***************************************************************** * * Titel: Bedeutung, Sprachspiel, Lebensform*1* Autor: Eike v. Savigny, Bielefeld - Deutschland Dateiname: 11-2-95.TXT Dateilänge: 42 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/95, Datei: 11-2-95.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Die Annahme, die Bedeutung eines Worts sei sein Gebrauch in der Sprache, gibt es in den "Philosophischen Untersuchungen" nicht explizit. Wittgenstein benutzt aber an vielen Stellen Annahmen, die mit einer solchen Gleichsetzung verwandt sind, für seine jeweilige Argumentation und legt sich damit auf diese Annahmen ernsthaft fest. So fragt er in PU 20 b: "Aber besteht der gleiche Sinn nicht in ihrer gleichen VERWENDUNG?" Er scheint an dieser Stelle zu meinen, daß die Gleichheit des Sinns in der Gleichheit der Verwendung bestehe. Fälle, in denen aus Gebrauchsunterschieden auf Bedeutungsunterschiede geschlossen wird, sind in den PU zu zahlreich, als daß man darauf einzeln verweisen müßte. Auch das Umgekehrte kommt vor, etwa wenn in PU 403 - 411 argumentiert wird, wenn die Äußerung "irgend jemand hat Schmerzen - ich weiß nicht wer!" rollengleich wäre mit "Ich habe Schmerzen" beide dann bedeutungsgleich wären. Auch die Mühe, mit der PU 549 - 568 erörtern, ob gewisse Eigenheiten von Negationen, von Zahlwörtern oder solche des Verbs "sein" wesentlich oder unwesentlich zu ihrem Gebrauch gehören, am besten unter der Annahme verstehen, daß es um die Frage gehe, was zu ihrer Bedeutung gehöre; in dieselbe Richtung weist die an zahlreichen Stellen vorausgesetzte Annahme, die Bedeutung sei dann erfolgreich erklärt, wenn der Gebrauch erklärt sei. Will man sich auf alle diese unterschiedlich ausdrücklichen Formulierungen von argumentativ benutzten Annahmen einen Reim machen, dann bleiben die einfachen Gleichsetzungen von Sinn des Satzes und Bedeutung des Wortes mit ihrem Gebrauch in der Sprache als nächstliegende Lösungen übrig. Das heißt freilich nicht, daß auch klar wäre, was unter dem "Gebrauch in der Sprache" zu verstehen hat. Die für ein Verständnis dieser "Gebrauchstheorie der Bedeutung" fruchtbarste Vorstellung scheint mir Wittgensteins Gedanke zu sein, daß sprachliche Ausdrücke ihre Bedeutung ihrer "Rolle im Sprachspiel" verdanken (nicht etwa der Sprecherabsicht oder den erzielten Wirkungen). Sprachspiele sind in den PU Verhaltensabläufe, in denen Sprechen und anderes Handeln miteinander "verwoben" (PU 7) sind. Die PU kennen drei Möglichkeiten zu sagen, um welches Sprachspiel es geht, also Möglichkeiten, einzelne Sprachspiele zu kennzeichnen. Die erste wird schon in PU I benutzt, nämlich für eine "Verwendung der Sprache", wo jemand zum Einkaufen geschickt wird; das Sprachspiel wird dadurch gekennzeichnet, daß der Ablauf in allen wesentlichen Einzelheiten beschrieben wird. Die zweite Kennzeichnungsweise hat die Form "das Sprachspiel des ...", wobei an der Leerstelle die Bezeichnung oder Beschreibung einer Tätigkeit steht. Die längste Liste von so gekennzeichneten Sprachspielen bringt PU 23. Die dritte Kennzeichnungsweise hat die Form "Das Sprachspiel mit dem Ausdruck ..."; sie kommt in dieser Form erstmals in PU 71 vor. Damit ist die Menge aller auf die erste oder zweite Weise zu kennzeichnenden Sprachspiele gemeint, in denen der Ausdruck verwendet wird; es handelt sich also um den "Gebrauch" des Ausdrucks. Für die Klärung von "Bedeutung" durch "Gebrauch" sind wir also darauf angewiesen, hinreichend Interessantes über die in der ersten oder zweiten Weise gekennzeichneten Sprachspiele herauszufinden. Für alle davon in den PU genannten Exemplare gilt zweierlei: Erstens können sie mehr als einmal gespielt werden, und trotz Unterschieden zwischen beiden Durchführungen wird beide Male dasselbe Sprachspiel gespielt. Zweitens müssen Äußerungen und nichtsprachliche Tätigkeiten miteinander "verwoben" sein, ein bildhafter Ausdruck dafür, daß Tätigkeiten und Äußerungen in genauer anzugebender Weise regelmäßig miteinander zusammenhängen. Wenn man diese Regelmäßigkeiten für ein Sprachspiel angegeben hat (so vollständig oder unvollständig und so genau oder ungenau, wie es gerade erforderlich ist, hat man das Sprachspiel gekennzeichnet und damit gesagt, WAS zweimal gespielt wird, wenn zwei Handlungsabläufe im Einklang mit den angegebenen Regelmäßigkeiten, aber sonst unterschiedlich, vorgekommen sind. Ein Sprachspiel, auf die erste oder zweite Weise gekennzeichnet, ist also eine Menge von Regelmäßigkeiten im Zusammenhang von Äußerungen und Tätigkeiten. Läßt man in der Aufzählung der Menge von Regelmäßigkeiten den Ausdruck, um den es geht, einfach weg, dann definiert man eine Stelle in diesen Regelmäßigkeiten, und diese Stelle kann man seine "Rolle im Sprachspiel" nennen. Um diese Rolle aber