöhnlich wahrhaben will — den strukturellen Traditionalismus oder Archaismus des Christentums auf den Kopf: Weder geht es länger darum, die durch ununterbrochene Sukzession sichergestellte Verbindung mit dem Uranfänglichen zu demonstrieren, noch darum, die Wiederherstellung des verbrecherisch verleugneten Urchristentums einzuklagen. Jerusalem kann davon absehen, das Vergangene durch eine in es hineingelegte, absolute Normativität zu überfordern: Unter dem Vorzeichen historischer Kritik hält keine Vergangenheit dem Anspruch, absolut normativ zu sein, lange stand. Überhaupt braucht er zu keinen extremen Deutungen der Vergangenheit seine Zuflucht zu nehmen: Weder muss er das Negative in der Geschichte des Christentums leugnen, noch auf manichäisierende Schwarz-weiss-Malereien verfallen, die nur die Wahl zwischen dem Teufel und dem lieben Gott lassen. Das Gute ist nicht geschehen, sondern kommt erst, aber über Umwege. Jerusalems Strategie entbindet davon, in jeder dem Namen nach christlichen Erscheinung, die sich nicht mit dem eigenen Wunschbild deckt, gleich die Inkarnation des Antichrist wittern zu müssen; und sie befreit ebenfalls von quietistischen und reträtistischen Neigungen. Es ist nicht nötig, die wahre Kirche in seinem Herzen und die Gemeinschaft der Heiligen im Konventikel zu suchen, wenn wir die Gewissheit haben, dass sich die sichtbare Kirche zum Besseren, ja zum Allerbesten hin entwickelt — und wir an dieser Entwicklung tatkräftig partizipieren können.
„Die Staatsklugheit, die Philosophie, die Critik und Geschichte bleiben mit der Religion in ihrem Fortgange sich immer gleich.“ (1,254) Beim gegenwärtigen Stand der Dinge hindern sich die Religion und die verschiedenen Disziplinen der Welterkenntnis und der Weltbewältigung gegenseitig an der Regression in weniger aufgeklärte Zustände. Hingegen muss eine solche Regression bei der Religion gemäss der ersten Betrachtung des zweiten Bandes in mehr oder weniger grauer Vorzeit stattgefunden haben, als der ursprüngliche, reine Monotheismus (vgl. z. B. 2,33-35) in Aberglauben und Priesterdespotie entartete, — oder aber bei der Vernunft in Griechenland und Rom, die keinen Anhalt an der wahren Religion haben konnte. Heute jedoch erhellen sich Jerusalem zufolge Religion und Vernunft gegenseitig; der Fortschritt des einen garantiert den Fortschritt des andern. Dann muss sich, da die wahre Religion auch wahrhaft vernünftig ist, diese Religion an den Fortschritten weltlicher Vernunft messen lassen und darf in keiner ihrer Erscheinungsformen am Aberglauben haften bleiben.
In ihrer Lauterkeit ist hergegen diese Religion die einzige Religion des ganzen menschlichen Geschlechts, die unter allen Himmelsgegenden ihren natürlichen Boden hat, die sich mit allen bürgerlichen Verfassungen verträgt, Freundin von allen Wissenschaften und Künsten ist, alle Regierungsformen gleich sicher macht, die Bevölkerung befördert, alle Stände so lässt, wie sie sind, und, wo sie hinkömmt, nur die Sitten zu bessern, die Empfindungen zu verfeinern, die Vernunft aufzuklären, den innern Staat durch Gerechtigkeit, Mässigkeit, Treue, Rechtschaffenheit und ein allgemeines Wohlwollen blühender zu machen sucht. (1,256f.)
Der Universalitätsanspruch dieser sich zwar christlich nennenden, aber die meisten dogmatischen Sonderlehren verabschiedenden Religion beruht augenscheinlich darauf, dass sie absolute Wahrheiten zum Ausdruck bringt, die für alle Menschen und alle Zeiten nachvollziehbar sind. Es ist auffällig, wie sehr sich Jerusalem im wiedergegebenen Passus darum berühmt, eine politisch-subversive Wirkung dieser vollkommenen Religion in Abrede zu stellen und zu versichern, sie verstünde sich mit allen politisch-sozialen Gegebenheiten abzufinden — stabilisiere "alle Regierungsformen" und lasse "alle Stände" bestehen. Das ist offenkundig gegen eine utopisch-sozialrevolutionäre Lesart sowohl des Fortschrittspostulats wie des Christentums gemünzt, mit der sich Jerusalems Auftraggeber, Adressat und Herzog wohl schwerlich hätte anfreunden können. Dass das Christentum alle Verhältnisse so gutheisse und heiligspreche, wie sie sind, ist ja nach dem bisher Gehörten nicht völlig wahr, war diese Religion doch ein Motor des durchaus auch gesellschaftlich verstandenen Fortschrittes. Dies aber hat nichts mit etwaigen umstürzlerischen Gelüsten zu tun, sondern mit den ungemeinen Fähigkeiten dieses einzig wahren Glaubens, bessernd, das heisst: reformierend statt revolutionierend, auf die herrschenden Verhältnisse einzuwirken.
Gleichwohl müssen "die Menschen durch ein geselliges Leben und durch einige Aufklärung der Vernunft schon bereitet seyn", diese Religion aufzunehmen, „deswegen wählte sie auch gleich ihren ersten Sitz da, wo die Vernunft die erleuchteste war“ (1,259). Diese Aussage steht in gewisser Spannung zum Dekadenzmodell, das der zweite Band der Betrachtungen wenigstens für die Frühzeit der Religionsgeschichte skizziert. Und haben es nicht die Ausgeburten von Phantasie und Vernunft fast unmöglich gemacht, dass die wahre Religion in Griechenland und Rom Fuss fassen konnte? Während es zu Beginn des zweiten Bandes viel eher darum geht, die hypertrophen Ansprüche der Vernunft in Schranken zu weisen durch den Nachweis, dass ebendiese Vernunft immer auf Offenbarung, d.h. auf direktes Erziehungswirken Gottes angewiesen sei, soll an der hier zur Diskussion stehenden Stelle die Schicksals- und Lebensgemeinschaft von Vernunft und Religion gerade gegen diejenigen ins rechte Licht gerückt werden, die etwa in der Art des Pietismus der Vernunft bestenfalls eine dienende Rolle zuweisen und sie überdies verdächtigen, durch die Erbsünde korrumpiert zu sein.
Der Fortschritt der Welt als Fortschritt von Religion und Vernunft gleichermassen scheint das höchste und allmächtige Wesen in keiner Weise direkt zu affizieren. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass Gott sich irgendwie so auf die Welt einliesse, dass er selbst in Mitleidenschaft gezogen würde. Für den Neologen können Gott und Welt nur in der Subjekt-Objekt-Spaltung gedacht werden; die Inkarnation Gottes in Christus kann daher nur als Aberglaube erscheinen.[67] Zwar schafft Gott die Welt in der Absicht, sie zur Vollkommenheit zu führen, jedoch ist es für Jerusalem (etwa im Unterschied zu den späteren hegelianischen und schellingianischen Spekulationen) undenkbar, die göttliche Selbstoffenbarung in der Geschichte als einen Selbstwerdungs- oder Selbstbewusstwerdungsprozess Gottes zu deuten. Im neologischen System steht der Uhrmacher der Uhr gegenüber, ohne Gefahr zu laufen, selber ob all der Uhren, mit denen er sich beschäftigt,[68] zur Uhr zu werden; göttliche Selbstpreisgabe in der Welt ist ebensowenig verlangt wie der Sühnetod des Gottessohnes für die menschliche oder gar kosmische Sündenverfallenheit. Es widerspräche der Ökonomie göttlichen Handelns, sollte Gott selber Mensch werden und sich so der Welt preisgeben: Der Gott der Neologie kann zur Welt nur in ein Herrschafts-, nicht in ein Verhältnis des Leidens oder der Leidenschaft treten. Seine Selbstoffenbarung geschieht ohne Risiken seinerseits; was die Welt braucht, sind keine Erlöser und Gottmenschen, sondern Lehrer in Metaphysik und Moral. Jesus ist der vorzüglichste unter ihnen.
Dem Menschen ist angesichts der providentiellen Veranstaltungen nichts mehr und nichts weniger aufgetragen, als seine Tugend zu pflegen, was er auch — entgegen allen pessimistischen Anthropologien des Christentums seit Paulus und Augustinus — ohne weiteres zu tun im Stande sei: "Tugend besteht in der herrschenden Gesinnung und dem ernstlichen Bestreben, Gott in seiner allgemeinen Liebe zum Guten ähnlich zu seyn." (1,267) Jerusalems Tugendbegriff ist also nicht 'konsequentialistisch', orientiert sich nicht an Taten und Werken, sondern an der Gesinnung. Dann aber wird es, wie bereits geargwöhnt, schwierig, den Übergang von Sittsamkeit zur Sittlichkeit im Verlaufe der historischen Entwicklung nachzuweisen, scheint sich beides doch unterschiedlichen Beweggründen zu verdanken: Die Sittsamkeit hat egoistische Interessen, während die Sittlichkeit sich der unegoistischen Tugend weiht. Freilich stellt Jerusalem der tugendhaften Seele in seiner sechsten Betrachtung "Von einem zukünftigen Leben" die Unsterblichkeit als garantierten Tugendlohn in Aussicht (1,268f.): Unser vernünftiges Vermögen kennt in seinem Trachten nach Erkenntnis keine Schranken und hat daher keine Aussicht, seine Bedürfnisse, seine Bestimmung in diesem oder in irgendeinem beschränkten andern Leben zu verwirklichen. Tiere oder Maschinen können demgegenüber ihre Bestimmung in ihrer beschränkten Existenz verwirklichen; sie sind vollendete Geschöpfe, insofern sie ihre Bestimmung verwirklicht haben. Es widerspräche aber der Vollkommenheit des göttlichen Weltenbauplanes und Vorsehungswirkens, wenn irgend etwas prinzipiell dazu verurteilt wäre, unvollkommen zu bleiben. Also ist es notwendig, zu glauben, dass Gott für die Menschen eine jenseitige, unendliche Vervollkommnung ihrer individuellen Vernunft vorgesehen habe (vgl. 1,273f.).
Man könnte gegen Jerusalems Syllogismus von der unendlichen Erkenntnisbedürftigkeit einwenden, sobald die Menschen die Grundlehren der Religion — Gott, Vorsehung, Unsterblichkeit — internalisiert hätten, gäbe es für sie nichts mehr und nichts weiter zu erkennen. Demgegenüber seien es, was Jerusalem an anderer Stelle (1,11) auch bereitwillig einräumt, die sinnlichen Gelüste, die keine natürlichen Schranken kennten. Gerade um ihre Befriedigung kann es in der himmlischen Zukunft aber nicht zu tun sein; Jerusalem stellt kein Schlaraffenland in Aussicht. Da der Mensch in allererster Linie ein Vernunftwesen zu sein hat, ist die Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse offenbar ohne Belang.[69] Nur lässt sich auch aus dem hypothetischen Zugeständnis, die Vernunft könne ihre Bestimmung in diesem Leben nicht vollständig realisieren, schwerlich ohne Zusatzannahmen ableiten, dass sie "ewig wachsen" müsse — zumal Jerusalem im selben Satz noch zugesteht, dass "jede Vernunft, auch die vollkommenste, […] ihre Gränzen hat" (1,273f.). Weshalb sollte denn dieser Wachstumsprozess nicht sehr bald einmal abgeschlossen sein, zumal ja der Geist des Schöpfers selber nach neologischer Gotteslehre keineswegs ein wachsender oder sich entäussernder ist? Wieso sollte ein endliches Geschöpf in seiner Vernunftbegabung, in seiner Vernunftreichweite und in seiner Vernunftfähigkeit nicht auch endlich sein? Ganz offensichtlich deswegen nicht, weil Jerusalem einen endlosen Prozess des jenseitigen Wachtstums annehmen will, der es ihm erlaubt, die Idee einer solchen endlosen Entwicklung auch auf den Verlauf der Geschichte in dieser Welt zu übertragen: Irdisch-gesamtgesellschaftliche und überirdisch-individuelle Vervollkommnung sind parallel konstruiert. Entsprechend sieht Jerusalems Gegenprobe aus: Der "Materialist" müsse sich beweisen, "dass sein Schöpfer seine Fortdauer nicht wolle; er muss es sich beweisen, dass, bey einer ewigen Fortdauer der Welt, ewig fortdaurende vernünftige Geschöpfe ein Widerspruch seyn" (1,276). Und natürlich könne der Materialist dies nicht beweisen — wobei er, was Jerusalem nicht erwähnt, stattdessen vielleicht die averroïstisch anmutende These von der Ewigkeit der Welt leugnet.
