***************************************************************** * * Titel: Offene Grenzen, zerfaserte Ränder: Über Arten von Beziehungen zwischen Sprachspielen Autor: Hans Julius Schneider, Erlangen-Nürnberg/Potsdam - Deutschland Dateiname: 12-2-95.TXT Dateilänge: 44 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/95, Datei: 12-2-95.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** 1. Das Tagungsthema 'Konflikt der Lebensformen' verweist einen Wittgensteinleser, der in Berlin wohnt und an einer brandenburgischen Universität unterrichtet, auf aktuelle Probleme: Was Berlin angeht, so wird man ab und zu darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung bald nicht nur in die alte Reichshauptstadt umzieht, sondern damit zugleich in eine der größten türkischen Städte. Sind die Konflikte, die aus unterschiedlichen Verhaltensweisen von Türken und Berlinern resultieren, etwa im Sommer in öffentlichen Parks, Konflikte zwischen Lebensformen in einem Sinn, der sich auf Wittgenstein beziehen läßt? Könnte die Philosophie hier also hilfreich für öffentliche Angelegenheiten sein? Im Landtag zu Potsdam streitet man über die Einführung eines nicht christlich gebundenen Unterrichtsfachs 'Lebensgestaltung/-Ethik/- Religion'. Die Regierung ist für diesen Schritt, die Kirche ist entschieden dagegen. Einer der Gründe, die ich als Argument für diese Gegnerschaft gehört habe, lautet, der mit diesem Projekt unterstellte neutrale Zugang zum Bereich 'Leben, Ethik, Religion' sei eine Illusion; Neutralität sei bei der Behandlung dieser Themen nicht möglich. Ich halte dies für zutreffend; aber folgt daraus, daß man auf diesem Gebiet nichts anderes tun kann als die Sicht EINER Lebensform dogmatisch zu verkündigen, einschließlich des Bildes, das sie von diversen anderen hat? Ginge es in unserer gemischten Gesellschaft nicht gerade darum, solche einseitigen Sehweisen zu überwinden? Ich meine, daß einige grundsätzliche Fragen, die mit diesen Problemen in Zusammenhang stehen, sich sehr wohl mit Bezug auf Gedanken Wittgensteins einer Klärung näher bringen lassen. Bekanntlich benutzt Wittgenstein zur Erläuterung seiner antipsychologistischen Bedeutungstheorie, nach der die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke keine psychischen Entitäten wie 'Vorstellungen' sind, als Gegenbegriff immer wieder den Ausdruck 'Sprachspiel' und versteht darunter einen größeren oder kleineren zusammengehörenden Komplex von verbalen und damit 'verwobenen' nichtverbalen Handlungen. Um die Bedeutung eines Wortes zu erlernen muß man demzufolge lernen, an solchen Sprachspielen teilzunehmen, die im Fall, daß man es mit einer fremden Kultur zu tun hat, auch in ihren nichtverbalen Teilen sehr fremdartig sein können. Es ist nicht nur der Klang, der uns an anderen Sprachen als unvertraut auffällt, auch die zugehörigen nichtverbalen Handlungen können fremd und darüber hinaus konfliktträchtig sein. 'Sprachspiele' sind also weder nur spielerisch noch nur verbal. Zur Erläuterung sagt Wittgenstein in einem Kontext, in dem es ihm darum geht, die große Vielfalt der Arten der Verwendung "alles dessen was wir 'Zeichen', 'Worte', 'Sätze' nennen"*1*" deutlich zu machen: "Das Wort 'SprachSPIEL' soll hier hervorheben, daß das SPRECHEN der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform." (Ibid.) Und schon vorher hatte er formuliert: "Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen." (PU 19) Das Wort 'Sprachspiel' verweist also auf den nichtverbalen Anteil der Tätigkeit, und das Wort 'Lebensform' kommt (jedenfalls an der zitierten Textstelle) dort ins Spiel, wo eine Sprache (also ein zusammenhängender Komplex von Sprachspielen, einschließlich der nichtverbalen Anteile) ALS GANZE vorgestellt wird. Dabei ist allerdings hervorzuheben, daß hier an einen außerordentlich begrenzten Bereich gedacht wird. Es geht um ein Gedankenexperiment zu einem bestimmten Zweck, nicht um Aussagen über das Ganze einer NATÜRLICHEN Sprache. In welchem Sinne stehen sich in den oben herangezogenen Beispielen nun verschiedene Lebensformen gegenüber? Gibt es, auf die heutige Bundesrepublik bezogen, in den alten Ländern eine christliche, und z.B. in Brandenburg eine aus der atheistischen Erziehung entstandene nicht-christliche Lebensform? Treffen entsprechend in manchen Bezirken Berlins eine türkische und (man zögert schon, es niederzuschreiben) eine 'deutsche Lebensform' aufeinander? Oder muß man eher sagen: aus eine Vielzahl von Handlungsweisen, die für (Gruppen von) Türken typisch sind, stehen einzelne im Konflikt mit einzelnen Gepflogenheiten von Gruppen von Einheimischen? Könnte nun statt 'Handlungsweise' auch 'Lebensform' eingesetzt werden? Wie umfassend oder begrenzt muß dieser Terminus verstanden werden, damit man mit ihm arbeiten kann? Gehören Leute, die im Wirtshaus singen, und solche, die das verabscheuen, unterschiedlichen Lebensformen an? Kann man auch so etwas 'Großes' wie die Sehweise einer Kultur oder wie eine 'ganze' natürliche Sprache sinnvoll als 'Lebensform' bezeichnen? Ferner ist nicht klar, was es heißt, von den LEBENSFORMEN statt von den Menschen