F. Börncke, A. Roser Drei Frege-Texte <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> *Die Verneinung* von Gottlob Frege _Seite_143 DIE VERNEINUNG Eine logische Untersuchung von Gottlob Frege Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus; Erfurt Vol. 1, 1918/19 Eine Satzfrage enthält die Aufforderung, einen Gedanken entweder als wahr anzuerkennnen, oder als falsch zu verwerfen. Damit es möglich sei, dieser Aufforderung richtig nachzukommen, muß verlangt werden, daß aus dem Wortlaute der Frage, der Gedanke, um den es sich handelt, unzweifelhaft erkennbar sei, und zweitens, daß dieser Gedanke nicht der Dichtung angehöre. Ich nehme im Folgenden diese Bedingungen _Seite_144 immer als erfüllt an. Die Antwort auf eine Frage*1* ist eine Behauptung, der ein Urteil zu Grunde liegt, und zwar sowohl, wenn die Frage bejaht, als auch wenn sie verneint wird. Doch hier erhebt sich ein Bedenken. Wenn das Sein eines Gedankens sein Wahrsein ist, dann ist der Ausdruck "falscher Gedanke" ebenso widerspruchsvoll wie der Ausdruck "nichtseiender Gedanke"; dann ist der Ausdruck "der Gedanke, daß drei größer als fünf ist" leer, und darf deshalb in der Wissenschaft - außer zwischen Anführungszeichen - überhaupt nicht gebraucht werden; dann darf man nicht sagen "daß drei größer als fünf sei, ist falsch", weil das grammatische Subjekt leer ist. Aber kann man nicht wenigstens fragen, ob etwas wahr sei? In einer Frage kann man die Aufforderung zu urteilen von dem besonderen Inhalte der Frage unterscheiden, der beurteilt werden soll. Ich will im Folgenden diesen besonderen Inhalt einfach Inhalt der Frage oder Sinn des entsprechenden Fragesatzes nennen. Hat nun der Fragesatz "Ist 3 größer als 5?" einen Sinn, wenn das Sein eines Gedankens in seinem Wahrsein besteht? Ein Gedanke kann dann nicht Inhalt der Frage sein, und man ist geneigt zu sagen, der Fragesatz habe überhaupt keinen Sinn. Aber das käme doch wohl daher, daß man sofort die Falschheit erkennt. Hat nun der Fragesatz 100 ___ /21\ _10 / 21 "Ist |----| größer als \/10 ?" \20/ einen Sinn? Wenn man herausgebracht hätte, daß die Frage zu bejahen wäre, könnte man den Fragesatz als sinnvoll annehmen, weil er einen Gedanken als Sinn hätte. Wie aber, wenn die Frage zu verneinen wäre? Einen Gedanken hätte hätte man bei unserer Voraussetzung als Sinn nicht. Aber irgend einen Sinn muß der Fragesatz doch wohl haben, wenn er überhaupt eine Frage enthalten soll. Und wird nicht in der Tat in ihm nach etwas gefragt? Kann es nicht erwünscht sein, eine Antwort darauf zu erhalten? Dann hängt es also von der Antwort ab, ob als Inhalt der Frage ein Gedanke anzunehmen sei. Nun muß der Sinn des Fragesatzes aber schon vor der Beantwortung faßbar sein, weil sonst gar keine Beantwortung möglich wäre. Was also als Sinn des Fragesatzes vor der Beantwortung der Frage faßbar ist - und nur dieses kann eigentlich Sinn des Fragesatzes genannt werden -, kann kein Gedanke sein, wenn das Sein des Gedankens in seinem Wahrsein besteht. Aber ist es nicht eine Wahrheit, daß die Sonne größer ist als der Mond? Und besteht nicht das Sein einer Wahrheit eben in ihrem Wahrsein? Ist dann nicht doch als Sinn des Fragesatzes "Ist die Sonne größer als der Mond?" eine Wahrheit anzuerkennen, ein Gedanke, dessen Sein in seinem Wahrsein besteht? Nein! Zum Sinne eines Fragesatzes kann das Wahrsein nicht gehören. Das widerspräche dem Wesen der Frage. Der Inhalt der Frage ist das zu Beurteilende. *1* Hier und im folgenden meine ich immer eine Satzfrage, wenn ich einfach "Frage" schreibe. _Seite_145 Daher kann das Wahrsein nicht zum Inhalt der Frage gerechnet werden. Wenn ich die Frage stelle, ob die Sonne größer als der Mond sei, so erkenne ich damit den Sinn des Fragesatzes "Ist die Sonne größer als der Mond?" an. Wäre nun dieser Sinn ein Gedanke, dessen Sein in seiner Wahrheit bestände, so erkennte ich damit zugleich das Wahrsein dieses Sinnes an. Das Fassen des Sinnes wäre zugleich ein Urteilen, und das Aussprechen des Fragesatzes wäre zugleich eine Behauptung, also die Beantwortung der Frage. Es darf aber im Fragesatze weder die Wahrheit noch die Falschheit seines Sinnes behauptet werden. Darum ist der Sinn eines Fragesatzes nicht etwas, dessen Sein in seinem Wahrsein besteht. Das Wesen der Frage erfordert die Scheidung des Fassens des Sinnes vom Urteilen. Und da der Sinn eines Fragesatzes immer auch in dem Behauptungssatze steckt, in dem die Antwort auf die Frage gegeben wird, ist diese Scheidung auch im Behauptungssatze durchzuführen. Es kommt darauf an, was man unter dem Worte "Gedanke" versteht. Jedenfalls bedarf man einer kurzen Bezeichnung dessen, was Sinn eines Fragesatzes sein kann. Ich nenne es Gedanken. Bei diesem Sprachgebrauche sind nicht alle Gedanken wahr. Das Sein eines Gedankens besteht also nicht in seinem Wahrsein. Wir müssen Gedanken in diesem Sinne anerkennen, weil wir in der wissenschaftlichen Arbeit Fragen brauchen; denn der Forscher muß sich zuweilen mit der Stellung einer Frage begnügen, bis er sie beantworten kann. Indem er die Frage stellt, faßt er einen Gedanken. Ich kann also auch sagen: der Forscher muß sich zuweilen begnügen, einen Gedanken zu fassen. Das ist immerhin schon ein Schritt zum Ziele, wenn es auch noch kein Urteilen ist. Es muß also Gedanken in dem von mir angegebenen Sinne des Wortes