mit der Bedeutung des Ausdrucks zu identifizieren, müßte Wittgenstein zeigen, daß Unterschiede in den so definierten Rollen auch Unterschiede in den Bedeutungen im vortheoretischen Sinne entsprechen und umgekehrt. Wie das Gedankenexperiment aus PU 206 - 207 zeigt, legen die Regelmäßigkeiten in Sprachspielen die Bedeutung der darin vorkommenden Ausdrücke erst dann fest, wenn die Regelmäßigkeiten für dieses Ergebnis reich genug sind. Zu jeder Bedeutung muß also eine für Ausdrücke mit dieser Bedeutung charakteristische, reiche Menge von Verhaltensregelmäßigkeiten gehören. Leider hält Wittgenstein den Leser ärgerlich knapp mit Beispielen dafür, wie Regelmäßigkeiten aussehen, die für Ausdrücke mit ganz bestimmten Bedeutungen charakteristisch sind. Er gibt allerdings Tips zum Suchen, wie etwa in PU 268: "Warum kann meine rechte Hand nicht meiner linken Geld schenken? - Meine rechte Hand kann es in meine linke geben. Meine rechte Hand kann eine Schenkungsurkunde schreiben und meine linke eine Quittung. - Aber die weitern praktischen Folgen wären nicht die einer Schenkung." Wenn ein Sprecher einem Adressaten ein Ding SCHENKT, dann bestehen die "praktischen Folgen" darin, daß der Sprecher nun gewisse Sachen nicht mehr darf, während der Adressat gerade diese Sachen darf - das Ding gebrauchen, seinen Gebrauch anderen vorenthalten oder gestatten, es beleihen oder verkaufen usw.; eine weitere "praktische Folge" ist, daß der Adressat sich gegenüber dem Sprecher als dankbar zu erweisen hat, daß aber der Sprecher vom Adressaten keine bestimmte Gegenleistung fordern darf. Solche praktischen Folgen unterscheiden verschiedene Bedeutungen voneinander: Wenn der Sprecher dem Adressaten das Ding verkauft, darf der Sprecher vom Adressaten eine bestimmte Gegenleistung fordern, und der Adressat braucht dem Sprecher nicht dankbar zu sein. Wird das Ding vom Sprecher an den Adressaten vermietet, dann darf der Adressat das Ding nicht beleihen oder verkaufen und muß es irgendwann zurückgeben, und er schuldet dem Sprecher bis zur Rückgabe eine regelmäßige Gegenleistung. Wenn der Sprecher dem Adressaten das Ding dagegen leiht, ist der Adressat nicht zur Gegenleistung verpflichtet. Das Beispiel des Schenkens wirft zwei Fragen auf. Die Schenkung ist ein Rechtsgeschäft; ist sie ein glückliches Beispiel für Sprachverwendung? Und inwiefern handelt es sich um Regelmäßigkeiten im Verhalten, wenn Sprecher und Adressat nach bestimmten Äußerungen gewisse Dinge dürfen oder müssen - sind das nicht Regeln? Die Antwort auf die beiden Fragen ist: Wenn Verhaltensregelmäßigkeiten ein bestimmtes Aussehen annehmen, dann heißt das nichts anderes, als daß das Verhalten Regeln folgt; und die für die Bedeutung von Ausdrücken entscheidende Rolle im Sprachspiel ist gerade ihr Platz in solchen, regelfolgendes Verhalten ausmachenden Verhaltensregelmäßigkeiten. Deshalb haben die Verwendungen von Ausdrücken Bedeutungen tatsächlich gerade aus dem Grunde, aus dem Rechtsgeschäfte ihre rechtliche Bedeutung haben: Rechte und Pflichten der Beteiligten werden in charakteristischen Weisen umverteilt, und daß dem so ist, erschöpft sich in besonderen Regelmäßigkeiten im Verhalten aller Betroffenen. Regelfolgendes Verhalten läßt sich empirisch charakterisieren; regelmäßiges Verhalten mehrerer Leute ist regelfolgendes Verhalten, wenn es jedem jeweils für ihn selbst und für die anderen selbstverständlich ist und eine erlernbare Leistung darstellt. Dafür, daß ein Verhalten jemandem selbstverständlich ist, nennt Wittgenstein eine Reihe von Merkmalen (PU 210, 211, 212, 213, 219, 222, 223, 231, 240.) Das Merkmal, erlernbare Leistung (PU 232 - 237) zu sein, ist fürs regelfolgende Verhalten wichtig, weil Abweichungen damit zu Fehlern werden, die von anderen korrigiert werden; und aus diesen Korrekturen zu lernen ist der Korrigierte bereit. Ein Außenstehender hätte also die Möglichkeit, am Korrekturverhalten Fehler zu erkennen (vgl. PU 54) und aus den Fehlern sowie dem nicht korrigierten, selbstverständlichen Verhalten die fragliche Regel hypothetisch zu erschließen. Er kann dann, statt die beobachteten Merkmale der Verhaltensregelmäßigkeiten einzeln aufzuzählen, sagen: "Das Verhalten der Leute folgt (vermutlich) der Regel R." Das ist eine Hypothese; der Außenstehende muß versuchen, die Regel R so zu formulieren, daß sie dasjenige Verhalten fordert, das den Leuten selbstverständlich ist, und daß sie das Verhalten verbietet, das Korrekturverhalten auslöst. Der Außenstehende könnte z. B. ein Sozialpsychologe sein, der das Verhalten von Leuten in Fahrstühlen untersucht, und könnte zu dem Ergebnis kommen: "Leute in Fahrstühlen folgen der Regel: `man hat möglichst großen Abstand voneinander zu halten.'" Es kann durchaus sein, daß die Formulierung der Regel in dieser