***************************************************************** * * * File: 14-1-95.TXT Dateilänge: 47 KB * * * * Autor: Thorsten Jantschek, Frankfurt - Germany * * * * Titel: Ein systematischer Literaturessay: * * (Besprechung des Sammelbandes von * * Eike von Savigny und Oliver Scholz * * "WITTGENSTEIN ÜBER DIE SEELE") * * * * Erschienen in: WITTGENSTEIN STUDIES, Diskette 1/1995 * * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für seine privaten * * wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind von dieser * * Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** * * * Jantschek, Thorsten (1995) WITTGENSTEIN ÜBER DIE SEELE - * * Ein systematischer Literaturessay; in: * * Wittgenstein Studies 1/95, File: 14-1-95; hrsg. von * * K.-O. Apel, F. Börncke, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, * * R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, * * Th. Rentsch, A. Roser, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, * * U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl * * (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727 * * * ***************************************************************** "Wittgenstein wird in immer höherem Maße ein Philosoph der Vergangenheit. (...) Dies ist kein Grund zur Klage, sondern zur besonnenen Inaugenscheinnahme dessen, was Wittgenstein gesagt hat." *1* (194) Mit dieser Beschreibung bestimmt J. Schulte nicht nur den gegenwärtigen Stand der Wittgensteinrezeption sehr genau, ihm gelingt damit auch eine treffliche Kennzeichnung des jüngst von Eike von Savigny und Oliver Scholz herausgegebenen Sammelbandes "WITTGENSTEIN ÜBER DIE SEELE". Endlich, so kann man sagen, wird einem Bereich der sehr späten Philosophie Wittgensteins (ca. 1946-1949) wieder eine deutschsprachige Publikation gewidmet. Während sich im angloamerikanischen Raum das Interesse an den im Umkreis der so genannten PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN II notierten Bemerkungen in einer Reihe Monographien ausgedrückt hat *2*, bleibt in Deutschland die Rezeption seit J. Schultes "ERLEBNIS UND AUSDRUCK" (1987) verglichen mit der Rezeption der Sprachphilosophie im engeren Sinne, eher blaß. So gesehen füllt der Band eine empfindliche Lücke und ist geeignet, eine Rezeption der Wittgensteinschen Philosophie der Psychologie über den engen Kreis der Spezialisten hinaus anzuregen. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens erschließt er den Text der PU II gründlich im philologischen Sinne, d.h. die Autorin und die Autoren betten ihn in Wittgensteins andere Schriften zur Philosophie der Psychologie *3* ein und stellen den Bezug zu den PU her, und zweitens sind viele Autoren mit der Rekontextualisierung der durch ihre systematische Knappheit oft unzugänglichen Bemerkungen Wittgensteins in die Philosophie und theoretische Psychologie seiner Zeit befaßt. Alle Beiträge bemühen sich also um genaueste Textarbeit, was dem Band streckenweise den Anstrich eines Kommentars verleiht. Jedoch führen philologische Genauigkeit und exegetische Gründlichkeit nicht dazu, die systematische Bedeutung der Wittgensteinschen Analysen aus dem Blick zu verlieren. Neben dem dankenswert detaillierten Versuch der Rekonstruktion der Textentstehung der PU II, die G.H. von Wright ("Teil II der PU - Eine beschwerliche Geschichte", S. 12-23) vorgelegt hat, haben wir Grund zu der Annahme, daß der zweite Teil der PU nicht ein von den Herausgebern willkürlich an die Seite des ersten Teils gestelltes Konvolut von Bemerkungen ist, sondern von Wittgenstein wahrscheinlich auch als "relativ" fertig betrachtet wurde, wenn auch, wie O. Scholz ("Zum Status von Teil II der PU", S. 24-40) herausarbeitet, die "relative Fertigkeit" nicht bedeutet, daß der Text als philosophisches Werk im engeren Sinne ähnlich durchgearbeitet wäre wie der erste Teil, ihm so gesehen der Status eines wirklich vom Autor vollendeten Werkes abgeht. I. PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE Es ist ein entscheidender Zug der Wittgensteinschen Behandlung psychologischer Begriffe, daß seine Untersuchungen sich einerseits mit methodischen Fragen der Psychologie wie Mentalismus vs. Behaviorismus etc. beschäftigen, diese aber andererseits als durch Mißverständnisse erzeugt verstehen, die das Funktionieren der Sprache im Bereich der psychologischen Rede betreffen. Die Grundunterscheidung, die Wittgenstein dabei geprägt hat, ist die von Verwendungen psychologischer Worte in der ersten Person und solchen der dritten. Mit dieser Unterscheidung unterzieht Wittgenstein das klassische Innen/Außen-Bild einer radikalen Kritik. Nach H. Glock ("Innen und Außen: ,Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre'", S. 233-252) beruht dieses Bild auf der irrigen Vorstellung, der Geist sei ein dem Außen hinsichtlich des Erhebens von Wissensansprüchen, der Beobachtung und der Beschreibung prinzipiell vergleichbarer Bereich. Nur geschieht im Unterschied zum Außen der epistemische Zugang vom privilegierten Standpunkt des Subjektes aus via Introspektion des eigenen Innern. Durch die logische Priorität, die den Äußerungen der ersten Person in diesem Bild, das wir uns vom Geist machen, zukommt, entsteht für die Äußerungen der dritten Person das Problem des Fremdpsychischen, mit dem sich die Beiträge Lütterfelds, Dreckmann und wesentlich auch ter Hark befassen. Wittgensteins Introspektionskritik ist v.a. im Rahmen des Privatsprachenarguments weithin diskutiert worden. Sie führte Wittgenstein zu zwei Konsequenzen für Äußerungen der ersten Person: sie sind expressiv und nicht deskriptiv und zweitens besitzen sie einen non-kognitiven Charakter, wodurch die logische und epistemische Priorität der ersten Person bestritten wird. Die Asymmetrie von erster und dritter Person hat immer wieder zu Widersprüchen geführt. Glock diskutiert neben einem von Hacker erhobenen (und von ihm selbst revidierten) zwei weitere wichtige Einwände: (a) Wittgenstein begehe einen Sprechaktfehlschluß. Dieser Einwand, der gegen den expressiven Charakter von 1.Pers.