***************************************************************** * * Titel: Die Hinnahme von Sprachspielen und Lebensformen Autor: Joachim Schulte, Bologna - Italien Dateiname: 13-2-95.TXT Dateilänge: 37 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/95, Datei: 13-2-95.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Mitunter sagt Wittgenstein die tollsten Sachen. Einige der tollsten werde ich in diesem Vortrag zitieren. Zu diesen Zitaten gehören die beiden Bemerkungen, auf die im Titel angespielt wird. Diese Bemerkungen stammen aus den Jahren 1946 bzw. 48. Ihre bekannteste Formulierung findet sich im sog. zweiten Teil der PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN, im Abschnitt xi. Die erste dieser Bemerkungen lautet: Es ist hier für uns die ungeheure Gefahr: feine Unterschiede machen zu wollen. - Ähnlich ist es, wenn man den Begriff des physikalischen Körpers aus dem >wirklich Gesehenen< erklären will. - Es ist vielmehr das alltägliche Sprachspiel hinzunehmen, und FALSCHE Darstellungen als dies zu kennzeichnen. Das primitive Sprachspiel, das dem Kind beigebracht wird, bedarf keiner Rechtfertigung; die Versuche der Rechtfertigung bedürfen der Zurückweisung.*1* Die in den PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN abgedruckte Kurzform der zweiten Bemerkung gehört zu den bekanntesten Aussprüchen Wittgensteins: Das Hinzunehmende, Gegebene -- könnte man sagen -- seien Lebensformen.*2* Die in den BEMERKUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE wiedergegebene Vorstufe dieses Zitats ist ausführlicher und stellt den eben angeführten Satz in einen Kontext, der in den PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN fehlt. In der früheren Fassung heißt es: Statt des Unzerlegbaren, Spezifischen, Undefinierbaren: die Tatsache, daß wir so und so handeln, z.B., gewisse Handlungen STRAFEN, den Tatbestand so und so FESTSTELLEN, BEFEHLE GEBEN, Berichte erstatten, Farben beschreiben, uns für die Gefühle der Andern interessieren. Das hinzunehmende, gegebene - könnte man sagen - seien Tatsachen des Lebens//seien Lebensformen//.*3* Die in der Vorstufe offengelassene Alternative »Tatsachen des Lebens//Lebensformen« ist selbstverständlich hochinteressant und kann dazu benutzt werden, den Sinn des Begriffs »Lebensform« näher zu bestimmen. Doch zunächst ist zu betonen, daß der Inhalt der zitierten Bemerkungen Wittgensteins unerhört, ja bestürzend ist. Das Unerhörte dieser Äußerungen soll im folgenden nach und nach verdeutlicht werden. Es hängt damit zusammen, daß die Begriffe »Sprachspiel« und »Lebensform« zu den Grundbegriffen der reifen Philosophie Wittgensteins gehören. Der erste dieser beiden, also der Begriff des Sprachspiels, kommt in Wittgensteins Schriften sehr häufig vor. Der zweite dagegen, der Begriff der Lebensform, findet sich nur selten, im Text der PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN insgesamt nur fünf Mal, in den übrigen Texten auch nicht sehr häufig, aber meistens, wenn nicht immer, an äußerst exponierter Stelle. Einige dieser Stellen werde ich später zitieren. Obwohl der Begriff »Lebensform« - wie z. B. auch der Begriff »Familienähnlichkeit« - relativ selten vorkommt, darf man ihm ganz zu Recht den Rang eines Grundbegriffs zubilligen, denn Wittgenstein benutzt ihn, um einige seiner Kerngedanken prägnant zu artikulieren. Im Denken Wittgensteins gehören die Begriffe »Sprachspiel« und »Lebensform« zusammen, was allerdings nicht heißt, daß man sie schlichtweg gleichsetzen darf. Beide Begriffe werden dazu benutzt, die Bedeutung des Aktiven, der eingeübten Fertigkeiten, des Abrichtens und der Praxis überhaupt zu unterstreichen, mithin die Bedeutung dessen, was Wittgenstein gern durch Anführung des Goethezitats »Im Anfang war die Tat« betont. Allen Verwendungsweisen des Sprachspielbegriffs