*VORZUKUNFT* Herbert *Hrachovec* Wien, Oesterreich Niemand kann von vornherein, abgesehen von empirischen Untersuchungen, die chemische Zusammensetzung von Wasser oder die physikalische Erklaerung der Waerme kennen. Andererseits ist ein Satz wie "Wasser ist H2O" schwerlich eine Aussage ueber etwas, das auch ganz anders sein koennte. S. Kripke hat in Naming and Necessity *1* daran erinnert, dass solche Saetze Wahrheiten enthalten, die zwar empirisch herausgefunden werden muessen, dann aber unter allen Umstaenden gelten. Wenn wir die chemische Zusammensetzung von Wasser festgestellt haben, steht die Beschaffenheit dieses unseres Wassers nicht mehr in Frage. Hinsichtlich der Newtonschen Physik hat N.R.Hanson dasselbe Thema bereits zur Zeit der Hochbluete analytischer Wissenschaftstheorie angeschnitten. Er bemerkt zum logischen Status der klassischen Mechanik: "Sie (sc. die Mechanik) entsteht aus empirischen Behauptungen, deren Widerlegung man sich nicht immer vorstellen kann. Eine Widerlegung wuerde nicht zu Entwuerfen fuehren, welche jene der Gesetzesaussagen negieren, sondern zu ueberhaupt keinen verstaendlichen Entwuerfen."*2* Ein Stein, der nicht den Newtonschen Gesetzen gehorcht, ist keine statistische Ausnahme, sondern ein raetselhaftes Gebilde, die Bezeichnung "Ding" ist schon zuviel. Hanson verweist zurueck auf Kant, dessen Erkenntnistheorie einen Versuch darstelle, konventionalistische ebenso wie empiristische Einseitigkeiten angesichts dieses Befundes zu vermeiden. Bekanntlich steht die sprachanalytische Tradition skeptisch zum Arsenal technischer Termini und reflexiver Strategien der Transzendentalphilosophie. Ich moechte diese Opposition hier an einer Stelle aufweichen. Philosophie am Leitfaden unserer Grammatik steht in der angesprochenen Sache der klassischen Themenstellung ueberraschend nahe. Es laesst sich zeigen, dass eine von Wittgenstein immer wieder reflektierte Unterscheidung, naemlich die Differenz zwischen Erfahrungssaetzen und solchen, die Kriterien fuer Erfahrung enthalten, sprachanalytisch als Problem der Vorzukunft, transzendentalphilosophisch hingegen als jenes der Synthesis a priori zu fassen ist. In diese Perspektive passen auch die metaphysisch formulierten Analysen Kripkes. Als gemeinsame Ausgangsfrage bietet sich das Problem an, ob eine Vermittlung zwischen a priori und a posteriori denkbar ist. Das Wissen, das jemand schon mitbringt und was er erst nach bestimmten Experimenten wissen kann, lassen sich verschiedenartig zusammendenken. Einmal als Addition von Erkenntnissen im Verlauf der Zeit, dann aber auch als Antwort auf die Frage, wie zukuenftiges Wissen davon bestimmt wird, was schon an Wissen er worben (oder bereits vorausgesetzt) ist. Zur Beschreibung der ersten Moeglichkeit genuegen die einfachen Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der zweite Fall liegt komplizierter. Zukuenftiges wird nicht bloss als bevorstehendes Ereignis betrachtet, sondern unter Bedingungen gestellt, die daher kommen, dass etwas bereits eingetreten ist. Vergangenheit im Rahmen der Zukunft ist grammatisch als Vorzukunft zu fassen, also als jene Zeitform, in der eine Handlung zu einem kuenftigen Zeitpunkt als abgeschlossen vorge stellt wird. Beispiel: "Sie wird gekommen sein." Ich moechte eine Reihe Wittgensteinscher Gedanken mit Hilfe dieser Tempusbildung interpretieren und sie anschliessend als sprachanalytische Versuchsstation der erkenntniskritischen Frage nach den Bedingungen der Erfahrungserkenntnis betrachten. An einfachen Rechenaufgaben laesst sich die zentrale Unterscheidung gut diskutieren. Die