øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø File: 10-2-94.TXT - 40 KB ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø Joachim Schulte, Bologna - Italy ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø *Weltseele* ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø Schulte, Joachim (1994) Weltseele; in: Wittgenstein Studies ø ø 2/94, File: 10-2-94; hrsg. von K.-O. Apel, F. Börncke, ø ø N. Garver, P. Hacker, R. Haller, G. Meggle, K. Puhl, ø ø Th. Rentsch, A. Roser, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, ø ø U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl (3 1/2'' ø ø Diskette), ISBN 3-211-82655-6, ISSN 0943-5727 ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø Im August 1919 kehrt Wittgenstein aus italienischer Kriegsgefangenschaft heim nach Wien. Mit einigen alten Freunden nimmt er alsbald wieder Verbindung auf, mit manchen hat er schon im Lager von Cassino korrespondiert. So auch mit Bertrand Russell, dem er bereits im Juni 1919 durch Vermittlung des gemeinsamen Freundes John Maynard Keynes eine Maschinenschrift der LOGISCH-PHILOSOPHISCHEN ABHANDLUNG - also des später so genannten TRACTATUS LOGICO-PHILOSOPHICUS - zukommen läßt. Von Wien aus versucht Wittgenstein ein Wiedersehen mit Russell in die Wege zu leiten - ein Unterfangen, das im Europa jener Jahre nicht leicht in die Tat umzusetzen ist. Dennoch gelingt es den Freunden, im Dezember eine Woche gemeinsam in Holland, in Den Haag zu verbringen, um über Wittgensteins Abhandlung zu diskutieren. Schon einige Tage vor Wittgenstein ist Russell in Den Haag eingetroffen. Durch seine Briefe, die er während des Hollandaufenthalts nach England schickt, sind wir über diese Zeit unterrichtet, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, daß diese Briefe nicht zur Unterrichtung der Nachwelt geschrieben wurden, sondern dazu, den Adressatinnen ein möglichst amüsantes Bild von den betreffenden Zuständen zu geben. Gleich am ersten Tag heißt es: Wittgenstein ist angekommen - kein bißchen verändert. Ich freue mich riesig über das Wiedersehen. Er ist so voller Logik, daß ich ihn kaum dazu bringen kann, über irgend etwas Privates zu reden. Er ist sehr lieb und womöglich ein bißchen weniger verrückt als vor dem Krieg. Ich war noch gar nicht aufgestanden, als er eintraf. Da hämmerte er an meine Tür, bis ich aufwachte. Seitdem hat er ohne Pause vier Stunden lang über Logik gesprochen. *1* Die Maschinenschrift des Tractatus, anhand deren Wittgenstein seine Gedanken darlegte, ist erhalten und trägt in der Handschrift beider Freunde Spuren dieser holländischen Gespräche. In einem unmittelbar nach Wittgensteins Abreise geschriebenen Brief gibt Russell eine ausführliche Schilderung des Wiedersehens und des Eindrucks, den das Buch und sein Autor auf ihn gemacht haben. Über das Buch schreibt er, nun sei er "sicher, daß es ein wirklich großes Buch ist", nicht so sicher sei er allerdings, "daß es auch richtig ist". Dann fährt Russell fort: Aus seinem Buch hatte ich schon einen Anflug von Mystik herausgespürt, war aber doch erstaunt, als ich herausfand, daß er ganz zum Mystiker geworden ist. Er liest solche Leute wie Kierkegaard und Angelus Silesius und denkt ernsthaft darüber nach, Mönch zu werden. [...] Er ist tief in mystische Denk- und Empfindungsweisen eingedrungen, aber ich glaube (obgleich er dem nicht zustimmen würde), daß er an der Mystik am höchsten ihr Vermögen schätzt, ihn vom Denken abzuhalten. Ich bin nicht sehr davon überzeugt, daß er wirklich Mönch wird - dies ist nur so eine Idee, keine wirkliche Absicht. *2* Mönch wurde Wittgenstein tatsächlich nicht, obwohl er im Sommer 1920 immerhin als Gärtnergehilfe im Stift Klosterneuburg arbeitet. Über die Schriften Kierkegaards urteilt er später immer noch recht positiv, aber seinen Worten läßt sich entnehmen, daß die Sache für ihn abgetan ist. Die Bücher Tolstois und Dostojewskis, auf die Russell im gleichen Zusammenhang verweist, bedeuten ihm auch in den folgenden Jahren sehr viel, doch es ist unwahrscheinlich, daß es die darin womöglich ausgesprochenen mystischen Lehrgehalte sind, welche ihn anziehen. Daß Russell schon aus dem Manuskript der Abhandlung einen Anflug von Mystik herausgespürt hat, nimmt nicht wunder, denn von Mystischem ist dort nicht nur indirekt die Rede, sondern das Wort wird in den Schlußabschnitten des Buches mehrmals gebraucht, nämlich in den folgenden Sätzen: 6.44 Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dASS sie ist. 6.45 Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als begrenztes - Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische. [...] 