-Äußerungen etwa von J. Searle vorgetragen wurde, geht davon aus, daß Wittgenstein alle Verwendungen von psychologischen Ausdrücken als Expressionen verstehen wolle und damit einen Sprechakt auf alle anderen Fälle übertrage, auch auf solche, für die der expressive Charakter keinen Sinn hat. Es sei demgegenüber aber vielmehr so, daß es erstens auch für 1.Pers.- Äußerungen ein Spektrum von Fällen gebe, "das von Ausrufen und Exklamationen bis zu Beschreibungen und Mitteilungen reicht."(236) Außerdem können zweitens die gleichen psychologischen Ausdrücke in verschiedenen Sprechakten auftreten, wo sie immer dasselbe bedeuten würden. Deshalb könne die "Bedeutung nicht daraus erschlossen werden, welche Sprechakte durch spontane Ausrufe vollzogen werden".(237) Dieser Einwand läßt sich dadurch entkräften, daß Wittgenstein selbst nur davon ausgeht, daß Äußerungen der ersten Person MEIST expressiven Charakter haben. Der Einwand zielt also an Wittgenstein vorbei. Wittgenstein (und das geht über die Analysen von Glock hinaus) äußert sich an diesem Punkt jedoch nicht definitiv, doch aus seinen Andeutungen geht hervor, daß Äußerungen der ersten Person Singular, die NICHT mit Erinnerungen verknüpft sind, vor allem als AUSDRUCK und nicht als Mitteilung von Empfindungen aufzufassen sind. Solche Äußerungen, die mit Erinnerungen verknüpft sind, kann man häufig eher als Mitteilungen verstehen, sie hängen begrifflich häufig mit dem Begriff der Beobachtung zusammen, wie etwa "Ich spüre den Schmerz jetzt schon viel weniger als vor der Behandlung." (Vgl. dazu PU II, S. 509) 'Beobachtung' heißt dabei aber nicht mehr, als auf etwas zu ACHTEN. Für den Ausdruck von Empfindungen bedeutet diese Unterscheidung nicht, daß dieser nicht in einer kommunikativen Situation eine informierende, mitteilende FUNKTION übernehmen kann. "Das Problem ist doch dies: Der Schrei, den man keine Beschreibung nennen kann, der primitiver ist als jede Beschreibung, tut gleichwohl den Dienst einer Beschreibung des Seelenlebens." (PU II, S. 512, vgl. LS I,  45) Die Unterscheidungslage ist hier sehr komplex und darf nicht zum Dogmatismus führen, Äußerungen der ersten Person Singular besäßen IMMER Ausdruckscharakter. Dennoch müssen wir zwischen Äußerungen als Mitteilung (dem Sprechakt der Mitteilung) und der mitteilenden Funktion unterscheiden: Und selbst wenn der Beobachter oder Hörer den Ausdruck einer Empfindung des Sprechers nicht als eine Mitteilung versteht, so wird er dennoch über den jeweiligen Zustand des Sprechers informiert. Der Ausdruck einer Empfindung wird normalerweise nicht als Mitteilung aufgefaßt, weil - sofern die Äußerung mit dem sonstigen Verhalten und der Umgebung, in der es stattfindet, zusammenstimmt - eine solche Äußerung in der Regel von niemandem bezweifelt wird; man geht mit ihr nicht wie mit einer normalen Mitteilung um, über die man nachdenken und sie möglicherweise verwerfen kann. Die REAKTION des Beobachters ist in solchen Situationen eine völlig andere als in Situationen der Mitteilung. In seltenen Fällen können sogar Äußerungen der ersten Person, die nicht mit Erinnerungen verbunden sind, Mitteilungen sein und nicht Ausdruck. Man kann sich etwa eine Situation vorstellen, in der ein Patient auf die Frage, weshalb er beim Arzt sei, ohne ein besonderes Ausdrucksverhalten antwortet: "Ich habe Schmerzen im Rücken." - Diese Äußerung ist eine Mitteilung und kein Ausdruck. Diese Art der Mitteilung muß aber immer mit entsprechendem Ausdrucksverhalten verknüpfbar sein. D.h. wenn der Arzt auf die schmerzhafte Stelle drückt, so muß das Schmerzverhalten sichtbar sein. Eine Begründung ( "..., weil ich gestern einen Hexenschuß hatte.") ohne Ausdrucksverhalten wäre nicht ausreichend. Es würde nicht einmal die Bedingungen der Simulation erfüllen. D.h. Mitteilungen dieser Art müssen sich durch den Ausdruck jederzeit ersetzen lassen können. (b) Der zweite Einwand richtet sich gegen den non-kognitiven Charakter von Äußerungen der ersten Person: Wittgenstein begehe demzufolge einen Behauptungsfehlschluß: "Dieser Fehlschluß geht von der Feststellung aus, daß "Ich weiß, daß ich Schmerzen habe" zumeist EIGENARTIG oder UNANGEMESSEN wäre, und schließt daraus, daß dieser Satz WEDER WAHR NOCH FALSCH ist."(242) Das heißt, daraus, daß wir einen Satz selten verwenden, folge nicht, daß er nicht wahr sein kann. So liege bei Wittgenstein eine Verwechslung von Behauptungsbedingungen und semantischen Bedingungen vor. Demgegenüber sei es, so etwa J. Searle, so, daß der ungewöhnliche und seltene Gebrauch solcher Sätze von ihrer ganz offensichtlichen Wahrheit herrühre. Glock arbeitet eine Verteidigung der Wittgensteinschen Thesen aus: Sätze wie der oben genannte finden durchaus als GRAMMATISCHE Anwendung. Als solche legen sie fest, daß in diesem Sprachspiel der Zweifel und die Unsicherheit im Normalfall sinnlos sind. (Vgl. 243) Der Gebrauch von "Wissen" ist in Äußerungen der ersten Person meist nicht eine dem epistemischen Gebrauch vergleichbare Kenntnis des Innern, sondern wird EMPHATISCH gebraucht, so daß wir hier auch nicht von einem Urteil sprechen würden. Würde ein solcher Satz als Urteil gebraucht werden, widerspräche er den Kriterien der Verwendung von "Wissen". Folglich besteht zwischen "Ich weiß, daß ich Schmerzen habe" und "Ich habe Schmerzen" kein epistemischer Unterschied. Wenn Wittgenstein mit seiner Analyse der 1.Pers.