zu sagen, zwischen ihnen bestehe ein Konflikt. Als ersten Schritt zu einer Klärung möchte ich als notwendige, vielleicht aber nicht hinreichende Bedingung für die Aussage, es liege ein 'Konflikt zwischen Lebensformen' vor, fordern, es müßte sprachlich ausgearbeitete ERZÄHLUNGEN, LEHREN, oder KONSTITUTIVE REGELN (d.h. Regelformulierungen) geben, von denen man sagen kann, sie ARTIKULIEREN eine Lebensform. Von Lebensformen zu sagen, sie stünden im Konflikt miteinander, soll dann bedeuten, daß zwischen ihren Artikulationen Konflikte bestehen. Allerdings wäre noch zu klären, was das genauer heißt, denn es scheint klar zu sein, daß sich die sprachlichen Artikulationen, um in einem Konflikt zu stehen, nicht auf ein und derselben Ebene einfach widersprechen müssen; sie müssen nicht über denselben Gegenstand sich widersprechende Aussagen machen. Dennoch scheint ihre Unvereinbarkeit eine Voraussetzung dafür zu sein, daß wir von den zugeordneten Lebensformen sagen können, sie stünden im Konflikt zueinander. Ich gehe hier also davon aus, (1) daß Lebensformen 'kleinere' oder 'größere' Gebiete umfassen können, (2) daß nicht nur die Sprachspiele in ihnen wurzeln, sondern daß es auch umgekehrt Sprachspiele gibt, die Lebensformen artikulieren, und (3) daß sich auch dann sagen läßt, in welchem Sinne diese Artikulationen als unvereinbar wahrgenommen werden können, wenn sie sich nicht einfach widersprechen. Über diese und ähnliche Fragen müßte ein Lehrer des neuen Faches 'Lebensgestaltung/-Ethik/-Religion' sich Klarheit verschafft haben, den wir uns an einer Schule mit muslimischen, christlichen und atheistischen Schülern vorstellen können, denen wir unterstellen wollen, sie könnten charakteristische Züge ihrer jeweiligen Lebensform artikulieren. Wenn die Universität diese Lehrer ausbildet, was soll sie ihnen als ihre Aufgabe nennen? Ist es die unparteiische Vermittlung, d.h. eine ÜBER allen Lebensformen stehende Beurteilung der Konflikte zwischen ihnen mit Hilfe eines neutralen Maßstabs, eines TERTIUM COMPARATIONIS, z.B. in Gestalt einer abstrakten philosophischen Vernunft? Oder wäre es die Aufgabe des neuen Lebenskundelehrers, sich z.B. auf die Überlegungen Wittgensteins zu stützen, um die Inkommensurabilität von konfligierenden Lebensformen nachzuweisen und damit die Aussichtslosigkeit rationaler Verständigungsbemühungen? Ist ein solcher Nachweis unter Berufung auf Wittgenstein möglich? Erfordert auch er einen 'neutralen Standpunkt'? Sollte (und gegebenenfalls: warum sollte) sich die PHILOSOPHIE für die Ausbildung dieser neuen Lehrer eine besondere Kompetenz zutrauen? Worin würde sie bestehen? Als dritten aktuellen Bezug des Tagungsthemas möchte ich die Kontroverse über die Preiswürdigkeit unserer Kollegin Annemarie Schimmel nennen. In den Aufzeichnungen, die als VORLESUNGEN ÜBER DEN RELIGIÖSEN GLAUBEN publiziert worden sind, wird von Wittgenstein berichtet, er habe von "wirklich großen Differenzen" gesprochen, die zwischen ihm und seinem Gesprächspartner entstehen und dazu führen könnten, daß dieser über ihn sage: "'Wittgenstein versucht, die Vernunft zu unterminieren', was gar nicht falsch wäre. Wir sind hier in der Tat an einem Punkt, wo sich solche Fragen stellen."*2* Hat die Kollegin Schimmel versucht, die Vernunft zu unterminieren, indem sie sich mit unverhohlener Sympathie der islamischen Welt und speziell auch ihrer Religiosität zuwandte? Dies scheint die Meinung mancher Kritiker der Preisvergabe zu sein. Man könnte im Gegenzug versuchen, die zitierte, Wittgenstein zugeschriebene Aussage "was gar nicht falsch wäre" zu übernehmen, aber nicht, um die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen ('kein Preis für Wittgenstein, er versucht, die Vernunft zu unterminieren!'), sondern um anzudeuten, daß wir einen großzügigeren Vernunftbegriff brauchen. Er soll im genannten Zusammenhang auch gesagt haben, er wolle die Leute von einer bestimmten Denkweise abbringen (VRG 101). Das kann im vorliegenden Kontext nur heißen: Er möchte seine Gesprächspartner oder Leser DURCH PHILOSOPHISCHE ERWÄGUNGEN von einer Denkweise abbringen, und ich möchte davon ausgehen, daß hier mit 'Denkweise' etwas gemeint ist, das in einem engen Zusammenhang steht mit dem, was der Ausdruck 'Lebensform' bezeichnen soll. Ist ein solches Abbringen einer Person von einer Denkweise durch philosophische Erwägungen möglich? Kann es z.B. Überlegungen geben, mit deren Hilfe uns religiöse Aussagen einer fremden Kultur zugänglich werden (und das kann, nicht nur für die jüngeren Brandenburger, durchaus auch die christliche sein)? Und kann das so geschehen, daß der neue Schritt nicht einfach eine Hinzufügung, eine 'Bereicherung' ist, sondern eine Modifikation der bis dahin geübten Denkweisen, denn Wittgenstein spricht ja davon, jemanden von einer Denkweise ABZUBRINGEN? Kann es in diesem Sinne verbindende und daher sogar verbindliche Arten des Lernens und der Verständigung geben? Man wird darin DANN kein besonderes Problem sehen, wenn man meint, es gebe ein gemeinsames Maß in Gestalt eines integrativen Ober- Sprachpiels, mit dessen Hilfe man alle anderen beschreiben und beurteilen kann. Ein solches ausgezeichnetes Sprachspiel könnte man in der Philosophie zu finden hoffen, oder z.B. in einer wissenschaftlichen Soziologie.