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies ZEIGT sich, es ist das Mystische. Und daß gerade in den Schlußsätzen von Wittgensteins Abhandlung - in denen dem Leser nahegelegt wird, von Dingen, über die man nicht sinnvoll (und das heißt praktisch soviel wie: naturwissenschaftlich) reden könne, solle man schweigen -, ein mystischer Grundton anklingt, kann nur überhören, wer dafür ganz unempfänglich ist. Aber Russell hat in gewissem Sinne recht, wenn er im Hinblick auf Wittgensteins Buch von einem "Anflug" von Mystischem spricht, den man "herausspüren" müsse. Es ist zwar insgesamt charakteristisch für den Tractatus, daß das Gemeinte bestenfalls äußerst lakonisch ausgesprochen, oft auch nur angedeutet wird; doch was es mit dem Mystischen auf sich hat, bleibt, obwohl das Wort selbst, wie gesagt, augesprochen wird, weitgehend im dunkeln. Daß Wittgenstein in diesem Zusammenhang genauere Vorstellungen hatte und diese zumindest zeitweilig zu artikulieren suchte, wird deutlich, wenn man die Vorarbeiten zur endgültigen Fassung des Tractatus betrachtet. Während der ersten Kriegsjahre notierte Wittgenstein seine Gedanken in Manuskriptbücher, die er auch an der Front mit sich führte und in denen sich neben der inneren Erregung durch Kriegsereignisse oder seelische Erschütterungen auch die überaus konzentrierte Beschäftigung mit manchmal sehr technischen philosophischen Problemen spiegelt. Insgesamt vier dieser Manuskriptbücher sind erhalten. Ihr philosophischer Teil ist unter dem Titel "Tagebücher 1914-1916" bzw. "Prototractatus" veröffentlicht. Vor allem im dritten - im Herbst 1916 und im Winter 1916/17 geschriebenen - Tagebuch werden im weiteren Sinne mystische Themen weit ausführlicher als im Tractatus behandelt, und zu manchem Gedanken dieser frühen Notizbücher findet sich im endgültigen Text der Abhandlung überhaupt kein Gegenstück, so daß diese Aufzeichnungen nicht nur über manche rätselhaften Zusammenhänge der Bemerkungen des Tractatus Aufschluß geben, sondern gelegentlich unsere einzigen Belege für bestimmte Gedankengänge Wittgensteins darstellen. Schon im zweiten Notizbuch finden sich Anklänge an Mystisches. So heißt es in einem Eintrag vom 23. Mai 1915: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Es gibt wirklich nur eine Weltseele, welche ich vorzüglich MEINE Seele nenne, und als welche allein ich das erfasse, was ich die Seelen anderer nenne. Die vorige Bemerkung gibt den Schlüssel zur Entscheidung, inwieweit der Solipsismus eine Wahrheit ist. Schon lange war es mir bewußt, daß ich ein Buch schreiben könnte "Was für eine Welt ich vorfand". [...] In dem Buch "Die Welt, welche ich vorfand" wäre auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen etc. Dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, daß es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche NICHT die Rede sein. *3* Diese Sätze, auf die ich mich im folgenden vielfach beziehen werde, klingen freilich geheimnisvoll. Aber rätselhaft sind sie nicht nur für den, der sie zum erstenmal hört, sondern auch - oder gerade - für Leser, die sich lange und ernsthaft mit ihnen auseinandergesetzt haben. Der größte Teil dieses Zitats steht in überarbeiteter Form auch in der endgültigen Fassung von Wittgensteins Abhandlung. Der einzige Satz, der dort fehlt, ist der über die Weltseele, in dem es heißt: Es gibt wirklich nur eine Weltseele, welche ich vorzüglich MEINE Seele nenne, und als welche allein ich erfasse, was ich die Seelen anderer nenne. Den Ausdruck "Weltseele" wird man vielleicht vage mit Platon und den Neuplatonikern in Verbindung bringen. Mancher wird sich womöglich daran erinnern, daß Schelling eine Schrift mit dem Titel "Von der Weltseele" veröffentlicht hat. Doch kaum jemand wird mit dem Ausdruck viel anfangen können, und nur wenige werden damit rechnen, inmitten der sprachlogischen Erörterungen Wittgensteins auf dieses Wort zu stoßen, das in Wittgensteins Schriften meines Wissens nur an dieser einen Stelle vorkommt. Auf der Suche nach möglichen Vorläufern wird man zunächst an Schopenhauer denken, mit dem sich Wittgenstein in jener Zeit beschäftigt haben dürfte, denn es finden sich zahlreiche Parallelen in den Formulierungen, weniger allerdings in der Sache. Aber auch bei Schopenhauer kommt das Wort "Weltseele" kaum vor; und wenn es vorkommt, wird es kritisch gebraucht, wie an der folgenden Stelle: [...] schon die Benennung "Weltseele", wodurch Manche jenes innere Wesen [der Welt] bezeichnet haben, giebt statt desselben ein bloßes ens rationis: denn "Seele" besagt eine individuelle Einheit des Bewußtseyns, die offenbar jenem Wesen nicht zukommt, und überhaupt ist der Begriff "Seele", weil er Erkennen und Wollen in unzertrennlicher Verbindung und dabei doch unabhängig vom animalischen Organismus hypostasirt, nicht zu rechtfertigen, also nicht zu gebrauchen. Das Wort sollte nie anders als in tropischer Bedeutung angewendet werden [...]