-Äußerungen recht hat, verlieren sie die logische Priorität vor Äußerungen der dritten Person, die nun die Bedeutung der psychologischen Worte tragen. Äußerungen der ersten Person gehören für Wittgenstein also zum Verhalten, auf das wir uns mit Äußerungen der dritten Person beziehen, und gerade weil sie oft Ausdruck eines psychischen Phänomens sind, SCHLIESSEN wir nicht, z.B. durch eine Analogie, auf einen Bewußtseinszustand. "Ich vermute - im allgemeinen - die Furcht nicht in ihm,- ich sehe sie. Es ist mir nicht, als schlösse ich aus seinem Äußeren auf die wahrscheinliche Existenz eines Inneren; sondern als sei das menschliche Gesicht quasi durchscheinend, und ich sähe es nicht im reflektierten, sondern im eigenen Licht." (BPP II, 170) Die Sätze nun, die man in der dritten Person aufgrund des Verhaltens des Anderen über diesen aussagt, stellen weder mittelbares, d.h. durch Erschließen gewonnenes Wissen, noch unmittelbares Wissen dar, weil die Unterscheidung von mittelbar und unmittelbar hier keinen Sinn macht. Anzunehmen, man hätte einen mittelbaren Zugang, setzt voraus, es könne so etwas wie einen unmittelbaren Zugang geben. Tatsächlich ist es aber so, daß wir ALLEIN auf der Basis des Verhaltens (im weitesten Sinne) und der Umgebung, in der es stattfindet, von jemandem sagen, er fürchte sich, er könne rechnen, etc. Die Rede vom mittelbaren und unmittelbaren Wissen ist hier zu Unrecht auf den Bereich der psychologischen Rede ausgedehnt, denn sie stellt uns ein unmittelbares Wissen in Aussicht, das der epistemischen Situation einer god's eye Perspektive entspricht, nicht aber der des Menschen. "Es ist absurd, die dritte Person als Ausdruck indirekten Wissens zu bezeichnen, denn es steht gar kein direktes Wissen zur Debatte. Dies ist nicht der Regen, den ich entweder sehen oder aus dem Geräusch, aus der Feuchtigkeit an der Wand und dergleichen erschließen kann." (Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie, S. 68.) Wittgenstein hatte mit seiner Kritik der Rolle der 3. Pers.-Äußerungen Russell im Sinne. Das kann ter Hark ("Wittgenstein und Russell über Psychologie und Fremdpsychisches", S. 84-106) zeigen. Russell ist der Auffassung, daß wir kein unmittelbares Wissen vom Fremdpsychischen erlangen können. Ter Hark zeigt, daß es bei dem daraus resultierenden Problem des Fremdpsychischen nicht um einzelne Argumente geht, sondern daß Wittgenstein der Ansicht ist, daß der Skeptizismus, den Russell argumentativ bekämpft, durch das Problem allererst erzeugt wird, weil es auf falschen Prämissen beruht: Daß nämlich zwischen den psychischen Zuständen und dem dazugehörigen Verhalten ein bloß kontingenter Zusammenhang bestehe. (Vgl. 87) Daß Wittgenstein gerade gegen diese Vorstellung angeht, zeigt außer ter Hark auch W. Lütterfelds ("Das ,Durcheinander' der Sprachspiele. Wittgensteins Auflösung der Mentalismus-Alternative", S. 107-120) Wittgenstein spricht von einem "Durcheinander" der Sprachspiele. Dabei handelt es sich nicht um unordentliche Sprachverhältnisse, sondern um die Durchdringung zweier Sprachspiele: "Der Psychologe spricht ebenfalls [wie wir auch, T.J.], von einem durch das andere' [PU II, S. 497], das heißt: er spricht dadurch, daß er vom Verhalten spricht, von psychischen Zuständen. Faßt man diese Behauptung als eine Art von Definition der eigentlichen Thematik der Psychologie auf, ist sie sowohl von der Introspektionstheorie verschieden als auch vom Behaviorismus."(Ter Hark, 102f.) D.h. nur DURCH das öffentlich zugängliche Benehmen haben wir Zugang zum Seelenleben anderer Menschen. Lütterfelds ist nun der Meinung, daß es durch diese Konzeption des Durcheinanders Wittgenstein gelingt, an einem Sprachspieldualismus festzuhalten, was dazu führe, daß Wittgenstein einen abgeschwächten "semantischen Cartesianismus der psychologischen Ausdrücke" vertrete. (114) Diese Kennzeichnung scheint mir bei der entschiedenen Kritik, mit der Wittgenstein die cartesischen Vorstellungen überzieht, etwas weit hergeholt, es sei denn, der Cartesianismus werde so abgespeckt, daß von der Intention cartesischer Gewißheitsforderungen nicht mehr übrig bleibt als das Faktum, daß wir "innere" Erlebnisse haben. Die Frage, die Wittgenstein an das Problem des Fremdpsychischen stellt, ist die nach den GRÜNDEN, mit welchen wir an des Anderen Seele überhaupt zweifeln können. In lebensweltlichen Situationen, etwa beim Anblick eines verletzten oder auch eines hocherfreuten Menschen, zweifeln wir schlicht nicht daran, ob dieser Mensch eine Seele oder ein Bewußtsein hat. Das ZEIGT sich in diesen Situationen selbst. Dafür führt Wittgenstein den Begriff der Einstellung ein: "Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, daß er eine Seele hat." (LS, 324) Hier werden Meinungen und Einstellungen einander gegenübergestellt. Das Verhältnis zwischen Einstellung und Meinung ist das gleiche wie zwischen Glauben und Wissen in den Bemerkungen ÜBER GEWIßHEIT. Während Wissen und Meinungen mit Gründen bezweifelt werden können, ist dies, ohne Aufgabe wesentlicher Züge menschlicher