*3* Daß dies möglich sei, war aber gewiß nicht Wittgensteins Meinung.*4* Wie also, wenn es diesen Weg, sich im Praktizieren EINES Sprachspiels über alle anderen zu stellen, nicht gibt: Kann es dann trotzdem noch philosophische Erwägungen geben, die jemanden von einer Denkweise abbringen oder die ihm gewisse Züge einer bisher fälschlich als 'unvernünftig' wahrgenommenen Denkweise nahebringen? Können wir, was Frau Schimmel offenbar glaubt, von den Muslimen etwas lernen in einem Sinne, der über eine Bereicherung unserer Erfahrung auf einer äußerlichen, das Handeln nicht verändernden Ebene hinausgeht? Oder besteht ohne ein integratives Ober-Sprachspiel der einzige Weg zu dem Ziel, die angestrebte Großzügigkeit bezüglich des Vernunftbegriffs zu verwirklichen, in einem Lebensform- und Sprachspiel-Relativismus, wie er bei Richard Rorty immer wieder anklingt? Rortys Texte vermitteln den Eindruck, ihr Autor würde wie der Besucher einer Kunstgalerie staunend die Vielfalt der menschlichen Hervorbringungen betrachten, und er sei allein darum bemüht, im Sinne des von ihm bewunderten Dichter-Philosophen eine neue Variante zu erfinden. Aber es scheint als wolle er sich nicht wirklich einmischen und im strengen Sinn auch nichts dazulernen. Ein Dichter stellt sein Produkt bekanntlich NEBEN das der Kollegen; er ist nicht bestrebt, sie ins Unrecht zu setzen, sie von ihrer Denkweise abzubringen. Und wenn er selbst sich abbringen läßt, ist das ein kontingenter Umstand, der von tausend zufälligen Bedingungen und Launen auf seinem Lebensweg abhängt, einem Weg, den Rorty sich als seine Selbst-Neuschöpfung vorstellt.*5* Wenn wir uns diese Art des Relativismus zueigen machen würden, könnten wir streng genommen nicht mehr von Konflikten zwischen Denkweisen sprechen und von Erwägungen, die Denkweisen verändern. Wir könnten jemandem nicht sagen, eine bestimmte gleichbleibende Sache solle er anders sehen, weil nach der relativistischen Lesart im Konfliktfall verschiedene Umgangsweisen mit mehr oder minder gemeinsamen Sachen oder Problembereichen gar nicht vorliegen. Vielmehr müßte man sagen: Was als Konflikt, als Streit um eine Sache ERSCHEINT, hat gar keinen identischen Bezugspunkt, ähnlich wie 'Phlogiston' und 'Sauerstoff' nicht einfach zwei Namen für dieselbe Sache sind. Man kann nicht sagen, die moderne Chemie handle von derselben Sache, demselben Gas, wie ihre historische Vorläuferin. Ganz parallel ginge es bei einem Konflikt zwischen 'Denkweisen' nicht darum, sich über EINE gleichbleibende Sache zu verständigen, die aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Vielmehr müßte man sagen, daß die Identität der Sache erst durch die Denkweise (das Sprachspiel, die Lebensform) festgelegt wird. Reibungen und Konflikte gäbe es in Wirklichkeit, wie oben bereits erwogen, nur zwischen handelnden Personen, nicht zwischen Lebensformen. Ein Streit auf der sprachlichen Ebene wäre von leiblichen Drängeleien und Nötigungen nicht streng zu trennen; der Gebrauch einer ungewöhnlichen Metapher hätte mit im engeren Sinne sprachlichem Handeln so wenig zu tun wie ein Schlag auf den Kopf.*6* Was vernünftigerweise zu fordern ist, wäre entsprechend nicht eine Verständigung über eine verschieden beurteilte Sache, sondern im Denken eine tolerante Grundhaltung (jeder schreibt seine 'Gedichte' wie es ihm paßt) und im Handeln eine Art Nichtangriffspakt und die Bereitschaft zu praktischen Kompromissen (jeder hört zu, solange der andere sein 'Gedicht' vorliest).*7* 2. Soviel zur Verortung meiner Fragestellung. Ich möchte nun im folgenden eine Option skizzieren und plausibel machen, die auf der einen Seite klar anti-relativistisch ist (der Philosoph ist kein Dichter, was er schreibt ist nicht [nur] Ausdruck seines Lebensgefühls).*8* Diese Option sieht aber auf der anderen Seite ebenso klar ein (inhaltlich oder nur 'formal' zu charakterisierendes) 'Ober-Sprachspiel', das die Rolle eines TERTIUM COMPARATIONIS spielen könnte, als Illusion an: Die Philosophie ist nicht die Hüterin eines 'Spiegels der Natur'; in diesem Punkt ist Rorty zuzustimmen.*9* Ich komme so zu meinem engeren Thema, indem ich von der Lebensform über die Artikulation zum Sprachspiel übergehe und frage: Muß es ein 'gemeinsames Maß' für beliebige Sprachspiele geben (man denke z.B. an die Ideen zu einer 'Transzendentalpragmatik' und zu einem 'philosophischen Sprachspiel' von Karl-Otto Apel), damit man im interkulturellen Gespräch 'vernünftig' Sprachspiele zueinander in Beziehung setzen und auf diese Weise Konflikte zwischen Lebensformen ausräumen kann? Meine These lautet, daß ein solches gemeinsames Maß für die Lösung von Konflikten zwischen Lebensformen nicht nötig ist. Es geht in den hier nötigen Erwägungen vielmehr darum, sich 'ZWISCHEN Sprachspielen zu bewegen', von einem Sprachspiel ohne höhere Vermittlung einen Weg zu einem anderen Sprachspiel zu finden. Negativ gesagt: Wir sind nicht darauf angewiesen, aus einer Position 'von außen' heraus sie objektiv einander gegenüber zu stellen, gegeneinander abzuwägen und uns dann für eines zu entscheiden.