sozialpsychologischen Hypothese zum erstenmal auftaucht; wenn die Hypothese zutrifft, dann weisen Leute im Fahrstuhl also ein Verhalten auf, mit dem sie einer Regel folgen, die sie selbst nicht kennen. Im Kontext des Schenkungsbeispiels (der seine Rolle für unser Problem definiert) nennt Wittgenstein als zweites Beispiel, daß man sich eine Notiz macht; das würde bei einer uns "gänzlich fremden Sprache" erhebliche Zusatzkomplikationen bedeuten. Halten wir uns an mündliche Berichte, wie in PU 206 genannt, und nehmen Wittgensteins Hinweis auf den Charakter von Mitteilungen in PU 363 ernst (vgl. auch PU 295 - 298, 386, 594 und 676) dann haben die "weitern praktischen Folgen" einer Mitteilung damit zu tun, was der Adressat mit der Mitteilung anfangen kann. Man muß nun unbedingt beachten, daß auch eine falsche Mitteilung eine Mitteilung ist; falsche Mitteilungen sind keine Verstöße gegen Sprachregeln. Der Adressat einer Mitteilung, daß p, ist nicht in der Lage dessen, der mit eigenen Augen gesehen hat, daß p. Er darf aber vom Sprecher erwarten, daß der für seine Mitteilung einsteht; wer etwas mitteilt, ähnelt einem, der sich für etwas verbürgt. (Das findet man nicht bei Wittgenstein; es ist einem intelligenten Autor aber zu unterstellen.) Freilich kann dann eine Mitteilung nur in Situationen zustande kommen, wo dem Sprecher Wissen über den mitgeteilten Sachverhalt und dem Adressaten ein Interesse an der Information unterstellt wird (andernfalls liegt eine bloße Behauptung vor, die der Wette ähnelt). Wie das Schenken nicht nur praktische Folgen hat, sondern auch die Vorbedingung, daß die zu verschenkende Sache dem Sprecher gehört, hat die Mitteilung nicht nur die praktische Folge, daß der Sprecher dem Adressaten für das Zutreffen geradesteht, sondern auch die Vorbedingung, daß von ihm das nötige Wissen und vom Adressaten ein Informationsbedarf erwartet werden. Genauso steht es mit unserem dritten Beispiel, dem ebenfalls in PU 206 genannten Befehl, von Wittgenstein am ausgiebigsten benutzt: Wenn ein Sprecher einem Adressaten befiehlt eine Handlung auszuführen, dann muß der Adressat die Handlung ausführen. Allerdings kann der Sprecher nur dann etwas befehlen, wenn er die notwendige Autorität hat; auch das steht bei Wittgenstein nicht explizit, aber wo er ausführlich mit dem Beispiel arbeitet (PU 143 - 145, 185), ist er der Lehrer und der Adressat der Schüler. (Die Vorbedingung, daß der Sprecher die Autorität haben muß, unterscheidet den Befehl zum Beispiel von der Bitte.) Man kann als Forscher in einem Land mit einer gänzlich fremden Sprache die Vermutung, Äußerungen seien Schenkungen, Mitteilungen oder Befehle, also daran überprüfen, ob es sich um Äußerungen handelt, die in für sie bezeichnenden sozialen Konstellationen vorkommen und die dann charakteristische Auswirkungen auf die von den Sprachbenutzern anerkannten Verteilungen von Rechten und Pflichten haben. Dabei muß man die Rolle der Äußerung unterscheiden von der Form, die die Äußerung in einer Einzelsprache haben muß, um im Gebrauch dieser Einzelsprache diese Rolle zu spielen. Die Kennzeichnung der Rolle ist für alle Sprachen gleich; daran kommt auch Wittgenstein nicht vorbei, denn andernfalls könnte man gar nicht herauszufinden versuchen, ob das Schenken eines Rings im Lateinischen wie im Englischen sprachlich vor sich gehen kann, ob es also in beiden Sprachen Äußerungen mit dieser Bedeutung gibt. Natürlich kann es sein, daß zwei Sprachen keine Äußerungen mit genau gleicher Schenkungsrolle haben, so daß der Feldforscher mit "Schenken" in beiden Fällen nicht identische, sondern verwandte Bedeutungen bezeichnen würde. Dagegen werden die akustischen Eigenschaften sich stark unterscheiden (und auch die Umstände, unter denen die akustischen Ketten gerade diese Bedeutung annehmen). Welche Äußerungen Schenkungen sind, stellt der Ethnolinguist an ihren konventionalen Rollen fest; wie Äußerungen mit diesen Rollen aussehen, schreibt er ins Lehrbuch der untersuchten Sprache. Dieses Bild davon, wie man im Rahmen der Gebrauchstheorie der Bedeutung Hypothesen für Äußerungsbedeutungen überprüft, gibt zunächst einmal nur eine Methode der Sprachbeschreibung an. Es öffnet aber darüber hinaus einen sehr direkten Übergang zu Wittgensteins Vorstellung, nach der "eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen" (PU 19) und nach der "das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform" (PU 23). Den Übergang will ich jetzt verdeutlichen; ich nehme dafür in Anspruch, daß die eben genannten Zitate aus der bisher vorgelegten Skizze von Sprachspiel, Gebrauch und Bedeutung einigermaßen zwingend folgen, wenn ein ohnehin naheliegender Begriff von "Lebensform" zugrunde gelegt wird. Wer die skizzierte Gebrauchstheorie für plausibel hält, wird den sowieso