Die Annahme persönlicher Unsterblichkeit wird in einem leibnizianisch-harmonistischen System beinahe zur Denknotwendigkeit, wenn man die Leiden jedes individuellen Menschenlebens in Rechnung stellt, das diese Leiden wegen böser Taten oder böser Gesinnung offensichtlich nicht verdient und daher Genugtuung erwarten darf. Selbst für den Fall, dass wir mit diesem unserem irdischen Leben an einem geschichtlichen Fortschritt der Gattung arbeiten, ja uns für einen Fortschritt aufopfern sollten, dessen Früchte wir selber nicht geniessen können, garantiert die göttlichen Heils- und Schöpfungsökonomie, dass wir spätestens im Jenseits das bekommen, was uns zusteht. Die Aussicht auf individuelle Unsterblichkeit. d.h. auf unbeschränkte Chancen zur postmortalen, persönlichen Vervollkommnung stellt die komplementäre Ergänzung des Fortschrittsdenkens dar. Für den einzelnen Menschen ist der Gedanke, am Fortschritt der Gattung mitzuarbeiten, nur dann erträglich und tröstlich, wenn er dafür auch entschädigt wird: "ich denke mir dabey keine andre Glückseligkeit (und welche Vernunft kann sich eine andre dabey denken?) als den ewigen Fortgang zu einer Vollkommenheit, die meiner vernünftigen Natur gemäss ist" (1,294). Indes darf die Unsterblichkeitsaussicht nicht mit Diesseitsverachtung einhergehen, hat das Individuum doch auch hienieden seine Aufgabe: "Die Rückweisung auf ein künftiges Leben, soll den Genuss der gegenwärtigen Zeit nicht aufheben, das Zeitliche soll dem Ewigen nur nicht nachtheilig seyn."[70] Entsprechend hat der Mensch kein ätherisches Geistwesen zu sein, sondern eine moralische Person.[71] Nötig und theoretisch gewährleistet sei, wie Jerusalem in seiner siebten Betrachtung "Von der Moralität des Menschen" ausführt, hierzu vor allem die Freiheit des Willens, die in der Sache eine Freiheit der Entscheidung ist (1,309ff.). Unser Reflexionsvermögen halte uns von rein instinktiv oder impulsiv begründeten Handlungen ab.
Bedingung der Möglichkeit dieses ganzen Systems gegenseitiger Bedingtheiten ist die Tatsache, dass Gott nicht "ein contradictorischer Gott" (1,417), sondern "ein Gott der Ordnung" (1,333) ist, dem wir das angeborene Vermögen verdanken, zwischen gut und böse zu unterscheiden (1,336). "Die Stimme unsers Gewissens ist also die Stimme des Schöpfers unserer Natur; welche Offenbarung könnte deutlicher, stärker, nachdrücklicher mit uns sprechen?" (1,370) Gleichwohl bedürfen wir sehr wohl der Anweisung, wie wir dieses Unterscheidungsvermögen gebrauchen sollen. Da die Vernunft dazu aus eigenem Antrieb nicht fähig war, bedarf es gottgeschickter Weisheitslehrer, namentlich Jesu, "des grössten Menschenfreundes" (1,401). Was moralisch not tue, ist die Vervollkommnung, aber nicht nur unserer selbst, sondern auch unserer "Mitgeschöpfe" (1,371f.). Wir vervollkommnen uns selbst, indem wir den anderen bei ihrer Vervollkommnung helfen. Jerusalems Idee der Vervollkommung impliziert, über die Leibniz-Wolffschen Schulvorgaben hinausweisend,[72] dass die Welt nicht schon in ihrem status quo vollkommen ist, sondern vielmehr als Werk des allervollkommensten Gottes insofern vollkommen ist, als sie die Anlage zu ewiger Vervollkommnung in sich schliesst. Unsere Welt ist die beste aller möglichen, weil sie das Potential unendlicher Vervollkommnung in sich trägt —, weil sie die beste werden kann. Das Weltgeschehen wird in einen Entwicklungsprozess eingepasst, der einem göttlichen "Plan" (1,34) gehorche. Vervollkommnung heisst die Devise, die den strategisch grossen Vorteil bietet, ihre Bewahrheitung prinzipiell nur von der Zukunft oder vom Jenseits erwarten zu müssen. So sind alle Übel erst in einem geschichtsphilosophischen und individualeschatologischen Horizont des Anders- und Besserwerdens wirklich gerechtfertigt.
Standen wir Jerusalems früheren Äusserungen zufolge erst im Morgenlicht der allgemeinen Aufklärung (vgl. z.B. 1,251), so wird nun das Kindsein der Menschheit zurückprojiziert in das mosaische Altertum (vgl. 1,442). Es hängt vom Standpunkt ab, ob wir uns selber erst am Anfang oder aber in der hohen Mittagssonne einer historischen Entwicklung situieren. Zumindest partiell üben sich Jerusalems Betrachtungen in jener Retrospektivität, die für geschichtsphilosophische Entwürfe gerade im 19. Jahrhundert typisch werden sollte. Man hält, etwa mit Hegel, das Ende der Geschichte für gekommen, und kann nun ihren gesamten Verlauf explizieren. Bei Jerusalem stehen wir, trotz unabsehbar langer Vergangenheiten, jedoch meist noch mitten im Geschehen, auch wenn es "Mittag" geworden sein sollte. Gottes Geschichte mit den Menschen ist beileibe noch nicht zuende.
Die mosaische Religion sei nicht für die ganze Welt gedacht gewesen, sondern für ein Volk unter bestimmten historisch-geographischen Bedingungen auf einer bestimmten Entwicklungstufe. Sollte nun die Welt „wieder in eine mosaische Polizey eingekleidet werden? Diess hiesse, der Vernunft den Leitzaum der Kindheit wieder anlegen, und das Licht des Mittags in die Morgendämmerung zurück versenken.“ (1,442f.) Trotzdem lässt auch dieser Mittag die Religion als solche noch keineswegs entbehrlich werden; vielmehr tritt sie erst jetzt und allmählich in ihrer ganzen Reinheit zutage. In der Frage nach der Priorität von Vernunft oder Offenbarung qua "ausserordentliche[m] göttliche[m] Unterricht von der Religion" (2,1), die Jerusalem in der ersten Betrachtung des zweiten Teiles zugunsten einer inhaltlich mit der natürlichen Gotteserkenntnis kongruierenden Offenbarung entscheidet, wird der Vernunft gerade attestiert, sie
kennet sich selbst viel zu wenig, als dass sie das Maass ihrer Kräfte mit Sicherheit bestimmen könnte. Die Geschichte der Menschheit, die auch ihre Geschichte ist, kann uns allein die Anleitung geben, und hierin müssen wir bis auf ihre erste Kindheit zurück gehen, und dann Acht geben, wie ihre Kräfte sich nach und nach entwickeln können. (2,4)
Für diese historische Sichtung gilt eine wichtige Voraussetzung: "Die Natur, die der Mensch jetzt hat, hat er nothwendig von Anfang an haben müssen." (ibd., vgl. 2,139) Offensichtlich ist die historische Betrachtung für Jerusalem weit mehr als bloss eine mögliche Exemplifizierung von Gottes Wirken in dieser Welt. Es geht mitnichten um den einfachen Nachweis, dass Gott alles zum besten richte. Vielmehr ist die Geschichte das einzige Medium, mit dem sich die Vernunft über sich selbst aufklären kann, um so Einsicht in ihr Angewiesensein auf Offenbarung qua göttliche Erziehung zu erlangen. Betrachten der Geschichte heisst verstehen, worum es beim Menschsein zu tun ist. Freilich ist Geschichte kein linearer Prozess, was gerade das Versinken des ursprünglichen Monotheismus mitsamt dem "Begriff von einer alles regierenden vergeltenden Fürsehung und von einem zukünftigen Leben" (2,35) im Aberglauben beweist. Jerusalem muss, wie gesagt, gegen Hume die religionsgeschichtliche Voraussetzung des Ur-Monotheismus machen, um so eine Konvergenz der Geschichtserzählung mit den biblischen Urzeitberichten herzustellen. Also wird man annehmen, dass trotz "übrige[m] Wachsthum" der Vernunft "ihr Verfall hierinn so gross" war, dass "der öffentliche Gottesdienst immer schändlicher, die Vergötterungen immer unsinniger, die Göttergeschichte immer abscheulicher" (2,41) werden konnten. Gleichwohl oder ebendeshalb liege der Selbstbehauptung und schliesslichen Entwicklung des wahren Gottesdienstes und wahren Gottesbegriffes ein "fremde[r] Unterricht zum Grunde" (2,52), nämlich eine direkte göttliche Handreichung schon bei den ersten Menschen.
Auf den Einwand, wieso Gott denn nicht die Welt von vornherein vollkommen geschaffen habe, wird entgegnet, die Welt sei gerade so vollkommen, wie sie sei, weil ihr "System […] aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit" (2,54) bestehe:
Es sollten demnach in diesem Reiche Gottes auch Geschöpfe, wie wir sind, seyn, die durch langsamere Stuffen, durch Unterricht und Veranlassungen, und zwar durch solche Veranlassungen, die Gott nach seiner Weisheit in dem Laufe der Natur zu veranstalten sich selber vorbehalten, zu ihrer Vollkommenheit kommen sollen; und diess ist offenbar die Bestimmung der Menschen. (2,54f.)
Dank Jerusalems Unsterblichkeitspostulat hat selbst der jetzt noch „Wilde“ eine ganze Ewigkeit Zeit, das Wesentliche zu lernen. "Auch wir sind zu jenen höhern Stuffen der Verklärung, die uns bevorstehen, noch nicht erhaben, sind wir aber deswegen von seiner Vorsehung verlassen?" (2,72) Aufklärung und Verklärung liegen im Kreise der Lichtmetaphern nahe beieinander — was die eine an Entsakralisierung zu gewärtigen hat, wird der andern an Sakralisierung zuteil. Nehmen wir also einmal an, Gott habe tatsächlich alles so eingerichtet, dass jeder der Vollkommenheit Würdige früher oder später in ihren Genuss kommt, und habe überdies selbst einige Rückschläge in der Entfaltung der wahren Religion in seinen Heilsplan von vornherein integriert, so bleibt die alte Frage, wie sich Offenbarung und Naturordnung miteinander vertrügen:
Eine solche Ordnung ist unwidersprechlich da. Aber wollen wir voraus bestimmen, was diesem Plane gemäss ist, und dass es unmöglich sey, dass Gott auch eine Offenbarung in diese Ordnung mit verbinden könne, oder dass eine jede Offenbarung diese Ordnung zerstöre? (2,88)
Gerade letzteres sei aber nicht der Fall, vielmehr habe Gott doch vermutlich seine Offenbarungsabsichten immer schon in den natürlichen Verlauf der Dinge eingeschrieben. Wie jedoch sollen wir Gottes Wirken feststellen? Jerusalem erweist sich ganz und gar als protestantischer Theologe, wenn er den Kardinalsweg einer Erforschung göttlichen Wirkens in der Bibel findet. Von nun an will er dieses Buch eingehend konsultieren "und nach dem Gange des Lichts, welches ich darinn wahrnehme, es mit allem dem Ernst, mit aller der Aufrichtigkeit und Vorsicht prüfen " (2,95). Er beginnt mit einer chronologischen Rekapitulation der biblischen Geschichte. Die nächste Betrachtung widmet sich den ersten Kapiteln der Genesis. Zunächst wird gegen die Ungläubigen das durch die Simplizität des Stiles verbürgte (vgl. 2,118f.), hohe Alter dieser Quelle verteidigt, die viel weiter zurückreiche als alle andere Überlieferung. Dies hindert den Exegeten freilich nicht daran, durchaus einzuräumen, dass der uns heute vorliegende Bibeltext eine redaktionell überarbeitete Version ursprünglicherer Quellenfragmente darstelle. Der Ausleger bedarf "keines so ängstlichen Erweises von einer durchgängig wörtlichen Eingebung", um die Bibel "als die einzige Quelle aller meiner sichern Erkenntniss von Gott, als die einzige zuverlässige Richtschnur aller meiner Handlungen, als den einzigen zuverlässigen Grund aller meiner Hofnung und Ruhe" (2,116) anzusehen. Allerdings sind Argumente für einen derart starken Schriftglauben bloss aus dem beeindruckenden Alter gewisser Teile der Bibel abzuleiten, sondern gründen auf dem darin vermittelten, verlässlichen Wissen um die Weltursprünge. Dadurch, dass die ersten Kapitel der Genesis die Weltursprünge beleuchten, wird die Weltgeschichte erst verständlich. Diese Geschichte ist bei Jerusalem auf authentisches Wissen von den Ursprüngen angewiesen, weil sich erst so erschliesst, was Gott mit seiner Welt und mit seinen Geschöpfen wirklich vorgehabt hat, ja, dass überhaupt ein Gott als Weltschöpfer da war. Freilich erhalten wir in der Bibel nicht nur Aufschlüsse über die Ursprünge, sondern auch über den Fortgang der Dinge. Aus den einführenden Erläuterungen zu einer sehr ausführlichen Exegese des Pentateuch lässt sich erschliessen, weshalb Geschichte für Jerusalem eine derartige Bedeutung erhält: Die Bibel ist das Dokument einer göttlichen Offenbarung, die wiederum als göttliche Erziehung gedacht wird. Diese Erziehung ist wesentlich ein Prozess, der in der Geschichte vor sich geht und nur als historischer Prozess angemessen gewürdigt werden kann. Da die Bibel einen exklusiven Bericht über die Geschichte Gottes mit den Menschen gibt, kommt so etwas wie ein neologischer Biblizismus heraus, der die Bibel "als die einzige Quelle aller wahren Philosophie von Gott und von der Bestimmung des Menschen" (2,101) anzusehen genötigt ist. Damit man so verfahren kann, muss man die Akkomodation in Rechnung stellen, die den göttlichen Erzieher jeweils das tun liess, was dem beschränkten Aufnahmevermögen der Menschen je nach ihrem Entwicklungsstadium angemessen war.