*10* Die hier ins Auge zu fassende Bewegung von Sprachspiel zu Sprachspiel, ohne Zuhilfenahme eines Ober-Spiels, kann durchaus kritisch sein; Wittgenstein selbst spricht davon, er würde "Fehler rektifiziere(n)",*11* was diejenigen, die in seinem Denken einen inhärenten Konservatismus diagnostizieren, immer wieder übersehen. Die 'Erwägungen', die dabei anzustellen sind, erfolgen zwar nicht 'von außen', von einem Standpunkt über allen Sprachspielen, und doch sind sie weit mehr als kontingente Assoziationen eines Dichter-Philosophen bei der Lektüre der Schriften eines Kollegen. Ich meine, Wittgenstein habe in seinem Spätwerk sowohl diesen Weg praktisch vorgeführt als auch viele einschlägige Gedanken dazu ausgearbeitet. Diese Möglichkeit einer 'Bewegung zwischen Sprachspielen' scheint mir eine Voraussetzung zu sein für die Lösung von 'Konflikten zwischen Lebensformen' im oben, auf Artikulationen bezogenen Sinne: Wenn Sprachspiele nicht hermetisch gegeneinander abgeschottet sind, sondern von vornherein, 'ihrem Begriff nach', offene Grenzen und zerfaserte Ränder aufweisen, dann erscheint eine auf gegenseitiges Verständnis zielende Bewegung zwischen unvereinbaren Artikulationen und damit eine Veränderung der beteiligten 'Denkweisen' nicht als unmöglich, sondern sie wird als alltäglich und vertraut erkennbar. Dies deutlich zu machen ist eine Aufgabe der Sprachphilosophie. 2.1 Zum Thema 'offene Grenzen' möchte ich nur kurz daran erinnern, daß Wittgenstein seinen Sprachspielbegriff so angelegt hat, daß der verbale Anteil eines Sprachspiels in eine bestehende Praxis dergestalt integriert ist, daß im Standardfall einverständig gehandelt werden kann, daß aber grundsätzlich mit Randbereichen des Handelns zu rechnen ist, über die im Rahmen der bislang bestehenden Praxis, wie er sich ausdrückt, "nichts vereinbart" ist (PU 41). Im Zentrum steht also ein größerer oder kleinerer Bereich jeweils faktisch gelingenden gemeinsamen Handelns, die Ausdehnung über die jeweils üblichen, häufig nicht explizit gemachten Grenzen ist aber eine stets offene Möglichkeit. Wichtig ist mir daran, daß Wittgenstein diese Offenheit nicht als Mangel ansieht, als Hindernis für die Erlernbarkeit von Sprachspielen, das durch psychologistische Theorien über ein dem ('unvollkommenen') Sprechen zugrundeliegendes und ihm gegenüber genaueres 'Meinen' wegdiskutiert werden müßte. Die Fähigkeit, mit dieser Offenheit handelnd umzugehen und sie immer wieder zur Erweiterung der sprachlichen Handlungsmöglichkeiten zu benutzen, ist im Gegenteil von Anfang an ein Hauptbestandteil der Sprachkompetenz. Es ist bekanntlich ein charakteristischer Zug von Wittgensteins Bild von der Sprachkompetenz, daß sie nicht als eine Regelkompetenz dargestellt wird im Sinne eines (bewußten oder gar 'unbewußten') Sich- Richtens nach einer formulierten Regel. Vielmehr liegt umgekehrt die allgemeine, 'freie' Sprachkompetenz der speziellen Fähigkeit Regeln zu formulieren zugrunde, und jede Anwendung einer formulierten Regel bleibt auf diese Grundfähigkeit angewiesen.*12* Dies bedeutet aber, daß die Bewegung ZWISCHEN Sprachspielen, nämlich von einem bisher etablierten Spiel S1 zu einem erweiterten Sprachspiel S2, von Anfang an in der von ihm entwickelten Perspektive liegt, und zwar ohne daß zur Ermöglichung eines solchen Schrittes ein drittes Sprachspiel S3 als TERTIUM COMPARATIONIS hinzugezogen werden müßte. Als Beispiele kann man hier erstens an die einfachen Sortier- oder Bestellhandlungen denken, wie sie am Anfang der 'Philosophischen Untersuchungen' erörtert werden: Es ist nicht ein für allemal festgelegt, was alles noch eine korrekte Antworthandlung auf den Ruf 'Platte' ist; die Einbeziehung neuer Baumaterialien z.B. ist prinzipiell möglich; darüber wurde "nichts vereinbart". Die hier möglichen Erweiterungsschritte erfordern kein Ober-Sprachspiel, mit dem man sie ALS ERWEITERUNGSSCHRITTE, als Schritte von S1 (dem primären Sprachspiel 'Platte') zu S2 (dem erweiterten Sprachspiel 'Platte') zum Gegenstand machen kann. Das Sprachspiel, das hier als Vorform des Begriffs 'Platte' fungiert, hat keine scharfen Grenzen. Ein zweites Beispiel vom Anfang der 'Philosophischen Untersuchungen' ist der Schritt, den ich gerne als einen 'Mißbrauch' bezeichne, nämlich der Schritt von der als bereits etabliert gedachten Bestellhandlung "Platte!" zur 'Meldung' über vorliegende Platten, die mit der Äußerung desselben Wortes vollzogen wird (PU 21).*13* Die Kompetenz auf einem schon bestehenden Handlungsfeld (Bestellen von Baumaterial) wird auf ein neues Gebiet (Berichten über Vorliegendes) übertragen. Die alte Handlung geht in die neue Handlung ein, ohne dadurch zur Teilhandlung der neuen Handlung zu werden. 