gemeinsam ist wohl der Aspekt, daß Sprachliches und Nichtsprachliches zusammengesehen und als einander bedingende und ergänzende Elemente von Handlungsweisen verstanden werden. Aber der Sprachspielbegriff hat daneben noch viele andere Seiten und wird von Wittgenstein zu ganz unterschiedlichen Zwecken und wahrscheinlich nicht immer einheitlich verwendet. Es gibt erfundene und wirkliche Sprachspiele, es gibt Sprachspiele mit einzelnen Worten wie »gelb« oder »messen« und es gibt Sprachspiele mit Arten von Worten wie z. B. Farbausdrücken oder den diversen Fachterminologien des Messens. Sprachspiele werden beschrieben und analysiert, um spezifische Fragen hinsichtlich des Begriffs der sprachlichen Bedeutung zu klären oder um Probleme der philosophischen Psychologie in den Griff zu bekommen. Aber besonders denkwürdig sind freilich jene Stellen, an denen dieser Begriff benutzt wird, um anzuzeigen, daß nicht weitergefragt werden soll oder nicht weitergefragt werden darf, also Stelle wie diese: Unser Fehler, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als >Urphänomene< sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: DIESES SPRACHSPIEL WIRD GESPIELT. Nicht um die Erklärung eines Sprachspiels durch unsre Erlebnisse handelt sich's, sondern um die Feststellung eines Sprachspiels. [. . .] Sieh auf das Sprachspiel als das PRIMÄRE! [. . .]*4* An solchen Stellen dient der Sprachspielbegriff erstens dazu, dem auf Auskunft drängenden Gesprächspartner eindringlich klarzumachen, daß seine Fragen und Begründungswünsche irgendwo ein Ende haben müssen. »Basta«, sagt Wittgenstein, »jetzt guck' endlich genau hin! Dann wirst du sehen, daß wir eben in dieser Weise verfahren, und wenn du das richtig - nämlich im Zusammenhang und im Hinblick auf den praktischen Nutzen und die verfahrensbedingte Tunlichkeit - anschaust, wirst du dich beruhigen und erkennen, daß mit zusätzlichen Fragen nichts auszurichten ist, daß Antworten auf solche Fragen höchstens Scheinlösungen bieten können«. Zweitens hat der Sprachspielbegriff an solchen Stellen die Funktion, den Blick des Fragenden in eine andere Richtung zu lenken. Nehmen wir z. B. an, die Erörterung beginne mit Fragen bezüglich der Farbbegriffe und den ihnen vermeintlich entsprechenden inneren Vorstellungsbildern. Dann zeigt der im Sinne Wittgensteins therapeutisch verfahrende Philosoph vielleicht, daß wir mit unseren Fragen immer wieder bei bestimmten Sprachspielen des Suchens und Findens, des Vergleichens und Messens, des Beschreibens und Benennens landen. Und dort angelangt, dient der pointierte Verweis aufs Sprachspiel dazu, den anderen beim Wickel zu nehmen und zu sagen: »Dreh' dich doch einmal um! Schau dir die Wege an, auf denen du jeweils den Schlußpunkt erreicht hast. Und nun wandre von diesen Endpunkten zurück zu deinen Ausgangsfragen. Dadurch, daß du die Begriffslandschaft jetzt von dieser Seite betrachtest, geht dir womöglich ein Licht auf.« Diese beiden Seiten von Wittgensteins Gebrauch des Sprachspielbegriffs haben dies gemeinsam, daß der Fragende beruhigt werden soll. Erfüllt die Schilderung des Sprachspiels ihren Zweck, wird er sich zufriedengeben. Um es mit den Worten des von Heinrich Hertz stammen Mottos einer früheren Fassung der PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN zu sagen: Es ist nun zwar »nicht die Frage nach dem Wesen beantwortet, aber der nicht mehr gequälte Geist hört auf, die für ihn unberechtigte Frage zu stellen«.