. *4* Ein weiterer Autor, mit dem sich Wittgenstein damals nachweislich beschäftigt hat und bei dem das Wort "Weltseele" vorkommt, ist der berüchtigte Otto Weininger, dessen Buch GESCHLECHT UND CHARAKTER Wittgenstein auch späterhin noch geschätzt hat. In den nachgelassenen Schriften dieses Denkers, der 1903 im Alter von 23 Jahren Selbstmord begangen hatte, wird das Wort "Weltseele" zwar verwendet, jedoch eher beiläufig, wenn er nämlich schreibt: "die Idee Gottes ist die Idee des Dinges an sich, sie ist aber auch die Idee einer WELTSEELE." *5* In Wittgensteins Tagebuchnotiz dagegen wird das Wort "Weltseele" zumindest nicht in erster Linie im Sinne von "Gott" gebraucht; und der von Weininger ins Spiel gebrachte Begriff des Dings an sich ist für Wittgenstein hier jedenfalls ohne Belang. Interessanter ist da schon der Sachverhalt, daß Weininger den Ausdruck "Weltseele" im Rahmen seiner Erörterung des Solipsismus verwendet, wo er unter anderem Folgendes schreibt: Die Widerlegbarkeit des Solipsismus wäre mit der Ethik gar nicht verträglich, ebensowenig wie es die Möglichkeit wäre, die Existenz des eigenen Ich zu BEWEISEN. [...] Die These des Solipsismus wird immer wieder zu widerlegen versucht [...] Man versteht offenbar das Pathos gar nicht, auf dem der Satz ruht: "die Welt ist MEINE Vorstellung". [...] Das Zurückschrecken vor dem Solipsismus ist Unvermögen, dem Dasein selbständig Wert zu geben, Unvermögen zu einer reichen Einsamkeit, Bedürfnis, in der Menge sich zu verstecken, in einer großen Anzahl zu verschwinden, unterzugehen. Es ist feige. *6* Wir können also festhalten, daß das Wort "Weltseele" bei Weininger in einen ähnlichen Zusammenhang gestellt wird wie bei Wittgenstein, nämlich in den Zusammenhang seiner Erörterung des Solipsismus und des Ichbegriffs. Auf die Fragen, welche Bewandtnis es mit diesem Zusammenhang hat und wie Wittgensteins Auffassung des Solipsismus zu erläutern ist, werde ich später eingehen. Ein anderer Autor, der das Wort "Weltseele" an hervorstechender Stelle verwendet, ist nun freilich Goethe, dessen Gedicht mit dem Titel "Weltseele" in der Ausgabe letzter Hand gleich zweimal abgedruckt ist, nämlich einmal unter den "Geselligen Liedern" und ein weiteres Mal in der Gruppe "Gott und Welt". Die ursprüngliche Einordnung unter den "Geselligen Liedern" geht auf den Erstdruck des Gedichtes zurück, der 1804 in einem von Wieland und Goethe herausgegebenen Taschenbuch unter der Überschrift "Weltschöpfung" erfolgte. Im Erstdruck findet sich der Text unter Gedichten wie der "Generalbeichte" und dem "Tischlied", also unter Gedichten, die zu Recht als "gesellige Lieder" bezeichnet werden dürfen. Ob diese Überschrift auch auf das Gedicht "Weltseele" paßt, erscheint zweifelhaft. Goethe selbst hat es später wie gesagt der Abteilung "Gott und Welt" zugeordnet, wo es in der Nachbarschaft des Prooemions und der Metamorphose-Gedichte einen, wie ich meine, weit angemesseneren Platz einnimmt. Das Gedicht "Weltseele" ist sicher nicht leicht zu verstehen. Eine Hauptschwierigkeit besteht darin, deutlich auszumachen, wer in diesem Gedicht spricht und wer angeredet wird. Dies ist ein Problem, mit dem der Interpret von Wittgensteins Spätschriften vertraut ist, denn diese Schriften sind oft dialogisch angelegt, ohne daß die Rollenverteilung immer klar wäre. Nun ist es im Hinblick auf einen philosophischen Text gewiß unerläßlich, die Identität des Vertreters einer vorgetragenen Meinung eindeutig festzustellen, während dergleichen in der Lyrik vielleicht in der Schwebe bleiben darf. Aber auch zum Verständnis eines Gedichts ist es nötig, daß zumindest klar ist, wer Sprecher und wer Angeredeter sein KÖNNEN, denn sonst wird es mitunter buchstäblich unmöglich sein, den Worten einen zusammenhängenden Sinn zu verleihen. Was immer unklar sein mag in bezug auf das Gedicht "Weltseele", eines steht fest: Es gibt nur einen einzigen Sprecher, der eine Gruppe von Hörern anredet. So scheint es jedenfalls. Aber während an der Einzigkeit des Sprechers wohl nicht zu rütteln ist, glauben manche Interpreten, mehr als nur eine Gruppe von Angeredeten ins Spiel bringen zu müssen. Doch ehe ich die Gründe für diese Ansicht nenne, möchte ich in groben Zügen den Inhalt unseres Gedichts ins Gedächtnis rufen: Der Großteil der 36 Verse des Gedichts liest sich wie eine Imitation der biblischen Schöpfungsgeschichte. Nachdem das sprechende Subjekt des Gedichts die Angeredeten in der ersten Strophe angewiesen hat, sich in alle Gegenden zu verteilen und das Universum auszufüllen, gehen die schildernden Anweisungen vom Firmament über die Erde, das Wasser, die Pflanzenwelt hin zum