Aufforderung, zu 4 "eins dazuzuzaehlen", meint eine in Zukunft auszufuehrende Operation, deren Resultat in der Aufgabe noch nicht gegeben ist. Andererseits sind wir selbstverstaendlich schon jetzt sicher, was heraus kommt. Wir wuerden eine andere Antwort als 5 nicht als interessante Irregularitaet, sondern als Indiz der Unfaehigkeit zu zaehlen auffassen. So weit reicht die Bereitschaft, sich auf neuartige empirische Ergebnisse einzulassen, nicht. "Soll es kein Erfahrungssatz sein, dass die Regel von 4 zu 5 fuehrt, so muss dies, das Ergebnis, zum Kriterium dafuer genommen werden, dass man nach den Regeln vorgegangen ist." (BGM VI,16) Wittgenstein spricht nicht von analytischen Wahrheiten der reinen Arithmetik. Ihr Ergebnis bedarf keiner Ueberpruefung durch Kriterien. Es geht vielmehr um die Bedingungen, unter denen der Formalismus richtig angewendet wird. Sie lassen sich nur in einer eigentuemlichen Verschachtelung beschreiben. Zu einem gegebenen Zeitpunkt kann man der korrekten Anwendung einer Regel nur gewiss sein, wenn man die Zustimmung zum Resultat antizipiert. Oder von der anderen Seite: als richtig wird nur anerkannt, was sich vorweg der Vorschrift unterworfen hat. Regeln verlangen sorgfaeltige temporale Differenzierungen.*3* Das wird in Wittgensteins Beispiel doppelt deutlich, weil es derselben Satz ist ("4+1=5"), der als Mitteilung des Ergebnisses und als Festlegung der Bedingung, nach der eine Antwort ein Ergebnis sein kann, interpretierbar ist. Mit dieser Pointe erschliesst sich eine Dimension ueber den glatt auf Empirie bezogenen Wahrheitsbegriff hinaus. "Die Wahrheit des Satzes, dass 4+1 5 ergibt, ist also, sozusagen, ueberbestimmt. Ueberbestimmt dadurch, dass das Resultat der Operation zum Kriterium dafuer erklaert wurde, dass diese Operation ausgefuehrt ist." (BGM VI, 16) Ein Resultat wird errechnet, Kriterien hingegen reichen ueber diese ein fache Zukunft hinaus. Sie bestimmen antizipierend die kuenftige Entwicklung, sind also "vergangener" und "zukuenftiger" als das Resultat. Wittgenstein diskutiert einen temporalen double- bind. Ein Ausgriff in die Zukunft steht unter Bedingungen, die eine Rueckbeziehung dieser Zukunft auf bereits Vorhandenes enthalten. Jede den Standards einer Sprachgemeinschaft angepasste Begriffsverwendung befindet sich in einer solchen Klemme. Analytisch lassen sich die verschiedenen Gebrauchsweisen eines Ausdrucks voneinander abheben, aber das philosophische Interesse liegt auch fuer Wittgenstein, dem kaum Sympathien fuer Vermittlungsdenken nachgesagt werden koennen, bei der Ueberlagerung von Kriterium und Resultat. Wie kann ein und derselbe Satz Produkt und Pruefstein eines Prozesses sein? Dem unterschiedlichen Gebrauch gemaess hat er verschiedene Bedeutung, aber sind die Bedeutungen nicht systematisch aufeinander angewiesen? Der double-bind besteht ja darin, dass derselbe Satz als Vorschrift und Ausdruck der Konformitaet mit dieser Vorschrift auftritt. Gerade so wird angezeigt, wie die beiden Praktiken zusammenstimmen. Derartige Verwicklungen kennzeichnen einen speziellen Erkenntnistyp. "Die Prophezeiung lautet nicht, dass der Mensch, wenn er bei der Transformation dieser Regel folgt, das herausbringen wird - sondern, dass er, wenn wir sagen, er folge der Regel, das herausbringen werde." (BGM III,66) Den Drehpunkt der Prophezeiung bildet ein Urteil, das in Aussicht genommen wird, um die Basis fuer eine Bewertung zukuenftiger Ereignisse abzugeben, kurz gesagt die Position der Vorzukunft. Die zeitliche Verschraenkung, die hier betrachtet wird, ist keine grammatische Randerscheinung. Sie