naheliegenden Begriff von "Lebensform" noch näher liegen sehen; wer beide für plausibel hält, kann sich einen Reim auf Wittgensteins Vorstellung von ihrem Zusammenhang machen. Wer nur die Gebrauchstheorie - wie skizziert - für plausibel hält, wird zur Suche nach etwas gezwungen, für das es bei Wittgenstein kein anderes Angebot als die Lebensform gibt. Jedenfalls werden Gebrauchstheorie, Lebensform-Vorstellung und Einbettungsidee auf diese Weise in einer, wie ich beanspruche, larifari-freien und nachprüfbaren Interpretation zusammengebracht. Ich halte das für ein einigermaßen gewichtiges Argument dafür, Wittgensteins Sprechen von Lebensformen so und nicht anders zu verstehen. Das Ergebnis, daß Sprachen in Lebensformen eingebettet sind, ergibt sich aus dem skizzierten Überprüfungsverfahren des Feldforschers dadurch, daß dieses Verfahren ihn relativ schnell zu einer Entscheidung für eine Gesamtbeschreibung des Systems von sozialen Regeln nötigt, dem die Leute im unbekannten Land folgen. Wittgensteins Idee funktioniert nur, wenn man sich ohne Wenn und Aber zum Bedeutungsholismus bekennt. Ich nenne vier Punkte, an denen der Feldforscher sich unter Gesichtspunkten der theoretischen Fruchtbarkeit zwischen Alternativen entscheiden muß, die sich nicht auf die Bedeutungszuschreibungen beschränken, sondern Auswirkungen auf die Beschreibung von sozialen Regeln haben, in denen von Sprachverwendung nicht die Rede ist. Diese Aufzählung beruht auf Erfahrung mit der Untersuchung eines relativ einfachen, natürlichen Kommunikationssystems und ist daher wahrscheinlich unvollständig. Es geht also um Situationen, in denen der Forscher im gänzlich unbekannten Land sich beim Beschreiben der vermuteten Sprache zwischen Alternativen zu entscheiden hat, die unterschiedliche Annahmen über das System der sozialen Regeln nach sich ziehen, in denen es nicht um Sprachverwendung geht. Solche Situationen nenne ich kurz "Theoriefallen". In die erste Theoriefalle gerät der Forscher deshalb, weil er, um annehmen zu können, die für eine von ihm vermutete Äußerungsbedeutung vermutete konventionale Vorbedingung liege vor, soziale Regeln als implizit annehmen muß, die ihm diesen Schluß für seine Testsituation erlauben. Daß ein Sprecher in einer ganz konkreten Situation die für einen gewissen Befehl notwendige Autorität hat, läßt sich nicht in dieser Situation feststellen, sondern nur durch einigermaßen weiträumige Beobachtungen. Die zweite Theoriefalle lauert auf der Seite des konventionalen Ergebnisses. Bleiben wir beim Befehl: Er hat als konventionales Ergebnis, daß der Adressat das Befohlene tun muß; aber wie wir wissen, kann dieses Müssen in der konkreten Situation ganz unterschiedlich aussehen je nachdem, wie die Regeln für die Erlaubnis oder Verpflichtung zur Befehlsverweigerung, für die Pflicht des Vorgesetzten zur Durchsetzung des Befehls, für das Durchlaufen einer hintereinander geschalteten Reihe von Sanktionen usw. aussehen. Unterschiedliche Annahmen über diese Regeln sind also nötig, wenn man das Vorliegen eines Befehls für unterschiedliche Situationen vermuten will. Auf der Seite des konventionalen Ergebnisses lauert auch die dritte Theoriefalle. Es gibt viele Äußerungstypen, die keine neue konventionale Lage hervorbringen, sondern eine vorher bestehende konventionale Lage verstärken oder abschwächen. Wenn der Sprecher den Adressaten um etwas bittet, ist der Adressat dazu nicht einfach verpflichtet, sondern mehr als zuvor verpflichtet; lehnt der Sprecher eine Bitte des Adressaten ab, dann hat der Adressat nicht etwa keinen Anspruch auf Erfüllung, sondern denselben wie vor seiner Bitte; dankt der Sprecher dem Adressaten, dann vermindert sich seine Pflicht zur Gegenleistung, und entschuldigt er sich, dann vermindert sich seine Pflicht zum Schadenersatz. (Ob soziale Institutionen wie Eigentum oder Autorität überhaupt existieren, ist neben diesen Fragen kein zusätzliches Problem. Sie betreffen Regeln für die Ausgestaltung der Institutionen.) Die vierte Theoriefalle lauert, wo Handlungen der Leute als sprachliche Äußerungen mit Bedeutungen charkterisiert werden. Es gibt zahllose nicht-akustische Handlungen, die wir nicht als sprachliche Äußerungen auffassen, die aber mit denselben Paaren aus konventionalen Vorbedingungen und konventionalen Ergebnissen einhergehen wie gewisse sprachliche Äußerungen. Ein Beispiel dafür ist, daß ein Herr einer Dame die Tür aufhält; das hat dasselbe konventionale Outfit wie die Äußerung "Bitte nach Ihnen", also wie das Angebot des Sprechers an die Adressatin, sie vorgehen zu lassen. Und es gibt akustische Verlautbarungen, die wir nicht als sprachliche Äußerungen auffassen, obgleich für sie dasselbe gilt wie fürs Türaufhalten. Denken Sie nur daran, daß in einer Besprechung alle darauf warten, daß