ersten Menschenpaar, bei dem das "unbegrenzte Streben" der diesen Entwicklungsprozeß durchwaltenden Kräfte zur Ruhe kommt. Abschließend sagt der Sprecher: Und so empfangt mit Dank das schönste Leben Vom All ins All zurück. Um das mit diesem Gedicht Gemeinte wenigstens umrißhaft zu begreifen, müssen wir, wie gesagt, verstehen, wer spricht und wer angesprochen wird; wir müssen erfahren, wer die Anweisungen gibt und welches die Kräfte sind, die das All ausfüllen, "schöpf'risch jung" wirken, dem Stein "die festen Formen vorschreiben" und schließlich "als das erste Paar" auf "den grünen Auen erstaunen" sollen. Auf den ersten und womöglich auch auf den zweiten Blick scheint es keinen Zweifel daran geben zu können, daß die Stimme des Gedichts die Stimme Gottes ist, daß also Goethe hier, wie ein Interpret ganz zu Recht anmerkt *7*, wie im Prooemion "im Namen dessen" spricht, "der Sich selbst erschuf". Dies wollen wir fürs erste so gelten lassen. Doch nun stellt sich immer dringlicher die Frage, wer denn die Angeredeten sind. Der Beantwortung dieser Frage steht eine erhebliche Schwierigkeit entgegen, die in den ersten Zeilen des Gedichtes liegt. Dort heißt es: Verteilet euch nach allen Regionen Von diesem heil'gen Schmaus! Begeistert reißt euch durch die nächsten Zonen Ins All und füllt es aus! Was für ein Schmaus ist das, von dem hier die Rede ist? Es wird angenommen, daß sich dieses Wort auf einen konkreten Anlaß bzw. auf eine Reihe konkreter Anlässe bezieht, nämlich auf das sogenannte Mittwochskränzchen, eine in Weimar regelmäßig gebotene Gelegenheit zum geselligen Austausch, die auch die jungen Jenaer Naturforscher und Denker - unter ihnen Schelling - manchmal wahrnahmen. Der Bezug auf einen solchen Anlaß würde auch die Zuordnung des Gedichts zu den "Geselligen Liedern" erklären. Außerdem, meint etwa Emil Staiger, höre man schon am "Ton" des Gedichts, daß es "nicht buchstäblich ernst genommen werden" dürfe. Staiger fährt fort: Leicht übertrieben und eifrig beteuernd, trifft [der Ton] genau den Gemütszustand auf dem Höhepunkt eines kleinen Gelages, den Schwung, den ein Rest von Besonnenheit noch mit heiterer Skepsis überwacht. Schon dies ist ja ein dem galanten Charakter des Mittwochskränzchens gemäßer Spaß, daß immer zwei Monaden sich zu ihrem Tun zusammenfinden und nach dem Flug durch alle Zonen der Schöpfung als paradiesisches Paar auf Erden wiedererscheinen müssen. Der Anlaß aber, der Schmaus, wird in der Fülle der Gesichte völlig vergessen.*8* Und so weiter. Nun, es mag sein, daß ein solches Mittwochskränzchen mit oder ohne Beteiligung der Jenaer Naturphilosophen, deren Gedanken laut Staiger den Schmaus "geheiligt" haben, der Anlaß gewesen ist, der Goethe zu dem Gedicht inspiriert hat. Es ist auch nicht auszuschließen, daß das Gedicht beim Vortrag in diesem Kreise als Anspielung auf dort geführte Gespräche verstanden worden ist. Doch erstens bleibt mir zumindest der Ton, der nach Staiger "genau den Gemütszustand auf dem Höhepunkt eines kleinen Gelages" treffen soll, verborgen. Der Ton des Gedichtes ist, soweit ich dafür ein Ohr habe, durchweg nobel und gehalten; die Bilder und die Wortwahl sind viel zu kompliziert, um einer harmlosen oder gar gelageähnlichen Gelegenheit zu entsprechen. Zweitens würde eine Deutung, die ganz auf eine derart private Gelegenheit bezogen bleibt, das Gedicht unverständlich machen für jemanden, der über diesen zufälligen Bezug nicht Bescheid weiß. Wie wäre dann etwa Goethes Entscheidung zu erklären, das Gedicht in der Abteilung Gott und Welt neben dem Prooemion, den Metamorphose- Gedichten und den Urworten, Orphisch abzudrucken? Die Tendenz von Stalgers Interpretation erscheint mir grundverkehrt. Aufhorchen lassen sollte Staigers Wort "Monaden", das er zur Schilderung des "galanten" Treibens beim Mittwochskränzchen verwendet. Das aus dem Griechischen abgeleitete und vor allem durch das System Leibniz' zu philosophischen Ehren gelangte Wort "Monade" bedeutet soviel wie "Einheit", etwas Einfaches, das sich in keine weiteren Bestandteile zerlegen läßt, also in etwa "Atom". Goethe gebraucht in diesem Sinne auch das Wort "Entelechie". Monaden oder Entelechien sind individuelle Wesenheiten, die leben und sich entwickeln. So heißt es bei Goethe etwa: Die Frage über die Instinkte der Tiere läßt sich nur durch den Begriff von Monaden und Entelechien auflösen. Jede Monade ist eine Entelechie, die unter gewissen Bedingungen zur Erscheinung kommt. *9* Das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, ist einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentümlichkeit desselben jedoch bleibt uns und andern ein Geheimnis. *10* Von Monaden und von Weltseelen ist die Rede in einem von Johannes Daniel Falk