Praxis, für Gewißheiten und Einstellungen nicht möglich. Hier wie dort dreht Wittgenstein das traditionelle Verhältnis der Begriffe um. So wie das Glauben vielfach als abgeleitet und daher sekundär gegenüber dem Wissen gilt, so könnte auch die Einstellung von den jeweils angenommenen Meinungen (oder auch Überzeugungen) abhängig sein. Ter Hark beleuchtet diese Verbindung dadurch, daß Wittgenstein auf der Seite der Meinungen Zweifel und Irrtum ansiedelt. Würde man allerdings an der Einstellung zweifeln, so ähnelt dies dem Zweifel an Gewißheiten, die Wittgenstein, wenn es sich nicht bloß um "PAPER DOUBT" handelt, mit Geistesstörungen in Verbindung bringt. "Es GIBT doch Fälle, wo nur ein Wahnsinniger den Ausdruck der Schmerzen (z.B.) für unecht halten könnte." (LS II, S. 48) Der EINSTELLUNG wird die logische Priorität zugesprochen. Eine Einstellung zeigt sich in der PRAXIS, ihr ist es wesentlich, daß wir in praktischen Situationen auf sichere Weise unmittelbar reagieren. Die Einstellung zum Menschen ist eben keine andere als die zur Seele: "Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele." (PU II, S. 496) Die Einstellung, die sich in den Reaktionen zeigt, bedarf nicht noch weiterer Rechtfertigung, wir nehmen sie GRUNDLOS ein, und können sie zugleich nicht dispensieren oder eine andere einfach WÄHLEN. Sie gehört, wie Wittgenstein gelegentlich von anderen Aspekten des Menschseins betont, zur Naturgeschichte des Menschen. Daß Menschen SO reagieren, ist die unbegründete Handlungsweise, die am Grunde des Sprachspiels steht. (ÜG,  110) Die wesentliche Rolle, die Einstellungen demnach zusteht, führt ter Hark dazu, Wittgensteins Vorgehen im ganzen einen Einstellungsansatz zu nennen. Unsere Einstellungen, die wir im Umgang mit anderen EINNEHMEN, darf allerdings nicht mit stillschweigenden Voraussetzungen verwechselt werden, die wir ANNEHMEN, darauf weisen F. Dreckmann ("Wittgensteins stillschweigende Voraussetzung", S. 121-130) und Lütterfelds hin. Während man jemanden von stillschweigenden Voraussetzungen unterrichten kann und diese Mitteilungen normalerweise nicht unstrittig sind, wäre es geradezu grotesk, jemanden darauf hinzuweisen, der Umgang mit ihm oder ihr beruhe auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß er oder sie ein Mensch und kein Automat sei. Grotesk wird die Mitteilung, weil wir die "Einstellung zur Seele" gewöhnlich nicht bezweifeln (können), wohingegen es gerade in kontroversen Situationen meist darum geht, (stillschweigende) Voraussetzungen zu bezweifeln. Ein weiteres Argument gegen den grundsätzlichen Skeptizismus, daß wir nur stillschweigende Voraussetzungen annehmen, niemals aber wissen, ob der andere eine Seele hat, deutet Wittgenstein so an: "Dann ruht der Vorgang unseres Sprachspiels immer auf einer stillschweigenden Voraussetzung." (PU II, S. 498) Ich denke, dieses Argument hat einen ebenso schlichten wie weitreichenden Sinn. Der Skeptiker wird unterlaufen. Wenn ALLE IMMER im Umgang miteinander stillschweigende Voraussetzungen eingehen, macht die Unterscheidung von Einstellung und Voraussetzung keinen Sinn mehr. D.h. wenn wir das Sprachspiel mit Voraussetzungen genauso spielen wie mit Einstellungen, fällt der Unterschied weg, den wir gerade mit der Unterscheidung von Einstellungen und Voraussetzungen ziehen wollen, nämlich, daß wir bei jener nicht zweifeln, bei dieser aber schon. II. ERLEBNISSE Philosophisch betrachtet ist der Begriff des Erlebnisses ein Produkt des 19. Jahrhunderts. *4* Dort tauchen Erlebnisse vornehmlich als vorbegriffliches Fundament von Erkenntnis und Erfahrung auf. Der Erlebnisbegriff, mit dem sich Wittgenstein auseinandersetzt, läßt sich unter diese Verwendung subsumieren, es ist der Erlebnisbegriff des logischen Empirismus oder der psychologische Erlebnisbegriff von James. Demnach müßten alle Begriffe auf die Erlebnisebene zurückführbar sein. In seiner Spätphilosophie gebraucht Wittgenstein jedoch den Erlebnisbegriff wenig differenzierend, er verwendet ihn vielmehr häufig als Sammelbegriff für "innere Vorgänge". Die Tatsache, daß gerade in der Philosophie der Psychologie Wittgenstein immer wieder auf die Erlebnisse zu sprechen kommt, läßt sich zunächst im negativen Sinne verstehen als Kritik der erkenntnistheoretischen Erlebnisbasis. Die negative Seite bedeutet jedoch nicht eine Leugnung der subjektiven Erlebnisse, sondern deren Einordnung in unser Leben unabhängig von einer erkenntnistheoretischen Basis. Auf dieser negativen Folie muß es darum gehen, die positive Bedeutung der verschiedenen Erlebnisse zu verstehen, wozu Wittgenstein selbst freilich kaum etwas sagt, dies allenfalls andeutet: "Ist das Subjektive, oder das Objektive wirklicher? - Unsinn! - Läßt sich nur das Objektive durch die Sprache darstellen, nicht das Subjektive? - Aber wir REDEN ja vom Subjektiven." (MS 124) Ich denke, daß auch im vorliegenden Sammelband die subjektive Seite des Erlebens nur sehr sparsam in den Blick gerät, wenn er auch damit beschäftigt ist, die Mißverständnisse über das Subjektive zu kritisieren. Im folgenden werde ich mich vornehmlich mit denjenigen psychologischen Begriffen, die sonst weniger Beachtung in der philosophischen Diskussion finden, beschäftigen; das sind Aspekt- und Bedeutungserlebnisse sowie kinästhetische Empfindungen. Daß für das Verstehen und Meinen das Erleben nicht wesentlich ist, sondern der Gebrauch, das Beherrschen einer Technik, ist wie T. Weiß ("Meinen, ein Erlebnis der besonderen Art", S. 