endlich ein Vorschlag kommt, und einer lehnt sich nun vor, ordnet seine Papiere und räuspert sich: alle anderen erwarten dann von ihm, daß er einen Vorschlag macht. (Es ist verwunderlich, daß das Problem, wie Äußerungen identifiziert werden, in der Sprachphilosophie so wenig berücksichtigt wird.) Die theoretische Alternative lautet in diesen Fällen: Finden wir ein System von Regeln für Äußerungsbedeutungen, nach denen die akustische Verlautbarung als Äußerung mit einer Bedeutung gekennzeichnet werden kann, oder ist ein System von sozialen Regeln vorzuziehen, nach denen jemand für die Folgen dafür verantwortlich gemacht wird, daß er sich in kritischen Situationen auffällig benimmt? Aus dem Holismus bei der Überprüfung von Bedeutungszuschreibungen ergibt sich der Gedanke, Sprachen seien in soziale Systeme (und in so verstandene Lebensformen) eingebettet, aus dem folgenden Grunde: Daß ein Regelsystem (eine Sprache) in ein anderes (in eine Lebensform) eingebettet sei, läßt sich nicht besser erläutern, als daß die Möglichkeit, sich nach dem ersteren System zu verhalten und die von ihm vorgesehenen Ergebnisse zu erzielen (die Sprache zu benutzen), davon abhängt, daß man sich auch im ersteren System bewegt (die Lebensform lebt). Genau diese beste Erläuterung wird geliefert, wenn eine Beschreibung der Sprache geliefert wird, die dann optimal ist, wenn sie zusammen mit ihren Annahmen über das zugrundeliegende Sozialsystem keinen gleich guten Konkurrenten hat. Natürlich bedeutet dieses Ergebnis, daß einbettende Lebensformen so große Unterschiede aufweisen können, daß es Unterschiede zwischen den einbettbaren Sprachen geben muß. Die Unterschiede brauchen nicht so weit zu gehen, daß in der einen Lebensform Institutionen existieren, die es in der anderen nicht gibt; kleinere Unterschiede genügen durchaus. Wir kennen zum Beispiel keine Äußerungen, deren Bedeutung "S Xt A G" durch das folgende Paar von Vorbedingung und Resultat gekennzeichnet wäre: Vorbedingung Bedeutung Resultat G gehört A S Xt A G G gehört S S ist A zu Dank verpflichtet Wie Sie leicht sehen, entspricht das unserem Schenken bis auf den feinen Unterschied, daß Sprecher und Adressat in Vorbedingung und Resultat die Rollen getauscht haben. Es handelt sich um eine Äußerung, mit der der Sprecher sich etwas verschafft, das dem Adressaten gehört, und zwar ohne daß der Sprecher eine besondere Position hätte (wie etwa ein Diktator oder ein absoluter Fürst aus der Renaissance). Oder ein näherliegendes Beispiel: Vorbedingung Bedeutung Resultat S ist Ehemann von A S Yt A S und A sind nicht mehr verheiratet S muß A eine Abfindung zahlen Das ist die Ehescheidung durch `Entlassung' der Frau, wie sie in einigen islamischen Gesellschaftsformen möglich sein soll. Schließlich ein letztes, uns historisch nahestehendes Beispiel: Vorbedingung Bedeutung Resultat A hat S beleidigt S Zt A A muß sich S zum Zweikampf stellen unabhängig vom Ausgang des Zweikampfs sind die Folgen der Beleidigung erledigt. In diesem letzten Fall haben wir ein Wort, nämlich "fordern", weil Äußerungen mit dieser Bedeutung in Deutschland, oder jedenfalls in Preußen, bis 1918 gang und gäbe waren. Im zweiten Fall kann man von "Entlassung" nur bei erheblichem Aufwand von Warnsignalen reden, und für die erste Äußerung müßte man ein Kunstwort einführen. Alle drei Bedeutungen kommen mit den bei uns üblichen sozialen Institutionen aus. Aber damit Äußerungen mit solchen Bedeutung üblich sein können, müssen die sozialen Systeme sich von unseren unterscheiden. (Das ist, wie unmittelbar klar sein wird, keine begriffliche Behauptung, sondern ein soziologische Hypothese.) Fangen wir bei der Duell-Forderung an: Sie kann bei uns heutzutage nicht üblich sein, weil es keine Teilmenge von Menschen gibt, die sich auf einen sogenannten Ehrenkodex verpflichtet fühlen, dessen unbedingte Wahrung für das Aufrechterhalten der eigenen sozialen Stellung nötig ist und in dessen Rahmen sogenannte Beleidigungen Angriffe auf Rang und Geltung einer Person sind, für deren Abwehr das Risiko des Duells sich lohnt. Dafür, daß es die Ehescheidung durch einseitige Willenserklärung des Ehemannes geben kann, müssen Männer natürlich ganz erheblich mehr Rechte (von dem zur Scheidung abgesehen) haben als Frauen. Denn da die Ehe u. a. eine Versorgungsgemeinschaft ist und Ehemänner sich vor allem dann von ihren Frauen scheiden werden, wenn diese nicht mehr damit rechnen können, in die Versorgungsgemeinschaft mit einem anderen Mann einzutreten, und da außerdem der soziale Status der geschiedenen Frau niedriger ist als der der verheirateten, wäre der gesamtgesellschaftliche Widerstand der Frauen gegen solche Äußerungen aus einer gleichberechtigten Stellung heraus viel zu stark. Ungleichberechtigung der Frau genügt aber nicht