*5* Daß die Begriffe »Sprachspiel« und »Lebensform« zusammengehören, geht aus den drei Bemerkungen des ersten Teils der PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN hervor, an denen der Begriff der Lebensform gebraucht wird. Dort schreibt Wittgenstein nämlich erstens, eine Sprache vorstellen heiße: sich eine Lebensform vorstellen (§ 19), zweitens, durch das Wort »Sprachspiel« solle hervorgehoben werden, »daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform« (§ 23), und drittens, daß die Menschen in der Sprache übereinstimmen, und dies sei keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform (§ 241). Ganz zu Anfang des zweiten Teils der Philosophischen Untersuchungen wird dann außerdem gesagt, daß die »Erscheinungen des Hoffens« - d. h. unsere sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen hoffnungsvoller Einstellungen - »Modifikationen dieser komplizierten Lebensform« sind, nämlich der Lebensform von Geschöpfen, die eine Sprache beherrschen. Auf derselben Seite verwendet Wittgenstein sodann das eindringliche Gleichnis des »Lebensteppichs«, in dem der Kummer z. B. ein Muster bildet, das mit verschiedenen Variationen wiederkehrt.*6* Alle diese Bemerkungen Wittgensteins zeigen, daß die Sprache, der Gebrauch der Sprache, also die Sprachspiele in einem Zusammenhang stehen mit der Form unseres Lebens. Was es mit diesem Zusammenhang auf sich hat, wird aus einer Kontroverse zwischen Newton Garver und Rudolf Haller deutlich, bei der es darum geht, ob der Begriff der Lebensform von Wittgenstein wesentlich im Singular oder auch pluralisch verwendet wird. Garver meint nämlich, Wittgenstein wolle mit diesem Begriff die Unterschiede zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren betonen: Unterschiede, die sich natürlich darin manifestieren, daß der Mensch im Gegensatz zu Schafen und Enten eine komplizierte Wortsprache benutzt, die es ihm z. B. gestattet, Hoffnungen und Sorgen zu äußern, deren Bekundung den Tieren versagt ist. Die pluralischen Vorkommnisse des Wortes »Lebensformen« in Wittgensteins Texten glaubt Garver auf diese oder jene Weise wegerklären und den Singular als einzig ausschlaggebend in den Vordergrund stellen zu können.*7* Demgegenüber betont Rudolf Haller, daß zu viele Textstellen gegen diese Deutung sprechen und daß es auch inhaltlich einleuchtend ist, zumindest einige Äußerungen Wittgensteins dahingehend zu verstehen, daß mit »Lebensformen« verschiedene Kulturen, Zivilisationsstufen oder gesellschaftsspezifische Lebensweisen gemeint sind.*8* In dieser Kontroverse, auf die ich hier im übrigen gar nicht weiter eingehen möchte, hat Haller nach meinem Dafürhalten eindeutig recht. So schreibt Wittgenstein an einer Stelle der deutschen Umarbeitung des Blue Book zuerst, wir sollten uns »einen Sprachgebrauch (eine Kultur)« vorstellen, um dann fortzufahren, man könne sich auch eine andere »Sprache (und das heißt wieder eine Form des Lebens)« ausmalen.*9* Hier werden »Kultur« und »Lebensform« also ausdrücklich gleichgesetzt, und Kulturen existieren selbstverständlich in der Mehrzahl. Mir geht es hier aber nicht um Einzahl oder Mehrzahl, sondern um den Ausgangspunkt Garvers, und der ist, wie ich meine, durchaus richtig gesehen. Denn Garver bringt den Begriff der Lebensform in Verbindung mit dem von Wittgenstein emphatisch eingesetzten Begriff der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise, die uns als Bezugssystem für die Interpretation einer radikal fremden Sprache dienen soll.*10* Auch im Hinblick auf die hier vorausgesetzte Gemeinsamkeit der menschlichen Handlungsweise hat es Singular-/Plural-Auseinandersetzungen gegeben, diesmal zwischen Eike v. Savigny und dem Rest der gelehrten Welt.