aufgezeichneten Gespräch mit Goethe, das nach Staiger das Gedicht "Weltseele" erklären hilft. In Falks Aufzeichnungen heißt es zum Beispiel, Goethe habe folgendes gesagt: Ich nehme verschiedene Klassen und Rangordnungen der letzten Urbestandteile aller Wesen an, gleichsam der Anfangspunkte aller Erscheinungen in der Natur, die ich Seelen nennen möchte, weil von ihnen die Beseelung des Ganzen ausgeht, oder noch lieber Monaden - lassen Sie uns immer diesen Leibnizischen Ausdruck beibehalten! Die Einfachheit des einfachsten Wesens auszudrücken, möchte es kaum einen bessern geben. - Nun sind einige von diesen Monaden oder Anfangspunkten, wie uns die Erfahrung zeigt, so klein, so geringfügig, daß sie sich höchstens nur zu einem untergeordneten Dienst und Dasein eignen. Andere dagegen sind gar stark und gewaltig. Die letzten pflegen daher alles, was sich ihnen naht, in ihren Kreis zu reißen und in ein ihnen Angehöriges, das heißt in einen Leib, in eine Pflanze, in ein Tier, oder noch höher herauf, in einen Stern zu verwandeln. Sie setzen dies so lange fort, bis die kleine oder große Welt, deren Intention geistig in ihnen liegt, auch nach außen leiblich zum Vorschein kommt. Nur die letzten möchte ich eigentlich Seelen nennen. Es folgt hieraus, daß es Weltmonaden, Weltseelen, wie Ameisenmonaden, Ameisenseelen gibt, und daß beide in ihrem Ursprunge, wo nicht völlig eins, doch im Urwesen verwandt sind. *11* Hier ist anzumerken, daß Falks Aufzeichnungen von ihrem Autor gewiß stark bearbeitet worden sind. Es handelt sich also nicht um eine besonders zuverlässige Quelle. Dennoch läßt der eben zitierte Text einiges von Goethes Gedanken erkennen. Die Idee von Mikrokosmos und Makrokosmos, auf die hier mit den Worten "kleine oder große Welt" Bezug genommen wird, und der Gedanke einer Stufenleiter der ursprünglich verwandten und sich auseinander entwickelnden Wesen - dies sind Vorstellungen, die wir auch anderswo bei Goethe antreffen. Die Monaden spielen auch in der Interpretation, die Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe von Goethes Gedichten gibt, eine Rolle. Trunz schreibt im Hinblick auf das Gedicht "Weltseele": Es wird nur ein Sprecher genannt [...], und nur eine Gruppe von Angesprochenen, die er "ihr" nennt. Gemeint sind aber zwei. Einerseits spricht der Weltschöpfer zu den Monaden. Anderseits spricht der Dichter zu den jungen Naturforschern [...] *12* Gemeint sind die Naturforscher des Jenaer Kreises, die wir auch schon aus Staigers Interpretation kennen. Aber auch diese Deutung ist, wie ich meine, nicht zu vertreten. Zum einen enthält das Gedicht selbst außer der Rede vom "hell'gen Schmaus" keinen Hinweis auf eine mögliche zweite Gruppe von Angeredeten. Zum andern ist nicht einzusehen, warum sowohl die Monaden als auch die Naturforscher "den wandelbaren Flor kreisend durch die bewegten Lüfte führen" oder "mit liebevollem Streiten der feuchten Qualme Nacht verdrängen" sollen. Nein, ich glaube, das Gedicht muß derart erklärt werden können, daß nur auf einen Sprecher und auf eine einzige Gruppe von Angeredeten Bezug genommen wird. Und hier dürfte es ein guter Ausgangspunkt sein, den Schöpfer als Sprecher und die Monaden oder Entelechien als die Angeredeten aufzufassen. Ein weiterer Hinweis auf eine angemessene Interpretation des Gedichts ergibt sich aus einem fast dreißig Jahre nach der Entstehung des Gedichtes geschriebenen Brief Goethes an den mit ihm befreundeten Komponisten Zelter, der das Gedicht seinerzeit vertont hatte. Zelter fragt nach den Enstehungsumständen des Gedichts, worauf Goethe antwortet: [Das Gedicht] ist seine guten dreißig Jahre alt und schreibt sich aus der Zeit her, wo ein reicher jugendlicher Mut sich noch mit dem Universum identifizierte, es auszufüllen, ja es in seinen Teilen wieder hervorzubringen glaubte. Jener kühne Drang hat uns denn doch eine reine dauernde Einwirkung aufs Leben nachgelassen; und wie weit wir auch im philosophischen Erkennen, dichterischen Behandeln vorgedrungen sein mögen, so war es doch in der Zeit von Bedeutung und wie ich tagtäglich sehen kann, anregend und anleitend für manchen. *13* Der in diesen Sätzen ausgesprochene Kerngedanke besagt, daß Goethe - angeregt vielleicht auch durch den Jenaer Kreis - damals, also um 1800, eine Auffassung vertrat, für die die Idee der Identifizierung mit dem Universum und der Neuschöpfung des Universums aus eigenen Kräften bestimmend ist. Dieser Gedanke wirkt, wie Goethe schreibt, immer noch "anregend und anleitend" nach, auch wenn die eigene Auffassung in der Zwischenzeit in den Details modifiziert worden ist. Nun haben wir das Material beisammen, um eine klare Deutung des Gedichts zu geben. Der "heil'ge Schmaus" ist nichts anderes als ein durchaus