Die Bibel ist also nicht einfach die (langatmige) Rekapitulation religiöser Wahrheiten, sondern vielmehr ein historisches Dokument. Dies aber wertet sie in Jerusalems Sicht mitnichten zu einem Buch unter anderen antiken Büchern ab. Eine religionswissenschaftliche Vergleichgültigung findet durch den Nachweis des historischen Charakters der Bibel gerade nicht statt, und zwar deswegen nicht, weil Jerusalem darauf beharrt, dass die Bibel das älteste, vornehmste und historisch allein zuverlässige Dokument der Geschichte Gottes mit den Menschen sei. Er münzt seine Erkenntnis, dass die Schriften namentlich des Alten Testaments nicht nur Berichte über geschichtliche Ereignisse enthalten, sondern selber durch und durch historische Dokumente sind, in ein Argument für ihre "Göttlichkeit" um, insofern sie eben die Geschichtlichkeit des Vorsehungswirkens sinnenfällig machen. So kann alles Anstössige als historisch kontingent, ja als Beweis für die damalige, niedrigere Stufe der Menschheit interpretiert werden — ebenso kann man die gesetzlichen Bestimmungen des Pentateuch als überholt verabschieden, gehören sie doch zur Geschichte und nicht zum aufgeklärten Begriff der Religion. Die "Vernunft" erscheint an der zitierten Stelle in einer anfänglichen Schwachheit, die sie ständiger Hilfestellungen der Vorsehung bedürftig macht. Mittlerweile scheint die göttliche Lenkung der irdischen Geschicke die menschliche Vernunft immerhin so weit auf den Weg gebracht zu haben, dass diese auf eine direkte Inanspruchnahme göttlichen Beistandes verzichten und sich ihrer tugendhaften Einsichten selber mündig bedienen kann.
Aber diese zugleich mit dem Unterrichte verbundene und durch alle Stufen der Vernunft geleitete Geschichte desselben, diese giebt dem ganzen Buche und dem darinn enthaltenen Unterrichte eine solche Wahrheit und Würde, und denen übrigen Beweisen, worauf eigentlich die Göttlichkeit dieses Unterrichts beruhet, eine solche Bestätigung, die bey allen Angriffen des Unglaubens unüberwindlich bleibt. (2,114f.)
Die Historizität der biblischen Geschichte(n) und der Bibel selbst nivelliert ihren Wert nicht, sondern vervielfältigt ihn, weil die Geschichte, die das Geschichtliche der Bibel ausmacht, eine höchst vornehme Geschichte ist, eben die Geschichte Gottes mit den Menschen. Man könnte geradezu von der neologischen Entdeckung der narrativen Historizität sprechen, die gegen die dogmatischen Verbiesterungen der Orthodoxie anerkennt, dass alles, was ist, geworden ist, dies aber im Unterschied zu manchen Deisten nicht als Argument gegen göttliche Geschichtswirksamkeit interpretiert, sondern vielmehr als Argument dafür: Nur was geschichtlich ist, ist wirklich. Nur was geschichtlich ist, kann göttlich sein. Freilich bleibt Jerusalem den Beweis dafür schuldig, dass die in der Bibel erzählte und die durch die Bibel dokumentierte Geschichte exklusiv die Geschichte der menschlichen Entwicklung, der göttlich angeleiteten Entfaltung der Vernunft und der Selbstentfaltung des Vorsehungshandelns ist. Die ganze Beweisführung beruht auf der petitio principii, dass die Bibel in einer exklusiven Weise die Geschichte der Vorsehung, der einzig wahren Ursprünge erzählt, und andere religionsgeschichtliche Zeugnisse ihr in keiner Weise das Wasser reichen können.
Jerusalem betont, wie bewusst die Genesis komponiert sei: "in dieser scheinbaren Rhapsodie herrschet der stärkste Plan, den der Verfasser nie aus den Augen verliert" (2,120). Die im biblischen Text dokumentierte Entwicklung des Menschen besteht in der Entfaltung der in seiner Natur angelegten Fähigkeiten. Dabei kommt — wie bei Herder — der Sprache eine hervorragende Bedeutung zu; "ohne Sprache hätten die grössten Anstaltungen der Vorsehung mit dem Menschen keinen Endzweck" (2,149). Freilich gibt es nach dem Bericht der Genesis dafür keinen "unmittelbaren göttlichen Unterricht" oder eine "eingegebene Sprachkunst" (2,172): "Der Schöpfer giebt dem Menschen nur die Veranlassung dazu." (ibd.) Der Mensch wird dazu genötigt, aus sich selbst heraus zu schaffen und sich zu Religion und Sittlichkeit heraufzubilden. So steht beispielsweise die geschlechtliche Verbindung im Dienst "der höhern allgemeinen Geselligkeit" (2,183). Wesentlich ist, dass der Mensch unter ständigem Bewährungsdruck steht; er wird mit gutem Grund aus dem Paradies verbannt: „Denn der Mensch sey in oder ausser dem Paradiese, so ist Arbeit sein erster Beruf.“ (2,188f., vgl. 1,149) Die Bestimmung des Menschen besteht somit darin, kulturschöpferisch tätig zu sein.[73] Zugleich wird der Mensch als soziales Wesen verstanden: "Die Gesellschaft ist der einzige Weg, wodurch die Menschheit zu ihrer vernünftigen Vollkommenheit sich erheben kann." (2,196, vgl. 2,219) Und diese Vollkommenheit baut darauf, die sinnlichen Triebe in Schranken zu weisen. Beim sogenannten Sündenfall Adams sind es gerade das Überhandnehmen und die Konzentration der sinnlichen Triebe auf ein einziges Objekt — "seine ganze Glückseligkeit und Ruhe ist an die einzige gereizte Begierde geheftet, und der Genuss des ganzen übrigen Paradieses ist ihm nichts" (2,199) —, die zur Übertretung des Gebotes führen.[74] Die Übertretung, der sich der Mensch durch das Essen der verbotenen Frucht schuldig macht, weckt in ihm "die ersten Regungen seiner moralischen Natur; sein Gewissen hält es ihm vor, dass er gesündiget habe" (2,200). Die Folgen der ersten Sünde sind demnach bei Lichte besehen positiv; sie machen den Menschen erst zu einem moralischen, das heisst: gewissenhaften Wesen. Ausführlich kommt Jerusalem im dritten Band seiner Betrachtungen, die sich der Gestalt und dem Werk Mose widmen, auf die "Lehre von der moralischen Regierung Gottes über die Welt oder Geschichte vom Falle" (3,280-425) zurück, ohne wesentlich über das im zweiten Band Resümierte hinauszugehen. Er führt dabei die orthodoxe Erbsündenlehre endgültig ad absurdum.[75]
Der Mensch ist nun dazu aufgerufen und zugleich dazu verurteilt, im Schweisse seines Angesichts sein Brot zu verdienen, nicht, weil er durch eine einmalige Tat alle Aussichten auf eine paradiesische Fortexistenz verwirkt hat, sondern weil das Paradies von Anfang nur für die Kinderstube, für die ersten Schritte des Menschen gedacht gewesen ist. Übertretung und Verlust des Paradieses hätten weder den "Schöpfungsplan zerrüttet" (2,206), noch sei die Natur des Menschen durch den sogenannten Sündenfall in irgendeiner Weise korrumpiert worden. Jerusalem betont ja, dass die Natur des Menschen von allem Anfang an gleich gewesen sei. Vielmehr traten im Augenblick des Vergehens die Schwachheit dieser Natur und ihre Anfälligkeit für sinnliche Versuchungen zum ersten Mal offen zutage — zugleich jedoch auch ihre Berufung zu höherer Moralität, die — und das ist die Pointe — eben erst durch harte Arbeit, sozusagen durch Triebsublimation wirklich ausreifen kann. Daher muss der Mensch Mangel leiden und wird aus dem Paradiese verstossen. Das ist seine grosse Chance, denn nun kann er sich wirklich bewähren. Allerdings kann er seine Bewährungsarbeit noch nicht ohne die Vorsehung als Bewährungshelferin erfolgreich erledigen. „Ja wenn die Vorsehung den ersten Menschen gleich nach seiner Existenz sich selbst überlassen hätte, so wäre diese Geschichte allerdings ein sehr übel ausgedachter Roman. Denn so hätten tausende von Jahren hingehen müssen, ehe der Mensch aus seinem thierischen Zustande sich erheben, und seine Vernunft, auch nur bis zur geringsten Erfindung, sich hätte entwickeln können.“ (2,218)
Jerusalem identifiziert, wie die folgenden Erörterungen zu den weiteren Begebenheiten im Buch Genesis belegen, noch ohne Bedenken biblische Geschichte mit irdischer Realgeschichte. Seine Zugeständnisse an die historische Kritik, die ihn etwa im Falle der Sintflut zur Äusserung veranlassen, es seien wohl nicht alle hohen Gipfel der Erde mit Wasser bedeckt gewesen, wie der biblische Text es nahelegt (2,270), problematisieren die Genesis als historischen Tatsachenbericht noch nicht wirklich. Die grosse Flut, für deren kollektives Erinnertwerden Jerusalem bereitwillig (religions)historische Dokumente anderer Kulturen heranzieht (2,254f.), habe durch die überall zu findenden Versteinerungen durchaus realwissenschaftliche Evidenz (2,260-264). Dabei sei es, nach göttlichem Willen, ganz und gar natürlich zu- und hergegangen, wodurch das Ereignis nicht aufhöre, "ein göttliches Gericht zu seyn" (2,272). Nötig geworden sei es durch die "Hindansetzung aller Gottesfurcht" (2,245) und durch das Überhandnehmen der sinnlichen Triebe: "Die Geschichte der Religion ist in ihrem ganzen Umfange nichts als eine Geschichte der menschlichen Schwachheit, und der Mittel, welche die Vorsehung von Zeit zu Zeit nach ihrer Weisheit wählet, um dieser Schwachheit zu Hülfe zu kommen." (2,312f.) Religiöse und profane Geschichte werden also enggeführt, da die Zeugnisse des Alten Testaments ja die einzig zuverlässigen Quellen der menschlichen Frühgeschichte darstellten.[76] So zögert Jerusalem nicht, die charakterlichen Mängel von Isaak (2,387) und Jakob (2,407) psychologisierend aufzurechnen, als wären uns im 1. Buch Mose authentische Charakterporträts überliefert. Der Verfasser der unter seinem Namen bekannten Bücher sei — gegen Richard Simon — tatsächlich Moses gewesen (vgl. 3,67ff.), der freilich ältere Quellen in seinen Text integriert habe. Geschrieben habe Moses
dies ganze Buch in der doppelten Absicht, um das israelitische Volk in der Ueberzeugung zu bestätigen, dass seine Religion […] die einzige wahre Religion sey […]. Dann aber: dass die Eroberung des Landes, wozu er sie jetzt anführe, kein willkürliches Unternehmen von ihm sey, sondern dass dies Land ihren Vätern schon als ein Eigenthum für ihre Nachkommenschaft und in der Absicht von Gott verheissen sey, dass es der Sitz dieser Religion seyn sollte. (2,390)
Jerusalem versucht ganz im Sinne der wolffianischen Hermeneutik die intentio auctoris, die Absichten, die der Autor mit seinem Werk verfolgte, zu eruieren.[77] Dass er die Absicht des Schriftstellers Moses positiv deutet, versteht sich von selbst; allerdings hätten die von ihm gelieferten Argumente, sobald man ihnen eine etwas andere Färbung gibt, auch gegen die Lauterkeit Mose verwendet werden können: Jeder Bestreiter der Offenbarung könnte konzedieren, dass Moses sowohl beanspruchte, die einzig wahre Religion zu verkünden, als auch, die Eroberung Kanaans und die Besitzansprüche des Volkes Israel theologisch zu legitimieren (vgl. 2,408). Dies aber wäre mitnichten ein Beweis für die Wahrheit dieser Religion oder gar für die Wahrheit der theologischen Feldzugs-Legitimation, sondern allein dafür, dass sich Historie und Theologie politisch instrumentalisieren lassen. Die (relative) Wahrheit der Moses zugeschriebenen Religion hat von vornherein festzustehen, ansonsten könnte man die unmittelbaren Autoren-Intentionen des Genesis-Verfassers so stehen lassen, wie der protestantische Abt sie umreisst, und dennoch diesen Verfasser des 'Priesterbetruges' bezichtigen, nämlich der religiösen Bemäntelung von Machtinteressen. Jerusalem macht viel, vielleicht zu viel Konzessionen an die profangeschichtliche Betrachtungsweise, wenn er die Genesis als religiös-theologische Rechtfertigung der gewaltsamen Eroberung Kanaans anerkennt. Er lässt sich an der Erwählung Israels nicht irremachen (vgl. 2,324-328), ist er doch überzeugt, "dass selbst der hohe Grad unserer Erleuchtung, worauf wir jetzt so stolz seyn können, von dieser Philosophie der Barbaren ursprünglich herkömmt" (2,409).