2.2 Beide Fälle machen bereits sichtbar, daß sich die Tatsache der offenen Grenzen EINES Sprachspiels ("Wir haben darüber nichts vereinbart"; PU 41) sofort verbinden läßt mit dem Thema der Nachbarschaft ZWISCHEN Sprachspielen, deren subtile Vielgestaltigkeit ich mit der Metapher von den 'zerfaserten Rändern' andeuten wollte: Was nicht mehr 'Platte' heißt, soll vielleicht 'Scheibe' oder 'Schnitte' heißen; ein neues, benachbartes Sprachspiel zieht eine vorher in der Verbalsprache nicht bestehende Grenze. Auch der Unterschied zwischen einer Bestellung und einer 'Meldung' kann durch ein eigenes Zeichen, einen von John Searle so genannten ILLOCUTIONARY FORCE INDICATOR, kenntlich gemacht werden.*14* Auch in diesem Fall erfolgt eine Erweiterung der bisherigen Spiele durch ein neues Zeichen; was ein (vielleicht sinnvoller und erfolgreicher) Mißbrauch war, wird so zu einem neuen Sprachspiel. Es ist hilfreich, hier mit Michel Ter Hark 'horizontale' von 'vertikalen' Beziehungen zwischen Sprachspielen zu unterscheiden.*15* So steht z.B. das Sprachspiel 'Schmerzen simulieren' in horizontaler Beziehung zu den Sprachspielen 'Freude simulieren' und 'so tun, als sei man emsig bei der Arbeit'. Diese Sprachspiele arbeiten nach Harks Analyse auf derselben Ebene, sie stehen in einer horizontalen Relation. In einer vertikalen Beziehung stehen dagegen die Sprachspiele 'Schmerzen empfinden' und 'Schmerzen simulieren'. Das Sprachspiel des Simulierens ist sekundär zum Empfindungssprachspiel, d.h. es kann aus logischen Gründen nur erworben werden, wenn das Empfindungssprachspiel bereits beherrscht wird. Das Simulationssprachspiel richtig zu sehen verlangt also u.a., diesen sekundären Charakter zu bemerken. Insofern gehört zum richtigen Verständnis des Simulationssprachspiels die Erkenntnis, daß wir zwei Ebenen vor uns haben. Für unser Thema der 'Konflikte zwischen Lebensformen' scheint mir diese zweite Art der Relation zwischen Sprachspielen von besonderer Bedeutung zu sein, weil Sprachspiele, die der Artikulation von Lebensformen dienen, typischerweise durch den Nachvollzug vertikaler Schritte verstanden werden müssen. Schritte dieser Art zu übersehen oder zu mißachten führt zu der von Hark so genannten 'GROUND FLOOR FALLACY', d.h. zu Täuschungen, die auf der falschen Annahme beruhen, alle Sprachspiele befänden sich auf einer einzigen logischen Ebene, und in diesem Sinne gebe es nur das Erdgeschoß. Bevor ich die Bedeutung dieser Ebenendifferenz für das Thema der Lebensformen näher kennzeichne, möchte ich einen anderen philosophischen Fall erwähnen, an dem man den Nutzen dieser Differenzierung zwischen Ebenen erkennen kann. Instruktiv ist hier die im Anschluß an Wittgenstein entwickelte These Harks, das Sprachspiel des Introspektionsberichts sei sekundär zum Sprachspiel des Berichtens über die Wahrnehmung von Dingen, und nicht sei die introspektive Unterscheidung und Erfassung von so genannten 'Sinnesdaten' ein vorbereitender Schritt zur Beurteilung der Ähnlichkeit solcher Datenmengen, die erst dann zum Bericht über auf diesem Wege konstituierte Dinge führe. Diese These bezüglich der logischen Ordnung verweist nicht nur die Sinnesdaten-Sprache auf den zweiten Platz. Sie enthält auch die Teilthese, von Introspektion ließe sich durchaus sinnvoll reden. Hark stellt aber klar, daß in der vertikalen Bewegung vom (primären) Sprachspiel 'sagen, welches Ding man sieht' hin zum (sekundären) Sprachspiel 'sagen, was man innerlich vor sich sieht' eine Bedeutungsverschiebung mit dem Wort 'sehen' erfolgt. Einfach gesagt: Wir 'sehen' den Baum im Park nicht im selben Sinne wie wir ein erinnertes Gesicht vor uns 'sehen'; auch sagen wir von Sinneseindrücken, wenn wir überhaupt von ihnen sprechen, nicht, daß wir sie 'sehen', sondern daß wir sie 'haben'. Hier einfach nur von 'sehen' zu sprechen, könnte ein Symptom für die erwähnte 'Erdgeschoß- Täuschung' sein, d.h. für ein Übersehen der vertikalen Stufung.*16* Soviel als Erläuterung der Rede von den 'vertikalen Beziehungen' zwischen Sprachspielen. Ich möchte hervorheben, daß Hark (mit Wittgenstein) die Fähigkeit zu solchen vertikalen Bewegungen und damit die Fähigkeit zu Schritten, die zu so genannten 'sekundären Bedeutungen' führen, als Grundbestandteil der menschlichen Sprachfähigkeit konstatiert. Hier ist zu ergänzen, daß man auch die Fähigkeit zur Erfindung und zum richtigen Verständnis von lexikalischen und syntaktischen Metaphern dazurechnen muß, wobei die letzteren auch zu neuen Subjektausdrücken führen und damit zu neuen 'Gegenständen der Rede'.*17* Wie grundlegend und wie unabhängig von besonderer sprachlicher oder gar sprachphilosophischer Vorbildung unsere Fähigkeit zur Erfassung solcher Stufenunterschiede ist, zeigt sich an den spontanen Reaktionen beliebiger Zuhörer auf so genannte grammatische Witze. So können wir bei Woody Allen z.B. die Formulierung finden: "Nicht nur gibt es keinen Gott, sondern versuchen sie mal am Wochenende einen Klempner zu finden!"*18* Wer hier lacht, sollte vor der Erdgeschoß-Täuschung gefeit sein; ihm sollten die vertikalen Bewegungen zwischen Sprachspielen vertraut und selbstverständlich sein; es kommt für den Philosophen dann nur noch darauf an, sich im rechten Moment daran zu erinnern. 