*11* Auch in diesem Fall kommt es mir nicht darauf an, ob die Einser- oder die Mehrzahl-Lösung richtig ist. Unbestritten ist aber wohl, daß Lebensformen allgemeine, sehr umfassende und in menschlichen Gemeinschaften realisierte oder der Möglichkeit nach realisierbare Bezugssysteme darstellen, die es uns als fragenden Betrachtern gestatten, andere - uns womöglich ganz fremde - Menschenwesen zu verstehen. Die Möglichkeit solchen Verstehens erlaubt uns wiederum, was nicht vergessen werden darf, den Rückblick auf unser eigenes Leben, das eigene Handeln, das eigene Sprechen. Denn die Betrachtung von Sprachspielen und der Lebensformen, in die solche Sprachspiele eingebettet sind, ist wesentlich eine Betrachtung von Vergleichsobjekten, um mit Wittgenstein zu reden, und das Studium der Vergleichsobjekte dient letztlich natürlich der Einsicht in das, was uns selbst betrifft, und zwar uns selbst im Plural wie im Singular. Die Lebensform ist zwar eine Form des gemeinschaftlichen Lebens, doch das Leben selbst ist das Leben des Einzelnen, der es gelernt hat, den Gepflogenheiten dieser Gemeinschaft gemäß zu sprechen und zu handeln. Das klingt nun vielleicht arg nach Einengung und Beschränkung - so, als wäre die Gemeinschaft, nach deren Lebensform wir uns richten, wenn schon kein Kerker, so doch bestenfalls eine umzäunte Weide, aus der auszubrechen hieße, daß man sich entweder zum lieben Vieh gesellt oder sich anmaßend in die Gesellschaft der Götter einreiht, was natürlich eine Facette des von Wittgenstein erörterten Solipsistendaseins ist. Das ist zwar einseitig, aber nicht ganz falsch gesehen, denn Regeln, Kriterien, Gepflogenheiten, Techniken und Drill sind in der Tat kennzeichnend für die Lebensformen, von denen bei Wittgenstein die Rede ist. Doch die Kehrseite dieses Sachverhalts ist, wie schon angedeutet wurde, daß unsere Fragen tatsächlich beantwortet werden können. Es kann zwar passieren, daß wir mit dem Kopf an die Wand rennen oder beim Graben auf harten Fels stoßen, weshalb sich unser Spaten zurückbiegt, aber Wände und harte Felsengründe bieten auch Sicherheit, einen soliden Halt, auf den man sich berufen und stützen kann. Dieser feste Grund, auf den wir bei der Erkundung unserer Sprachspiele stoßen - oder vielmehr: stoßen KÖNNEN -, findet seinen Ausdruck in unserem »Weltbild«, wie Wittgenstein sagt. Dieses Weltbild, das in Wittgensteins späten Bemerkungen ÜBER GEWISSHEIT thematisiert wird, habe ich »nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide«.*12* Sobald ich dieses Weltbild zu kennzeichnen versuche, gelange ich zu einer Beschreibung, die einer »Mythologie« gleicht. Und deren Rolle ist, wie Wittgenstein betont, »ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln lernen«. Diese Mythologie entspricht zwar einem festen Geländer bzw. einem Flußbett, wie Wittgenstein sagt, doch ebenso wie ein Flußbett kann sie sich im Laufe der Zeit verschieben. Das ist ein allmählicher Vorgang, doch er verbürgt Dauer im Wechsel und hinterläßt Spuren, die der rekonstruierende Forscher ausspähen kann. In den verschiedenen Schichten unserer Begriffe hat der Strom des Lebens früherer Generationen sich sedimentiert und so zur Gestalt unseres eigenen Weltbilds beigetragen. Auch das quasi mythologische Weltbild weist also die beiden schon genannten Seiten auf, insofern es zugleich einengend und stützend wirkt: Was uns Halt gibt, ist ebendadurch Beschränkung. Die Sicherheit, die uns auf diese Weise gegeben wird, ist besonderer Art. An einer späteren Stelle der Bemerkungen über Gewißheit unterscheidet Wittgenstein, wie Rudolf Haller in dem bereits genannten Beitrag hervorhebt, zwischen einer »noch kämpfenden« und einer nicht mehr kämpfenden, also »beruhigten« Sicherheit. Während mit der noch kämpfenden Sicherheit wohl das sich zur allmählichen Gewißheit durchringende Forschen unruhiger, weil auf Teilerkenntnisse angewiesener Geister gemeint ist, ist die beruhigte Sicherheit eben die durch unser gleichsam mythologisches Weltbild vermittelte Sicherheit, in der wir uns im Rahmen unserer Lebensform wiegen dürfen. Dies ist, wie Wittgenstein ausdrücklich anmerkt, keine vorschnelle oder oberflächliche Einstellung, sondern eine Sache der Lebensform. »Das heißt«, schreibt Wittgenstein, »ich will sie [diese] Sicherheit als etwas