Wenn Jerusalem partikulare politische Autorenabsichten bei Moses dingfest macht, provoziert das die Frage nach Jerusalems eigenen politischen Intentionen, war der braunschweigische Kirchenmann doch nicht zuletzt kirchlicher Diener eines weltlichen Herrn. Tatsächlich erzieht seine theologisierende Geschichtsphilosophie keine mündigen und gleichberechtigten citoyens einer republikanischen oder gar demokratischen Gesellschaft. Die Glücksansprüche des Individuums werden auf die jenseitige Vervollkommnung vertagt. Stattdessen wird der einzelne für diese Welt zur unbedingten Pflichterfüllung angehalten. Kommt er seiner Arbeit nach, mag er räsonieren, wie er will — "Gewissensfreyheit" in Maßen gesteht Jerusalem ihm ja zu. Die Emanzipationsgeschichte, die Jerusalem erzählt, ist mit anderen Worten keineswegs die Geschichte politischer Emanzipation. Das unausgeführt gebliebene Kapitel über Rechte und Pflichten des Fürsten im ersten Band der Betrachtungen hätte vielleicht einen monarchistischen Wohlfahrtsstaat im Sinne Wolffs skizziert.[78] Tatsächlich sind aber dem Werk keine konkreten Hinweise auf die Gestaltung des politischen Lebens zu entnehmen; das hätte Jerusalem schwerlich als die Aufgabe des die vornehmsten Wahrheiten der Religion rekapitulierenden Theologen angesehen. Trotzdem ist es für die Theoriegeschichte der Geschichtsphilosophie von einigem Belang zu notieren, dass ein durchaus auch auf irdischen Fortschritt bedachtes, geschichtsphilosophisch-geschichtstheologisches Konzept der deutschen Aufklärung ohne wesentliche politisch emanzipatorische Konnotationen auskommen konnte. Diese Beobachtung soll hier weniger dazu dienen, eine Theorie vom deutschen Sonderweg zu zementieren, demzufolge gerade auch im aufklärerischen Deutschland immer nur der Obrigkeitsdiener, nie der politisch mündige Bürger die erzieherische Zielvorstellung gewesen sei.[79] Für uns ist wichtiger, dass ein bestimmtes geschichtsphilosophisches Modell keineswegs zwangsläufig jene politischen Folgerungen nach sich zog, die man später in es hineinzulegen sich bemüssigt gefühlt hat. Nur eine selber ideologiekritikbedürftige, teleologische Perspektivierung der Theoriegeschichte kann so tun, als implizierte jede Fortschrittsgeschichtsschreibung die politische Emanzipation des Individuums und mache sich so nolens volens zum Agenten der Revolution. Jerusalems Geschichtsdeutung beweist genau das Gegenteil: Das Versprechen des Fortschrittes sowohl im Diesseits als auch der Vervollkommnung im Jenseits erfüllt, politisch betrachtet, allenfalls sozialdisziplinatorische Interessen und nimmt sich im kleinen der von der Vorsehung im grossen besorgten Erziehungsaufgabe an: Es gibt in dieser von der Vorsehung weise regierten Welt keinen Grund zu Aufruhr oder überhaupt nur zu politischer Gemeinschaftsbildung. Das Individuum hat sich an seiner persönlichen Tugend und nicht an der volonté générale abzuarbeiten. Vermutlich ist Anpassungsfähigkeit wesentlicher Bestandteil dieser Tugend.
Die göttliche Erziehungsanstalt, als die die Geschichte nach Jerusalem zu begreifen sei, verabschiedet den Menschen nicht nach und nach in die völlige Selbstgesetzgebung. Soweit Jerusalems monumentales Torso — dessen dritter und letzter Teil ausschliesslich dem Wirken Mose gewidmet ist[80] — das zu eruieren gestattet, wird — um mit Lessing zu sprechen — das "Elementarbuch" dieses Unterrichts, nämlich die Bibel, als Katalog direkter Handlungsanweisungen zwar überflüssig. Jedoch bleibt der göttliche Gehorsamsanspruch erhalten, der es erlaubt, alles scheinbar Kontingente auf den Willen des Allmächtigen zurückzuführen. Daneben gilt die Bibel, wenn schon nicht mehr als Katalog direkter Handlungsanweisungen, noch immer als Schlüsseldokument für die wahre Geschichte Gottes mit den Menschen. Aus ihm deduziert Jerusalem seine Fortschrittsgeschichte, die eine Geschichte der Vereinfachung ist: Was am Ende, im aufgeklärten 18. Jahrhundert, von der positiven Religion noch übrig bleibt, sind die umsichtig von allem Widervernünftigen gereinigten Begriffe von Gott, Vorsehung, Tugend und Unsterblichkeit. Entsprechend verwischt sich in der Panoramaschau der Vorsehung das, was den spezifischen Charakter der Religion ausmachen könnte:
Die Religion hat in diesem weisen und grossen System [sc. der Vorsehung] keinen besondern Gang für sich allein; sie geht, wie die andern Wissenschaften und Entdeckungen in der Natur, immer in Verbindung mit der Menschheit, nach deren Lage und in Verhältniss mit der allgemeinen Aufklärung der Vernunft fort; verbreitet immer so viel Licht und Kenntniss, als die Menschheit zu jeder Zeit fassen und annehmen kann, und geht in ihrer Erleuchung fort, nach dem die Vernunft die höhern Lehren zu fassen bereitet ist. (3,524f.)
Diese Beschreibung sich universalisierender Aufklärung macht ex negativo deutlich, welche Klippen die Fortschrittsgeschichtsschreibung neologischer Machart nicht oder nicht ganz umschifft hat. Es gibt in Jerusalems Modell noch keine wirkliche Dialektik, keine Notwendigkeit des Gegensatzes zur Erzeugung höherer Zustände wie beispielsweise in Kants Antagonismus-Theorie. So sind Jerusalems geschichtsphilosophische Entschuldigungen der moralischen Übel etwas schmalbrüstig (z. B. des Krieges zwecks Völkerverständigung), weil der Neologe zum einen seinem moralisch absolut integeren Allmachtsgott nicht die Wahl schlechter Mittel zum Erreichen des Guten unterschieben darf (bestenfalls hat Gott diese Übel in Kauf genommen). Zum andern wird ein dialektisch zugespitztes Bonum-durch-Malum-Schema aus Rücksicht auf das Individualwohl nicht radikal durchgespielt, so prominent es stellenweise auch auftritt. Es geht Jerusalem als Theologe ja dezidiert um die Tugend und das Glück des einzelnen — wohingegen die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus auf diese individuellen Glücksinteressen keine Rücksicht mehr nehmen will (zumal seit Kant der Eudämonismus aus der Ethik ohnehin verbannt ist): So ist beispielsweise nach Hegel die Weltgeschichte "nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes".[81] Dies freilich hat auch mit einem Verständnis von Glück als Selbstgenügsamkeit und erstarrter Ruhe der Seele zu tun, "sans avoir besoin de rapeller le passé ni d'enjamber sur l'avenir", um mit Rousseau zu reden.[82] Solche Glücks-Statik wäre tatsächlich das Ende der Geschichte.
Überhaupt treten, wenn wir Jerusalems geschichtsphilosophisches Konzept abschliessend noch einmal nach seiner theoretischen Kohärenz befragen, manche schon angesprochene Schwierigkeiten an den Tag. Es fällt auf, dass den Betrachtungen keine scharfe Trennung von irdischer Zukunft — Zukunft der Welt, Zukunft der Gattung — und eschatologischer Zukunft zu entnehmen ist. Die traditionellen Loci vom Ende der Welt und vom Jüngsten Gericht sind mit der Verabschiedung der alten Dogmatik völlig aus dem Blick geraten. Jerusalem macht keine Vorgabe, wie dieses Ende auszusehen hat. Man kann dieses Unbestimmtsein in der teleologischen Ausrichtung von Jerusalems Entwicklungskonzept, das sich in der Unbestimmtheit spiegelt, welche Mittel die Vorsehung auf welche Weise anwendet, um ihre Zwecke zu verwirklichen, wohlwollend für ein Kennzeichen des aufklärerischen Humanismus halten. Aus Weisheit verzichtet dieser Humanismus zudem darauf, das Individualglück dem Gattungsinteresse bedenkenlos aufzuopfern. Indessen räumt man mit dieser wohlwollenden Auslegung Jerusalem vielleicht mehr Kredit ein, als seine Position verdient: Immerhin wäre es ja gerade aufgrund des Unsterblichkeitspostulates möglich, die individuelle irdische Existenz ganz für die Gattungsinteressen einzuspannen, erhält der einzelne doch noch eine ganze Unsterblichkeit lang Gelegenheit zu individueller Vervollkommnung (vgl. 1,273ff.).
Nun wäre es falsch, von den für erbaulichen Gebrauch bestimmten Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion zu verlangen, sie hätten metaphysische Grundprobleme endgültig zu lösen. Die systematischen Schwierigkeiten, die Jerusalems Werk aufgibt, zeigen gerade, dass es nicht Jerusalems Bestreben gewesen sein kann, ein geschichtsphilosophisches System zu errichten, das vor aller Unausgeglichenheit sicher wäre. Zweifellos versucht er aber, die Konstruktion einer absoluten Weltordnung vor Ungleichgewichten sicherzustellen, indem er prinzipiell alles, was die Ordnung aus dem Lot bringen könnte, als Ermöglichungsgrund künftigen Gutes und künftigen Gleichgewichtes ausgibt. Und wo dieses Verfahren an seine Grenzen stösst, hat er immer noch das Versprechen der Unsterblichkeit in der Hinterhand.
