øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø File: 16-2-94.TXT - 25 KB ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø Thorsten Jantschek, Frankfurt - Germany ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø Destruieren als Philosophieren: Buchbesprechung zu: ø ø *Matthias Kroß: Klarheit als Selbstzweck* ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø ø ø ø Jantschek, Thorsten (1994) Destruieren als Philosophieren. ø ø Buchbesprechung zu: Mathias Kroß: Klarheit als ø ø Selbstzweck - Wittgenstein über Philosophie, Religion, ø ø 'Identität'; in: Wittgenstein Studies 2/94, File: 16-2-94; ø ø Ethik und Gewißheit; in: Wittgenstein Studies 2/94; hrsg. v. ø ø K.-O. Apel, F. Börncke, N. Garver, P. Hacker, R. Haller, ø ø G. Meggle, K. Puhl, Th. Rentsch, A. Roser, J.G.F. Rothhaupt, ø ø J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, ø ø W. Vossenkuhl (3 1/2'' Diskette), ISBN 3-211-82655-6, ø ø ISSN 0943-5727 ø ø ø øøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøøø Klarheit sei für ihn Selbstzweck, notierte Wittgenstein 1930 (VERMISCHTE BEMERKUNGEN, S. 459). *1* Das Motiv der Klarheit (PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, § 133) bildet den Leitfaden der Wittgensteininterpretation "Klarheit als Selbstzweck" von Matthias Kroß (Berlin, 1993). Diese widmet sich den im Vergleich zu Fragen der Bedeutungs- oder Sprachtheorie von den Interpreten Wittgensteins weniger ausgearbeiteten Themen der Religion, Ethik und Gewißheit, die für Wittgenstein von erheblicher Bedeutung waren. Der Autor versucht, die oft bestrittene Kontinuität des Wittgensteinschen Denkens, die sich an Ausdrücken wie 'Wittgenstein I und II' zeigt, an diesen Themen exemplarisch darzulegen. Am Leitmotiv der Klarheit als Selbstzweck verfolgt Kroß diese Themen in der Früh- und Spätphilosophie Wittgensteins. Die Darstellung sieht sich dabei selbst dem Ideal der Klarheit verpflichtet. Die Aufklärung des Lesers vollzieht sich dabei in sieben Kapiteln, die gleich den sieben Hauptsätzen des TRACTATUS aufeinander verweisen, aber selbständig für sich verstanden werden können. Die Darstellung von Kroß besteht in einer siebenstufigen Destruktionsleiter, die eine Rehabilitation der Philosophie als Tätigkeit sein will, und für die Kroß das Wittgensteinsche "I destroy, I destroy, I destroy"(VERMISCHTE BEMERKUNGEN, S. 479) ernst nimmt. So erscheint Wittgensteins Philosophie zunächst als eine grandiose Zertrümmerung der abendländischen Philosophietradition. Schon bei der Beschreibung der literarischen Form des TRACTATUS geht Kroß von der durch den TRACTATUS selbst vollzogenen Destruktion der durchgehaltenen Darstellungssystematik philosophischer Texte so aus, daß dieser als eine Sammlung von Aphorismen derart gelesen werden kann, daß aufgrund der relativen Eigenständigkeit der Hauptsätze etwa beliebig gesprungen werden könne (21), - keine systematische Ordnungshierarchie besteht mehr. Dies begründet Kroß unter Verweis auf das Postulat der Gleichwertigkeit aller LOGISCHEN Sätze. Bei Wittgenstein selbst allerdings bezieht sich diese Gleichwertigkeit vornehmlich auf den tautologischen Charakter formallogischer Sätze. Gleichwertig im, wenn man so reden möchte, emphatischen Sinne sind sie, weil sie sich auf die Form der Welt überhaupt beziehen, auf die Weltmöglichkeit sozusagen, weniger aber bezieht die Gleichwertigkeit sich auf die Sätze des TRACTATUS selbst, die