als Unterschied zu unserer Lebensform, damit die Sprache solche Äußerungen vorsehen kann; denn ganz abgesehen davon, daß Frauen bei uns nur rechtlich, nicht aber sozial gleichberechtigt sind, hat es die einseitige Ehescheidung auch vor der Einführung der rechtlichen Gleichberechtigung 1919 nicht gegeben, obwohl die Männer ein Interesse daran gehabt haben mögen. Es ist zum Beispiel anzunehmen, daß das Sozialsystem auch eine Zuflucht für die geschiedene Frau definieren muß. Was das erste Beispiel angeht, das Aneignen fremder Sachen durch einfache Erklärung: Wenn es solche Äußerungen geben soll, dann muß es natürlich die Institution des Eigentums geben. Eigentum ist im wesentlichen Verfügungsmacht. Man muß in einer Gesellschaft mit einer Sprache, die solche Äußerungen erlaubt, über seine Sachen also verfügen können, obwohl andere die Möglichkeit haben, sie einem durch einfache Erklärung zu entziehen. Das könnte zum Beispiel dadurch erreicht werden, daß man Kredite aufnimmt und möglichst alle seine Sachen dafür verpfändet; wenn die Regel gilt, daß die Schulden am Pfand haften, werden andere es sich zehnmal überlegen, ehe sie sich eine möglicherweise belastete Sache aneignen. Im Unterschied zu unseren Idealen würde es dort als erstrebenswert gelten, sich buchstäblich bis an die Grenze der Belastbarkeit zu verschulden. Oder die Lebensform könnte so geartet sein, daß die entstehende Dankesschuld so drückend wäre, daß sie zwar keine Sicherheit, aber hinreichenden Schutz böte; man könnte sich zwar nicht darauf verlassen, am nächsten Tag noch alle seine Sachen sein eigen zu nennen, wohl aber die meisten. (Es ist übrigens klar, daß es Äußerungen dieser Art nur bei "Rückschlagverbot" geben kann - was ein anderer sich bei mir geholt hat, darf ich mir nicht auf dieselbe Weise wiederholen.) Wenn es keine solchen Schutzmechanismen gäbe, gäbe es kein Eigentum mehr, und es gäbe keine Bedeutung, durch die die Äußerung sich charakterisieren ließe. Ich glaube, daß Wittgensteins eindrucksvollstes Beispiel diesen Fehler hat: das Beispiel der Holzverkäufer. Im Teil I der "Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik" gibt er im Zuge seiner Überlegungen dazu, inwiefern man einen Beweis eigentlich anerkennen "müsse", einige Beispiele für Anwendungen der Rechenkunst, die uns mehr oder weniger verrückt vorkommen; offenbar will er die in § 152 gegenüber Frege angemahnte Aufklärung darüber nachliefern, "wie diese `Verrücktheit' [...] wirklich aussehen würde". Wittgenstein findet sie im Ergebnis nicht so furchtbar verrückt, sondern nur, daß Leute, die die Rechenkunst wie beschrieben anwendeten, sich von uns sehr unterscheiden würden: In § 148 zahlen sie für "Scheitholz" (§ 143) z. B. ein und denselben Betrag für jede noch so verschieden große Menge, oder sie geben in § 153 für Waren zwar Münzen, aber gerade so viele, wie ihnen gefällt. Im ersten Fall ist Wittgensteins Kommentar: "man hat etwa gefunden, daß man so leben kann"; im zweiten sagt er: "Wir würden uns diesen Leuten viel weniger verwandt fühlen, als solchen, die noch gar kein Geld kennen". Richtig spannend wird es aber hier: Gut; aber wie, wenn sie das Holz in Stöße von beliebigen, verschiedenen Höhen schichteten und es dann zu einem Preis proportional der Grundfläche der Stöße verkauften? Und wie, wenn sie dies sogar mit den Worten begründeten: "Ja, wer mehr Holz kauft, muß auch mehr zahlen"? Wie könnte ich ihnen nun zeigen, daß - wie ich sagen würde - der nicht wirklich mehr Holz kauft, der einen Stoß von größerer Grundfläche kauft? - Ich würde z. B. einen, nach ihren Begriffen, kleinen Stoß nehmen und ihn durch Umlegen der Scheiter in einen `großen' verwandeln. Das KÖNNTE sie überzeugen - vielleicht aber würden sie sagen: "ja, jetzt ist es VIEL Holz und kostet mehr" - und damit wäre es Schluß. - Wir würden in diesem Falle wohl sagen: sie meinen mit "viel Holz" und "wenig Holz" einfach nicht das Gleiche, wie wir; und sie haben ein ganz anderes System der Bezahlung, als wir. (§§ 149, 150.) Zu sagen, die Leute meinten mit "viel Holz" und "wenig Holz" nicht das Gleiche wie wir, scheint mir uninteressant; und der Kommentar, sie hätten ein anderes System der Bezahlung, ist entschieden zu schwach. Man dürfte sich davon überzeugen können, daß hier nicht einmal verkauft und gekauft wird, weil es mangels eines Zahlungssytems gar kein "System der Bezahlung" gibt. Nimmt man an, daß die Leute gewinnorientiert handeln, dann werden sie natürlich folgendes tun: Sie kaufen hochgetürmtes Holz billig, breiten es aus, verkaufen es teuer, kaufen für den Erlös hochgetürmtes Holz billig, breiten es aus usw. usw.. Wenn die anderen auch so schlau sind, gibt es nur noch Wiederverkäufer und keine Käufer mehr, und der Markt bricht in der Zeit zusammen, die man braucht, um