3. Statt nun eine Inventarisierung von Arten von Beziehungen zwischen Sprachspielen zu beginnen, möchte ich an dieser Stelle schon zurücksteuern auf das Thema 'Konflikt der Lebensformen'. Wenn Wittgenstein und Hark im Recht sind, gehört es zu unseren sprachlichen Grundfähigkeiten, daß wir uns zwischen Sprachspielen bewegen können, ohne daß wir dafür ein Ober-Sprachspiel in Anspruch nehmen könnten oder müßten, das als gemeinsames Maß fungiert. Diese Bewegung kann durchaus dazu führen, daß sich Ausdrucksweisen aneinander reiben, was überall in den 'Philosophischen Untersuchungen', auch unter Benutzung erfundener Sprachspiele, deutlich gemacht wird. Auf eine solche 'Reibung' kommt Wittgenstein z.B. dort zu sprechen, wo er von den Augenbrauen spricht, die zum Auge Gottes gehören (VRG 109); oder man denke an sprachliche Abweichungen von der Art, wie sie sich in dem als Trost gemeinten Zuspruch zeigen: 'der Zahn der Zeit, der manche Träne trocknet, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen'. Solche Beispiele machen deutlich, daß ein Ober-Sprachspiel außerhalb aller Sprachspiele nicht nötig ist, damit wir Abstand bekommen und beobachten können, daß sich verschiedene Sprachspiele aneinander reiben. Und es kann durchaus gelingen, von einer solchen Beobachtung ausgehend einen philosophischen Fehler zu 'rektifizieren', etwa, wenn es um die logische Ordnung zwischen der Rede von den Sinnesdaten und der Rede von den Dingen geht. Damit man von 'Konflikten zwischen Lebensformen' sprechen kann, wurde oben verlangt, daß ARTIKULATIONEN vorliegen, die zwar nicht einfach im Widerspruch zueinander stehen, die sich aber gleichwohl ausschließen. Läßt sich dazu nun auf der Basis der getroffenen Feststellungen über die verschiedenen Arten von Beziehungen zwischen Sprachspielen etwas Genaueres sagen? Mir scheint, daß ein Ansatzpunkt für die Frage, um welche Art von Problem es sich bei Lebensformkonflikten handelt, auf der untersten Ebene diejenigen von Wittgenstein erörterten Fälle sind, in denen bei geteiltem sprachlichem Erdgeschoß von manchen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft ein vertikaler Schritt gemacht wird, den andere Mitglieder zurückweisen oder nicht mitvollziehen. Ich möchte also vorschlagen, im Dissens über vertikale Schritte zwischen Sprachspielen ein verkleinertes Modell zu sehen, an dem sich studieren läßt, von welchem Typus Konflikte sind, die wir als solche zwischen Lebensformen bezeichnen. Wittgenstein beschreibt z.B. die Kluft zwischen einer Person, die sich die Frage, ob es ein jüngstes Gericht geben wird, nur auf der gleichen Ebene zueigen machen kann wie die Frage, ob ein unsicher identifizierbarer Gegenstand ein deutsches Flugzeug ist (VRG 87 f.). Sie versteht die einzelnen Worte; begreift vielleicht auch, daß die aufgeworfene Frage für den Gesprächspartner eine besondere Bedeutung hat, macht sich diese aber nicht zueigen. Wir können jetzt sagen, hier werde ein vertikaler Schritt nicht mitvollzogen. Die eine der Personen schließt den vertikalen Übergang von den 'Erdgeschoß-Bedeutungen' der Worte 'Gericht' und 'letztes' (oder 'jüngstes') zu einem Sprachspiel, in dem die Formulierung 'jüngstes Gericht' als Artikulation einer das ganze Leben der Person betreffenden 'Denkweise' fungieren kann, für sich als unverständlich oder unvereinbar mit den eigenen Lebensform- Artikulationen aus. Es gibt einen Dissens über einen vertikalen Schritt. Daß hier ein Konflikt zwischen der Akzeptanz und der Nichtakzeptanz eines vertikalen Schrittes auf eine andere Sprachebene vorliegt, ist nicht schwieriger zu erkennen als der Witz von Woody Allen. Wie aber kann man in einem solchen Konflikt reagieren? Welche Arten von philosophischen Erörterungen können einen bestimmten vertikalen Schritt plausibel oder unplausibel, annehmbar oder unannehmbar, bedenkenswert oder absurd erscheinen lassen? Wittgenstein spricht hier davon, daß derjenige, der den vertikalen Schritt gegangen sei, sich "auf ein Bild berufen" würde (VRG 88). In die Richtung der schon angesprochenen 'Denkweise', auf die er mit philosophischen Überlegungen Einfluß nehmen möchte, weist die wenig später auftretende Formulierung: "Eine Person könnte z.B. geneigt sein, alles, was ihm widerfährt, als eine Belohnung oder Bestrafung aufzufassen, während eine andere Person überhaupt nicht an so etwas denkt." (VRG 89) Ich möchte nicht leugnen, daß es im Einzelfall sehr schwierig sein kann, jemandem ein Bild nahezubringen oder ihn von einer Denkweise zu überzeugen oder abzubringen. Das muß sich am konkreten Fall erweisen. Ich meine aber, es hänge für die praktische Lösung der Konflikte zwischen Lebensformen viel davon ab, ob wir meinen, die Aufgabe sei von einer Art, die uns aus alltäglichen kleinen Schritten schon vertraut ist, oder ob wir hier vor Problemen zu stehen glauben, für die es aus philosophischen Gründen keine Lösungen geben kann. Von Wittgenstein kann man lernen, daß die erste Antwort zutrifft: Die vertikale Bewegung zwischen Sprachspielen ist uns zutiefst vertraut. Nur eine falsche Beschreibung der Sprachfähigkeit kann uns darüber täuschen. Weil wir uns zwischen Sprachspielen auch ohne den Umweg über ein als Maß dienendes Ober-Sprachspiel bewegen können, folgt aus der Nichtexistenz dieses Super-Sprachspiels