ja keine logischen Tautologien sind, sondern "unsinnige" Sätze über die logische Form. Richtig ist sicherlich, daß der TRACTATUS die Idee eines geschlossenen philosophischen Systems ad absurdum geführt hat, aber die These, daß in ihm gar keine systematische Ordnungshierarchie besteht, ist sicher auch dann zu stark, wenn man den aphoristischen Stil des TRACTATUS anerkennt. Die systematische Ordnung der Wittgensteinschen Untersuchung zeigt sich besonders deutlich im logischen Teil des TRACTATUS. Auch stehen die sogenannten Hauptsätze in einer aufeinanderfolgenden Ordnung. Man kann geradezu von einer traditionellen Gliederung in Welt, Denken und Sprache als Ausdruck des Denkens sprechen, und zwar derart, daß die Ontologie (Satz 1 und 2) die Erkenntnistheorie (Satz 3) fundiert, die ihrerseits wiederum die Sprachtheorie (Satz 4-6) fundiert. Diese "Fundierung" allerdings ist ein DARSTELLUNGSLOGISCHES Verhältnis, nicht ein Begründungsfundamentalismus, denn Welt und Sprache gelten Wittgenstein ja als gleichursprünglich. Von einem darstellungslogischen Verhältnis zu sprechen, heißt auch nicht, daß die Sätze auseinander im logisch-deduktiven Sinn geschlossen werden. Als darstellungslogisches Verhältnis stehen diese Sätze jedoch in einer nicht zufälligen Ordnung, so daß das 'ist' der Hauptsätze als quasi-reduktive Definition einer Folge fungiert. Denken etwa IST (nicht mehr als) sinnvolles Sprechen. Zweck der Wahl der aphoristischen Form ist nach Kroß die Destruktion der Philosophie als Lehre, worin sich der Übergang von der Wahrheit als Selbstzweck zu einem Konzept von Klarheit als Selbstzweck zeigt. Gemeint ist damit die Abweisung der Philosophie als Lehrbuchwissen, als ein propositionales Wissen, das sich, wie das der empirischen Wissenschaften, in wahren Behauptungssätzen ausdrücken läßt, mithin im Modus des "Sagens" arbeitet. Kroß macht hier die Unterscheidung von "Sagen" und "Zeigen" nicht hinreichend deutlich. So wird der Satz 4.116 des TRACTATUS "Alles, was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen." dem Programm der Klarheit zugeschlagen.(27) D.h. es kann der Eindruck entstehen, die Sätze des TRACTATUS seien selbst klar GESAGTE, was aber unmöglich ist, denn das Programm der Klarheit ist ein philosophisches, SAGEN im Sinne des TRACTATUS lassen sich aber nur die Sätze der Naturwissenschaften. Das Wittgensteinsche Programm bezieht sich auf die Klarheit, die Durchsichtigkeit der FORM DER DARSTELLUNG, oder um die Kontinuität der Wittgensteinschen Philosophie zu betonen, auf die logische Grammatik. Ziel der unsinnigen Sätze der Philosophie ist somit die Klärung des alltäglichen oder wissenschaftlichen Redens. Mit der selbstkritischen Revision des Idealsprachenprogramms radikalisiert sich nach Kroß dieses Destruktionsprogramm zugunsten der irreduziblen Mannigfaltigkeit von Sprachspielen. Dadurch wird nicht nur jeglicher Essentialismus von vornherein ausgeschlossen, es ist bei Kroß vielmehr bereits hier der Grundstein einer relativistischen Wittgensteininterpretation gelegt, was sich im folgenden zeigen wird. So wird etwa auch Wittgensteins Gebrauch von Beispielen, neben vielen erhellenden Erläuterungen, in den Dienst der Abweisung eines philosophischen Essentialismus gestellt, denn Wittgenstein gelange "zu einer Sprachkonzeption, für die die Beispielverwendung deshalb unverzichtbar sein muß, weil sie die Regularität des Sprechens aus der Umklammerung