geben. Gedanken, die sich vielleicht später als falsch herausstellen, haben ihre Berechtigung in der Wissenschaft und dürfen nicht als nicht seiend behandelt werden. Man denke an den indirekten Beweis. Hierbei vollzieht sich die Erkenntnis der Wahrheit grade durch das Fassen eines falschen Gedankens. Der Lehrer sagt: "Angenommen, a wäre nicht gleich b". Sofort denkt ein Anfänger: "Welcher Unsinn! ich sehe doch, daß a gleich b ist". Er verwechselt Sinnlosigkeit eines Satzes mit Falschheit des in ihm ausgedrückten Gedankens. Freilich kann man aus einem falschen Gedanken nichts schließen: aber der falsche Gedanke kann Teil eines wahren Gedankens sein, aus dem etwas geschlossen werden kann. Der in dem Satze "Wenn der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen"*1* enthaltene Gedanke kann als wahr anerkannt werden von einem, der nicht weiß, ob der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist, und ob er den Mord begangen hat. Von den beiden in dem Ganzen enthaltenen Teilgedanken wird weder die Bedingung, noch die Folge mit behauptender Kraft ausgesprochen, wenn das *1* Man muß hier annehmen, daß der bloße Wortlaut den Gedanken nicht vollständig enthält, sondern daß aus den Umständen, unter denen er ausgesprochen wird, die Ergänzung zu einem vollständigen Gedanken zu entnehmen ist. _Seite_146 Ganze als wahr hingestellt wird. Wir haben dann nur eine einzige Tat des Urteilens, aber drei Gedanken, nämlich den ganzen Gedanken und die Bedingung und die Folge. Wenn einer der Teilsätze sinnlos wäre, wäre das Ganze sinnlos. Man erkennt hieraus, welchen Unterschied es macht, ob ein Satz sinnlos ist oder ob er einen falschen Gedanken ausdrückt. Für die aus Bedingung und Folge bestehenden Gedanken gilt nun das Gesetz, daß unbeschadet der Wahrheit das Entgegengesetzte der Bedingung zur Folge und zugleich das Entgegengesetzte der Folge zur Bedingung gemacht werden darf. Die Engländer nennen diesen Uebergang CONTRAPOSITION. Nach diesem Gesetze kann man von dem Satze 100 ___ 1000 /21\ _10 /21 /21\ "Wenn |----| größer als \/10 ist, so ist |----| größer \20/ \20/ 21 als 10 ." übergehen zu dem Satze 1000 100 /21\ 21 /21\ Wenn |----| nicht größer als 10 ist, so ist |----| \20/ \20/ __ _10 /21 " nicht größer als \/10 . Und solche Übergänge sind wichtig für die indirekten Beweise, die sonst nicht möglich wären. Wenn nun die Bedingung des ersten zusammengesetzten Gedankens, daß nämlich 100 __ /21\ _10 /21 |----| größer als \/10 , wahr ist, so ist die Folge des \20/ zweiten zusammengesetzten Gedankens, nämlich daß 100 __ /21\ _10 /21 |----| nicht größer als \/10 ist, falsch. Wer demnach die \20/ Zulässigkeit unseres Ueberganges vom MODUS PONENS zum MODUS TOLLENS zugibt, muß auch einen falschen Gedanken als seiend anerkennen; sonst bliebe ja entweder vom MODUS PONENS nur die Folge oder vom MODUS TOLLENS nur die Bedingung übrig; aber auch von diesen fiele noch eine als nicht seiend weg. Man kann unter dem Sein eines Gedankens auch verstehen, daß der Gedanke als derselbe von verschiedenen Denkenden gefaßt werden könne. Dann würde das Nichtsein eines Gedankens darin bestehen, daß von mehreren Denkenden jeder seinen eigenen Sinn mit dem Satze verbände, der dann Inhalt seines besonderen Bewußtseins wäre, so daß es einen gemeinsamen Sinn des Satzes, der von mehreren gefaßt werden könnte, nicht gäbe. Ist nun ein falscher Gedanke ein nicht seiender Gedanke in diesem Sinne? Dann wären Forscher, die untereinander die Frage erörtert hätten, ob die Perlsucht des Rindviehs auf Menschen übertragbar wäre, und sich zu]etzt darauf geeinigt hätten, daß diese Uebertragbarkeit nicht bestände, in der Lage von Leuten, die in ihrer Unterhaltung den Ausdruck "dieser Regenbogen" gebraucht hätten und nun zu der Einsicht kämen, daß sie mit diesen Worten nichts bezeichnet hätten, indem jeder von ihnen eine Erscheinung gehabt hätte, deren Träger er selbst gewesen. Jene Forscher müßten sich wie gefoppt von einem falschen Scheine vorkommen; denn die Voraussetzung, unter der allein ihr Tun und Reden vernünftig gewesen wäre, hätte sich als nicht erfüllt herausgestellt; einen ihnen gemeinsamen Sinn der von ihnen behandelten Frage hätten sie nicht gehabt. Es muß doch möglich sein, eine Frage zu stellen, die wahrheitsgemäß zu verneinen _Seite_147 ist. Der Inhalt einer solchen Frage ist nach meinem Sprachgebrauche ein Gedanke. Es muß möglich sein, daß mehrere Hörer desselben Fragesatzes denselben Sinn fassen und als falsch erkennen. Das Geschworenengericht wäre ja eine törichte Einrichtung, wenn nicht angenommen werden könnte, daß jeder der Geschworenen die vorgelegte Frage in demselben Sinne verstehen könnte. Demnach ist der Sinn eines Fragesatzes, auch wenn die Frage zu verneinen ist, etwas, was von mehreren gefaßt werden kann. Was würde weiter folgen, wenn das Wahrsein eines Gedankens darin bestände, daß er von Mehreren als derselbe gefaßt werden könnte, während es einen Mehreren gemeinsamen Sinn eines Satzes gar nicht gäbe, welcher etwas Falsches ausdrückt? Wenn ein Gedanke wahr ist und aus Gedanken zusammengesetzt ist, von denen einer falsch ist, könnte zwar der ganze Gedanke von Mehreren als derselbe gefaßt werden, der falsche Teilgedanke aber nicht. Ein solcher Fall kann vorkommen. So kann z. B. vor einem Geschworenengerichte mit Recht behauptet werden: "Wenn