57-71) betont, unproblematisch. Jedoch ist Weiß der Meinung, daß es nur Wort-, nicht aber Bedeutungserlebnisse gibt, was sich als falsch herausstellen wird. Nur für die BEDEUTUNG ist das Erlebnis nicht KONSTITUTIV. Das gleiche gilt, wie R. Raatzsch ("Erinnern ist kein Erlebnis", S. 281- 293) zeigt, für die Erinnerung. Immer ist vom Erlebnis als einer Begleiterscheinung die Rede. Erinnerung, Träume (J. Schulte: "Traumbilder", S. 146-158) und Vorstellungen (H.W. Krüger: "Fragwürdige Bilder. Wittgenstein über den Inhalt der Vorstellung", S. 72-83) erhalten ihren intersubjektiven Charakter durch ihre Rolle in unserer Praxis. Dadurch werden diese Phänomene öffentlich zugänglich; und weder eine introspektive Beobachtung, noch die Erlebnisse tragen die Bedeutung der Begriffe. Darüber hinaus ist etwa die Rolle, die Vorstellungen in der Praxis übernehmen, nicht eindeutig, was schon von der Verwobenheit der beteiligten Begriffe untereinander abhängt. Für das Träumen macht Schulte das exemplarisch deutlich: So "kann ich zum Beispiel herauszubekommen versuchen, worauf der Erzähler [eines Traumes, T.J.] hinaus will, ob die Erzählung seine Persönlichkeit besser verstehen hilft, was seine Vorlieben und Abneigungen sind usw. Das Sprachspiel der Traumerzählung hängt nämlich mit vielen anderen Sprachspielen zusammen; und das durch die Traumerzählung gezeichnete Bild wird - ebenso wie die Einzelbilder eines Zyklus - verschiedenen Charakter annehmen, je nachdem, mit welchem anderen Spiel eine Verbindung hergestellt wird." (158) Kinästhetische Empfindungen Mit Recht stellt St. Candlish ("Kinästhetische Empfindungen und epistemische Phantasie", S. 159-193) fest, daß das Thema der kinästhetischen Empfindungen in der Philosophie völlig vernachlässigt wird, was sonderbarerweise auch auf die Wittgensteinrezeption zutrifft, obwohl Wittgenstein diesem Thema vergleichsweise breiten Raum einräumt. Dies wird umso unverständlicher, wenn man von Candlish die breite psychologische Diskussion der kinästhetischen Empfindungen vorgeführt bekommt. Sie werden von den Anfängen der wissenschaftlichen Psychologie hindurch bis zu einer weitgehend abgeschwächten Theorie in heutigen Lehr- und Einführungsbüchern behandelt. Insbesondere ist für den Wittgensteinschen Kontext die Jamessche Diskussion entscheidend sowie die Tatsache, daß die Rede von kinästhetischen Empfindungen in die Erkenntnistheorie B. Russells eingearbeitet ist. James war der Ansicht, daß die kinästhetischen Empfindungen uns eine den Bewegungen, die wir ausführen, entsprechende Zahl spezifischer Gefühle vermittelt, so daß die Kernthese der Betrachtung so zusammengefaßt werden kann, daß die kinästhetischen Empfindungen uns über unsere Bewegungen und die Lage unserer Glieder belehren. Die kinästhetischen Empfindungen werden damit zur Basis unserer kinästhetischen Fähigkeiten, d.h. die Fähigkeit, ohne visuelle Kontrolle die Bewegungen und die Lage unserer Gliedmaßen zu beschreiben. Diese Theorie besteht, wie Candlish deutlich macht, in einem Netz von Voraussetzungen und Argumenten, die sich gegenseitig stützen. So kann man ein physiologisches Argument bestimmen: "Obwohl die kinästhetischen Empfindungen schwer zu fassen sind, muß es sie geben, weil die physiologischen Vorrichtungen gegeben sind."(193), ein A-priori-Argument "Die Existenz kinästhetischer Empfindungen ist notwendig, denn woher sollen wir andernfalls unsere Haltung und unsere Bewegungen kennen, ohne hinzuschauen?"(192), zusammen mit der empirischen Voraussetzung "Empfindungen sind das einzige Mittel, durch das die Kunde von Veränderungen zu uns gelangt, einerlei, ob es sich um Veränderungen im Inneren oder außerhalb des eigenen Körpers handelt."(192), die in das A-priori-Argument eingearbeitet ist. Die letzteren können aber nur unter der Voraussetzung der INTROSPEKTION wirklich tragen, wobei, was bereits Wundt deutlich machte, wir über ein Verfahren verfügen müssen, um zunächst kaum oder gar nicht bemerkte Empfindungen zugänglich zu machen. Die Wichtigkeit der kinästhetischen Empfindungen wird darüber hinaus durch ein Verlustargument "Die durch Schädigung der betreffenden afferenten Nerven ausgelösten Störungen unseres Verhaltens beweisen die Existenz und/oder Wichtigkeit der kinästhetischen Empfindungen."(193) plausibel gemacht. Dieses Netz von Argumenten wurde erst in der neueren psychologischen Diskussion brüchig, man spricht heute vorsichtiger als James von "Informationen", die neural übertragen werden und die dafür verantwortlich sind, daß wir die Lage unserer Glieder kennen. Die Rede von UNBEWUSSTEN Informationen und Verarbeitungsprozessen legt sich dabei nahe. Wittgenstein unterzieht die kinästhetischen Empfindungen einer fundamentalen Kritik, die darauf hinausläuft, daß sie das Produkt der THEORIE der kinästhetischen Fähigkeiten selbst sind. (a) Die Sicherheit über die Lage unserer Glieder hängt nicht vom Haben leiblicher Empfindungen ab. Die Kriterien der leiblichen Empfindung passen nicht, weder ist hier durchgehend von Intensität die Rede, noch von echter Dauer. Kinästhetischen Empfindungen können wir nicht, wie den sonstigen leiblichen Empfindungen, einen Gehalt zuzusprechen. (Vgl BPP I, p 770f., 948) Insofern ist die Rede von spezifischen Bewegungs- und Lageempfindungen unter Erkenntnisgesichtspunkten leer. Die kinästhetischen Empfindungen unterscheiden sich sogar von den Wahrnehmungen: "Wie unterscheidet sich das Fühlen der Körperlage und Bewegung von den Sinneseindrücken? - z.B. dadurch, daß hier Stärke und Schwäche [Intensität, T.J.] nichts entscheiden kann."