Wozu jedoch die ganze geschichtsphilosophische Überformung des theologischen Stoffes, wenn doch eigentlich die traditionelle christliche Lehre für alle Übel in der Welt die richtige Erklärung — nämlich die Erbsünde — und die richtige Lösung — nämlich die Heilstat Jesu Christi — bereithält? Gerade hier liegt das Problem, das die geschichtsphilosophische Operation erst provoziert. Die ordnungsmetaphysischen Grundannahmen des Leibnizianismus machten die Erlösung der Menschen durch Christus in letzter Konsequenz überflüssig;[83] in der besten aller möglichen Welten ist eine dauerhafte Korruption der menschlichen Natur durch die einmalige Sünde eines Urvaters nicht mehr ernsthaft denkbar (obwohl Leibniz selbst in seiner Soteriologie noch sehr wohl an traditionellen Vorgaben festhält[84]). Der Mensch kann tugendhaft sein, wenn er es nur sein will. Demgegenüber hatte die pessimistische Anthropologie von Paulus über Augustin bis Luther und Calvin der Sache nach stets auf dem non posse non peccare, auf der Unfähigkeit des Menschen zur Tugend beharrt und mithin jedem Entwicklungsdenken skeptisch gegenüber gestanden.[85] War nun aber die prinzipielle Korruption der menschlichen Natur als Fundamentaldoktrin beseitigt, so erübrigte sich auch ein dogmatisch verstandenes Versöhnungswerk Jesu Christi. De facto waren damit indes die Übel nicht aus der Welt geschafft, sondern mussten umso bedrohlicher erscheinen, je weniger die alten erbsündentheologischen Argumente noch Erklärungspotential besassen: Die Übel werden unerklärlich, was sie nicht waren, solange sie auf die in der Adamsschuld begründete Sündenverfallenheit des Menschen zurückgeführt wurden. Folgerichtig wird im 18. Jahrhundert die Theodizeefrage akut wie kaum jemals zuvor. Der Zerfall der konsolidierten Systeme der Dogmatik forderte neue Antworten gerade auch von der Theologie, die mit Jerusalem die schon in der alten Kirche bekannte Idee vom göttlichen Erziehungswerk geschichtsphilosophisch generalisiert. Mit dem Hinweis auf die künftig daraus hervorgehenden Güter kann jedes Übel gerechtfertigt werden.
Diese ‚Entdeckung‘ der Geschichte durch die Theologie rührt daher, dass das Christentum nur noch unter Rückgriff auf Historie verteidigt werden konnte, verfügt es doch nach dem Aufgeben der traditionellen Lehrstücke der Dogmatik über keine von der metaphysischen Vernunft unterschiedenen Sonderwahrheiten mehr, und würde also ganz in Metaphysik aufgehen, könnte es nicht nachweisen, dass die Vernunft ohne die historische Vorgängigkeit der Offenbarung, d.h. des göttlichen Erziehungseingriffes gänzlich hilflos (gewesen) wäre. Also wird Historie, geschichtsphilosophisch aufgerüstet, zur Selbstdefinition von Christentum unabdingbar. Historie und Philologie waren es freilich auch, die das alte dogmatische Selbstverständnis des Christentums erschüttert haben, indem sie nämlich die Bibel historisch und kritisch zu lesen lehrten und damit die Illegitimität der meisten dogmatischen Loci nachwiesen, soweit sich diese Loci, wie im Protestantismus, auf die alleinige Autorität der Bibel beriefen. Wie ist der nun aufgerissene, garstige Graben zwischen Bibel und Gegenwart wieder zu kitten? Indem man, schlägt Jerusalem vor, die Bibel als historisches Dokument unbedingt ernst nimmt — aber nicht als irgendein historisches Dokument, sondern als das einzige, das von Gottes Erziehung der Menschen verlässlich Zeugnis ablegt. Direkte Glaubenslehren sind der Heiligen Schrift dann ebensowenig zu entnehmen wie unmittelbare Handlungsanweisungen. Aber doch Aufschluss über die Wege der Vorsehung. Nur Geschichte kann, was Jerusalem sehr scharf sieht, das Christentum qua Offenbarungsreligion noch legitimieren — nämlich als Steigbügelhalterin der Vernunft, deren Einsichten sich mit der wahren Religion deckten. Das verhält sich nicht anders bei jenem Werk, das die pointierteste geschichtsphilosophische Legitimierung des Christentums darstellt, Lessings Erziehung des Menschengeschlechts. Das Fortschreiten der historischen Bibelkritik sollte freilich sowohl Jerusalems wie Lessings Standpunkt bald prekär erscheinen lassen.
Wie steht es nun, um auf unsere Eingangsfragen zurückzukommen, mit der Aufklärungsträchtigkeit der Neologie? Ganz offensichtlich sind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Probleme, für die die Theologie bis dahin Lösungen anzubieten hatte, in einer Weise akut geworden, die nach neuen Bewältigungstrategien verlangte: in erster Linie das Theodizeeproblem. Leibniz und die auf ihn folgende Schulmetaphysik hatten es, wenigstens für einige Jahrzehnte ruhiggestellt. Mit dem Niedergang der Leibniz-Wolffschen Schulobservanzen brach das Problem von Neuem auf. Nun profilierte sich — wie im deutschsprachigen Raum etwa die Geschichtsphilosophie Isaak Iselins demonstriert — eine geschichtsphilosophische Antwort. Dabei blieb die Theologie keineswegs untätig, sondern versuchte, wie Jerusalems Betrachtungen anschaulich machen, ebenfalls mit einer Revitalisierung des Geschichtlichen die alte Sinnstiftungskompetenz zurückzuerobern. Gegenüber dem Deismus und jeder Form rein natürlicher Theologie hatte die Neologie dabei den nicht geringzuschätzenden strategischen Vorteil, dass der Akzent auf der Geschichte die Statik der rein metaphysischen Konzepte (auch das Leibnizsche) überbot und im Geschichtlichen das Menschliche ernstnahm, das den geschichtslosen theologia naturalis-Konzeptionen nur allzuleicht entging.
Allerdings wäre es ein kapitaler Trugschluss, wollte man glauben, die Theologie habe mit ihrer neologischen Annexion des Geschichtlichen jenes Sinnstiftungsmonopol wiedererlangt, das sie in vormodernen Zeiten innegehabt haben mochte. Die Philosophie, gerade in Gestalt der sich als Reflexion auf den metaphysischen Sinn der Universalgeschichte konstituierenden Geschichtsphilosophie, erhebt nun unerbittlich und unüberhörbar Anspruch auf die Erbschaft des Sinnstiftungsmonopols. Gleichwohl ist bei Herder und Lessing, bei Iselin und Kant nicht nur die Rhetorik, sondern auch der Inhalt der Antworten auf weite Strecken deckungsgleich mit denjenigen der Geschichtstheologie eines Jerusalem: Zweck der philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte sei es, Zufriedenheit mit dem Wirken der Vorsehung zu stiften. Worauf es ankommt, ist Trost, Beruhigung angesichts der unleugbaren, aber zu höheren Zwecken instrumentalisierten Übel. Hier, im Motiv der durch Providenzerweis erbrachten Beruhigung und Zufriedenheit, nicht etwa in einer politisch-emanzipatorischen Ideologie, liegt der 'existentielle' Kern der massgeblichen geschichtsphilosophischen Konzepte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Man wird sich notgedrungen mit der Vorstellung anfreunden müssen, dass Aufklärung als historisches Phänomen sich keineswegs nur der Kritik angemasster Autorität und der "Gewissensfreyheit" verpflichtet wusste, sondern metaphysische Besitzstände erkämpfen oder sichern wollte. Man bekommt die Aufklärung als europäische Bewegung schwerlich in den Blick, wenn man immerzu nur die alten Fragen an sie stellt — ob und inwiefern sie etwa zur Französischen Revolution geführt habe —, und sich nicht zugleich fragt, wie diese Aufklärung denn ihre Eroberungen zu bewahren gedachte. Sind diese Sicherungen und pastoralen Eingemeindungen tatsächlich so leicht von denen zu unterscheiden, die man gemeinhin als "theologisch" mit leiser Verachtung oder leisem Bedauern ad acta legt?
Abstract
Johann
Friedrich Wilhelm Jerusalem’s Betrachtungen
über die vornehmsten Wahrheiten der Religion were a bestseller of German
Englightenment, although they are a theological book. In this article, the Betrachtungen are treated as a text
which tries to synthesize the newly established Philosophy of History with more
or less traditional theological patterns. Jerusalem uses the argument of
universal development and progress in history to demonstrate the evidence of
divine Providence. So his book comes close to Gotthold Ephraim Lessing‘s Erziehung des Menschengeschlechts, that
it may have influenced. The main purpose of Jerusalem’s is calming and
pacifying the individual’s soul; he wants to prove that the individual’s life
makes part of a general order of history. This is also the purpose of ‚profane‘
Philosophy of History in German Englightenment. Jerusalem’s neological
Philosophy of History gives news answers to the problem of Evil after the
decline of the metaphysical theodicy in the tradition of Leibniz.
* Für Hinweise, Korrekturen und Änderungsvorschläge danke ich Dr. Helmut Berthold, Prof. Dr. Walter Sparn, Prof. Dr. Jürgen Stenzel, Prof. Dr. Carsten Zelle sowie den Herausgebern der ZNThG. Die verbliebenen Fehler und Fehleinschätzungen sind die meinigen.
[1] Alle im Haupttext ausgewiesenen Zitate beziehen sich mit Band- und Seitenangabe auf: [Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem], Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. An Se. Durchlaucht den Erbprinzen von Braunschweig und Lüneburg. [Theil 1], Frankfurt und Leipzig 51773; Theil 2, Frankfurt und Leipzig 1775; Theil 3, Frankfurt und Leipzig 1780 (Exemplar Firestone Library, Princeton University, Signatur 5012.4994, 1-3)
[2] Siehe zu den 'theologiepolitischen' Hemmnissen einer theologischen Erschliessung des 18. Jahrhunderts den Überblick von Kurt Nowak, Vernünftiges Christentum? Über die Erforschung der Aufklärung in der evangelischen Theologie Deutschlands seit 1945 = Forum Theologische Literaturzeitung, Bd. 2, Leipzig 1999. Nowak macht auch anschaulich, dass an der Theologie des 18. Jahrhunderts ausserhalb der eigentlichen Theologie- und Kirchengeschichte bislang wenig Forschungsinteresse bestand. Wohl gibt es einige Beiträge zum 'profan'wissenschaftlichen und philosophischen Einfluss auf die Theologie, jedoch kaum Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen den theologischen und den 'profanen' 'Diskursen'. Hilfreich ist Walter Sparn, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Wissenschaften im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, S. 18-57. In der internationalen Aufklärungsforschung ist die Theologie(geschichte) kaum präsent, was der Bericht von Sandra Pott zum Zehnten Internationalen Aufklärungskongress in Dublin vom 25. bis 31. Juli 1999, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, Jg. 23 (1999), Heft 2, S. 140-141, erschreckend deutlich macht.
[3] Zitiert nach: Klaus Erich Pollmann (Hrsg.), Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789). Beiträge zu einem Colloquium anlässlich seines 200. Todestages, Braunschweig 1991, S. 11.
[4] Integral abgedruckt in der Einleitung zu Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, ausgewählt und hrsg. von Wolfgang Erich Müller, Hannover 1991, S. 22f., vgl. Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle/Saale 1929, S. 65.
[5] Trotzdem fehlt Jerusalems Name in manchen ansonsten detailversessenen kirchengeschichtlichen Gesamtdarstellungen, wie z. B. bei Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen 181991. Man kann dies durchaus mit der keineswegs erst seit Karl Barths Protestantischer Theologie im 19. Jahrhundert (Zollikon/Zürich 1947) modisch gewordenen Geringschätzung der Neologie als Degeneration wahrer reformatorischer Gottesgelahrtheit in Verbindung bringen. Vorbildlich und quellennah ist demgegenüber der Artikel von Albrecht Beutel, Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm, in: RGG4, Bd. 4, Sp. 449-450
[6] Vgl. z. B. Wolfgang Gericke, Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. III/2, hrsg. von Gert Haendler u. a., Berlin 1989, S. 95, oder Johannes Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 1990, S. 0 27. Klaus Scholder, Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland, in: Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert zum 65. Geburtstag, Berlin 1966, S. 460-486, S. 485, behauptet sogar, das, was die deutsche Aufklärungstheologie an "Originellem" besessen habe, "das entstammte weitgehend dem Erbe des Pietismus". Obwohl diese Form der theologischen Delegitimierung der Aufklärung zugunsten des Pietismus von der neueren Forschung gewöhnlich nicht mitgetragen wird, bleibt das Verhältnis von Neologie und Pietismus doch ein wenig beackertes Feld (vgl. Nowak, Vernünftiges Christentum?, S. 58-65).
[7] Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Gütersloh 1949-1954, Bd. 4, S. 6.
[8] Jerusalem nennt eine ganze Reihe ‘frommer Aufklärer’ und stellt opportunistische Motive ihrer Frömmigkeit in Abrede: "Grotius, Puffendorf, Leibnitz, Wolff, Locke, Newton, Boyle, Boerhave, Haller, Hollmann, Sulzer, keiner von diesen hat sich aus Furcht vor der Inquisition zur Religion bekannt; keiner von ihnen ist durch geistliche Pfründen bestochen, die Welt im Aberglauben zu erhalten; sie hätten wenigstens alle sicher schweigen können, und dennoch haben sie es sich alle zum Berufe und zur Ehre gemacht, selbst die Wahrheit und Vortreflichkeit der christlichen Religion öffentlich zu vertheidigen." (1,451f.)