der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen", und es kann falsch sein, daß der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist. Dann würden die Geschworenen beim Hören des Satzes "Wenn der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen" denselben Gedanken fassen können, während jeder von ihnen mit dem Bedingungssatze seinen eigenen Sinn verbände. Ist das möglich? Kann ein Bestandteil eines Gedankens, der allen Geschworenen als derselbe gegenüber steht, ihnen nicht gemeinsam sein? Wenn das Ganze keines Trägers bedarf, bedarf auch keiner seiner Teile eines Trägers. Demnach ist ein falscher Gedanke nicht ein nicht seiender Gedanke, auch dann nicht, wenn man unter dem Sein versteht das Nichtbedürfen eines Trägers. Ein falscher Gedanke muß, wenn auch nicht als wahr, so doch zuweilen als unentbehrlich anerkannt werden: erstens als Sinn eines Fragesatzes zweitens als Bestandteil einer hypothetischen Gedankenverbindung und drittens in der Verneinung. Es muß möglich sein, einen falschen Gedanken zu verneinen, und um das zu können, bedarf ich seiner. Was nicht ist, kann ich nicht verneinen. Und was meiner als seines Trägers bedarf, kann ich nicht durch Verneinen in etwas verwandeln, dessen Träger ich nicht bin und was von mehreren als dasselbe gefaßt werden kann. Ist nun das Verneinen eines Gedankens als ein Auflösen des Gedankens in seine Bestandteile aufzufassen? Die Geschworenen können durch ihr verneinendes Urteil an dem Bestande des in der ihnen vorgelegten Frage ausgedrückten Gedankens nichts ändern. Der Gedanke ist wahr oder falsch ganz unabhängig davon, ob sie richtig oder unrichtig urteilen. Und wenn er falsch ist, ist er eben auch ein Gedanke. Wenn sich, nachdem die Geschworenen geurteilt, gar keine Gedanke vorfindet, sondern nur Gedankentrümmer, so ist derselbe Bestand schon vorher gewesen; ihnen ist in der scheinbaren Frage gar kein Gedanke, sondern ihnen sind nur Gedankentrümmer vorgelegt worden; sie haben gar nichts gehabt, was sie hätten beurteilen können. Wir können durch unser Urteilen am Bestande des Gedankens nichts ändern. Wir können nur anerkennen, was ist. Einem wahren Gedanken können wir durch _Seite_148 unser Urteilen nichts anhaben. Wir können in dem ihn ausdrückenden Satze ein "nicht" einfügen und dadurch einen Satz erhalten, der, wie dargelegt worden ist, keinen Ungedanken enthält, sondern als Bedingungssatz oder Folgesatz in einem hypothetischen Satzgefüge seine volle Berechtigung haben kann. Weil er falsch ist, darf er nur nicht mit behauptender Kraft ausgesprochen werden. Jener erste Gedanke aber wird durch diesen Vorgang ganz unberührt gelassen. Er bleibt wahr wie vorher. Können wir einem falschen Gedanken durch unser Verneinen etwas anhaben? Auch nicht: denn ein falscher Gedanke bleibt immer ein Gedanke und kann als Bestandteil eines wahren Gedankens vorkommen. Fügen wir in dem ohne behauptende Kraft ausgesprochenen Satze "3 ist größer als 5", dessen Sinn falsch ist, ein "nicht" ein, so erhalten wir "3 ist nicht größer als 5", einen Satz, der mit behauptender Kraft ausgesprochen werden darf. Hier ist nirgends von einer Auflösung des Gedankens, von der Trennung seiner Teile etwas zu merken. Wie könnte denn ein Gedanke aufgelöst werden? Wie könnte. der Zusammenhang seiner Teile zerrissen werden? Die Welt der Gedanken hat ihr Abbild in der Welt der Sätze, Ausdrücke, Wörter, Zeichen. Dem Aufbau des Gedankens entspricht die Zusammensetzung des Satzes aus Wörtern, wobei die Reihenfolge im allgemeinen nicht gleichgültig ist. Der Auflösung, der Zerstörung des Gedankens wird demgemäß eine Auseinanderreißung der Wörter entsprechen, welche etwa geschieht, wenn ein auf Papier geschriebener Satz mit der Schere zerlegt wird, so daß auf jedem der Papierschnitzel der Ausdruck eines Gedankenteils steht. Diese Schnitzel können dann beliebig durcheinandergeworfen oder vom Winde entführt werden. Der Zusammenhang ist gelöst, die ursprüngliche Anordnung ist nicht mehr erkennbar. Geschieht das, Wenn wir einen Gedanken verneinen? Nein! Der Gedanke würde ja auch diese seine Hinrichtung IN EFFIGIE unzweifelhaft überdauern. Sondern das Wort "nicht" wird in die sonst unveränderte Anordnung der Wörter eingeschoben. Der ursprüngliche Wortlaut ist noch erkennbar; die Anordnung darf nicht willkürlich verändert werden. Ist das Auflösung, Trennung? Im Gegenteil! das Ergebnis ist ein festgefügter Bau. Besonders deutlich läßt sich aus der Betrachtung des Gesetzes DUPLEX NEGATIO AFFIRMAT erkennen, daß das Verneinen keine trennende, auflösende Wirkung hat. Ich gehe aus von dem Satz "Die Schneekoppe ist höher als der Brocken." Durch Einschiebung eines "nicht" erhalte ich "Die Schneekoppe ist nicht höher als der Brocken." Beide Sätze sind ohne behauptende Kraft auszusprechen. Eine zweite Verneinung erbrächte etwa den Satz: "Es ist nicht wahr, daß die Schneekoppe nicht höher als der Brocken ist." Wir wissen schon: das erste Verneinen kann keine Auflösung des Gedankens bewirken aber nehmen wir trotzdem einmal an, daß wir nach dem ersten Verneinen nur Gedankentrümmer _Seite_149 hätten. Dann müßten wir annehmen, das zweite Verneinen könnte diese Trümmer wieder zusammenfügen. Das Verneinen gliche also einem Schwerte, das die Glieder, die es abgehauen, auch wieder anheilen könnte. Aber dabei wäre größte Vorsicht