traditionelles Bild für das einfühlende, um wirkliches Verstehen ringende Auffassen der Welt. Das forschende und erkennende Subjekt - das zugleich der Sprecher des Gedichts ist - nimmt die Welt in sich auf, sei es durch Sinneswahrnehmung, Experiment, Lektüre oder den Austausch mit anderen. Um die Welt wirklich zu begreifen, genügt die bloße Aufnahme nicht. Der Mensch muß produktiv sein, um wahrhaft zu verstehen; er muß selber machen - tätig erzeugen -, was ihm nicht fremd bleiben soll. Zu diesem Zweck entläßt er sich selbst - oder wenn man so will: seine Seele, seine Monade - in die Welt, diese Welt neu schaffend und in selbsterzeugten Monaden sich spiegelnd. Das Ich, das die Welt begreifen will, bildet aus sich heraus die Kometen, Sonnen und Planeten; es erzeugt den Stein, wird zur Pflanze, entäußert sich selbst in der "gestaltenreichen Schar", von der Goethe spricht. Sobald diese Schöpfung oder Selbstentäußerung im Menschen ihren Abschluß findet, sollte die gewonnene Erkenntnis im Gefühl der Dankbarkeit münden, in einem Gefühl, das Goethe auch "Ergebung" nennt. Indem der erkennende Schöpfer in Dankbarkeit auf das Erkundete zurückblickt, ruft er die durch Selbstentäußerung erzeugten Geschöpfe wieder in sich zurück, er nimmt sie in sich auf, um sie womöglich in einem "heil'gen Schmaus" wieder zu verzehren. Die Welt oder Natur kehrt so in sich selbst, d. h. in ihren Schöpfer zurück. Darum heißt es in den Schlußzeilen, die ich erneut zitieren möchte: Und so empfangt mit Dank das schönste Leben Vom All ins All zurück. Dies ist in groben Zügen die Auffassung, die durch das Gedicht "Weltseele" zum Ausdruck gebracht wird. Der Schöpfer und Sprecher, das ist der forschende Geist, das erkenntnisgierige Ich, das in seiner nach- und neuschaffenden Selbstentäußerung in seinen Kreaturen gewissermaßen sich selbst anspricht. In diesem Sinne hat die Schöpfung teil an ihrem Schöpfer, und in ebendiesem Sinne ist das Ich zugleich Schöpfer und Geschöpf. Diesen Gedanken - der das Ich mit dem nur als Natur und nur in der Natur existierenden Gott gleichsetzt - mag man pantheistisch oder spinozistisch nennen. Man darf nur nicht übersehen, daß Goethe diesen vielleicht nicht neuen Gedanken auf seine eigene Weise artikuliert. Wie weit die im Gedicht "Weltseele" ausgesprochenen Ideen auch vom späten Goethe geteilt werden, zeigen neben den Dichtungen viele seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten. Ich möchte hier nur die Anfangssätze aus dem Artikel "Bedenken und Ergebung" anführen, der 1820 in einem der Hefte zur Morphologie erschien: Wir können bei Betrachtung des Weltgebäudes, in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Teilbarkeit, uns der Vorstellung nicht erwehren, daß dem Ganzen eine Idee zum Grund liege, wornach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, schaffen und wirken möge. Anschauung, Betrachtung, Nachdenken führen uns näher an jene Geheimnisse. Wir erdreisten uns und wagen auch Ideen, wir bescheiden uns und bilden Begriffe, die analog jenen Uranfängen sein möchten. *14* Zurück zu Wittgenstein! Nun ist zu zeigen, daß der frühe Wittgenstein, wenn er von der Weltseele spricht, tatsächlich eine ganz ähnliche Auffassung wie die Goethes im Sinn hat. Wittgenstein schreibt an der bereits zitierten Stelle: Es gibt wirklich nur eine Weltseele, welche ich vorzüglich meine Seele nenne, und als welche allein ich das erfasse, was ich die Seelen anderer nenne. Bei Goethe wird die Einzigkeit der Weltseele dadurch zum Ausdruck gebracht, daß ich mich nachvollziehend als Schöpfer der Welt sehe, der sich in seinen Kreaturen entäußert und in ihnen spiegelt; erst durch diesen Schritt, daß ich etwas von mir selbst in die zu verstehenden Objekte hineinprojiziere, kann ich sie mir begreiflich machen. Bei Wittgenstein wird die Einzigkeit der Weltseele auf zweierlei Weise dargelegt und schließlich mit einer überraschenden philosophischen Pointe verknüpft, der dann allerdings bei Goethe nichts mehr entspricht. Diese beiden Gedankenschritte möchte ich jetzt nachzuzeichnen und zu erläutern versuchen. Der erste Schritt ähnelt im großen und ganzen dem Gedankengang, auf den wir auch bei Goethe gestoßen sind. Das fragende, forschende, erkennende Ich sieht sich der Welt gegenüber und findet, daß es sich die Dinge nur insofern zu eigen machen kann, als es ihnen etwas von sich selbst gibt. Mit anderen Worten, Verständnis des Fremden setzt voraus, daß ich etwas Eigenes in ihn (oder es) hineinprojiziere . Darum schreibt Wittgenstein, daß ich die Seele des anderen nur als etwas erfasse, was auch ich selbst besitze und vom eigenen Standpunkt aus dem anderen zuschreiben kann. An einer späteren Stelle der Tagebücher heißt es in einer Notiz vom 