durch die cartesianische Bewußtseinsphilosophie löst und der Geschichte, d.h. den historisch variablen Lebensformen überantwortet." (49) Die antiessentialistische Perspektive wird in der Kritik des Idealsprachenprogramms besonders hervorgehoben. Nach Kroß ist es eine Funktion des häufigen Beispielgebrauchs, den Blick auf die irreduzible Mannigfaltigkeit der Sprachspiele zu richten, was philosophisch bedeute, "der seit Platon in der europäischen Denktradition vorherrschenden Lehre von der Höherwertigkeit des Allgemeinen (Begrifflichen) gegenüber dem Besonderen (Phänomenalen)" entgegenzusteuern. (51) Diese These scheint mir überpointiert, denn Wittgenstein geht es doch bei aller Lokalität der Sprachverwendungen darum, am Besonderen das ALLGEMEINE hervorzuheben, das Typische. Auf der dritten Stufe der Destruktionsleiter geht es um das Philosophieverständnis im allgemeinen. Kroß rekonstruiert Wittgensteins Philosophie als Destruktion philosophischer Letztbegründungsstrategien. Vor dem Hintergrund einer sukzessiven Zerstörung der Philosophie als Lehre wird die Philosophie als Tätigkeit rehabilitiert, so daß "mit Wittgensteins Programm der PHILOSOPHIE ALS TÄTIGKEIT die Destruktion einer Vorstellung von Philosophie in Angriff genommen wird, die sich bis Platon zurückverfolgen läßt." (97) So wird die Philosophie als theorienbildende Disziplin abgewiesen, was mit der Ablehnung einer universal gültigen Logik verbunden ist, an deren Stelle die lokale Grammatik disparater Sprachspiele, die an unterschiedliche Lebensformen gebunden sind, tritt. Aufgrund der Revision des Idealsprachenprogramms hält es Kroß mit Blick auf den späten Wittgenstein für verfehlt, "die Pluralität des 'alltäglichen' Sprachgebrauchs und die Autonomie der Sprache als sprachphilosophisch gewendete Transzendentalphilosophie zu interpretieren". (93) Das aber folgt meines Erachtens nicht notwendig aus der Kritik des Idealsprachenprogramms, ja Wittgenstein bedient sich sogar dezidiert des transzendentalphilosophischen Grundmotivs, ohne die daraus folgenden Ergebnisse absolut zu setzen und damit wieder unter Metaphysikverdacht zu geraten:"Es ist uns, als müßten wir die Erscheinungen DURCHSCHAUEN: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die ERSCHEINUNGEN, sondern, wie man sagen könnte, auf die 'MÖGLICHKEITEN' der Erscheinungen." (PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, §90) Es scheint mir so zu sein, daß für Wittgenstein die "schlechte" Metaphysik größtenteils nicht durch einen UNIVERSALISTISCHEN Sprachgebrauch zustande kommt, sondern entweder durch eine zu große Allgemeinheit, d.i. die Reduktion eines komplexen Sprachgebrauchs auf EINE Verwendung. Er warnt also nur vor zu GROSSER Allgemeinheit, d.h. vor der Tendenz, das exemplarisch Herausgearbeitete leichtfertig auf alle ähnlichen Fälle zu übertragen, weshalb die wissenschaftlichen Theorien oft an einer "einseitigen Diät" der Beispiele leiden. (PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, § 593) Oder aber, und das ist ein zentraler Gedanke, die "schlechte" Metaphysik resultiert aus der allgegenwärtigen Neigung des vorstellenden Denkens, die Semantik nach dem Muster Name-Gegenstand bestimmen zu wollen. Hier unterliegen wir häufig einer Verdinglichungstendenz, vor der zu warnen Wittgenstein nicht müde wird. Das transzendentale Motiv in Wittgensteins Denken bedeutet nun natürlich nicht irgendeine Art der