geboten. Die Gedankenteile sind ja durch das erste Verneinen ganz zusammenhanglos und beziehunglos geworden. So könnte man bei unvorsichtiger Auwendung der Heilkraft des Verneinens leicht den Satz erhalten "Der Brocken ist höher als die Schneekoppe". Kein Ungedanke wird durch Verneinen zum Gedanken, wie kein Gedanke durch Verneinen zum Ungedanken wird. Auch ein Satz der das Wort "nicht" im Prädikate enthält, kann einen Gedanken ausdrücken, der zum Inhalte einer Frage gemacht werden kann, einer Frage, welche die Entscheidung über die Antwort offen läßt, wie jede Satzfrage. Welche Gegenstände sollen denn nun eigentlich durch das Verneinen getrennt werden? Satzteile sind es nicht; Gedankenteile ebensowenig. Dinge der Außenwelt? Diese kümmern sich um unser Verneinen gar nicht. Vorstellungen in der Innenwelt des Verneinenden? Aber woher weiß denn der Geschworene, welche seiner Vorstellungen er unter Umständen zu trennen haben würde? Die ihm vorgelegte Frage bezeichnet ihm keine. Sie mag Vorstellungen in ihm anregen. Aber die Vorstellungen, die in den Innenwelten der Geschworenen angeregt werden, sind verschieden. Und dann nähme jeder Geschworene seine eigene Trennung in seiner eigenen Innenwelt vor, und das wäre kein Urteil. Es scheint demnach nicht möglich anzugeben, was denn eigentlich durch das Verneinen aufgelöst, zerlegt oder getrennt werde. Mit dem Glauben an die trennende, auflösende Kraft des Verneinens hängt es zusammen, daß man einen verneinenden Gedanken für weniger brauchbar hält als einen bejahenden. Für ganz unnütz wird man ihn doch auch nicht halten können. Man betrachte den Schluß: "Wenn der Angeklagte zur Zeit des Mordes nicht in Berlin gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen; nun ist der Angeklagte zur Zeit des Mordes nicht in Berlin gewesen; also hat er den Mord nicht begangen." und vergleiche ihn mit folgendem Schlusse: "Wenn der Angeklagte zur Zeit des Mordes in Rom gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen; nun ist der Angeklagte zur Zeit des Mordes in Rom gewesen; also hat er den Mord nicht begangen." Beide Schlüsse gehen in derselben Form vor, und es besteht nicht der geringste sachliche Grund, in dem Ausdrucke des hierbei zu Grunde liegenden Schlußgesetzes verneinende von bejahenden Prämissen zu unterscheiden. Man spricht von bejahenden und verneinenden Urteilen. Auch Kant tut das. In meine Redeweise übersetzend, wird man bejahende von verneinenden Gedanken unterscheiden. Eine für die Logik wenigstens ganz unnötige Unterscheidung, deren Grund außerhalb der Logik zu suchen ist. Mir ist kein logisches Gesetz bekannt, bei dessen Wortausdrucke es nötig oder _Seite_150 auch nur vorteilhaft wäre, diese Bezeichnungen zu gebrauchen*1*. In jeder Wissenschaft, in der überhaupt von Gesetzmäßigkeit die Rede sein kann, ist immer zu fragen: welche Kunstausdrücke sind nötig oder wenigstens nützlich, um die Gesetze dieser Wissenschaft genau auszudrücken? Was solche Prüfung nicht besteht, ist vom Übel. Dazu kommt, daß es gar nicht leicht ist, anzugeben, was ein verneinendes Urteil (ein verneinender Gedanke) sei. Man betrachte die Sätze "Christus ist unsterblich", "Christus lebt ewig", "Christus ist nicht unsterblich", "Christus ist sterblich", "Christus lebt nicht ewig". Wo haben wir nun hier einen bejahenden, wo einen verneinenden Gedanken? Wir sind gewohnt anzunehmen, das Verneinen erstrecke sich auf den ganzen Gedanken, wenn sich das "nicht" mit dem Verbum des Prädikats verbindet. Aber das Verneinungswort bildet grammatisch auch zuweilen einen Teil des Subjekts, wie in dem Satze "kein Mensch wird über hundert Jahre alt". Eine Verneinung kann irgendwo in einem Satze stecken, ohne daß der Gedanke dadurch unzweifelhaft ein verneinender würde. Man sieht, zu welchen knifflichen Fragen der Ausdruck "verneinendes Urteil" (verneinender Gedanke) führen kann. Endlose, mit größtem Scharfsinn geführte und doch im wesentlichen unfruchtbare Streite können die Folge sein. Deshalb stimme ich dafür, daß man die Unterscheidung von verneinenden und bejahenden Urteilen oder Gedanken so lange ruhen lasse, bis man ein Kennzeichen habe, von dem man in jedem Falle ein verneinendes Urteil von einem bejahenden mit Sicherheit unterscheiden könne. Wenn man ein solches Merkmal hat, wird man auch erkennen, welcher Nutzen etwa von jener Unterscheidung zu erhoffen sei. Ich bezweifle zunächst noch, daß dies gelingen werde. Der Sprache wird man dieses Merkmal nicht entnehmen können; denn die Sprachen sind in logischen Fragen unzuverlässig. Ist es doch nicht eine der geringsten Aufgaben des Logikers, auf die Fallstricke hinzuweisen, die von der Sprache dem Denkenden gelegt werden. Nachdem man Irrtümer widerlegt hat, kann es nützlich sein, den Quellen nachzugehen, aus denen sie geflossen sind. Eine dieser Quellen scheint mir hier das Bedürfnis zu sein, Definitionen der Begriffe zu geben, die man behandeln will. Gewiß ist das Bestreben lobenswert, sich den Sinn, den man mit einem Ausdrucke verbindet, möglichst klar zu machen. Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß sich nicht alles definieren läßt. Wenn man durchaus etwas definieren will, was seinem Wesen nach nicht definierbar ist, hängt man sich leicht an unwesentliche Nebensachen und bringt dadurch die Untersuchung gleich anfangs auf ein falsches Gleis. Und so ist es wohl manchen ergangen, die erklären wollten, was ein Urteil sei, indem sie auf *1* So habe ich denn auch in meinem Aufsatze: Der Gedanke (Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus, 1. Band S. 58) den Ausdruck "verneinender Gedanke" nicht gebraucht. Die Unterscheidung von verneinenden und bejahenden Gedanken hätte die Sache nur verwirrt. Nirgends wäre Gelegenheit gewesen, von den bejahenden Gedanken etwas auszusagen und die verneinenden davon auszuschließen oder von den verneinenden etwas auszusagen und die bejahenden davon auszuschließen. _Seite_151 die Zusammengesetztheit verfielen*1*. Das Urteil ist zusammengesetzt aus Teilen, die eine gewisse Ordnung, einen Zusammenhang haben, in Beziehungen zueinander stehen. Aber bei welchem Ganzen haben wir das nicht? Damit verbindet sich ein anderer Fehler, nämlich die Meinung, der Urteilende stifte durch sein Urteilen den Zusammenhang, die Ordnung der Teile und bringe dadurch das Urteil zu Stande. Dabei ist das Fassen eines Gedankens und die Anerkennung seiner Wahrheit nicht auseinandergehalten. In vielen Fällen freilich folgen diese Taten so unmittelbar aufeinander, daß sie in eine Tat zusammenzuschmelzen scheinen, aber nicht in allen. Jahre mühevoller Untersuchungen können zwischen dem Fassen des Gedankens und der Anerkennung seiner Wahrheit liegen. Daß durch dieses Urteilen der Gedanke, der Zusammenhang seiner Teile nicht gestiftet werde, ist offenbar; denn er bestand schon vorher. Aber auch das Fassen eines Gedankens ist nicht ein Schaffen des Gedankens, ist nicht ein Stiften der Ordnung seiner Teile; denn der Gedanke war schon vorher wahr, bestand also schon in der Ordnung seiner Teile; bevor er gefaßt wurde. Ebensowenig wie ein Wanderer, der ein Gebirge überschreitet, dadurch dieses Gebirge schafft, schafft der Urteilende dadurch einen Gedanken, daß er ihn als wahr anerkennt. Täte er es, so könnte nicht derselbe Gedanke gestern von jenem und heute von diesem als wahr anerkannt werden; ja nicht einmal von demselben könnte derselbe Gedanke zu verschiedenen Zeiten als wahr anerkannt werden, man müßte denn annehmen, das Sein dieses Gedankens wäre ein unterbrochenes. Wenn man es für möglich hält, durch sein Urteilen das, was man durch sein Urteilen als wahr anerkennt, zu schaffen, indem man den Zusammenhang, die Ordnung seiner Teile stiftet, so liegt es nahe, sich auch die Fähigkeit des Zerstörens zuzutrauen. Wie das Zerstören dem Aufbauen, dem Stiften von Ordnung und Zusammenhang, entgegengesetzt ist, so scheint das Verneinen dem Urteilen gegenüber zu stehen, *1* Den Sprachgebrauch des Lebens trifft man wohl am besten, wenn man unter einem Urteile eine Tat des Urteilens versteht, wie ein Sprung eine Tat des Springens ist. Dabei bleibt freilich der Kern der Schwierigkeit ungelöst; er steckt nun in dem Worte "Urteilen". Urteilen, kann man weiter sagen, ist etwas als wahr anerkennen. Was als wahr anerkannt wird, kann nur ein Gedanke sein. Der ursprüngliche Kern scheint sich nun gespalten zu haben; ein Teil davon steckt im Worte "Gedanke", der andere im Worte "wahr". Hier wird man wohl stehen bleiben müssen. Daß man nicht ins Unendliche immer weiter definieren könne, darauf muß man sich ja von vornherein gefaßt machen. Wenn das Urteil eine Tat ist, so geschieht es zu einer gewissen Zeit und gehört nachher der Vergangenheit an. Zu einer Tat gehört auch ein Täter, und man kennt die Tat nicht vollständig, wenn man den Täter nicht kennt. Dann kann man von einem synthetischen Urteile in dem üblichen Sinne nicht sprechen. Wenn man dieses, daß durch zwei Punkte nur eine gerade Linie geht, ein synthetisches Urteil nennt, so versteht man unter "Urteil" nicht eine Tat, die von einem bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit getan worden ist, sondern etwas, was zeitlos wahr ist, auch dann, wenn sein Wahrsein von keinem Menschen anerkannt wird. Wenn man solches eine Wahrheit nennt, kann man statt "synthetisches Urteil" vielleicht besser "synthetische Wahrheit" sagen. Zieht man trotzdem den Ausdruck "synthetisches Urteil" vor, so muß man dabei von dem Sinne des Verbums "Urteilen" absehen. _Seite_152 und man gelangt leicht zu der Annahme, daß die Zerreißung der Zusammenhänge durch das Verneinen ebenso geschehe wie das Aufbauen durch das Urteilen. So erscheinen Urteilen und Verneinen als ein Paar entgegengesetzter Pole, die eben als Paar gleichen Ranges sind, vergleichbar etwa mit dem Oxydieren und Reduzieren in der Chemie. Wenn man aber eingesehen hat, daß durch das Urteilen kein Zusammenhang gestiftet wird, sondern daß die Ordnung der Teile des Gedankens schon vor dem Urteilen bestanden hat, erscheint alles in anderm Lichte. Es muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß das Fassen einem Gedankens noch kein Urteilen ist, daß man einen Gedanken in einem Satze ausdrücken kann, ohne ihn damit als wahr zu behaupten, daß im Prädikate eines Satzes ein Verneinungswort enthalten sein kann, und daß der Sinn dieses Wortes dann Bestandteil des Sinnes des Satzes, Bestandteil eines Gedankens ist, daß man durch das Einfügen eines "nicht" in das Prädikat eines ohne behauptende Kraft auszusprechenden Satzes einen Satz erhält, der wie der ursprüngliche einen Gedanken ausdrückt. Nennt man nun ein solches Übergehen von einem Gedanken zum entgegengesetzten