einen hochgetürmten Haufen umzuschichten. Wenn die Sache weitergehen soll, muß es den Leuten also egal sein, wieviel wovon sie für ihr Holz bekommen; was sie bekommen, hat dann keinen Wert und ist kein Zahlungsmittel. Die Transaktionen sind keine Kaufgeschäfte. Ich habe die Voraussetzung gemacht, daß die Leute sich gewinnorientiert verhalten. Läßt man diese Voraussetzung fallen, dann eröffnet sich dem Spiel der Fantasie ein weites Feld; aber kaufen und verkaufen oder so abstrakte Dinge wie Preise, und Geld findet man auf diesem Felde sicher nicht. Wir haben es also damit zu tun, daß, eingebettet in gewisse Verhaltensweisen, Äußerungen mit Bedeutungen postuliert werden, zu denen es in dieser Einbettung gar keine Lebensform geben kann - aus wohlgemerkt empirischen, nicht etwa aus begrifflichen Gründen. Wenn man die Rolle der Lebensformen für Wittgensteins Philosophie so eng wie hier von ihrer Rolle her betrachtet, die sie für den Sprachgebrauch und damit für die Bedeutung hat, wenn man also die Rolle von Konflikten zwischen Lebensformen von ihrer Rolle für die Verständigung her betrachtet, kann man jedenfalls eine Art von Verständigungshindernissen voraussagen, die auf Abweichungen von Lebensformen beruhen und immerhin so weit gehen, daß eine Übersetzung einer Äußerung von einer Sprache in die andere grundsätzlich ausgeschlossen ist. Äußerungsbedeutungen werden im Rahmen der Gebrauchs- und Sprachspieltheorie durch Paare aus konventionalen Vorbedingungen und konventionalen Resultaten charakterisiert. Wenn eine Äußerung, die in einer gewissen konventionalen Konstellation getan wird, diese oder jene Bedeutung haben soll, dann muss sie für Sprecher, Adressat und andere diese oder jene Veränderungen der konventionalen Lage herbeiführen. Natürlich ist das nur möglich, wenn die Äußerung in einer sozialen Umgebung vorkommt, in der die konventionale Vorbedingung und das konventionale Resultat überhaupt vorgesehen sind. Wo es keine Autoritätsverhältnisse gibt, gibt es keine Befehle. (Es kann durchaus Bitten geben.) Wo es kein Eigentum gibt, gibt es keine Eigentumsübertragung, also auch kein Schenken. Wo keinem Sprecher die uns vertraute Rolle des Augenzeugen zugebilligt wird, gibt es keine Mitteilung. Soweit mir bekannt ist, diskutiert Wittgenstein diese besonderen Möglichkeiten nicht. Sie sind aber im Rahmen seiner Vorstellungen ohne besondere Schwierigkeiten plausibel zu machen. Es kann Gesellschaften ohne Autoritätsverhältnisse geben. Sie müssen sehr klein sein; denken wir an isolierte Ethnien im zentralen Hochland von Neuguinea. Natürlich wird es nach allem, was die vergleichende Ethnologie uns lehrt, immer Führerfiguren geben; aber ihre Weisungen können sich dadurch auszeichnen, daß sie zwar immer, aber immer erst nach Palaver angenommen werden. Wir würden von Vorschlägen sprechen, nicht von Befehlen. Die Kinder mögen mit Lockungen erzogen werden; sie können sich rasch daran gewöhnen, daß es vorteilhaft ist, ihnen zu folgen. Daß es Gesellschaften ohne Eigentum geben kann, scheint mir evident. Und daß wir uns immer so darauf versteifen, das Mitteilen müsse die oder jedenfalls eine der Hauptfunktionen der Sprache sein, hat mir nie einleuchten wollen. Ist es nicht geradezu seltsam, daß Adressaten sich auf die Äußerungen von Sprechern so sehr verlassen, daß sie sogar empört sind (und sich in ihrer Empörung von anderen bestätigen lassen), wenn sie damit schiefliegen? Natürlich ist es verständlich, wenn Gesellschaften dieses sehr spezielle Institut entwickeln - nicht die erkenntnistheoretisch höchst bedenkliche Wahrheitsgarantie, sondern sie die sozial handhabbare Schadenersatzgarantie -, weil es für die Adressaten so ungemein praktisch ist (und die Sprecher zur Sorgfalt erzieht). Aber warum sollte eine Gesellschaft nicht statt dessen philosophisch agitieren und sagen: Wer wissen will, was los ist, baue sich seine Indizienkette selbst auf? Wenn die Lebensform die konventionale Vorbedingung oder das konventionale Resultat oder beide in der spezifischen Folge nicht vorsieht, gibt es die Äußerung mit der dadurch charakterisierten Bedeutung in dieser Lebensform nicht. Man kann dann also in einer in diese Lebensform eingebetteten Sprache keine Äußerung mit der fraglichen Bedeutung tun: Man kann als jemand, der dem sozialen System angehört, gewisse Dinge nicht sagen, die jemand anders sagen kann, der einem anderen sozialen System angehört. Ich will hier nichts zu der Frage äußern, wem das schadet; die Frage dieser Konferenz ist ja offensichtlich, was für Schwierigkeiten sich daraus ergeben. Zum ersten ist klar: Man wird gewisse Äußerungen der einen Sprache nicht in solche der anderen übersetzen können. Das ist natürlich auch gar nicht wünschenswert; was sollte man davon haben? Wichtiger ist eine zweite