Letztbegründung, es weist aber auch nicht in Richtung eines Relativismus. Wenn die grammatischen Regeln so willkürlich sind wie die Maßeinheit beim Messen, wie Kroß mit Wittgenstein betont, so heißt das im Kontext doch nur, daß die Regeln den praktischen Zwecken, für die wir sie benötigen, angemessen sein müssen. Die Praxis, hier die des Messens, ist entscheidend, nicht die Maßeinheit, entscheidend ist jedoch, DASS wir (irgend)eine geeignete Maßeinheit benötigen. Die sprachlichen Zeichen erhalten ihre Bedeutung in bezug auf die Lebensformen, wie Kroß auch klar ausführt, aber auch hier hängt es davon ab, in welchem Sinne dieser Begriff relativistisch zu verstehen ist. Für das systematisch zentrale vierte Kapitel ist die Destruktion der Religion als Lehre der Selbstzweck, wohingegen der Glaube als Haltung zur Welt und zum Leben von Wittgenstein rehabilitiert werde. In diesem Kapitel gelingt es Kroß, den selbstgesetzten Anspruch auf Klarheit einzulösen. Im Kern steht die Erläuterung der religiösen Haltung im Rahmen individueller Sinnstiftung:"Das Problem der Sinnstiftung individueller Existenz löst sich durch den Wandel der philosophischen Haltung, welche die Unsinnigkeit metaphysischer Antworten durchschaubar und die Fragestellung als verfehlt erkennbar werden läßt (_)."(104) Wittgensteins Anspruch des 'I destroy' wird hier wirklich deutlich. Er besteht darin, daß Wittgenstein die Unmöglichkeit der Beantwortung existentieller Fragen durch die Wissenschaften nachweist, zu denen die Theologie ebenso zählt wie die Physik oder auch die Philosophie, wenn sie sich auf das 'wissenschaftliche' Sprachspiel einläßt. Dadurch wird eine Verwirrung gestiftet, indem miteinander in praktischer Hinsicht inkompatible Sprachspiele vermischt werden. Während in der Frühphilosophie der Glaube als Haltung in engster Beziehung zum Philosophieren dazu führt, die Welt richtig zu sehen, deren Sinnhaftigkeit im glücklichen Leben als eine durch das Philosophieren eingenommene Haltung zu ZEIGEN, so tritt die Religiosität in der Spätphilosophie dadurch ein, daß die Grammatik auch des religiösen Sprachspiels nicht unter dem Primat der Referenz gesehen werden kann, der Sinn religiöser Ausdrücke vielmehr durch eine bestimmte Lebensweise zum Ausdruck kommt, sich darin zeigt. Nicht das Für-wahr-halten von Glaubensinhalten steht im Zentrum des Interesses, sondern die Form der Praxis selbst. Wahrheit ist im wissenschaftlich Sinne mithin nicht die Voraussetzung aller Sprachspiele, sondern nur eine Funktion BESTIMMTER Sprachspiele. Genau hier erfolgt die Grenzlinie zwischen Glaube und Aberglaube. Während der Glaube sich in der Praxis direkt zeigt, bedient sich der Aberglaube (ggf. vermeintlich wissenschaftlicher) Begründungen von Glaubenssätzen und des Einsatzes des ganzen epistemischen Vokabulars, was zur Ausdehnung der wissenschaftlichen Methode auf Bereiche, für die sie nicht geeignet ist, führt. Der Glaube ist eine Art Vertrauen, wohingegen der Aberglaube falsche Wissenschaft ist. Religiöse Begriffe, wie etwa der Gottesbegriff, lassen sich also nicht nach dem Sprachspiel der Wissenschaften, nach dem semantischen Modell Name-Gegenstand verstehen. So gesehen wird etwa anhand des Gottesbegriffes die radikale Verdinglichungskritik, die oben angesprochen wurde, durchgeführt. Diese sperrt sich strikt gegen den Versuch, Glaubensinhalte als (Quasi-)Tatsachen im strengen Verständnis zu begründen. So besteht