15. Oktober 1916: Bedenke nur, daß der Geist der Schlange, des Löwen, dein Geist ist. Denn nur von dir her kennst du überhaupt den Geist. Es ist nun freilich die Frage, warum habe ich der Schlange gerade diesen Geist gegeben. Wittgenstein geht an dieser Stelle ausdrücklich über den Bereich des menschlichen Seelenlebens hinaus. Der Versuch, den anderen durch Projektion es eigenen Ichs in ihn zu begreifen, kann also nicht mehr als bloß erfahrungsbezogenes Analogieargument gedeutet werden, denn der Geist des Löwen oder der Schlange ist ja - sofern wir uns überhaupt zu dieser Redeweise bequemen können - grundverschieden von dem des Menschen. Ganz deutlich wird die Parallele zu der bei Goethe festgestellten Auffassung, wenn Wittgenstein fragt: "Warum habe ich der Schlange gerade diesen Geist gegeben?" Wie das weltschöpfende Subjekt bei Goethe, so stößt auch das Ich Wittgensteins im ihm gegenüberstehenden Objekt auf einen Geist, den es selbst erst diesem Objekt verliehen hat. Doch Wittgensteins Antwort auf die Frage, warum ich der Schlange gerade diesen Geist gegeben habe, fällt etwas spezifischer aus als Goethes Darlegung und leitet über zu dem angekündigten zweiten Schritt. Die Antwort, schreibt Wittgenstein, liege nämlich in folgendem: Wenn ich so aussähe wie die Schlange und das täte, was sie tut, so wäre ich so und so. Da gleiche beim Elefanten, bei der Fliege, bei der Wespe. Die Projektion des eigenen Ichs in den anderen gelingt demnach nur über das Ausdrucksverhalten dieses anderen. Sie wird vollzogen durch einEinfühlen in seine im Ausdruck zutage tretenden Eigentümlichkeiten. Doch damit wird der Körper und sein Verhältnis zum Seelischen in einer Weise thematisiert, die über das bisher Besprochene hinausgeht. Dies wird deutlich, wenn Wittgenstein fortfährt: Es fragt sich aber, ob nicht eben auch hier wieder (und gewiß ist es so) mein Körper mit dem der Wespe und der Schlange auf einer Stufe steht, so daß ich weder von dem der Wespe auf meinen, noch von meinem auf den der Wespe geschlossen habe. Ist das die Lösung des Rätsels, warum die Menschen immer glaubten EIN Geist sei der ganzen Welt gemein? Und dann wäre er freilich auch den unbelebten Dingen gemeinsam. Nachdem sich das Ich durch Selbstprojektion in die anderen versetzt hat, wendet es sich auf sich selbst zurück und erkennt, daß der eigene Körper auf derselben Stufe steht wie die fremden Körper; daß es im Hinblick auf die Erkenntnis für mich keinen wesentlichen Unterschied gibt zwischen meinem Körper und dem der anderen. Für diese Auffassung finden sich bei Wittgenstein eine ganze Reihe von Argumenten, die sich ganz grob formuliert vielleicht wie folgt zusammenfassen lassen *15*: Soweit ich vom eigenen Körper im selben Sinne wie vom Körper des anderen etwas sagen kann, beruhen diese Sätze auf keiner anderen Art von Wissen oder Belegen als bei meinen Aussagen über den Körper des anderen. Freilich, daß ich Kopfschmerzen habe, das kann ich zu Recht sagen, ohne im Spiegel meinen Kopf zu betrachten. Doch diese Äußerung beruht nicht auf irgendeiner Art von Wissen, sondern ich habe die Schmerzen einfach. Dagegen beruht meine Äußerung, daß ich eine Wunde an der Stirn habe, auf Belegen der gleichen Art wie die Aussage des anderen, wenn dieser behauptet, daß ich eine Wunde an der Stirn habe. Es gibt hier zwar Asymmetrien zwischen meinen Äußerungen und den Äußerungen des anderen - Beispiel: "Ich habe Rückenschmerzen" / "Er hat Rückenschmerzen" einerseits und "Ich habe eine blutende Wunde am Rücken" / "Er hat eine blutende Wunde am Rücken" andererseits -, doch diese Asymmetrien haben nichts mit dem zu tun, was sich durch Sätze über Gegenstände der Wahrnehmung und der objektiven Erkenntnis ausdrücken ließe. Es wird also in der Sprache deutlich, daß meine Aussagen, soweit sie Aussagen über objektiv Erkennbares und Überprüfbares sind, auf keiner anderen Grundiage ruhen als die des anderen. Und unsere Sätze über Körperliches - gleichviel, ob es um den eigenen Körper geht oder um den anderer Wesen - sind, soweit sie Sinn haben, stets Sätze über objektiv Erkennbares und grundsätzlich Überprüfbares. Sobald wir etwas über die Gegenstände der Erfahrungserkenntnis sagen wollen, handeln wir von einem Bereich, in dem sich die Haltung des einsamen Ich, des sich in die Dinge entäußernden Weltschöpfers nicht unmittelbar artikulieren läßt. Wenn ich von der Welt der Erfahrung, der objektiven Erkenntnis, der wissenschaftlichen Forschung rede, fällt das Ich - mein Ich, durch das mir die Welt doch erst zugänglich wird - durch die Maschen des Netzes der sinnvollen Sprache. Das Ich "schrumpft", wie Wittgenstein im Tractatus (5.64) schreibt, "zum ausdehnungslosen Punkt", von dem aus mir die Welt gegeben ist, ohne