erlaubt uns, von etwas, das noch aussteht, anzunehmen, dass es bereits vorliegt. So ergibt sich die Moeglichkeit, die Zukunft von der Gegenwart aus imaginaer zu ueberholen. Beispiele funktionieren nach diesem Muster als Vorgriff auf kuenftiges Einverstaendnis. "'Wenn du das und das schreiben wirst, wirst du's so gemacht haben, wie ich dir's vorgemacht habe' bestimmt, was er 'seinem Beispiel folgen' nennt." (BGM VII,4) Thomas Kuhn hat, ausgehend von dieser Charakteristik von Paradigmen, seine Analyse der "normalen Wissenschaft" entwickelt. Sie traegt die Zuege des temporalen double-bind. Wissenschaftliche Stabilitaet beruht nicht allein da rauf, dass Forscher sich auf einen abstrakten Regelkanon verstaendigen. Darueber hinaus muessen sie ziemlich einig ueber die Erwartungen sein, die sich mit seiner Anwendung verbinden. Sofern ein Paradigma den Untersuchungsgegenstand praeformiert wird Zukunft von der Gegenwart aus als bereits vergan gen angesehen; Orthodoxie heisst vorweg ueber Kommendes Bescheid wissen. Daraus erklaert sich sowohl die Unumgaenglichkeit, als auch die Unabschliessbarkeit "normaler Wissenschaft". Einerseits kann ohne Wissen ueber Moeglichkeiten gar keine Perspektive entstehen, andererseits bedeutet das eine Einschraenkung des Wahrnehmungsraums. Drastisch gesagt: jede standardisierte Taetigkeit traegt Zuege des vorauseilenden Gehorsams. Wittgenstein hat es prae zise in ein Bild gefasst: "Wir haben dem Pfoertner den Befehl gegeben, nur Leu te mit Einladungen hereinzulassen und rechnen nun darauf, dass dieser Mensch, der hereingelassen wurde, eine Einladung hat." (BGM V,50) Kein Fest ohne vorhergegangene Einladungen, keine wissenschaftlichen Ergebnisse ohne Ausgrenzung ueberschuessiger Daten. Aber es gibt spontane Feste und Wissenschaftsentwicklungen, die sich nicht an die gaengigen Vorschriften halten, die bekannten "wissenschaftlichen Revolutionen" Kuhns. Wie stehen sie zur Vorzukunft? Anscheinend durchbrechen sie den double-bind, doch bei genauerer Betrachtung nur fuer kurze Zeit. Das haengt mit einer Unausgewogenheit zusammen, die bereits der Terminus "wissenschaftliche Revolution" anzeigt. Revolution im strengen Sinn greift ohne Anleitung in die Zukunft aus, Wissenschaft dagegen ist, so haben wir gesehen, auf diese Weise undurchfuehrbar. Einem Umsturz der Wissenschaft steht damit ein in die Entwicklung der Wissenschaften aufgefangener Umsturz gegenueber, eine Korrektur und keine voellige Demontage des vorausgesetzten Wissens. In solchen Umbruechen schlaegt Spontaneitaet nur kurz und relativ auf den vorhergehenden Entwurf durch, bevor sie sich wieder zwischen Experiment und Hintergrundrestriktion einpendelt. Im Fall "revolutionaerer Wissenschaft" wird ihr Verhaeltnis eher komplizierter. Die Zukunft wird von zwei unterschiedlichen Gegenwartsentwuerfen als Vergangenheit reklamiert. Zur Frage nach der Homogenitaet einer Erkenntnisweise kommt jene nach der Einheit der Wissenschaft hinzu. Der neue Vorschlag muss die von der alten Theorie projektierte Zukunft mit einschliessen, wenn ein Kontinuum des Fortschritts entstehen soll, ansonsten bedeutet "wissenschaftliche Revolution" Aufloesung der Verbindlichkeit der Disziplin. Diese Ueberlegungen zum Ineinandergreifen der Zeitformen sind etwas umstaendlich. Man kann ihnen entgegenhalten, dass sich im klassisch-philosophischen Vokabular eine viel treffendere Ausdrucksweise findet. Dort ist die Rede von a priori gegebenen Kategorien als Bedingungen der Moeglichkeit von Erkenntnis. Ihre Zeitlichkeit ist transzendentaler Natur. Waehrend Kriterien im taeglichen