auch für den Gottesbegriff das Sinnkriterium in einer bestimmten Lebenspraxis. In direkter begrifflicher Nachbarschaft zu einer derart praktisch aufgefaßten Religion diskutiert Kroß Wittgensteins spärliche Bemerkungen zur Ethik, der sich auch hier gegen eine Ethik wendet, die als eine Lehre auftritt, und ein eindeutig bestimmtes WISSEN vom richtigen Handeln vermitteln möchte. Das Ethische kommt, was den frühen Wittgenstein betrifft, nur mit dem Religiösen zum Ausdruck. Was gut ist, ist auch göttlich. Eine Ethik im Sinne einer "Theorie" der Moralität ist für den frühen Wittgenstein also nicht denkbar. Nicht die einzelnen Handlungen sind moralisch, sondern das wollende Subjekt ist das ethische, das gute oder böse Ich. "Wenn die Ethik sich in der Art offenbart, wie die Welt für »mich« ist, dann offenbart sie sich zugleich in »meiner« Art und Weise des Welt-Habens, d.h. in dem glücklichen bzw. unglücklichen Leben, das für Wittgenstein eo ipso das Ethische bedeutet."(135) Eine solche Konzeption einer Ethik führt natürlich nicht zur Bildung von universalisierbaren Handlungsmaximen. Das Handeln zeigt nur jeweils an, wie jemand die Welt im ganzen sieht. Kroß meint, daß daraus für Wittgenstein folge, daß ethisches Handeln weder einer Begründung, noch einer Letztbegründung zugänglich sei. (vgl. 136) Für die Sinnanalyse des Wortes 'gut' in der Spätphilosophie folge daraus die Anerkennung der Pluralität und Heterogenität von Lebensformen im Rahmen einer "anthropologisch gerichteten Analyse im Sinne der Ethos-Forschung."(139) Den daraus folgenden Relativismus sieht Kroß gleichsam als einen Fortschritt gegenüber ethischen Letztbegründungsdiskursen an. Er schreibt Wittgenstein die These zu, daß die ethische Qualität des Handelns von den intersubjektiv geteilten, aber partikular zu verstehenden Lebensformen abhängt, und rückt ihn damit, wie es mir scheint, in die Nähe kommunitaristischer Ethikauffassungen. Die in der Diskussion des religiösen Sprachspiels angedeutete Rehabilitation des Glaubens als Haltung zur Welt, im Unterschied zum Für-wahr-halten, entspricht die Rehabilitation der GEWISSHEIT gegenüber dem WISSEN. Das 'so handele ich eben', die menschliche Praxis, ist nicht weiter zu begründen. Die Praxis, deren Hintergrund in einem Weltbild besteht, ist somit unhintergehbar und die Gewißheit bildet so die Voraussetzung wahrheitsfähiger Sätze. Ein Weltbild erwerben wir aber in der Regel nicht im Modus des Wissens, sondern in dem des Glaubens. Kroß deutet die Gewißheitsproblematik konsequent relativistisch, daß nämlich Wissen in Gewißheit gründet, Gewißheit aber an kontingente Lebensformen gebunden ist, die wir mit dem Lernen einer Sprache blind annehmen. "Die Pointe dieser Untersuchung über Wahrheit und Gewißheit des Wissens besteht vor allem darin, daß sie von einer historischen Vielzahl unbegründbarer Gewißheiten als Grundlage für dubitables Wissen ausgehen könne, statt den historischen Wandel der Wissensgehalte auf der Folie eines universalistischen Wahrheitsbegriffes hinwegerklären zu müssen, der eingestandenermaßen selbst wiederum nur aufgrund der historisch- kontingenten Entwicklung des Wissens gewonnen werden könnte oder aber metaphysisch fundiert werden müßte."(156) Wahrheit ist relativ zu Weltbildern. Der Gedanke des Fortschritts verliert damit richtigerweise seine starke Bedeutung, etwa ein Paradigmenwechsel stellt keine Annäherung an eine metaphysische Wahrheit dar, er ist aber nach Kroß nicht einmal "den Standards der modernen Rationalität zugänglich".