(Ms 133) (b) Wenn unsere kinästhetischen Fähigkeiten aber auf kinästhetischen Empfindungen beruhen würden, müßten in einer realistischen Betrachtung prinzipiell Verwechslungen über die Lage etc. möglich sein. Diese Verwechslungen kommen in der Regel aber nicht vor, anders als Irrtümer in der visuellen Wahrnehmung etwa. (c) Wenn wir so reden wollen, daß uns Wahrnehmungen (Sinnesempfindungen) belehren, so ist das etwa für das Sehen von Farben sinnvoll, weil diese unabhängig von uns öffentlich zugänglich sind, ganz anders als es die Rede von privaten kinästhetischen Empfindungen nahelegt, auf die dann die Argumente des Privatsprachenarguments zutreffen. (d) Auf Wittgensteins Introspektionskritik brauche ich hier nicht eingehen. Worauf es mir ankommt, ist, daß Wittgenstein die leiblichen Empfindungen und das Körpergefühl mit seiner Kritik nicht leugnet, sondern nur die Rede von spezifischen kinästhetischen Empfindungen. Candlishs Aufsatz bietet eine Fülle von Argumenten, die die Bemerkungen Wittgensteins verständlich machen. Ich möchte aber dennoch in systematischer Absicht einige Aspekte darüber hinzufügen, in welcher Hinsicht die Rede von "kinästhetischen Empfindungen" in unser Leben eingearbeitet ist: Die Rede von Bewegungs- und Lageempfindungen hat in einem bestimmten Sinn ihr gutes Recht. In vielen alltäglichen Situationen spüren wir bei Bewegungen etc. unseren Leib, wir sitzen unbequem, verdrehen uns den Fuß usw. So kann man trivialerweise sagen, daß z.B. Bewegungsempfindungen solche Empfindungen sind, "die durch Bewegungen hervorgerufen werden." (BPP I,  772) Hier läßt sich dann auch ein völlig unproblematischer Gebrauch von "wissen" anschließen. Insofern wir nämlich vom Schmerz im Rücken darüber belehrt werden und damit "wissen", mit welch krummen Rücken wir wieder einmal am Schreibtisch sitzen, nur insofern gilt: "Eine Empfindung KANN uns über die Bewegung oder Lage eines Gliedes belehren." (LS II, S. 16) Bei den sog. kinästhetischen Empfindungen haben wir es also gar nicht mit einer BESONDEREN KATEGORIE von Sinnesempfindungen zu tun, sondern mit nichts anderem als den leiblichen Empfindungen. Dabei ist aber noch nach dem Problem der Unterscheidung zwischen bewußten und unbewußten Empfindungen zu fragen, die sich an die neuere Diskussion der kinästhetischen Empfindungen anschließt. Man kann sich etwa vorstellen, auf einem Stuhl zu sitzen, ohne dabei die Position wesentlich zu verändern, und in gewissen Abständen wird man nach seinen Empfindungen gefragt. Wir melden dann, wie Wittgenstein sagt, die Empfindungen. Man könnte aber fragen, was wir in der Zwischenzeit zwischen den Fragen empfunden haben. Die Antwort "Nichts!" scheint mir dabei ebenso sonderbar wie "Ich hatte die Empfindung die ganze Zeit über." Hier von einer unbewußten Empfindung zu reden verwirrt meines Erachtens die Sache zusätzlich; die Rede von Wahrnehmen und Empfinden ist daran gebunden, daß wir das, was wir gesehen, gehört oder gefühlt haben, mitteilen können. Es gibt aber einen Gebrauch von "unbewußt" in bezug auf Wahrnehmungen und Empfindungen, der sinnvoll ist. Angenommen man wacht morgens auf und hat die typischen Empfindungen einer Erkältung. In solchen Fällen sagen wir häufig "Wenn ich mich recht erinnere, hat es mir gestern dort und dort die ganze Zeit in den Nacken gezogen, gestern habe ich mich darum aber nicht weiter gekümmert." oder "Ich war zwar bei der Feier dabei, aber daß der Pullover von X rot war, fiel mir gestern nicht auf, aber jetzt erinnere ich mich daran." In diesen Zusammenhängen hat das Wort "unbewußt" keinen weiteren Sinn, als daß wir uns nachträglich VERGEGENWÄRTIGEN, was wir mit den Sinnen oder leiblich wahrgenommen oder empfunden haben. Unbewußte Wahrnehmung nennen wir dann immer RETROSPEKTIV eine Wahrnehmung, die wir zur Zeit der Wahrnehmung PRINZIPIELL hätten ausführlicher beschreiben können. Wahrnehmungen und Empfindungen beschreiben wir gewöhnlich nicht in einem fort, weil wir schlicht mit anderem beschäftigt sind. "Unbewußt" bezieht sich also nicht auf eine andere, logisch gleichberechtigte Weise des Wahrnehmens und Empfindens, so daß wir eine starke Unterscheidung zwischen bewußter und unbewußter Wahrnehmung und Empfindung benötigten, sondern es handelt sich um einen SEKUNDÄREN Gebrauch, denn er ist nur dann möglich, wenn wir prinzipiell auch in der Gegenwart den Inhalt unserer Sinnesempfindung angeben könnten. In der Gegenwart der Wahrnehmung und Empfindung hat die Rede von 'unbewußt' keinen Sinn. Ähnlich verhält es sich mit dem eingangs dieses Abschnittes geschilderten Fall. Wir sagen "Auch wenn Du mich nicht gerade gefragt hast, MUSS ich wohl die Empfindung gehabt haben (weil ich meine Sitzweise nicht verändert habe)." Auch wenn es hier keinen Sinn hat, von einer Vergegenwärtigung zu sprechen, denn faktisch unterbrechen wir ja die Wahrnehmung, so hat der die Zwischenzeit ÜBERBRÜCKENDE SPRACHGEBRAUCH seinen Sinn. Allerdings ist in diesem Fall die Sinnesempfindung nicht UNBEWUSST. Daß wir in der Zwischenzeit nichts empfunden haben, ist keine Frage der Erinnerung, wir HATTEN schlicht KEINE Körperempfindung. Das bedeutet nicht, daß unser Leib gefühllos, oder wie Wittgenstein oben sagt, anästhesiert war, denn die Empfindungsfähigkeit ist gerade wesentlich dafür, daß wir vom Leib sprechen. "Und ich müßte [bezogen auf eine Bewegung, T.J.] oft auch sagen, ich habe NICHTS empfunden. Nur darf man das nicht mit der Aussage