auffassen, was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt; also gleichsam als etwas Animalisches« (§ 359). Dieses »gleichsam Animalische« der beruhigten Sicherheit im Flußbett unserer Lebensform sollte uns nun aber nicht - oder zumindest nicht nur - an Biologisches oder Naturgeschichtliches denken lassen. Gemeint ist wohl eher das Unmittelbare, Instinktive bestimmter Reaktionen, ohne die viele unserer Sprachspiele keinen Halt hätten. Was »jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt«, ist der Instinkt im Sinne des Fundamentalen, aber Unbegründeten, weil es seinerseits unsere Begründungen stützt. »Der Instinkt«, schreibt Wittgenstein an einer unvergeßlichen Stelle, »ist das Erste; das Raisonnement ist das Zweite. Gründe gibt es erst in einem Sprachspiel«*13*. Das Animalische, Instinktive bietet den einfachsten und daher in mancher Hinsicht fundamentalen Sprachspielen Halt. Solche Sprachspiele, von denen auch in einem unserer Ausgangszitate die Rede ist, nennt Wittgenstein »primitiv«, was durchaus nicht pejorativ gemeint ist, sondern das Urbildhafte und an das Urmeter Gemahnende solcher Spiele in den Blickpunkt rücken soll. In diesem Sinne schreibt Wittgenstein in einem Manuskript über Ursache und Wirkung: Der Ursprung und die primitive Form des Sprachspiels ist eine Reaktion; erst auf dieser können die komplizierteren Formen wachsen. Die Sprache - will ich sagen - ist eine Verfeinerung, >im Anfang war die Tat<. . . . Die primitive Form des Sprachspiels ist die Sicherheit, nicht die Unsicherheit. Denn die Unsicherheit könnte nicht zur Tat führen. Ich will sagen: es ist charakteristisch für unsere Sprache, daß sie auf dem Grund fester Lebensformen, regelmäßigen Tuns, emporwächst. Ihre Funktion ist vor allem durch die Handlung, deren Begleiterin sie ist, bestimmt. Wir haben eben einen Begriff davon, welcherlei Lebensformen primitive sind, und welche erst aus solchen entspringen konnten. Wir glauben, daß der einfachste Pflug vor dem komplizierten da war.*14* Mit dieser skizzenhaften Darstellung einiger Gedanken Wittgensteins zu den Begriffen »Lebensform« und »Sprachspiel« habe ich mich sozusagen von hinten wieder an meine unerhörten Anfangszitate herangeschlichen. Halt, Sicherheit, jenseits von berechtigt und unberechtigt und daher Urgrund aller Begründungsversuche - das sind Kennzeichen, die zum Fazit dieser Gedanken gehören. Und nun schreibt Wittgenstein, um den Kern jener anfangs zitierten Stellen zu wiederholen, das alltägliche Sprachspiel sei »hinzunehmen« und Lebensformen seien etwas »Hinzunehmendes«. Was soll denn hier »hinnehmen« eigentlich heißen? Man sagt, daß man eine Niederlage oder eine Enttäuschung hinnimmt, und meint, daß man sich damit abfindet und sich ins Unabänderliche fügt, sei es auch mit Widerwillen oder im Gegensatz zu einst gehegten Hoffnungen. Der Gebrauch des Wortes impliziert aber auch, daß es anders hätte kommen können. Es hätte sein können, daß ich diese Niederlage oder diese Enttäuschung nicht hätte erleben müssen, denn es bestand die Möglichkeit oder zumindest die subjektive Aussicht, zu einem Sieg zu gelangen oder das fragliche Vorhaben zu einem erfolgreichen Ausgang zu bringen. »Hinnehmen« heißt »akzeptieren«, und was ich akzeptiere, das hätte ich auch mißbilligen, beanstanden oder verwerfen können. Und wenn der Wittgensteinleser an diesen Stellen, wie er es hin und wieder aus gutem Grund und zur Anregung zu tun pflegt, in die englische Übersetzung blickt, wird er finden, daß »hinnehmen« an beiden Stellen mit »accept« wiedergegeben wird, woran zwar nichts auszusetzen ist, was aber die Bestürzung vielleicht noch vertieft. Manchem wird auch jenes köstliche Bonmot in den Sinn kommt, das Carlyle zugeschrieben wird, der über Margaret Fullers Ausspruch »I accept the universe« gesagt haben soll »Gad! she'd better!