[9] Leonhard Euler, Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Aus dem Französischen nach der Übersetzung vom Jahre 1769, hrsg. von Günter Kröber, Berlin 1987, S. 39 (Brief vom 17. Juni 1760). Vgl. auch Eberhard Wölfel, Leonhard Euler und die Freigeister. Zum Thema einer "vernünftigen Orthodoxie", in: Wolfgang Erich Müller / Hartmut H. R. Schulz (Hrsg.), Theologie und Aufklärung. Festschrift für Gottfried Hornig zum 65. Geburtstag, Würzburg 1992, S. 52-75.
[10] Aner, Die Theologie der Lessingzeit, S. 3f.
[11] Wilfried Barner / Gunter Grimm / Helmuth Kiesel / Martin Kramer (unter Mitwirkung von Volker Badstübner und Rolf Kellner), Lessing. Epoche — Werk — Wirkung. 4., völlig neubearbeitete Auflage, München 1981, S. 76. Die Zahlen beruhen auf: Walter Wittmann, Beruf und Buch im 18. Jahrhundert, Diss. phil. Frankfurt am Main 1934, S. 19 und VI.
[12] Albert Ward, Book Production,
Fiction, and the German Reading Public 1740-1800, Oxford 1974, S. 164, Appendix
I.
[13] Vgl. dazu Rolf Engelsing, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500 - 1800, Stuttgart 1974, S. 182-215.
[14] Vgl. Paul Raabe, Bücherlust und Lesefreuden. Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 57 bzw. S. 61.
[15] Siehe dazu etwa Peter Albrecht, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem im Spiegel der politischen Presse der Zeit, in: Klaus Erich Pollmann (Hrsg.), Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, S. 53-75.
[16] Vgl. Wolfgang Erich Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung zur Theologie der "Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion", Berlin und New York 1984, S. 240f. Das Werk fand auch eine Fortsetzung, die endgültig zum theologischen Rationalismus überleitete: Andreas Riem, Das reinere Christenthum oder die Religion der Kinder des Lichts. Fortgesetzte Betrachtungen über die eigentlichen Wahrheiten der Religion oder Fortgang dort, wo Herr Abt Jerusalem stillstand, 3 Theile, Berlin 1789-1794 (vgl. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, S. 358f.).
[17] Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, 2. Theil, 7. Buch = Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Grossherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919, Abt. 1, Bd. 27, S. 99.
[18] Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Theil, 12. Buch = Sophien-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 28, S. 155.
[19] Ward, Book Production, S. 116 (fälschlich führt Wards Register Jerusalem als "K. W.", Karl Wilhelm, Johann Friedrich Wilhelms Sohn, von dem es aber nur ein schmales, aus dem Nachlass herausgegebenes Bändchen gab — vgl. unten Fn. 52. Gemeint ist ohne Zweifel Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem).
[20] Zu seinen familiären Hintergründen siehe Fritz Meyen, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Abt von Riddagshausen (1709-1789), in: Braunschweigisches Jahrbuch, Bd. 53 (1972), S. 159-182, wo übrigens auch ein nützliches Verzeichnis der Primär- und älteren Sekundärliteratur zu finden ist, das gut ergänzt wird durch Wolfdietrich von Kloeden, Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Herzberg 1992, Sp. 62-67.
[21] Über die deutsche Simon-Rezeption im allgemeinen unterrichtet John D. Woodbridge, German Responses to the Biblical Critic Richard Simon: from Leibniz to J. S. Semler, in: Henning Graf Reventlow / Walter Sparn / J. D. W. (Hrsg.), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, Wiesbaden 1988, S. 65-87.
[22] Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Nachgelassene Schriften. Zweiter und letzter Theil, Braunschweig (Verlag der Schulbuchhandlung) 1793, S. 9 (es existieren Ausgaben mit unterschiedlichen Satzspiegeln; hier wird zitiert nach dem Exemplar: Firestone Library, Princeton University, Signatur 5012.4993, 1-2). Auf den S. 1-34 findet sich Jerusalems Entwurf einer Lebensgeschichte, der freilich im Unterschied zu Johann Salomo Semlers mitunter jean-paulesk bizarrer Lebensbeschreibung (Halle 1781-1782) oder Johann Joachim Spaldings gleichnamigem Werk (Berlin 1804) bloss ein dürres Faktengerüst ist.
[23] Siehe auch Gotthardt Frühsorge, Der Abt Jerusalem als Erzieher und Berater Anna Amalias, in: Wolfenbütteler Beiträge, Bd. 9, Wiesbaden 1994, S. 55-67.
[24] Zu Jerusalems vielfältiger praktischer Wirksamkeit vgl. neben dem Entwurf einer Lebensgeschichte sowie den Arbeiten von Wolfgang Erich Müller die Beiträge im Sammelband von Pollmann (Hrsg.), Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789), sowie die Ausführungen bei Isa Schikorsky, Gelehrsamkeit und Geselligkeit. Abt Johann Friedrich WIlhelm Jerusalem (1709-1789) in seiner Zeit, hrsg. von Klaus Erich Pollmann. Zur Ausstellung in der Klosterkirche Riddagshausen vom 3. September bis zum 15. Oktober 1989, Braunschweig 1989.
[25] Johann Salomo Semler (1725-1791), zweifellos der bedeutendste Wissenschaftler unter den theologischen Zeitgenossen — und als solcher ein Universitätsmann —, ist der Neologie nur bedingt zuzurechnen.
[26] Christian Wolff im Discursus praeliminaris seiner Philosophia rationalis sive logica (3. Auflage, Frankfurt und Leipzig 1740, S. 13). Vgl. auch Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, S. 127f. Übrigens ist es bemerkenswert, dass heute "zeitgemässe Geschichtsphilosophie" sich für besonders bescheiden hält, wenn sie "nur noch eine Philosophie des Möglichen" zu sein beansprucht (Andreas Cesana, Geschichte als Entwicklung? Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens, Berlin und New York 1988, S. 391). Bescheidenheit lag Wolffs Philosophieverständnis nicht eben nahe.
[27] Siehe Andreas Urs Sommer, Geschichte als Trost. Isaak Iselins Geschichtsphilosophie, Basel 2002.
[28] Immanuel Kant, Muthmasslicher Anfang der Menschengeschichte [1786], in: I. K., Gesammelte Schriften. Kritische Ausgabe, hrsg. von der Berliner Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. 8, S. 107-123, S. 120f. Vgl. Andreas Urs Sommer, Felix peccator? Kants geschichtsphilosophische Genesis-Exegese im Muthmasslichen Anfang der Menschengeschichte und die Theologie der Aufklärungszeit, in: Kant-Studien, Jg. 88 (1997), S. 190-217. Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt am Main 1998, S. 15, bringt Kants Vorsehungsbegriff in Zusammenhang mit seinem gnadentheologischen "Synergismus".
[29] Georg Joachim Zollikofer, Einige Betrachtungen über das Uebel in der Welt; Nebst einer Warnung vor den Sünden der Unkeuschheit; und andern Predigten [1777]. Zweyte Auflage, Leipzig [Weidmanns Erben und Reich] 1784, S. 4f.
[30] Hier kann es nicht darum gehen, die alte These von der Genese der Geschichtsphilosophie aus der Eschatologie, die seit Karl Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1949) die "Legitimität der Neuzeit" (Hans Blumenberg) in Frage zu stellen scheint, noch einmal aufzuwärmen. Siehe dazu etwa die scharfsichtigen Bemerkungen bei Walter Jaeschke, Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese, München 1976.
[31] Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet etwa der Entwurf des letzten grossen Puritanertheologen in der Neuen Welt, Jonathan Edwards' History of the Work of Redemption (1739, publiziert Edinburgh 1774); siehe Andreas Urs Sommer, Weltgeschichte und Heilslogik: Jonathan Edwards‘ History of the Work of Redemption, in: ZRGG, Bd. 53 (2001), Heft 2, S. 115-144.
[32] So gehört das Plädoyer für das Zusammenwirken dogmatischer und historischer Theologie zum programmatischen Ceterum censeo, etwa bei dem für die neologische Bibelhermeneutik massgeblichen Johann August Ernesti (1707-1781), der sich zu diesem Zweck ciceronianisch geschulter Prosa bedient: Johannes August Ernesti, De theologiae historicae et dogmaticae coniugendae necessitate et modo universo, in: J. A. E., Opuscula theologica, Lipsiae 1773, S. 567-590. Der neologisch und gleichermassen chiliastisch inspirierte Lavater-Freund und spätere Zürcher Antistes Johann Jakob Hess, der 1777 den Begriff "historische Theodicee" prägt ([Johann Jakob Hess], Geschichte Moses. Von dem Verfasser der Lebensgeschichte Jesu, Bd. 1, Zürich (Orell, Geßner, Füeßlin und Comp.) 1777, S. 20) scheut sich 1791 seinerseits nicht, eine "bibl. Geschichtsphilosophie" zu propagieren, deren Sinn es ist, die "Theokratie", d.h. die "göttliche Regierung" der Welt kraft der Vorsehung zu erweisen (Johann Jakob Hess, Bibliothek der heiligen Geschichte. Beyträge zur Beföderung des biblischen Geschichtsstudiums, mit Hinsicht auf die Apologie des Christenthums, Theil 1, Frankfurt und Leipzig 1791, S. 91 bzw. S. 57). Der "Gang der Vorsehung" wird "durch diese Geschichte anschaulich" (a. a. O., S. 148) — eine zunächst in der Bibel dokumentierte Geschichte, die nach Gottes Plan allmählich zur Verwirklichung des Reiches Gottes führt. Hess stellt in seinem Werk weitausgreifende Reflexionen nicht allein über den apologetischen Nutzen des Studiums biblischer Geschichte an, sondern unternimmt auch eine neue methodologische Grundlegung dieses Studiums. Zu Hess vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, S. 192-203. Wie neuartig Hess' geschichtsphilosophische Lesart der Heilsgeschichte in seinem eigenen theologischen Umfeld war, lässt sich etwa an den ihm gewidmeten Predigten über die evangelische Geschichte von Johann Jackob Stolz (1753-1821) ablesen (3 Bde., Frankfurt am Mayn 1783). Obwohl Stolz ein Hess an theologischer Originalität beinahe ebenbürtiger Kopf war, ist in diesen thematisch ja durchaus einschlägigen Texten keinerlei geschichtsphilosophischer Impetus zu verspüren.
[33] Es ist auffällig, dass Jerusalem mit dem Titel seines Werkes auf Hermann Samuel Reimarus' 1754 erstmals erschienene und ebenfalls recht erfolgreiche Vornehmste Wahrheiten der natürlichen Religion anzuspielen scheint. Reimarus legt darin — weit entfernt von der christentumsfeindlichen Radikalität seiner durch Lessing als Fragmente eines Ungenannten auszugsweise veröffentlichten Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes — auf der Basis der Wolffschen Metaphysik die Denknotwendigkeit von Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit dar, ohne sich jedoch zu einem positiven Christentum zu bekennen. Jerusalem geht mindestens im ersten Band seiner Betrachtungen mit Reimarus weitgehend einig (den er später wohl auch kaum mit dem Wolfenbütteler Fragmentisten assoziiert haben dürfte), so dass man die Wahl des Titels durchaus als Reverenz wird verstehen dürfen, wenngleich das Wegfallen des Attributs "natürlich" vor "Religion" den Gesichtskreis der Betrachtungen auf das Ganze, also auch auf die historisch gegründete Religion zu erweitern verspricht. Die Neologen liessen sich von der Veröffentlichung der Fragmente eines Ungenannten kaum aus der Ruhe bringen (vgl. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, S. 308-310, und die bibliographischen Hinweise zu Jerusalems Äusserungen im Fragmenten-Streit bei Wilhelm Schmidt-Biggemann [Hrsg.], Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, Göttingen 1979, S. 108, Nr. 196; S. 128, Nr. 270 und S. 132, Nr. 295; die Fragmente eines Ungenannten thematisiert Jerusalem z. B. auch in den Betrachtungen (3,70, 76, 78f.). Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung, S. 201-208, vergleicht die Positionen von Jerusalem und Reimarus, kommt aber nicht auf die auffällige Ähnlichkeit der Buchtitel zu sprechen. Im wesentlichen besteht nach Müller, S. 208, der Unterschied zwischen Jerusalem und dem damals bekannten Reimarus (also nicht dem "Fragmentisten") nur noch darin, dass ersterer den Begriff und die Idee einer besonderen, historischen Offenbarung Gottes beibehält, während letzterer Religion ausschliesslich aus der menschlichen Vernunft deduziert (vgl. auch Aner, Die Theologie der Lessingzeit, S. 180).