Gebrauch auftreten, bestimmen solche Kategorien die Voraussetzungen moeglicher Verstaendigung. Temporale Beschreibungen sind an diesem Ort bloss Hilfsmittel. "...dass wir uns nichts, als im Objekt verbun den, vorstellen koennen, ohne es vorher selbst verbunden zu haben..." (Kr. d. r. V. B129) ist keine psychologische oder grammatische, sondern eine erkenntnistheoretische Bemerkung Kants und haengt von den Windungen des faktischen Sprachgebrauches nicht ab. Es lohnt sich dennoch, die konzise transzendentalphilosophische Ausdrucksweise den sprachanalytischen Ueberlegungen auszusetzen. Von einem Beispielsatz wie "Alles, was geschieht, hat seine Ursache" sagt Kant, "dass er seinen Beweisgrund, naemlich Erfahrung, selbst zuerst moeglich macht und bei diesem immer vorausgesetzt werden muss." (Kr.d.r.V. B765) Der Kategorie "Ursache" transzendentale Funktion zu zuschreiben ist eine handliche Formel zur Erfassung dieses Umstands. Aber die in Kants eigener Erlaeuterung angedeutete temporale Dimension ist weiter explizierbar. Kategorien ermoeglichen Erfahrung. Woher beziehen sie diese eigentuemliche Faehigkeit? Martin Heidegger hat es aus der zeitlichen Verfassung des menschlichen Daseins erklaert.*4* Durch Vorzukunft laesst sich diese Einsicht ohne metaphysische Zugaben entwickeln. Kategorien sind quasi zukuenftiger als die Zukunft der Erfahrung. Sie sind ihr darin voraus, zu bestimmen, was sein koennen wird. Ermoeglichung von Erfahrung ist keine transzendentale Potenz, sondern Erfuellung einer bestimmten Rolle im Spiel der Zeitformen, das unsere Erkenntnis durchzieht. Transzendentale Begriffe sind schon vorweg auf jene Daten ausgerichtet, die mit ihrer Hilfe Bausteine der Welterfahrung werden. Fuer sich alleine betrachtet haengen sie in der Luft, gerade wie die Form der Vorzukunft ohne ein in Zukunft eingetretenes Ereignis leer laeuft. Mit Inhalt versehen produziert sie jene Saetze, die wegen ihres Vorgriffs ueber erst Erwartetes hinaus zur Formulierung von unverrueckbaren Eigenschaften eines Sachgebiets geeignet sind. Im Grund geht es um verschiedene Ausformungen eines elementaren Zwiespalts. Wir stellen uns Dinge gleichzeitig vor, um sie zu erfahren und vor ihnen geschuetzt zu sein. Drohender Erfahrungs- und Orientierungsverlust halten einander die Wage. "...dass Gegenstaende der sinnlichen Anschauung denen im Gemuet a priori liegenden formalen Bedingungen der Sinnlichkeit gemaess sein muessen, ist daraus klar, weil sie sonst nicht Gegenstaende fuer uns sein wuerden."(K.d.r.V. B122) Der Willkuer, der wir uns aussetzen, begegnet die Selektion von unserer Seite. In der Polemik zwischen Erkenntnistheorie und Sprachanalyse konnte es so scheinen, als haette nur jene Einsicht in solche Zusammenhaenge. Tatsaechlich aber hat man bloss an der richtigen Stelle zu suchen versaeumt. Menschen sind der Welt nicht einfach ausgesetzt, sondern koennen versuchen, in die Zukunft zurueckzuschauen. Auf den ersten Blick eine etwas ausgefallene Faehigkeit; aber sie ist ungeheuer praktisch. *ANMERKUNGEN* *1* in: D.Davidson und G.Harman (Hrsg.), Semantics of Natural Language, Dordrecht 1972 S.253-355 *2* N.R.Hanson, Patterns of Discovery. An Inquiry into the Conceptual Foundations of Science, Cambridge 1958 S.93 *3* Die durch S.Kripke ausgeloeste und mittlerweile weit verzweigte Diskussion ueber Wittgensteins Bemerkungen zum Regelfolgen muesste um diesen Aspekt bereichert werden. *4* Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt 1965 (3.Auflage). Zentral sind die Ausfuehrungen ueber den Zeitcharakter der transzendentalen Einbildungskraft S.156 ff.