verwechseln, es sei gewesen, als wäre mein Arm GEFÜHLLOS." (BPP I,  758) Daß der Arm nicht gefühllos ist, heißt aber nicht mehr, als daß er Teil des Leibes bleibt, auch wenn wir in ihm "nichts" empfinden. Wir müssen zwischen Gefühllosigkeit, Empfindungsfähigkeit und der Tatsache, daß wir keine Empfindungen haben, unterscheiden. Der Leib ist empfindungsfähig, auch wenn wir gegenwärtig nichts empfinden. Bezogen auf unseren Leib sprechen wir temporär von Gefühllosigkeit, wenn Teile des Leibes (im eigenen Fall) oder auch der ganze Leib (wenn wir jemanden in Vollnarkose sehen) vorübergehend nicht empfindungsfähig sind. Sofern Teile des Leibes betroffen sind, so wird Gefühllosigkeit in der Regel als unangenehme Empfindung erlebt, besonders dann, wenn die Gefühllosigkeit wieder in die Empfindungsfähigkeit übergeht, etwa nach einer lokalen Betäubung Aspekt und Bedeutungserlebnisse Verglichen mit dem Umfang, den Wittgensteins Erörterungen zum Aspektsehen einnehmen, und den systematischen Folgen, die sie für den Begriff des Sehens nach sich ziehen könnten, wird diese Thematik im vorliegenden Band vergleichsweise knapp behandelt. Nach Auffassung von O. Scholz ("Wie schlimm ist Bedeutungsblindheit? Zur Kernfrage von PU II, xi", S. 213-232) sollen sie die Erörterung des Bedeutungserlebens "präludieren". (219) Ob es sich hierbei um Präludium und Fuge oder nicht doch eher um Thema und Variation handelt, wäre eigens zu besprechen. Aber sicherlich ist es so, daß die Ausführungen zum Aspektsehen, zum Aspekterlebnis und zur Aspektblindheit nicht auf die Äußerung Wittgensteins: "Das Substrat dieses Erlebnisses ist das Beherrschen einer Technik." (PU II 544) reduziert werden dürfen, auch wenn es sich um eine wichtige Bemerkung handelt. Wichtig ist diese Bemerkung, weil sie den Bezug zwischen dem Erleben und der Sprache herstellt. Das Verhältnis von Seelischem und Sprachlichem ist für Wittgenstein natürlich zentral, worauf die Autorinnen und Autoren immer wieder hinweisen, wie in eindringlicher Weise etwa E. von Savigny ("Keine Hoffnung für Hunde", S. 41-56), nämlich, daß uns die "feinen Abschattungen im Benehmen", die Differenziertheit unseres Seelenlebens, erst möglich sind, weil erstens der soziale Kontext, in dem die Verhaltensäußerungen auftreten, sprachlich gegliedert ist und zweitens der sprachliche Ausdruck selbst uns feinere Abschattungen als das bloß mimische und körperliche Ausdrucksverhalten erlaubt. Daß hier die soziale Einbettung des Ausdrucksverhaltens darüber entscheidet, ob ein Verhalten Hoffnung ausdrückt, gründet in der Einsicht, daß nicht allein die Übereinstimmung in den Lebensformen, sondern die Übereinstimmung in den Urteilen, d.h. den Prädikationen relevant ist. Hier besteht eine Verbindung zu der tragenden, nicht aber noch einmal begründbaren Rolle, die die Urteilspraxis für unsere Begriffe besitzt. Mit dieser Problemlage setzt sich R. Raatzsch ("Begriffsbildung und Naturtatsachen", S. 268-280) auseinander. Daß die Wahrnehmung begrifflich strukturiert ist und wir Aspekte nicht erleben können, ohne die Sprache gebrauchen zu können, darf jedoch nicht verdecken, daß Wittgenstein meines Erachtens seine Erörterungen (auch) in den Dienst der Klärung des Begriffs des Sehens gestellt hat. Das Aspektsehen ist für Wittgenstein durch das Phänomen der reversiblen Figuren (oder Kippfiguren) deshalb so interessant, weil sich an diesem Phänomen die Theorien der visuellen Wahrnehmung etwa von James, Köhler, aber auch von Russell und Moore brechen. Sehen-als ist demnach entweder ein Denken (Deuten) oder reines Sehen. Gegenüber diesen Betrachtungsweisen gewinnt Wittgenstein einen umfassenderen praktischen Begriff des Sehens. Sehen-als ist begrifflich sowohl an das Sehen wie an das Denken gebunden. "Es ist ein Sehen, INSOFERN .../ Es ist ein Sehen nur insofern, ALS . /(Das scheint mir die Lösung.)"(BPP II, S. 390) Das Sehen-als ist begrifflich deshalb ans Sehen gebunden, weil der Gebrauch des Wortes 'Sehen' WEITER ist als die visuelle Wahrnehmung von Form und Farbe ("Es ist ein Sehen, insofern ..."). Desweiteren muß aber auch die "sinnlich-qualitative" Eigenständigkeit des Sehens gegenüber dem Denken, seine Irreduzibilität, betont werden ("Es ist ein Sehen nur insofern, als ..."). Das Rätsel des Sehen-als läßt sich nicht durch eine Reduktion auf das Sehen oder das Denken lösen, sondern nur aus der Einsicht, daß Denken und Sehen (immer schon) aufeinander bezogen sind und daß dieser Bezug im Sehen-als zutage tritt. Die begriffliche Beziehung, die im Aspektsehen zutage tritt, wird uns sozusagen im Aspekterlebnis und beim Aspektwechsel bewußt. Mit diesen Bemerkungen möchte ich Scholz gar nicht widersprechen, dem es ja v.a. um die Klärung des Bedeutungserlebens geht und der dafür die instruktiven Wittgensteinschen Kommentare zur Bedeutungsblindheit heranzieht. Scholz stellt damit fest, daß Bedeutungsblinheit ein Defekt ist, der "zwar bei gewissen, speziellen und verfeinerten, Formen sprachlichen Verhaltens hinderlich ist, aber nicht von der normalen Sprachbenutzung ausschließt."(229) Anders als Weiß behauptet, sind Bedeutungserlebnisse nicht nur als Worterlebnisse zu verstehen, sondern wir haben sie, sie sind aber für die Bedeutung als solche nicht konstitutiv. Wittgensteins Hinweis auf diese Erlebnisse stellt jedoch keinen Rückfall in eine mentalistische Bedeutungstheorie dar, eine Theorie, wie sie, was St. Hobuß ("Unbeschreibliche Gefühle", S. 131-145) zeigt, von James vertreten wurde. Bestimmte Gefühle können das Aussprechen eines Wortes begleiten. "Es kann durchaus Wenn-Gefühle geben, und man kann sich durchaus für sie interessieren und zum Beispiel untersuchen, unter welchen Umständen sie vorkommen. (...) Es wäre aber falsch zu behaupten, daß das Vorliegen des Gefühls die Bedeutung und das Verstehen des Wortes definierte."