[34] Jerusalem, Nachgelassene Schriften, S. 31.
[35] In der von mir benutzen Ausgabe trägt Teil 2/2 den Titel "Dritter und letzter Theil" (Frankfurt und Leipzig 1780).
[36] Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Fortgesetzte Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Hinterlassne Fragmente = J. F. W. J., Nachgelassene Schriften. Erster Theil, Braunschweig (Verlag der Schulbuchhandlung) 1792.
[37] Im "Vorbericht" zum letzten autorisierten Teil heisst es: "Und noch bleibe ich in der Vorbereitung stehen; da mein eigentlicher Endzweck bey der Unternehmung war, dass diese Vorbereitung mich nur zur Ausführung der Vortreflichkeit, Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion leiten sollte." (3, unpag. Bl. IV recto) Aber er überlasse diese Ausführung getrost anderen.
[38] Über die eigentümliche Stellung Jerusalems zwischen historischer Kritik und Apologetik handelt Wolfgang Erich Müller, Legitimation historischer Kritik bei J. F. W. Jerusalem, in: Henning Graf Reventlow / Walter Sparn / John D. Woodbridge (Hrsg.), Historische Kritik und biblischer Kanon, S. 205-218.
[39] Vgl. Jerusalem, Fortgesetzte Betrachtungen, S. 127.
[40] Zu Jerusalems Unterscheidung von Theologie und Religion siehe Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung, S. 35-41. In Fn. 53, S. 35f. diskutiert Müller die These von Bodo Ahlers, Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Praktischen Theologie im 18. Jahrhundert, Gütersloh 1980, wonach die in der Orthodoxie übliche Gleichsetzung von Theologie und Religion durch den Pietismus aufgeweicht und schliesslich 1767 explizit durch Johann Salomo Semler aufgehoben worden sei. Müller macht demgegenüber geltend, dass auf Jerusalem kein nennenswerter pietistischer Einfluss gewirkt habe, er aber trotzdem die Unterscheidung zwischen Theologie und Religion schon vor Semler kenne. Johann Salomo Semlers Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefasst, Theil 1, Halle 1781, S. 312, berichtet vom berühmt-berüchtigten Neologentreffen in Magdeburg 1770, wo neben Semler u. a. Sack, Spalding und Jerusalem anwesend waren: "Wir redeten also stets über solche Erscheinungen, die den Unterschied der Privatreligion, und der äusserlichen Kircheneinrichtungen, und der darin anwachsenden Gelersamkeit, betraffen". Zum aufklärerischen Religionsbegriff vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf, Protestantische Theologie und die Formierung bürgerlicher Gesellschaft, in: F. W. G. (Hrsg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1: Aufklärung, Idealismus, Vormärz, Gütersloh 1990, S. 11-54, S. 16.
[41] Jerusalem, Fortgesetzte Betrachtungen, S. 73.
[42] Statt dessen spricht Jerusalem von den Götterdarstellungen im Alten Ägypten: "Ein merkwürdiger Beweis, wie die Vernunft bey allem übrigen Wachsthume im Geschmack und Scharfsinnigkeit an die unsinnigsten Begriffe sich gewöhnen, und, wenn sie erst durch das Alter ein ehrwürdiges Ansehen bekommen haben und in Pomp eingekleidet sind, sie vergöttern kann, ohne dass die Philosophie, ohne die Hülfe ausserordentlicher Revolutionen, es wagen dürfte, sie angreifen zu wollen." (1,51) Niemand kann dem Kirchenmann hier vorwerfen, er gehe mit der eigenen Vergangenheit rüde um — und doch ist die antiorthodoxe Spitze für jeden Leser deutlich.
[43] So verschliesst Jerusalem seine Augen nicht vor den im Namen des — katholischen — Christentums begangenen Grausamkeiten. Die aussereuropäischen Missionsversuche hält er z.B. für "misslungen": Die Religion "erschien, wo sie sich zeigte, fast überall in der Gestalt einer Furie mit der Fackel in der Hand, im Gefolge von fanatischen Mönchen, von Pizarros und Cortezen, und deren ihren wütenden Heeren. Die rauheste Vernunft hielt sich gegen eine solche Religion für erleuchtet, und ihre grausamen Menschenopfer waren ihr nicht so schrecklich, als diese würgende Religion, die sich die Tochter des Himmels nannte." (1,258) Zum Fall Jean Calas und zu Voltaires Engagement vgl. 1,230f.
[44] Ähnlich verfährt schon das eigentliche Gründungsmanifest der Neologie und der nachwolffianischen 'Popularphilosophie', nämlich Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen (1748). Vgl. Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, in: ZNThG, Bd. 8 (2001), S. 163-200.
[45] Vgl. dazu Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung, S. 41f., 89-95, 168-170 und 179.
[46] Zur
Geschichte dieser zentralen metaphysischen Idee ist noch immer die klassische
Monographie von Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge
(Mass) 31948, heranzuziehen.
[47] Isaak Iselin zum Beispiel vertritt demgegenüber die platonisierende Ansicht, nur die Folgen des Guten seien immerwährend, nicht jedoch die des Bösen (Isaak Iselin, Über die Geschichte der Menschheit [1764]. Neue mit dem Leben des Verfassers vermehrte Auflage, Bd. 2, Carlsruhe [Christian Gottlieb Schmieder] 1791, S. 381).
[48] Siehe dazu Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung, S. 47, Fn. 108 (Moses) und S. 79, Fn. 273 (Jesus). Freilich macht Müller die fundamentale Differenz zu einem orthodoxen Wunderbegriff, demzufolge Gott sehr wohl gegen die Naturgesetze verstossen kann, nicht deutlich. Im Zusammenhang mit Moses diskutiert Jerusalem im dritten Band der Betrachtungen die Wunderfrage noch einmal ausführlich: Die Wunder, von denen die Bibel berichte, seien von kritischer Prüfung nicht ausgenommen (3,20). "Diese Prüfung aber ist den wahren Wundern so wenig nachtheilig, dass sie vielmehr das einzige Mittel ist, ihre Wahrheit ausser allem Widerspruch zu setzen." (3,21). Wunder seien sehr wohl möglich (3,38); Jerusalem macht "einen der Weisheit Gottes anständigen moralischen Endzweck zum Hauptkennzeichen eines wahren Wunders" (3,48). Dann räumt er ein, dass ein Wunder gegen die bekannte Naturordnung doch immerhin möglich sei, und polemisiert gegen die Hume unterstellte Ansicht, solche Wunder seien bisher noch nie vorgekommen (3,49-55). Übrigens ist bemerkenswert, dass der einzige namhafte Neologe, der publizistisch gegen die von Lessing herausgegebenen Fragmente eines Ungenannten aus der Apologie des Reimarus in den Ring trat, zwar das Wunder der Auferstehung Jesu als Beweis für Jesu Göttlichkeit verteidigte, gleichzeitig jedoch an den durch Mose gewirkten Wundern zu zweifeln für angebracht hielt: "Der Sturz des Ansehens Mosis zieht nicht nothwendig den Sturz des Christentums nach sich." [Johann Christoph Döderlein], Fragmente und Antifragmente, 1. Theil: 3. mit einer neuen Vorrede versehene Auflage, Nürnberg (E. C. Grattenauerische Buchhandlung) 1782, S. IVf. (Vorrede zur dritten Auflage, gegen Melchior Goeze).
[49] Wie dauerhaft die Erwartung unmittelbar drohender göttlicher Eingriffe die Seelenruhe eines Theologen untergräbt, mag man sich an den Fällen von Paulus, Luther oder Pascal veranschaulichen.
[50] Die Kombination der Begriffe "Vorsehung" und "Ruhe" legt stoische Assoziationen nahe.
[51] Siehe Odo Marquard, Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie, in: O. M., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 11-32.
[52] Ausführlicher dazu 1,308-322. Es ist bemerkenswert, dass Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Sohn Karl Wilhelm (1747-1772) — sein Suizid hat Goethe zu seinem Werther angeregt — als philosophischer Autor zunächst von ähnlichen wolffianischen Prämissen wie sein Vater ausgeht, dabei aber die Willensfreiheit leugnet und einem strengen Determinismus huldigt, vgl. Karl Wilhelm Jerusalem, Philosophische Aufsätze, hrsg. von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1776, S. 21-56. Karl Wilhelm Jerusalem ist sich mit seinem Vater allerdings darin einig, "dass der Uebergang zu jenem [sc. jenseitigen] Leben nur ein allgemeiner Uebergang zu einem höhern Grade von Vollkommenheit ist, der aber, weil nichts ohne zureichenden Grund ist, sich aus dem Grade von Vollkommenheit, den ein jeder Mensch in diesem Leben gehabt, erklären lassen, und nach demselben verschieden seyn muss." (S. 48f.) Freilich muss Karl Wilhelm seines Determinismus wegen Gott zur "Ursache alles moralischen Bösen" (S. 53) machen: "Dass Gott selbst die Ursache alles moralischen Bösen ist, lässt sich zwar nicht läugnen. Da aber das moralische Böse nichts anders ist, als eine Unvollkommenheit, die aus der eingeschränkten Vorstellungskraft der vernünftigen Geschöpfe entsteht; so scheint es mir auch für den Schöpfer nicht unanständiger zu seyn, Wesen zu erschaffen, die aus Mangel an deutlichen Begriffen ihre Leidenschaften nicht besiegen, als solche, die, aus einer gleichen Ursache, ein Neutonisches Problem nicht auflösen können." (S. 53f.) Vgl. demgegenüber den Vater: "Der Schöpfer ist unschuldig" (1,171). Zu Lessings Auseinandersetzung mit dem jungen Jerusalem in den Anmerkungen zu dessen Aufsätzen und Lessings eigenem Determinismus siehe Alexander Altmann, Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, S. 112-116 (ferner Martin Bollacher, Lessing: Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften, Tübingen 1978, S. 185-197, und den Kommentar zu den Aufsätzen in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke 1774-1778, hrsg. von Arno Schilson = G. E. L., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. von Wilfried Barner u. a., Bd. 8, Frankfurt am Main 1989, S. 875-885). Neuerdings sind Quellen, Dokumente und Diskussionen des "Falles" Karl Wilhelm Jerusalem zusammengetragen bei Roger Paulin, Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit, Wolfenbüttel und Göttingen 1999.
[53] Interessant ist, dass Jerusalem, wenn er Voltaire und den Deisten unterschiebt, sie benützten "die grossen Wahrheit von Gott und der Tugend nur allein zu Maschinen auf dem Theater" (1,205f.), ein Argument vorwegnimmt, dass sich in der geistesgeschichtlichen Aufklärungsforschung der Gegenwart gewisser Beliebtheit erfreut und gerade gegen eine Theologie von der Machart Jerusalems gemünzt wird: In den theologischen Bemühungen der Zeit habe "eine Uminterpretation und -funktionierung der Gottesauffassung bzw. der Einsatz Gottes im Sinne und im Dienste der Aufklärung" stattgefunden, die gegen die Absicht der Instrumentalisierer dazu geführt habe, dass "Gott am Ende als Verlierer dasteht" (Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, S. 369). Das Argument von der "Instrumentalisierung Gottes" (ibd.) kehrt auch im theologischen Schrifttum wieder, das explizit den Zweck verfolgt, Aufklärungstheologie für den Abfall vom wahren Glauben zur Rechenschaft zu ziehen. Es setzt voraus, dass es so etwas wie einen authentischen Bezug auf Gott gibt — als ob nicht jeder Gott ein "zurechtgemachter Gott" (ibd.) wäre, nämlich ein an die Begriffe der Zeit angepasster.
[54] Karl Wilhelm Jerusalems eigentümliche Synthese von Wolff und Spinoza legt ihm die alte sokratische Lösung des Problems nahe: Nur der Unwissende tut Böses und hört dies zu tun auf, sobald er hinreichend aufgeklärt ist (Karl Wilhelm Jerusalem, Philosophische Aufsätze, S. 36).