(157) Sprachgebräuche gründen in nichts weiter als in der Lebenspraxis, in der "unbegründeten Handlungsweise." (vgl. ÜBER GEWISSHEIT, § 110) Die letzte Berufungsinstanz, auf der der Spaten der Begründung sich zurückbiegt, ist die Lebenspraxis. Der Wechsel eines Weltbildes kommt nach Wittgenstein nicht durch ein im engeren Sinn (wissenschaftliches) Überzeugen zustande, sondern durch Überredung. Im Unterschied zu Kroß sehe ich aber nicht, daß diese Überredung nicht in einem schwächeren Sinne RATIONAL sein könne, in einem Sinne, den Kroß selbst als weltbildspezifisch bezeichnet. Zwar kann es, wenn zwei Prinzipien aufeinander treffen, keine rationale ENTSCHEIDUNG von einem Metastandpunkt aus geben, wohl aber den Vergleich zweier Formen der Praxis durch die TEILNAHME an, im besten Falle, der jeweils anderen. Daß bei dem diese Teilnahme VORBEREITENDEN Überredungsprozeß auch Argumente eine Rolle spielen können, scheint trivial. Nur "BEWIRKEN" die Argumente nicht gewissermaßen den Wechsel eines Weltbildes, sondern sie VERANLASSEN uns, an einer Praxis zunächst einmal teilzunehmen, die (ggf. neue) theoretische und praktische Möglichkeiten und Einsichten eröffnet. Diese "Bekehrung" muß weder im Modus des Wissens oder Beweisens vor sich gehen, noch ist sie meines Erachtens gänzlich irrational, Rationalitätsstandards werden durch eine "Konversion" nicht unbedingt außer Kraft gesetzt. Der Begriff, der im letzten und siebten Kapitel der Studie im Vordergrund steht, ist der Begriff des Lebens. Nach Kroß bildet das Leben für Wittgenstein nicht eine transzendentale Berufungsinstanz, sondern einen Grenzbegriff. Auch hier setzt sich die relativistische Deutungsweise fort, denn Äußerungen über DAS Leben meinen nicht Annahmen über das Leben im Sinne einer philosophischen Anthropologie, sondern nach Kroß ist im Wittgensteinschen Kontext damit nur gemeint, daß es sich um UNSER Leben, unsere Lebensform handelt, wie DIE Begriffe immer auch UNSERE Begriffe seien. So impliziert die Rede von unserem Leben notwendig immer auch andere Weisen des Lebens, was zur Relativität einzelner Lebensordnungen führt. Die Aufgabe der Philosophie ist damit sehr begrenzt, sie "soll die Kontingenz des Sprachhandelns herausstellen und zugleich die Konstruktion geschlossener und kohärenter Systeme im Sinne des metaphysischen Essentialismus oder Realismus als Strategien der Kontingenzkompensation verstehen lernen."(166f.) So mündet die Wittgensteinrekonstruktion von Kroß in eine mit Wittgenstein vorgetragene breit angelegte Rationalitätskritik. Resultat der Wittgensteinschen Destruktionen ist, daß eine am Leitbild der Vernunft orientierte Lebensform nur eine unter vielen möglichen ist. Lebensformen können nicht nur nicht mehr weiter begründet werden, sondern darüber hinaus ist auch die Vernunft nicht in der Lage eine Lebensform vor anderen auszuzeichnen. "Die metaphysische Legitimation für einen Gerichtshof der Vernunft [_] wird von Wittgenstein destruiert."(174) Nach Kroß ist die von Wittgenstein am Leitfaden der Klarheit als Selbstzweck durchgeführte Rationalitätskritik eine radikale, sie stelle das Scheitern des Vernunftkonzeptes überhaupt dar. "Die Destruktion der Idee von der Universalisierbarkeit ethischer, philosophischer und religiöser Sätze, ihre Einbindung in die Pluralität von Lebensformen, die Wittgenstein vornimmt, öffnet den Blick für diesen ein- und ausschließenden Aspekt von Handeln."