Frage: Wird man in Äußerungen der zweiten Sprache angeben können, was mit Äußerungen der ersten Sprache gesagt worden ist? Hier hilft nur die alte Antwort: das kommt darauf an; nämlich darauf, wie reich die zweite Sprache ist. Wir nehmen der Einfachheit halber an, es handele sich um Deutsch. Dann sind die Aussichten rosig. Unser schlimmstes Beispiel war, wenn ich das richtig einschätze, das der Selbstbedienung: Der Sprecher erklärt, daß ein bisher dem Adressaten gehörendes Ding ihm gehöre, und daraufhin gehört es ihm. Aber wir haben keine Schwierigkeit, die Bedeutung der Äußerung (auf die vorgenannte Weise) zu charakterisieren, und es fallen uns außer präzisen Definitionen (wie der eben genannten) sogar deutsche Wörter ein, mit denen - in einem Theaterstück nach ausreichender Exposition - jemand etwa äußern könnte: "Hiermit lasse ich mir von dir dein Auto schenken." Das versteht dann jeder, obgleich es gar nicht geht, eben weil jeder die sprechakttheoretische Trivialität kennt, nach der explizit performative Äußerungen wie "Ich verspreche, morgen zu kommen" im allgemeinen bedeuten, daß der Sprecher dem Adressaten verspricht, morgen zu kommen; und daß man durch einseitige Willenserklärungen Eigentum an Sachen eines anderen erwerben kann, gibt es zwar bei uns nicht, läßt sich aber erläutern und deshalb verstehen. Also: Bedeutungserläuterungen aus dem Blickwinkel der dritten Person erlauben einem Sprecher des Deutschen (oder einer ähnlich reichen Sprache) zu verstehen, was mit den entsprechenden, explizit performativen Äußerungen der ersten Person gesagt wird, und zwar auch dann, wenn die explizit performative Äußerung im Deutschen gar nicht existiert. Solche Bedeutungserläuterungen erlauben dann auch zu verstehen, was mit primär performativen Äußerungen gemeint ist, die an Stelle der fraglichen explizit performativen Äußerungen gebraucht werden. Auf diese Weise verstehen wir zum Beispiel, was "Ich entlasse dich" (vom Ehemann zur Ehefrau geäußert) heißen soll. Es kann freilich sein, daß man in der zweiten Sprache nicht einmal aus dem Blickwinkel der dritten Person angeben kann, was mit einer Äußerung in der ersten Sprache gesagt wird, und zwar deshalb, weil die einschlägigen konventionalen Vorbedingungen oder Resultate oder ihre Verknüpfung so ungewohnt sind, daß es nicht nur keine Wörter, sondern auch keine umständlichen Kennzeichnungen dafür gibt. Für so etwas kann man naturgemäß keine Beispiele geben, jedenfalls nicht, indem man sie sprachlich beschreibt. Wir können uns aber vorstellen, daß wir in einer sehr undifferenzierten Gesellschaft mit einem sehr kleinen Inventar an Institutionen und sehr wenigen Möglichkeiten zu deren Variation lebten. Zum Beispiel würden wir nicht zwischen Bitten, Aufforderungen, Anweisungen und Befehlen unterscheiden. Wenn wir dann auf eine fremde Lebensform stießen, in der diese Unterschiede existierten, und zu dumm wären, unsere Sprache so zu erweitern, daß sie uns erlaubte, die genannten Unterschiede - sei es auch umständlich - zu benennen, dann allerdings wären wir nicht in der Lage, die fremden Äußerungen auf die Weise zu verstehen, daß wir ihre Bedeutungen erst charakterisierten und dann - aber das wäre nicht einmal unbedingt nötig - Äußerungen in unserer Sprache fänden, die dieselben Bedeutungen haben würden. Wer fremde Lebensformen beschreiben kann, kann sie auch verstehen. Soweit das Unverständnis fremder Lebensformen ein Verständigungshindernis sein soll, muß es also ein Beschreibungshindernis sein. Und das ist wohl wahr: Wenn wir den Reichtum unserer Sprache, Sachverhalte auszudrücken, nicht erweitern, können wir nicht mehr beschreiben, als sie uns bislang erlaubt. Glücklicherweise ist unsere Sprache mit Mitteln ausgerüstet, die uns ermöglichen, ihren Ausdrucksreichtum zu erweitern. Die Fähigkeit zum Beschreiben fremder Lebensformen ist eine hinreichende Bedingung dafür, sie zu verstehen. Sie ist nicht notwendig. Wir können fremde Lebensformen erlernen, indem wir uns an sie gewöhnen. (Die Lernfähigkeit mag mit zunehmendem Alter abnehmen.) Es scheint keinen empirischen Grund für die Annahme zu geben, daß Kinder sich nicht an jede bekannte Lebensform gewöhnen können; sogar an zwei verschiedene. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es überhaupt nichts, was einen Konflikt der Lebensformen mit Verständigungsschwierigkeiten in Zusammenhang bringen könnte. Das aber scheint der einzige Zusammenhang zu sein, in welchem ein Konflikt der Lebensformen überhaupt auftreten könnte, wenn man die Lebensform in der Rolle sieht, wie Wittgenstein sie als einbettenden Hintergrund der Sprache offenbar vorschwebte. <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> *1* Unveränderte Fassung des auf dem Passauer Wittgenstein-Symposium gehaltenen Vortrages.