[55] Vielmehr beschränkt sich der Text im Hinblick auf Geschichte darauf, den Sinn und das "vornehmste Ziel" ihrer Vergegenwärtigung darin zu sehen, "Klugheit und Tugend an Hand von Beispielen zu lehren und das Laster in einer Gestalt zu zeigen, die Abscheu hervorruft und dazu nötigt oder dient, es zu meiden" (Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee [1710]. Übersetzung von Artur Buchenau, Hamburg 1968, Teil II, Abschnitt 148, S. 211).
[56] Zur Deutung des Erdbebens in Jerusalems Betrachtungen siehe Ulrich Löffler, Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, Berlin und New York 1999, S. 547-553, der feststellt, dass sich Jerusalems Optimismus von derlei Naturereignissen nicht irremachen lasse.
[57] Das ist die positive Wendung einer
Feststellung in Fontenelles Digression
sur les anciens et les modernes (1688): „vous verrez combien la Nature seme
en vain de Cicerons & de Virgiles dans le monde, & combien il doit être
rare qu’il y en ait quelques-uns, pour ainsi dire, qui viennent à bien“
(Bernard Le Bovier de Fontenelle, Œuvres. Nouvelles Édition, Bd. 4, Paris
[Saillant, Desaint, Regnard] M. DCC. LXVII. [= 1767], S. 189f.).
[58] Vgl. auch Johann Joachim Eschenburg, Ueber Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, in: Deutsche Monatsschrift, Leipzig, Bd. 2 (1791), S. 97-135, S. 120: “Vornehmlich sah er [sc. Jerusalem] in den einem gemeinen Auge oft labyrinthisch dünkenden Gängen, Abweichungen und Einlenkungen der herrschenden Denkart, deutliche Spuren einer alles zum Besten und zur grössern Vollkommenheit des Ganzen hinlenkenden Fürsehung; und die Nachspürung ihrer Wege war eine der liebsten Beschäftigungen des scharfen, erfahrnen und menschenfreundlichen Beobachters.”
[59] Die Parallelen zwischen Jerusalems Betrachtungen und Lessings Erziehung des Menschengeschlechts sind frappierend, so dass es einigermassen überrascht, in der Lessing-Sekundärliteratur bestenfalls sehr pauschale Hinweise auf Jerusalem zu finden (z. B. Martha Waller, Lessings Erziehung des Menschengeschlechts. Interpretation und Darstellung ihres rationalen und irrationalen Gehaltes. Eine Auseinandersetzung mit der Lessingforschung, Berlin 1935, S. 160; Gotthold Ephraim Lessing, Werke 1778-1781, hrsg. von Arno Schilson und Axel Schmitt = Werke und Briefe, hrsg. von Wilfried Barner u. a., Bd. 10, Frankfurt am Main 2001, S. 807). Jerusalem dürfte mit Lessing in Wolfenbüttel und Braunschweig öfters in Berührung gekommen sein; dieser selbst wiederum war mit Jerusalems Sohn befreundet und gab postum dessen Aufsätze heraus (siehe oben Fn. 52). Liest man die 1777/1780 publizierte Erziehung des Menschengeschlechtes auf dem Hintergrund von Jerusalems damals schon erschienenen Betrachtungen, mutet Lessings kurzer Text zumindest auf den ersten Blick wie eine genialische Pointierung von Jerusalems Schema, aber ebenso von Jerusalems Argumenten und Inhalten an. Ob dieser erste Blick trügt, müsste ein genauerer, m.W. noch nirgends geleisteter, quellenkritischer Vergleich beider Werke eruieren. Die Nähe Lessings zu den von ihm lautstark verachteten Neologen dürfte nicht belanglos sein.
[60] Der "Eine", der "aus Furcht, der Religion zu viel einzuräumen, es nicht wagen darf, die nächsten Schlüsse von den Ursachen auf die Wirkungen gelten zu lassen" (1,238). Zu Humes Kausalitätsverständnis vgl. 1,77.
[61] "Wäre das Dictionaire philosophique vor ein Paar hundert Jahren gekommen, so hätte es ein gefährlich Buch seyn können; aber nun ist es ein philosophisches Meteor, wovor der Einfältige sich fürchtet, das der Weise aber nur für eine Entzündung fauler Dünste hält." (1,239) Jerusalem spielt damit auf die von ihm später kritisierten Pensées sur la comète (1682) Pierre Bayles an, die den Glauben an die Unglückswirkung von Kometen als Aberglauben abtun. Bayle hatte bekanntlich behauptet, "dass die Societät auch ohne Religion bestehen könne" (1,486) und nolens volens den Atheismus verteidigt. Der fromme Aufklärer Jerusalem münzt nun den astronomischen Anlass von Bayles Schrift zu einer polemischen Metapher gegen Voltaire um, um auf diese Weise die bessere und wahre Aufklärung für sich selbst reklamieren zu können. Vgl. auch Andreas Urs Sommer, Triumph der Episode über die Universalhistorie? Pierre Bayles Geschichtsverflüssigungen, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Jg. 52 (2001), Halbbd. 1, S. 1-39.
[62] Siehe zur Rolle des Origenes in der zeitgenössischen Diskussion allgemein Dieter Breuer, Origenes im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Seminar, Bd. 21 (1985), S. 1-30. Ob freilich die aufklärerische Rehabilitation der Willensfreiheit auch in theologischer Hinsicht tatsächlich einen traditionsgeschichtlichen "Positionswechsel […] von Augustinus zu Origenes" markiere, wie Kittsteiner, Listen der Vernunft, S. 76, im Blick auf Kants Religionsschrift meint, wird man bezweifeln dürfen. Augustinus weicht eher Pelagius.
[63] Zu Isaac de La Peyrères (1596-1676) Präadamitismus vgl. Richard H. Popkin, Isaac La Peyrère (1596-1676). His Life, Work and Influence, Leiden 1987, und Adalbert Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1960, S. 90-96. Klempt beschreibt, wie die traditionelle biblische Chronologie nicht zuletzt durch die Präadamitenhypothese untergraben wurde.
[64] Vgl. demgegenüber die unbedingte Bewunderung, die Iselin, Geschichte der Menschheit, Bd. 2, S. 102f., im Gefolge von Wolff und Voltaire China entgegenbringt.
[65] Dazu Andreas Urs Sommer, Geschichte und Praxis bei Gottfried Arnold, in: ZRGG, Bd. 54 (2002).
[66] John Pearson, An Exposition of the
Creed [1659]. The Seventh Edition Revised and Corrected, London (B. Griffin /
Sam. Keble) 1701, Epistle Dedicatory, unpag. Bl. A 2 recto.
[67] In seinen frühen Predigten hatte Jerusalem die Christologie und Satisfaktionstheorie hingegen noch ganz orthodox konzipiert; vgl. Wolfgang Erich Müller, Zu den Divergenzen zwischen Predigten und Dogmatik bei J. F. W. Jerusalem, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Bd. 84 (1986), S. 145-156, ferner Beutel, Jerusalem, Sp. 450.
[68] Jerusalem nimmt die Existenz unzähliger anderer Welten an: Die "Vernunft" sage uns mit einer "unwidersprechlichen Gewissheit, dass ausser uns noch unzählige Classen vernünftiger Geschöpfe seyn müssen. Denn aus was für einem Grunde könnte diese Erde allein damit besetzt seyn? So wären die übrigen unzählbaren Welten alle umsonst erschaffen." (1,271) Und das kann nicht sein. Damit ist die Einmaligkeit der Erlösungstat Christi, derentwegen sich alle orthodoxe Theologie mit einer pluralité des mondes nicht anfreunden kann, stillschweigend eskamotiert.
[69] Vgl. demgegenüber etwa die neologisch gefärbten Philosophischen Vorlesungen (1780) von Jakob Michael Reinhold Lenz; dazu Andreas Urs Sommer, Theodizee und Triebverzicht. Zu J. M. R. Lenzens "Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen", in: Lichtenberg-Jahrbuch 1995, S. 242-250.
[70] Jerusalem, Fortgesetzte Betrachtungen, S. 75.
[71] "Denn meine Hoffnung ist eigentlich nicht, dass ich einen unsterblichen Geist habe, sondern dass ich unsterblich bin; und der Grund dieser Hoffnung ist eigentlich nicht, dass meine Seele ein denkendes Wesen ist, sondern dass ich ein vernünftiges moralisches Geschöpf bin." (1,303).
[72] Wolff machte bekanntlich die Vervollkommungstrieb des menschlichen Individuums zum Schlüsselgedanken seiner Deutschen Ethik: "Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlass, was ihn unvollkommener machet" (Christian Wolff, Moral, oder Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, Halle 1720, § 12). Daraus folgt aber, soweit ich sehe, weder bei Wolff selber, noch im 'orthodoxen' Wolffianismus eine geschichtsphilosophische Theorie von der Vervollkommnung der Welt. Zwar wird auch im Theodizee-Kontext bei Wolff die These stark gemacht, dass Gott die Übel in Vollkommenheitsabsicht instrumentalisiere: "er brauchet es [sc. das von ihm zugelassene Böse] als ein Mittel zum Guten und machet, dass dadurch in der Welt alles besser mit einander zusammen stimmet, folgends grössere Vollkommenheit in die Welt kommet, als sonst darinnen seyn würde." (Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Neue Auflage hin und wieder vermehret, Halle 1751, S. 653, § 1060). Das hierauf folgende Beispiel stammt aber nicht aus der Geschichte, sondern aus der Landwirtschaft. Eine geschichtsphilosophische Perspektivierung der Vervollkommnung mit Hilfe der mala zeichnet sich noch nicht ab. Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung, S. 179f., betont, dass sich Jerusalem gerade hierin, in seinem "entwicklungsgeschichtlichen Denken", von Leibniz unterscheide.
[73] Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main und New York 1987, S. 125-181, sieht die Arbeit im begrifflichen Zentrum der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgestaltenden, allgemeinen Fortschrittstheorie.
[74] Zu Jerusalems Bonifizierung des Sündenfalls, die namentlich auf Kants Deutung eingewirkt haben dürfte, vgl. Sommer, Felix peccator?, S. 197-199.
[75] Noch etwas orthodoxer hatte sich Jerusalem einige Zeit früher zum Thema vernehmen lassen, und zwar in einer Predigt "Von den sinnlichen Begierden" (Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Zweite Sammlung einiger Predigten vor den Durchlauchtigsten Herrschaften zu Braunschw. Lüneb. Wolffenbüttel gehalten, Braunschweig 1752, S. 189-292). Dort fasst er das Geschehen von Genesis 3 noch ganz in den herkömmlichen Worten zusammen, nimmt aber doch von Sinnenfeindlichkeit schon Abstand (S. 214-218).
[76] Jerusalem beeilt sich, die der biblischen widersprechenden Chronologien anderer Kulturen als eitle Erfindungen abzutun (2,296ff.). 3,64ff. setzt er sich mit Voltaires Rekurs auf die Chronologie der Chinesen auseinander.
[77] Zu diesem hemeneutischen Konzept siehe die Beiträge in: Axel Bühler (Hrsg.), Unzeitgemässe Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt am Main 1994.
[78] Siehe Christian Wolff, Politik, oder Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, Halle 1721.
[79] Das ist, im Blick auf die Neologie allgemein, die Argumentationslinie von Scholder, Grundzüge der theologischen Aufklärung, S. 481.
[80] Es ist übrigens merkwürdig, dass Wolf-Daniel Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, München 1997, bei seiner bemerkenswerten Rekonstruktion der Moses-Motivgeschichte Jerusalem nicht erwähnt, obwohl dieser die wohl wichtigste neologische Deutung der Moses-Gestalt vorgelegt hat.
[81] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte = Werke, Bd. 12, Frankfurt 1986, S. 42.
[82] Jean-Jacques Rousseau, Rêveries d'un promeneur solitaire, in: J.-J. R., Œuvres complètes. Êdition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Bd. 2, Paris 1959, S. 1046. Siehe zu dieser Stelle Horst Günther, Zeit der Geschichte. Welterfahrung und Zeitkategorien in der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1993, S. 132.
[83] Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Geschichte der Erbsünde in der Aufklärung, in: ders., Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, S. 88-116.
[84] Siehe dazu den konzisen Überblick bei Walter Sparn, Leibniz: 4. Theologie, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neubearbeitete Ausgabe. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, Basel 2001, S. 1079-1090, v. a. S. 1083-1085.
[85] Eine abweichende Lesart der lutherischen Theologie, nämlich in Richtung einer tendentiellen Offenheit für das Entwicklungsdenken bietet Hans Georg Thümmel, "Renaissance" und "Entwicklung". Auch eine Luther-Ehrung, in: Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft Stendal, Heft 48, Stendal 1984, S. 33-45, an.