«, was man vielleicht ganz frei durch die Formulierung »Das möchte ich ihr aber auch geraten haben!« übersetzen kann. Ähnlich wird man womöglich auch auf Wittgensteins Bemerkungen reagieren, wenn er sagt, die alltäglichen, primitiven Sprachspiele seien, ebenso wie unsere Lebensformen, »hinzunehmen«. »Was in aller Welt«, könnte man meinen, »gibt es hier denn HINZUNEHMEN. Nachdem sich der Bursche derart bemüht hat, das Grundlegende, Unbezweifelbare - in der Terminologie mancher Autoren: das >Unhintergehbare<, >Unhinterfragbare<, ja >Transzendentale< - der Sprachspiele und Lebensformen vor Augen zu führen, sagt er, sie seien hinzunehmen. Als ob man hier die Wahl hätte: Spiele ich bei diesem Sprachspiel mit oder nicht? Füge ich mich dieser Lebensform, oder steige ich lieber aus?« Es sieht beinahe so aus, als wollte Wittgenstein mit dieser beiläufigen Rede vom Hinnehmen den Kern seiner eigenen Thesen zurücknehmen oder zumindest aufweichen. Ist das Flußbett des mythologischen Weltbildstroms nicht doch recht schwankend? Biegt sich unser Spaten vielleicht noch nicht zurück? Es kann aber ebenfalls sein, daß dem nachdenklichen Leser nicht nur Carlyle und Margaret Fuller in den Sinn kommen, sondern eventuell auch der frühe, ja der ganz frühe Wittgenstein. Im dritten der erhaltenen Tagebücher aus der Zeit des ersten Weltkriegs findet sich eine ganze Reihe von Bemerkungen über Solipsismus, Mystizismus und die Bedingungen des Glücklichseins. Im TRACTATUS finden sich nur Spuren von diesen Bemerkungen; vor allem die Gedanken über den Glücklichen lassen sich eigentlich nur im Zusammenhang der frühen Tagebücher einigermaßen verfolgen. Und dort heißt es, wie sich mancher wohl erinnern wird: Um glücklich zu leben, muß ich in Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies HEISST ja »glücklich sein«. Ich bin dann sozusagen in Übereinstimmung mit jenem fremden Willen, von dem ich abhängig erscheine. Das heißt: >ich tue den Willen Gottes<. (8.7.16 [17f.]) . . . Nur das Leben ist glücklich, welches auf die Annehmlichkeiten der Welt verzichten kann. Ihm sind die Annehmlichkeiten der Welt nur so viele Gnaden des Schicksals. (13.8.16 [6f.] . . . Ich kann die Geschehnisse der Welt nicht nach meinem Willen lenken, sondern bin vollkommen machtlos. Nur so kann ich mich unabhängig von der Welt machen - und sie also doch in gewissem Sinne beherrschen - indem ich auf einen Einfluß auf die Geschehnisse verzichte. (11.6.16 [13f.]) Die Welt ist unabhängig von meinem Willen. (5.7.16 [1]) . . . Die Welt ist mir GEGEBEN, d. h. mein Wille tritt an die Welt ganz von außen als an etwas Fertiges heran. (8.7.16 [4])*15* In dieser zuletzt zitierten Bemerkung kommt ein weiteres Wort aus einem unserer Anfangszitate vor, nämlich das Wort »gegeben«. Es gibt tatsächlich Interpreten, denen an der Stelle »Das Hinzunehmende, Gegebene - könnte man sagen - seien LEBENSFORMEN« Russell und die Sinnesdaten einfallen.*16* Mir will jedoch scheinen, daß es einleuchtender ist, die Stelle wie folgt zu lesen: »Das Hinzunehmende, WEIL Gegebene usw.« Die Zitate aus den Tagebüchern sollen nun weder belegen, daß Wittgenstein hier die von der Mystik beeinflußten Gedanken seiner frühen Jahre wiederaufnimmt, noch sollen sie als Hinweis darauf verstanden werden, daß die solipsistische Tendenz jener Äußerungen über den Glücklichen beim späten Wittgenstein wieder zum Ausbruch kommt. Vielmehr sollen diese ausführlichen Zitate eine gewisse Einstellung deutlich machen, die Wittgenstein nie fremd war, der er zeitlebens zuneigte. Diese Einstellung ist nicht ganz leicht zu beschreiben. Sie hängt durchaus zusammen mit dem mystisch-solipsistisch-pantheistischen Gedankengut der Kriegsjahre, erhält beim späten Wittgenstein aber eine interessante Wendung, die nicht zuletzt ebendarin liegt, daß nicht mehr von der Welt als Gesamtheit der Tatsachen, vom Willen des