Verneinen, so ist dieses Verneinen gar nicht gleichen Ranges mit dem Urteilen und gar nicht als entgegengesetzter Pol zum Urteilen aufzufassen; denn beim Urteilen handelt es sich immer um Wahrheit, wohingegen man von einem Gedanken zum entgegengesetzten übergehen kann, ohne nach der Wahrheit zu fragen. Um Mißverständnis auszuschließen, sei noch bemerkt, daß dieses Übergehen in dem Bewußtsein eines Denkenden geschieht, daß aber sowohl der Gedanke, von dem übergegangen wird, als auch der Gedanke, zu dem übergegangen wird, bestanden haben, bevor dies geschieht, daß also durch diesen seelischen Vorgang an dem Bestande und an den Beziehungen der Gedanken zueinander nichts geändert wird. Vielleicht ist dasjenige Verneinen, das als Gegenpol des Urteilens ein fragwürdiges Dasein fristet, ein chimärisches Gebilde, zusammengewachsen aus dem Urteilen und jener Verneinung, die ich als möglichen Bestandteil des Gedankens anerkannt habe und der in der Sprache das Wort "nicht" als Bestandteil des Prädikates entspricht, chimärisch deshalb, weil diese Teile ganz ungleichartig sind. Das Urteilen nämlich als seelischer Vorgang bedarf des Urteilenden als seines Trägers; die Verneinung aber als Bestandteil des Gedankens bedarf wie der Gedanke selbst keines Trägers, ist nicht als Bewußtseinsinhalt aufzufassen. Und doch ist es nicht ganz unverständlich, wie wenigstens der Schein eines solchen chimärischen Gebildes entstehen kann. Die Sprache hat ja kein besonderes Wort, keine besondere Silbe für die behauptende Kraft, sondern diese liegt in der Form des Behauptungssatzes, die sich besonders im Prädikate ausprägt. Andererseits steht das Wort "nicht" in engster Verbindung mit dem Prädikate, als dessen Bestandteil man es ansehen kann. So mag sich zwischen dem Worte "nicht" und der behauptenden Kraft, die ja sprachlich dem Urteilen entspricht, eine Verbindung zu bilden scheinen. Aber es ist lästig, die beiden Arten des Verneinens zu unterscheiden. Den Gegenpol des Urteilns habe ich ja eigentlich nur eingeführt, um mich einer mir fremden Auffassung anzubequemen. Ich kehre nun zu meiner ursprünglichen Redeweise _Seite_153 zurück. Was ich vorübergehend als Gegenpol des Urteilens bezeichnet habe, will ich nun als eine zweite Art des Urteilens ansehen, ohne damit zuzugeben, daß es eine solche zweite Art gebe. Ich will also Pol und Gegenpol unter dem gemeinsamen Namen "Urteilen" zusammenfassen, was geschehen kann, weil Pol und Gegenpol ja doch zusammengehören. Dann wird die Frage so zu stellen sein: Gibt es zwei verschiedene Weisen des Urteilens, von denen jene bei der bejahenden, diese bei der verneinenden Antwort auf eine Frage gebraucht wird? Oder ist das Urteilen in beiden Fällen dasselbe? Gehört das Verneinen zum Urteilen? Oder ist die Verneinung Teil des Gedankens, der dem Urteilen unterliegt? Ist das Urteilen auch im Falle der verneinenden Antwort auf eine Frage die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens? Dann wird dieser nicht der in der Frage unmittelbar enthaltene, sondern der diesem entgegengesetzte Gedanke sein. Es laute die Frage z. B.: "Hat der Angeklagte sein Haus absichtlich in Brand gesteckt?" Wie wird die Antwort als Behauptungssatz lauten können, wenn sie verneinend ausfällt? Wenn es für das Verneinen eine besondere Urteilsweise gibt, müssen wir dem entsprechend eine besondere Behauptungsweise haben. Ich sage etwa in diesem Falle "es ist falsch, daß ..." und setze fest, daß dieses immer mit behauptender Kraft verbunden sein solle. Dann wird die Antwort etwa lauten: "Es ist falsch, daß der Angeklagte sein Haus absichtlich in Brand gesteckt habe." Wenn es dagegen nur eine einzige Weise des Urteilens gibt, wird man mit behauptender Kraft sagen: "Der Angeklagte hat sein Haus nicht absichtlich in Brand gesteckt". Und hier wird der Gedanke als wahr hingestellt, der dem in der Frage ausgedrückten entgegengesetzt ist. Das Wort "nicht" gehört hier zum Ausdrucke dieses Gedankens. Ich erinnere nun an die beiden Schlüsse, die ich vorhin miteinander verglichen habe. Dabei war die zweite Prämisse des ersten Schlusses die verneinende Antwort auf die Frage "Ist der Angeklagte zur Zeit des Mordes in Berlin gewesen?" und zwar die für den Fall gewählte, daß es nur eine Weise des Urteilens gibt. Der in dieser Prämisse enthaltene Gedanke ist in dem Bedingungssatze der ersten Prämisse, aber ohne behauptende Kraft ausgesprochen, enthalten. Die zweite Prämisse des zweiten Schlusses war die bejahende Antwort auf die Frage "Ist der Angeklagte zur Zeit des Mordes in Rom gewesen?" Diese Schlüsse gehen nach demselben Schlußgesetze vor, und das stimmt gut zu der Meinung, das Urteilen sei dasselbe im Falle einer verneinenden, wie im Falle einer bejahenden Antwort auf eine Frage. Wenn wir dagegen im Falle des Verneinens eine besondere Weise des Urteilens anerkennen müßten, der im Reiche der Worte und Sätze eine besondere Weise des Behauptens entspräche, würde die Sache anders. Die erste Prämisse des ersten Schlusses lautete wie vorhin: "Wenn der Angeklagte zur Zeit des Mordes nicht in Berlin gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen". Hier dürfte nicht gesagt werden "Wenn es falsch ist, daß der Angeklagte zur Zeit des Mordes in Berlin gewesen ist"; denn es ist festgesetzt worden, daß die Worte "es ist falsch" immer mit behauptender Kraft