nicht, daß der Nichteinmischungsrelativismus, den ich Rorty zugeschrieben habe, die einzig verbleibende nicht-dogmatische Position ist. Zwar ist es nicht nötig und nicht empfehlenswert, sich in einem festen Bestand von Redeweisen dogmatisch einzuigeln. Es ist andererseits zur Überwindung dieses Dogmatismus aber ebenfalls nicht nötig, beliebige andere Redeweisen als bloße Bekundungen von Dichter-Philosophen einfach unkritisiert stehen zu lassen und allenfalls die Buntheit der Sammlung durch eine danebengestellte eigene Kreation zu bereichern. Dabei ist unbestritten, daß jeder von uns sich immer nur im Medium derjenigen sprachlichen Formen artikulieren kann, in denen er sich im Laufe seines bisherigen Lebens als 'Lebenselement' zu bewegen gelernt hat. Dies ist die harmlose Form der Relativität im Sinne des Satzes 'jeder läuft auf seinen eigenen Füßen'. So gesehen gibt es (um auf das eingangs angeführte Beispiel zurückzukommen) in der Tat keine 'neutrale Sicht' auf den Sektor 'Lebensgestaltung/Ethik/Religion', die der Philosoph für sich reklamieren könnte. Wir sprechen stets aus der Perspektive, die wir bislang gewonnen haben; neutralen Grund können wir hier nicht in Anspruch nehmen. Aber die ART DER BEWEGUNG, die wir auszuführen haben, um Lebensformen zu verstehen, die uns fremd sind, ist uns gleichwohl in ihren einfachsten Varianten zutiefst vertraut: Es ist die ganz normale Bewegung ZWISCHEN Sprachspielen, für die wir ein Ober-Sprachspiel nicht zu Hilfe nehmen müssen. Dessen Nichtexistenz stürzt uns also keineswegs in besondere Probleme. Daß wir nicht über einen 'objektiven' Maßstab im Sinne eines Blicks 'von außen' verfügen, entwertet nicht unsere nach bestem Können errungene, im jeweiligen Moment nicht übersteigbare Perspektive. Bei Wittgenstein können wir also etwas lernen über die Art der Bewegungen, die bei Konflikten zwischen Lebensformen eine Lösung ermöglichen, und wir können erkennen, daß es sich um eine vertraute Art handelt, von der wir uns nicht einreden lassen sollten, wir seien zu ihr nicht fähig. Was heißt das für den oben vorgestellten Lehrer des neuen Unterrichtsfachs 'Lebensgestaltung/Ethik/Religion'? Er kann nicht über den Parteien schweben; er kann aber auch nicht das Denken Wittgensteins in Anspruch nehmen um zu beweisen, daß es bei Lebensformkonflikten prinzipiell keine vernünftigen Einigungen geben kann. Man wird von ihm also verlangen, daß er bewußt aus seiner Perspektive sprechen und versuchen wird, Anknüpfungspunkte für vertikale Übergänge, für den Griff zu bestimmten Bildern und Denkweisen zu finden, die er den Schülern als möglich aufweist. Seine besondere Kompetenz als Philosoph sollte in seiner Beweglichkeit liegen, in seiner Fähigkeit, die begrenzte Reichweite von Sprachspielen zu erkennen und Alternativen zu überkommenen Bildern und Denkweisen zu sehen. So wie Wittgenstein neue Sprachspiele erfunden hat, um seinen Lesern die wenig bemerkten Charakteristika und die naheliegenden Fußangeln in unseren vertrauten philosophischen Redeweisen sichtbar zu machen, so sollte der hier vorgestellte Lehrer über verschiedene, alternative Bilder und Denkweisen verfügen, und es sollte ihm gelingen, sie plausibel an die Sprachspiele der unteren Ebenen anzuknüpfen, d.h. an diejenigen, die jeweils faktisch einvernehmlich verfügbar sind. Seine eigene Sicht sollte er nicht zugunsten einer illusionären Neutralität oder einer im schlechten Sinne spielerischen Beliebigkeit zu verleugnen suchen. Aber er sollte auch unvertraute Denkweisen so weit an die Sprachspiele des jeweils vertrauten 'Erdgeschosses' anbinden können, daß sie nicht von vornherein absurd erscheinen. Z.B. könnte er das Bild vom jüngsten Gericht mit dem Bild von den Wiedergeburten in Beziehung setzen, wobei es nach Wittgensteins Auffassung von der Religion von zentraler Bedeutung wäre, daß er deutlich macht, daß es sich hier nicht um konkurrierende THEORIEN handelt. Die Forderung nach einer Anschließbarkeit ans Erdgeschoß gilt im übrigen auch für die Darstellung der Philosophiegeschichte: Sollen die von den klassischen Philosophen vertretenen Lehren nicht als Sammelsurium abstruser Hirngespinste erscheinen, müssen sie als Beantwortungsversuche für nachvollziehbare Fragen dargestellt werden.*19* Damit komme ich zum Schluß. Was ich plausibel machen wollte, läßt sich in dem Satz zusammenfassen: Wenn wir uns nicht über die Eigenart unserer Sprachfähigkeit täuschen, sondern sehen, daß die Fähigkeit zu vertikalen Bewegungen zwischen Sprachspielen von Anfang an dazugehört, dann erscheinen Konflikte zwischen (Artikulationen von) Lebensformen nicht als unlösbar. Wenn wir die überzeugendste der uns möglichen Sichtweisen, statt sie entweder zugunsten einer illusionären Neutralität oder 'Objektivität' zu verstecken, oder sie mit der beschwichtigenden Bemerkung, sie sei nur eine unter beliebig vielen anderen, nicht ernst zu nehmen, - wenn wir also unsere jeweils bestmögliche Sicht der Dinge der argumentativen Konkurrenz mit anderen aussetzen und dabei stets auf ihre Anbindung an das jeweilige 'Erdgeschoß' mit seinen konkreten Erfahrungen der begrenzten