einsamen Ichs oder vom Glück des als Weltseele sich entäußernden und zum ausdehnungslosen Punkt schrumpfenden Subjekts die Rede ist, sondern von Sprachspielen, Lebensformen, Weltbildern und dem Handeln der Menschen in einer Gemeinschaft als gleichartig erkannter Lebewesen mit ähnlichen Instinkten, Reaktionen und Äußerungen. Die Tendenz der Hinnahme, die ich meine, ist natürlich nicht das aufmüpfige Akzeptieren, das Margaret Fuller von Carlyle unterstellt wird. Es ist aber auch nicht das bequeme Sich-mit-etwas-Abfinden, das etwa dann zum Ausdruck kommt, wenn man sagt: »Verflixt, jetzt hab' ich einen Schnupfen erwischt. Aber um die Sache durch meinen Ärger nicht noch schlimmer zu machen, werde ich mich einfach damit abfinden, um so meinen Frieden mit der unangenehmen Lage zu machen.« Die Einstellung der Hinnahme, auf die Wittgenstein hinauswill, enthält beide Elemente - das Trotzige sowohl als auch das Phlegmatische oder gar Fatalistische -, aber sie enthält diese Elemente in einer dialektischen Mischung, die einen qualitativen Sprung bedeutet. In den frühen Tagebüchern kommt das zum Ausdruck, wenn Wittgenstein etwa schreibt: »Es gibt zwei Gottheiten: die Welt und mein unabhängiges Ich« (8.7.16 [10]), oder wenn er an einer bereits zitierten Stelle notiert, durch Verzicht auf Eingriffe in die Welt könne ich zur Unabhängigkeit von der Welt gelangen und sie so eben doch beherrschen. Das ist ein Akzeptieren, das zur Harmonie mit der Welt nicht durch botmäßiges Duldertum, sondern durch äußerste Willensanstrengung gelangt: Ich verzichte aufs Handeln, nicht weil ich es mir bequem machen will, sondern weil mir diese durchaus nicht leicht zu vollziehende Distanzierung die Einnahme eines Standpunkts ermöglicht, den ich bevorzuge. Hier möchte man vielleicht einwenden, daß dieses Zusammenzwingen von Trotz und Demut in einer Einstellung der privilegierenden Hinnahme in derart abgehobener Formulierung zwar ganz gut klinge, aber es frage sich doch, was das im einzelnen und auf Wittgensteins Spätphilosophie bezogen wirklich heißen könne. Dieser Einwand ist berechtigt. Hier möchte ich - in der ebenfalls aus Trotz und Demut gemischten Haltung des Interpreten - versuchen anzudeuten, was es mit dieser Einstellung auf sich haben kann. Dabei erlaube ich mir erneut einen Umweg und verfahre in zwei aufeinanderfolgenden Schritten. Zunächst werfe ich einen kurzen Blick auf einen Aspekt von Wittgensteins allgemeiner Charakterisierung der philosophischen Methode. Anschließend und abschließend wende ich mich erneut den Ausgangszitaten zu, um auch dort noch fündig zu werden. Bei der oben gegebenen Charakterisierung des Sprachspielbegriffs habe ich mich eines für Wittgenstein typischen Bildes bedient. Es war dort die Rede davon, daß man bei der Auseinandersetzung mit einem spezifischen philosophischen Problem auf mehreren Wegen immer wieder an dieselbe Stelle gelangt oder an verschiedene Stellen des gleichen festen Bodens in Gestalt grundlegender Sprachspiele. Ebenfalls genannt wurde die Wichtigkeit einer Drehung der Betrachtungsweise, indem man den gegangenen Weg in umgekehrter Richtung zurückschreitet. Diese und ähnliche Bilder von philosophischen Wegen, Wegänderungen, Wanderungen und Führungen finden sich immer wieder bei Wittgenstein. Er vergleicht sich selbst mit einem Fremdenführer, die Sprache mit einer zu erkundenden alten Stadt. Ein sehr schönes und nicht so oft zitiertes Beispiel findet sich in den VERMISCHTEN BEMERKUNGEN, in denen folgende Notiz aus dem Jahre 1937 abgedruckt ist: Leute haben mir manchmal gesagt, sie könnten das und das nicht beurteilen, sie hätten nicht Philosophie gelernt. Dies ist ein irritierender Unsinn, es wird vorgegeben, die Philosophie sei irgend eine Wissenschaft. Und man redet von ihr etwa wie von der Medizin. - Das aber kann man sagen, daß Leute, die