verbunden sein sollen; mit der Anerkennung der Wahrheit dieser ersten Prämisse wird aber weder die in ihr enthaltene _Seite_154 Bedingung noch die Folge als wahr anerkannt. Dagegen muß nun die zweite Prämisse lauten: "Es ist falsch, daß der Angeklagte zur Zeit des Mordes in Berlin gewesen ist"; denn als Prämisse ist sie mit behauptender Kraft auszusprechen. Nun ist der Schluß nicht mehr wie vorhin möglich, weil der Gedanke der zweiten Prämisse nicht mehr mit dem der Bedingung der ersten Prämisse zusammenfällt, sondern der Gedanke ist, daß der Angeklagte zur Zeit des Mordes in Berlin gewesen ist. Wenn man den Schluß dennoch gelten lassen will, erkennt man damit an, daß in der zweiten Prämisse der Gedanke, daß der Angeklagte zur Zeit des Mordes nicht in Berlin gewesen ist, enthalten ist. Damit trennt man das Verneinen von dem Urteilen, nimmt es aus dem Sinne von "es ist falsch, daß ..." heraus und vereinigt die Verneinung mit dem Gedanken. So ist denn die Annahme von zwei verschiedenen Weisen des Urteilens zu verwerfen. Aber was hängt denn von dieser Entscheidung ab? Vielleicht könnte man sie für wertlos halten, wenn dadurch nicht eine Ersparung an logischen Urbestandteilen und an dem, was ihnen sprachlich entspricht, bewirkt würde. Bei der Annahme von zwei verschiedenen Weisen des Urteilens haben wir nötig: 1. die behauptende Kraft im Falle des Bejahens, 2. die behauptende Kraft im Falle des Verneinens, etwa in unlöslicher Verbindung mit dem Worte "falsch", 3. ein Verneinungswort wie "nicht" in Sätzen, die ohne behauptende Kraft ausgesprochen werden. Nehmen wir dagegen nur eine einzige Weise des Urteilens an, haben wir dafür nur nötig 1. die behauptende Kraft, 2. ein Verneinungswort. Eine solche Ersparung zeigt immer eine weitergetriebene Zerlegung an, und diese bewirkt eine klarere Einsicht. Damit hängt eine Ersparung eines Schlußgesetzes zusammen. Wo wir bei unserer Entscheidung mit einem solchen auskommen, brauchten wir sonst zwei. Wenn wir mit einer Art des Urteilens auskommen können, dann müssen wir es auch, und dann können wir nicht eine Art des Urteilens der Stiftung von Ordnung und Zusammenhang, eine andere der Zerstörung zuweisen. Zu jedem Gedanken gehört demnach ein ihm widersprechender*1* Gedanke derart, daß ein Gedanke dadurch als falsch erklärt wird, daß der ihm widersprechende als wahr anerkannt wird. Der den widersprechenden Gedanken ausdrückende Satz wird mittels eines Verneinungswortes aus dem Ausdrucke des ursprünglichen Gedankens gebildet. Das Verneinungswort oder die Verneinungssilbe scheint sich oft einem Teile des Satzes, z. B. dem Prädikate enger anzuschließen. Und daraus kann die Meinung entstehen, es werde nicht der Inhalt des ganzen Satzes, sondern nur der dieses Satzteils verneint. Man kann einen Mann unberühmt nennen und damit den Gedanken, daß er berühmt sei, als falsch hinstellen. Man kann das als verneinende *1* Man könnte auch sagen "ein entgegengesetzter". _Seite_155 Antwort auf die Frage "Ist der Mann berühmt?" auffassen, woraus zu ersehen ist, daß man damit nicht nur den Sinn eines Wortes verneint. Es ist unrichtig zu sagen "weil sich die Verneinungssilbe mit einem Satzteile verbunden hat, wird nicht der Sinn des ganzen Satzes verneint". Vielmehr: dadurch, daß sich die Verneinungssilbe mit einem Teile des Satzes verbunden hat, wird der Inhalt des ganzen Satzes verneint. Das soll heißen, dadurch entsteht ein Satz, dessen Gedanke dem des ursprünglichen Satzes widerspricht. Daß die Verneinung sich zuweilen nur auf einen Teil des ganzen Gedankens erstreckt, soll damit nicht bestritten werden. Der einem Gedanken widersprechende Gedanke ist der Sinn eines Satzes, aus dem der Satz leicht herstellbar ist, der jenen ausdrückt. Demgemäß erscheint der einem Gedanken widersprechende Gedanke zusammengesetzt aus jenem und der Verneinung. Ich meine damit nicht die Tätigkeit des Verneinens. Aber die Wörter "zusammengesetzt", "bestehen", "Bestandteil", "Teil" können zu einer unrichtigen Auffassung verleiten. Wenn man hier von Teilen sprechen will, so stehen diese Teile doch nicht in derselben Selbständigkeit nebeneinander, wie man es sonst von Teilen eines Ganzen gewohnt ist. Der Gedanke nämlich bedarf zu seinem Bestande keiner Ergänzung, er ist in sich vollständig. Dagegen bedarf die Verneinung einer Ergänzung durch einen Gedanken. Die beiden Bestandteile, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen will, sind ganz ungleichartig und tragen in ganz verschiedener Weise zur Bildung des Ganzen bei. Jener ergänzt; dieser wird ergänzt. Und durch dieses Ergänzen wird das Ganze zusammengehalten. Um die Ergänzungsbedürftigkeit auch im Sprachlichen erkennbar zu machen, kann man schreiben "die Verneinung von ...". Hierbei deutet die Lücke hinter dem "von" an, wo das Ergänzende einzusetzen ist. Denn dem Ergänzen im Reiche der Gedanken und Gedankenteile entspricht etwas Ähnliches im Reiche der Sätze und Satzteile. Statt der Präposition "von" mit folgendem Substantiv kann übrigens der Genitiv des Substantivs stehen, was meist sprachgemäßer sein mag, sich aber nicht gut im Ausdrucke des ergänzungsbedürftigen Teils andeuten läßt. Ein Beispiel möge noch deutlicher machen, wie ich es meine. Der dem Gedanken, 100 __ /21\ _10 /21 daß |----| gleich \/10 ist, \20/ widersprechende Gedanke ist der, " 100 __ /21\ _10 /21 daß |----| nicht gleich \/10 ist, \20/ Man kann dafür auch sagen: 100 __ /21\ _10 /21 "der Gedanke, daß |----| nicht gleich \/10 , \20/ ist die Verneinung des Gedankens, 100 __ /21\ _10 /21 daß |----| gleich \/10 ist." \20/ _Seite_156 Dieser letzte Ausdruck nach dem vorletzten "ist" läßt die Zusammensetzung des Gedankens aus einem ergänzungsbedürftigen Teile und einem diesen ergänzenden erkennen. Ich werde hier das Wort "Verneinung" von nun an - außer etwa in Anführungszeichen - immer nur mit dem bestimmten Artikel gebrauchen. Der bestimmte Artikel "die" in dem Ausdrucke "die Verneinung des Gedankens, daß 3 größer als 5 ist" läßt erkennen, daß dieser Ausdruck ein bestimmtes Einzelnes bezeichnen soll. Dieses Einzelne ist hier ein Gedanke. Der bestimmte Artikel macht den ganzen Ausdruck zu einem Einzelnamen, einem Vertreter eines Eigennamens. Die Verneinung eines Gedankens ist also selber ein Gedanke und kann wieder zur Ergänzung der Verneinung dienen. Indem ich die Verneinung des Gedankens, 100 __ /21\ _10 /21 daß |----| gleich \/10 sei, zur Ergänzung der Verneinung \20/ gebrauche, erhalte ich die Verneinung der Verneinung des Gedankens, 100 __ /21\ _10 /21 daß |----| gleich \/10 sei. \20/ Das ist wieder ein Gedanke. Bezeichnungen von so gebildeten Gedanken erhält man nach dem Muster "die Verneinung der Verneinung von A", wobei "A" die Bezeichnung eines Gedankens vertritt. Eine solche Bezeichnung ist zunächst zusammengesetzt zu denken aus den Teilen "die Verneinung von ..." und "die Verneinung von A". Es ist aber auch die Auffassung möglich, daß sie gebildet ist aus den Teilen "die Verneinung der Verneinung von und ..." und "A" Hier habe ich den mittleren Teil der Bezeichnung zunächst mit dem links davon stehenden Teil vereinigt und dann das so Gewonnene mit dem rechts stehenden Teile "A", während ursprünglich der mittlere Teil mit "A" vereinigt und die so erhaltene Bezeichnung "die Verneinung von A" mit dem links stehenden "die Verneinung von ... vereinigt wurde. Den beiden verschiedenen Auffassungen der Bezeichnung entsprechen auch zwei verschiedene Auffassungen des Aufbaues des bezeichnenden Gedankens. Bei der Vergleichung der Bezeichnungen "die Verneinung der Verneinung davon, daß 100 __ /21\ _10 /21 |----| gleich \/10 ist." \20/ und "die Verneinung der Verneinung davon, daß 5 größer als 3 ist" erkennt man einen gemeinsamen Bestandteil "die Verneinung der Verneinung von ... _Seite_157 der die Bezeichnung eines gemeinsamen ergänzungsbedürftigen Gedankenteils ist. Dieser wird in jedem der beiden Fälle durch einen Gedanken ergänzt, im ersten Falle durch den Gedanken, daß 100 __ /21\ _10 /21 |----| gleich \/10 ist, im zweiten Falle durch \20/ den Gedanken, daß 5 größer als 3 ist. Das Ergebnis dieser Ergänzung ist in jedem der beiden Fälle ein Gedanke. Den gemeinsamen ergänzungsbedürftigen Bestandteil kann man doppelte Verneinung nennen. Dieses Beispiel zeigt, wie ein Ergänzungsbedürftiges mit einem Ergänzungsbedürftigen zu einem Ergänzungsbedürftigen verschmelzen kann. Hier liegt der sonderbare Fall vor, daß etwas - die Verneinung von ... - mit sich selbst verschmilzt. Dabei versagen allerdings die aus dem Gebiete der Körperlichkeit entnommenen Bilder; denn ein Körper kann nicht mit sich selbst verschmelzen, so daß etwas von ihm selbst Verschiedenes entsteht. Aber Körper sind ja auch nicht ergänzungsbedürftig in dem hier gemeinten Sinne. Kongruente Körper können wir zusammensetzen, und im Gebiete der Bezeichnungen haben wir auch hier Kongruenz. Kongruenten Bezeichnungen entspricht aber dasselbe im Gebiete des Bezeichneten. Bildliche Ausdrücke, mit Vorsicht gebraucht, können immerhin etwas zur Verdeutlichung beitragen. Ich vergleiche das Ergänzungsbedürftige mit einer Hülle, die sich wie ein Rock nicht aus eigner Kraft aufrecht erhalten kann, sondern dazu eines Umhüllten bedarf. Der Umhüllte kann eine weitere Hülle - z.B. einen Mantel - anziehen. Die beiden Hüllen vereinigen sich zu einer Hülle. So ist eine zweifache Auffassung möglich. Man kann sagen, der schon mit einem Rocke Bekleidete werde nun noch von einer zweiten Hülle, einem Mantel umgeben, oder er habe eine aus zwei Hüllen - Rock und Mantel - zusammengesetzte Bekleidung. Diese Auffassungen sind durchaus gleich berechtigt. Die hinzukommende Hülle vereinigt sich immer mit der schon vorhandenen zu einer neuen. Freilich darf dabei nie vergessen werden, daß wir im Umhüllen und im Zusammensetzen Vorgänge in der Zeit haben, während das Entsprechende im Gebiete der Gedanken zeitlos ist. Wenn A ein Gedanke ist, der nicht der Dichtung angehört, gehört auch die Verneinung von A der Dichtung nicht an. Von den beiden Gedanken A und der Verneinung von A ist dann immer einer und nur einer wahr. Ebenso ist dann von den beiden Gedanken der Verneinung von A und der Verneinung der Verneinung von A immer einer und nur einer wahr. Nun ist die Verneinung von A entweder wahr oder nicht wahr. Im ersteren Falle ist weder A noch die Verneinung der Verneinung von A wahr. Im andern Falle ist sowohl A als auch die Verneinung der Verneinung von A wahr. Von den beiden Gedanken - A und der Verneinung der Verneinung von A - ist also entweder jeder oder keiner wahr. Ich kann das auch so ausdrücken: die einen Gedanken bekleidende doppelte Verneinung ändert den Wahrheitswert des Gedankens nicht.