daß ich diesen Punkt seinerseits in den Griff bekommen könnte. Damit haben wir den anfangs erwähnten Schlüssel gefunden, der uns helfen soll zu entscheiden, "inwieweit der Solipsismus eine Wahrheit ist". Der Solipsismus ist eine Lehre, wonach nur das eigene Ich mit seinen Inhalten Realität hat. Vielfach ist behauptet worden, daß der Solipsismus offensichtlich hirnverbrannter Unsinn ist. Aber wenn eine Idee offensichtlich unsinnig wirkt, liegt das oft daran, daß man ihr nicht die richtige Deutung gegeben hat. Was den Solipsismus betrifft, kann man sicher eine ganze Reihe von Interpretationen anführen, die ihn als eine durchaus verständliche, sogar plausible Grundhaltung des Menschen erscheinen lassen. Auch die Einstellung des die Welt nachschöpfenden Erkenntnissubjekts ist im Grunde solipsistisch, denn die ganze Welt soll hier aus dem einen und einzigen Ich des Schöpfers hervorgehen und nur insoweit verständllch sein, als sie von diesem beseelt wird. Zu wirklicher Erkenntnis aber führt diese Haltung bloß dann, wenn sie über sich selbst hinausgeht; wenn sich das Ich sozusagen ganz in der Welt verliert. Dies ist die Pointe des bei Wittgenstein ausdrücklich formulierten zweiten Schritts. Dessen Resultat wird von Wittgenstein durch zwei Bilder verdeutlicht, die ich abschließend erwähnen möchte. Das erste Bild ist das eingangs zitierte Vorhaben, ein Buch zu schreiben unter dem Titel "Was für eine Welt ich vorfand". In diesem Buch, meint Wittgenstein, wäre auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen etc. Dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, daß es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche NICHT die Rede sein. Mit andern Worten: Wenn alles gesagt ist, was sich sinnvoll sagen läßt, haben wir das Subjekt - also eben jenes Ich, das die Welt doch erst vorfindet - noch gar nicht erwähnt. Dieses Ich bleibt notgedrungen aus dem Buch "Was für eine Welt ich vorfand" ausgeschlossen; es kann nicht thematisiert werden, denn es gehört, wie Wittgenstein an anderer Stelle schreibt, nicht zur Welt, sondern es ist die Grenze der Welt *16*: also der Punkt, der nötig ist, um überhaupt aus einer bestimmten Perspektive die vorfindliche Welt erkennen und beschreiben zu können, der aber seinerseits nie in den Blick kommt und daher kein möglicher Gegenstand sinnvoller Beschreibung ist. Das zweite Bild, mit dem Wittgenstein die gewonnene Einsicht darstellt, ist das eines Weges, der zur Erkenntnis führt, wenn man ihn in allen seinen Stadien zurücklegt. Wittgenstein schreibt: Der Weg, den ich gegangen bin, ist der: Der Idealismus scheidet aus der Welt als unik die Menschen aus, der Solipsismus scheidet mich allein aus, und endlich sehe ich, daß auch ich zur übrigen Welt gehöre, auf der einen Seite bleibt also nichts übrig, auf der anderen als unik die Welt So führt der Idealismus streng durchdacht zum Realismus. Damit gelangt die Weltseele an ihr Ziel. Ich habe keinen Grund und kein Recht mehr, sie "vorzüglich" die meine zu nennen. Sie ist nun ganz in der Welt, in die ich mich durch Identifikation mit ihr und mit den Dingen verloren habe, sofern es mir gelungen ist, den beschriebenen Weg bis zum Ende zu verfolgen. Eben hierin liegt natürlich eine weitere Ähnlichkeit zwischen Wittgenstein und Goethe. Zur Erkenntnis gelange ich nicht durch passive Kontemplation. Ich muß tätig werden und, als wollte ich die Welt neu schaffen, mit meinem ganzen Wesen in die Dinge eindringen. Erst wenn ich den Weg bis zu Ende gegangen bin, kann ich im Gefühl der Dankbarkeit oder Ergebung "vom All ins All zurück" zu kehren trachten, nun freilich im Bewußtsein, daß es bloß ein ausdehnungsloser Punkt ist. FUSSNOTEN: *1* McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre (Frankfurt: Suhrkamp, 1989), S. 448. *2* An Ottoline Morrell, 20. Dezember 1919, Briefe, S. 100 f. *3* Werke, Bd. 1, S. 141 f. *4* WWV II § 28 (Hg. L. Lütkehaus, Zürich: Haffmans, 1988, S. 408 f.). *5* Weininger, Über die letzten Dinge (Wien und Leipzig: Wilhelm Braumüller, 1918), S. 139. *6* Ebd., S. 138. *7* Trunz, Hamurger Ausgabe = HA 1, S. 648. *8* Staiger, Goethe, Zürich: Artemis, 1956, II, S. 444. *9* Maximen und Reflexionen, HA 12, S. 371 (46). *10* Ebd., S. 396 (227). *11* Gespräch mit Falk, Weimar, Januar 1813. Biedermann II, Zürich: Artemis, 1969, S. 771 f. *12* HA 1, S. 648. *13* Goethe an Zelter, Weimar, 20. Mai 1826, HAB 4, S. 190. *14* "Bedenken und Ergebung", HA 13, S. 31. *15* Die Formulierung - wenn auch nicht die Grundidee - dieses Gedankenganges stützt sich eher auf spätere Äußerungen Wittgensteins. Im Frühwerk wird diese Grundidee besonders durch das Bild vom Auge und Gesichtsfeld zum Ausdruck gebracht (vgl. etwa Tractatus 5.6331). *16* Tractatus 5.632