aber nicht bezweifelten Einigkeit achten, dann haben wir gute Chancen, im Dialog zwischen den Lebensformen vernünftige Schritte zu tun und etwas dazuzulernen, im Denken und im Handeln. <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> FUSSNOTEN: *1* Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen/Philosophical Investigations, New York (Macmillan) 1953, Teil I, § 23. Im folgenden zitiert als 'PU' mit Nummer des Paragraphen. *2* Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, hrsg. von C. Barret, übersetzt und eingeleitet von E. Bubser, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 21971, S. 102. Im folgenden zitiert als 'VRG' mit Seitenzahl. *3* Zur Neutralitätsillusion in der Soziologie vgl. Joachim Matthes, Über das Erfahren von Erfahrung (oder: Von den Schwierigkeiten des erfahrungswissenschaftlich orientierten Soziologen, mit gesellschaftlicher Erfahrung umzugehen), in: H.J. Schneider, R. Inhetveen (Hrsg.), Enteignen uns die Wissenschaften? Zum Verhältnis zwischen Erfahrung und Empirie, München (Fink) 1993, 101123 *4* L. Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers 'Golden Bough'; in: Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. von J. Schulte, Frankfurt (Suhrkamp) 1989, 2946. *5* Vgl. vor allem: Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt (Suhrkamp) 1989, und kritisch dazu: H.J. Schneider, 'Spiegel der Natur' oder Sprachspiel-Relativismus: Eine falsche Alternative, in: C. Demmerling, G. Gabriel, T. Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur, Frankfurt (Suhrkamp) 1995, 103-122 *6* So ausdrücklich D. Davidson in: A Nice Derangement of Epitaphs; in: E. Lepore (ed.), Truth and Interpretation, Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford (Blackwell) 1986, 433-446 *7* Vgl. zur Komplexität der hier angedeuteten Fragen: Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt (Suhrkamp) 1989, und unten, Anmerkung 19. *8* Dies war Rudolf Carnaps Vorwurf an die Metaphysiker. Rorty scheint dieselbe Aussage eher als Kompliment zu sehen. Vgl. R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, ERKENNTNIS 2 (1932) 219-241 *9* Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Oxford (Blackwell) 1980 *10 Daß dieser Umweg über einen objektiven Blick auf die Sprachspiele weder möglich noch nötig ist, hat James Edwards als entscheidendes Argument gegen den Nihilismus ins Feld geführt. James C. Edwards, The Authority of Language. Heidegger, Wittgenstein, and the Threat of Philosophical Nihilism, Tampa (Univ. of South Florida Press) 1990 *11* Ludwig Wittgenstein, 'Philosophie'; §§ 86-93 (S. 405-435) aus dem so genannten 'Big Typescript' (Katalognummer 213); REVUE INTERNATIONAL DE PHILOSOPHIE 43 (1989) 175-203, hier: S. 179 *12* Vgl. H.J. Schneider, Die sprachphilosophischen Annahmen der Sprechakttheorie, in: M. Dascal, D. Gerhardus, K. Lorenz, G. Meggle (Hrsg.), Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 1. Halbband, Berlin (de Gruyter) 1992, 761-775 *13* Vgl. H.J. Schneider, On Language Use and Language Structure, KODIKAS/CODE 2 (1980) 77-85 *14* John Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge (C. Univ. Press) 1969 *15* Michel Ter Hark, Beyond the Inner and the Outer. Wittgenstein's Philosophy of Psychology, Dordrecht (Kluwer) 1990, 33-42 *16* Die Ausdrücke 'primär' und 'sekundär' bezeichnen relative Positionen von zwei jeweils bestimmten Sprachspielen zueinander. Der Ausdruck 'Erdgeschoß-Täuschung' bezeichnet entsprechend das Nichtbemerken dieser Stufendifferenz. Die Frage, ob es 'absolut' primäre oder grundlegende Sprachspiele gibt, soll mit diesen Ausdrücken nicht vorentschieden werden. *17* Vgl. Hans J. Schneider, Syntactic Metaphor: Frege, Wittgenstein, and the Limits of a Theory of Meaning, PHILOSOPHICAL INVESTIGATIONS 13 (1990) 137153 (dt. Umarbeitung: 'Syntaktische Metaphern' und ihre begrenzende Rolle für eine systematische Bedeutungstheorie, DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE 41 (1993) 477486); derselbe, Was heißt: Reden von etwas? In: W. Huber, E. Petzold, Th. Sundermeier (Hrsg.), Implizite Axiome. Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns, München (Chr. Kaiser) 1990, 140150; derselbe, Begriffe als Gegenstände der Rede; in: I. Max, W. Stelzner (Hrsg.), Logik und Mathematik. Frege- Kolloquium Jena 1993; Berlin (de Gruyter) 1995, 165-179 *18* "Not only is there no God, but try getting a plumber on weekends." W. Allen, Getting Even, London (W.H. Allen) 1975, p. 33. *19* Diese Fragen gelten zwar nicht Gegenständen, die sich als identische durchhalten; insofern sind 'Denkweisen' für Gegenstände in der Tat oft konstitutiv. In dem Maße aber, in dem die hier erörterten Bewegungen ZWISCHEN Sprachspielen verständlich gemacht werden können, läßt sich doch von KONFLIKTEN IM DENKEN über einen hinreichend bestimmbaren Handlungsbereich sprechen, nicht nur von einem Konflikt zwischen Personen. Vgl. auch Charles Taylor, Understanding and Explanation in the 'Geisteswissenschaften'; in: S.H. Holzmann, Ch. Leich (eds.), Wittgenstein: To follow a Rule, London (Routledge & Kegan Paul) 1981, 191-210