(181) So sympathisch und gewiß richtig die Rehabilitation der Philosophie als Tätigkeit gegenüber der Philosophie als Lehre ist, so richtig die Rekonstruktion der kritisch-destruktiven Momente in Wittgensteins Denken von Kroß geleistet wird, so wenig scheinen mir daraus die relativistischen Konsequenzen zu folgen. Sie ergeben sich weder aus den Wittgensteinschen Texten, noch ergeben sie sich systematisch in der vorgetragenen Eindeutigkeit. Wittgenstein notierte dagegen in seinen Untersuchungen zur Philosophie der Psychologie:"Es ist eine wichtige Tatsache, daß wir annehmen, es sei immer möglich, Menschen, die eine andere Sprache als die unsere besitzen, unsere zu lehren. Dann sagen wir, ihre Begriffe seien die gleichen, wie unsere."(BEMERKUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE I, § 664) Von einer hermetischen Lebensform ist hier grundsätzlich nicht die Rede. Wittgenstein geht nur nicht von Beginn an von universalen Verhältnissen aus, sondern unsere Begriffe tragen so weit, wie unsere Übersetzungen reichen. Es ist freilich ein Faktum, nicht eine Notwendigkeit, daß Übersetzung bisher, mehr oder weniger, möglich war, aber es handelt sich dabei um eine tief sitzende Erfahrung, die selbst den Status einer Gewißheit verdient. Die Annahme der Möglichkeit universaler Begriffe faßt Wittgenstein natürlich prozessual und praxiseingebunden auf. Der Begriff des Lebens spielt dabei sicherlich eine nicht zu unterschätzende Rolle, nur denke ich, daß sich für bestimmte Bereiche, vielleicht nicht für alle, auch nach Wittgenstein, universale Verhältnisse ergeben. Das hängt mit der Grammatik des Wortes 'Leben' zusammen. "Sie [die Begriffe, T.J.] sind daher etwas Gemeinsames aller Wesen, die ein in etwa menschliches Leben führen. Und nur Lebewesen, die ein grundverschiedenes Leben führten, hätten andere Begriffe." *2* Für viele sehr grundlegende Begriffe des menschlichen Lebens liegen schlicht, nach allen zu Gewißheiten gewordenen Erfahrungen, universale Verhältnisse vor. Etwa die Begriffe der Schmerzen oder Empfindungen haben alle Menschen, selbst dann, wenn mit Schmerzen in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich umgegangen wird, ja selbst dann, wenn das Ausdrucksverhalten Unterschiede aufweist. Nicht die physiologische Allgemeinheit der Schmerzen besteht, wie Kroß annimmt (166), sondern, neben der physiologischen Allgemeinheit der SchmerzURSACHEN, besteht eine Allgemeinheit der SchmerzBEGRIFFE und die Allgemeinheit der Schmerzbegriffe geht der Frage nach den Ursachen logisch voraus, denn die Schmerzbegriffe konstituieren sich durch die ÄHNLICHKEIT des Ausdrucksverhaltens, welches uns vor aller Physiologie bekannt ist. Für die vorliegende Untersuchung böte der Versuch, die Entweder- Oder-Alternative, Letztbegründung oder Relativismus, zugunsten einer Alternative zwischen den Polen aufzugeben, eine Perspektive, die es erlauben würde, neben den destruktiven Elementen der Wittgensteinschen Philosophie auch deren konstruktive Momente stärker einzubeziehen. ANMERKUNGEN: *1* Alle nicht anders gekennzeichneten Verweise auf Wittgenstein beziehen sich auf die WERKAUSGABE, Frankfurt 1989. Zitate von M.Kroß sind nur durch die Seitenzahl in Klammern ausgedrückt. *2* VORLESUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE 1946/47, Frankfurt 1991, S. 94.