(137) Die Rolle, die das Erleben der Bedeutung in unserm Leben spielt, die, wie Scholz sagt: "verfeinerten Formen sprachlichen Verhaltens" dürfen jedoch nicht unter den Tisch fallen. Die Erörterung des Bedeutungsblinden zeigt nämlich, welchen Stellenwert das Erleben einer Bedeutung in unserem Leben hat. Eine Situation, in der man von einem Erleben der Bedeutung sprechen kann, wäre etwa das emphatische Ausrufen des Namen "Bach!". Der Bedeutungsblinde könnte das Wort sowohl für die Art von Gewässer verwenden, als auch für den Komponisten. Das einzige, was ihm fehlt, ist der subjektive Anteil, der hinsichtlich des Gebrauchs keine Relevanz besitzt, sondern die individuelle Stellungnahme, eine EINGEARBEITETE BEWERTUNG, ausdrückt. "Der Bedeutungsblinde wäre eigentlich der, der nur das LEERLAUFENDE Erlebnis der Bedeutung nicht hatte." (Ms 130) Auch dabei ist die Bedeutung des Eigennamens "Bach" nicht an ein besonderes Erlebnis gebunden. Daß dieses Erlebnis leerläuft, heißt nicht, daß es für die Sprecher keine Wichtigkeit hätte. Sie sind eine Art Überschuß, der uns nur in bestimmten Kontexten wichtig ist. Ich glaube, die Intentionen, die im Aufsatz von Hobuß angedeutet sind, werden im Bereich der, wie Wittgenstein sie nennt, sekundären Bedeutungen, deutlich (ohne daß ich hier die These meine, daß das Musikverstehen Muster des Sprachverstehens ist). Beim Hören einer Klaviermusik etwa könnte jemand ausrufen: "Ein wunderschönes Präludium.", etc. Hier haben die im Erlebnisausdruck verwendeten Worte ihre völlig normale, alltägliche Verwendung; es könnte allerdings auch sein, daß er ausruft: "Diese Tonart hat einen strahlendblauen Klang." In dieser Situation hat das Wort "strahlendblau" zwar immer noch die Bedeutung einer Farbe, aber es wird in einem den Farbprädikatoren fremden Zusammenhang gebraucht. Wittgenstein führt dafür (vielleicht etwas mißverständlich) die Rede von den SEKUNDÄREN BEDEUTUNGEN ein.(Vgl. PU II, S. 557) Bei den sekundären Bedeutungen handelt es sich ausdrücklich nicht um Metaphern. Während die metaphorische Rede im Rahmen von MITTEILUNGEN, FESTSTELLUNGEN etc. gebraucht wird, sind sekundäre Bedeutungen an den ERLEBNISAUSDRUCK gebunden. Der sekundäre Gebrauch der Sprache setzt den primären Gebrauch voraus. "Die Worterklärung ist beidemal die der primären Bedeutung. Nur für den, der das Wort in jener Bedeutung kennt, kann es diese haben. D.h. die sekundäre Verwendung besteht darin, daß ein Wort, mit DIESER primären Verwendung, nun in dieser neuen Umgebung gebraucht wird." (LS,  797) Die Verwendung sekundärer Bedeutungen ist häufig die einzige Möglichkeit, dem Erlebnis angemessen Ausdruck zu verleihen. Durch sekundäre Bedeutungen ist die Möglichkeit stark erweitert, Erlebnisse sehr differenziert auszudrücken. Es ist sogar so, daß der Gebrauch sekundärer Bedeutungen für das entsprechende Erlebnis konstitutiv ist. Hobuß verdeutlicht dies am musikalischen Ausdruck: Wir haben es, wenn ein Musikstück mit einem bestimmten Ausdruck gespielt wird, mit einem durch die Musik gegebenen (nicht ERZEUGTEN) Gefühl zu tun. Und manchmal läßt sich das Gefühl und damit der Ausdruck durch nichts anderes ersetzen. (Hobuß spricht von einem intransitiven Ausdruck.) Daraus folgt "Das Erlebnis hat man, indem man die Stelle in ganz bestimmter Weise spielt, wobei auch hier ,in ganz bestimmter Weise' nicht in eine Beschreibung auflösbar gedacht ist." (142) Man kann das Spiel vorführen, aber jede Beschreibung kann nur Andeutung sein. Damit bleibt die subjektive Seite des Erlebens erhalten, ohne daß sie ihren öffentlichen Charakter und damit den Bezug zum Verstehen verlieren würde. Anmerkungen: *1* E. von Savigny, O.R. Scholz (eds.): "Wittgenstein über die Seele", Frankfurt 1995. Zitate werden im folgenden nur durch die Seitenzahl in Klammern ausgewiesen. Zitate aus den Texten Wittgensteins werden mit den üblichen Abkürzungen notiert und richten sich nach der Werkausgabe, Frankfurt 1989 (8 Bde), sowie nach der Manuskriptzählung von G.H. von Wright. *2* Etwa M. Budds "WITTGENSTEINS PHILOSOPHY OF PSYCHOLOGY"(1989) und M. ter Harks "BEYOND THE INNER AND THE OUTER"(1990) sowie auch St. Mullhalls "ON BEEING IN THE WORLD" (1990). *3* PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN II, in Werkausgabe Bd. 1; BEMERKUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE I und II, in Werkausgabe, Bd. 7; LETZTE SCHRIFTEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE [I], in Werkausgabe, Bd. 7; ÜBER GEWISSHEIT, in Werkausgabe, Bd. 8; ZETTEL, in Werkausgabe, Bd. 8; VORLESUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE 1946/47, Frankfurt 1991; LETZTE SCHRIFTEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE [II] (1949-1951) - DAS INNERE UND DAS ÄUSSERE, Frankfurt 1993; VORLESUNGEN UND GESPRÄCHE ÜBER ÄSTHETIK, PSYCHOLOGIE UND RELIGION, Göttingen 1968; MS. 130 , 1.Datum: 26.5.1946 - 9.8.1946 bis MS. 137, 2.2.1948 - 9.1.1949; TS. 229 (Vorlage zu Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I), ca. August - November 1947. *4* Zur Begriffsgeschichte vgl.: K. Cramer:Artikel ERLEBNIS, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Hg. J. Ritter) Bd. 2, Darmstadt 1972.