nie eine Untersuchung philosophischer Art angestellt haben, wie die meisten Mathematiker z.B., nicht mit den richtigen Sehwerkzeugen für derlei Untersuchung oder Prüfung ausgerüstet sind. Beinahe, wie Einer, der nicht gewohnt ist im Wald nach Beeren zu suchen, keine findet, weil sein Auge für sie nicht geschärft ist und er nicht weiß, wo insbesondere man nach ihnen ausschauen muß. So geht der in der Philosophie Ungeübte an allen Stellen vorbei, wo Schwierigkeiten unter dem Gras verborgen liegen, während der Geübte dort stehenbleibt und fühlt, hier sei eine Schwierigkeit, obwohl er sie noch nicht sieht. - Und, kein Wunder, wenn man weiß wie lange auch der Geübte, der wohl merkt, hier liege eine Schwierigkeit suchen muß, um sie zu finden. Wenn etwas gut versteckt ist, ist es schwer zu finden.*17* Ganz bezeichnend und wichtig ist der hier intendierte Sinn der zu überwindenden philosophischen Schwierigkeit. Oft redet man leichthin von Schwierigkeiten oder Problemen der Philosophie, so, als handelte es sich um Rechenaufgaben oder Kreuzworträtsel. Wenn Wittgenstein von philosophischen Schwierigkeiten redet, meint er nicht nur, daß zu ihrer Lösung ein gewisses Quantum Gehirnschmalz eingesetzt werden muß, sondern er will darauf hinaus, daß die Mühe Selbstüberwindung oder Verzicht auf liebgewordene Gewohnheiten einschließt. Gut versteckt sind die Beeren, nach denen der Philosoph Ausschau hält, weil sie nicht an einem der gewohnten, von Vorläufern bereits gebahnten Wege liegen. Wer meint, er könne mit wissenschaftlicher Routine philosophische Früchte ernten, irrt sich, denn er läuft an allem vorbei, was philosophisch interessant ist. Also benötigen wir zunächst eine trotzig-demütige Reaktion auf die wissenschaftlichen Standardverfahren. Beispiel: anstatt allgemeine Theorien aufzustellen, aus denen sich Erklärungen ableiten lassen, versuchen wir es mit der Beschreibung tatsächlicher und erfundener Sprachspiele, um durch deren Vergleich zu neuen Einsichten zu gelangen und unseren Frieden mit den zunächst beunruhigenden Fakten zu machen. Dieses zunächst nur tastend und probierend angewandte Verfahren kann dann zu Erkenntnissen und Früchten führen, die wir für einen Gewinn erachten, so daß wir uns in dieser Technik üben, um auf solche Weise immer mehr Beeren einzuheimsen, die dem auf gebahnter Straße dahinwandelnden Routinier entgehen. Der erste schwierige und mühsame Schritt ist also die Änderung der Blickrichtung und das Ablassen vom normalen Weg. Die zweite Anstrengung liegt darin, daß ich mich im Querfeldeinwandern übe und mein Auge für die spezifisch philosophischen Beeren schärfe, die nur auf diese Weise zu finden sind. Auf diesem Umweg gelangen wir ohne weiteres zu unserem ersten Ausgangsbeispiel: Es liegt, wie Wittgenstein dort sagt, eine Gefahr darin, feine Unterschiede machen zu wollen und problematische Begriffe mit Hilfe eingespielter Theorien (welcher Provenienz auch immer) zu erklären. Hier müssen wir uns einen Ruck geben und den gebahnten Weg verlassen, um einen scheinbar einfacheren einzuschlagen und »das alltägliche Sprachspiel hinzunehmen«. Wichtig ist, daß es hier eines Rucks oder womöglich einer schwierigen Entscheidung bedarf, und ebenfalls wichtig ist, daß dieser Akt allein nicht ausreicht. Hinzu kommt, daß die verfehlte Darstellung als solche gekennzeichnet werden muß, was beinhaltet, daß man erstens einsieht, wie überflüssig, ja irreführend es wäre, das alltägliche oder primitive Sprachspiel, wie wir es auch den Kindern beibringen, rechtfertigen zu wollen, und zweitens umgekehrte Rechtfertigungsarbeit leistet, indem man nämlich zeigt, inwiefern Begründungsversuche des Sprachspiels fehlgehen oder fehlgehen müssen. Darin, daß man sich mit dem Kinder-Sprachspiel abfindet, liegt die Demut; in der Widerlegung der Rechtfertigungsversuche kommt der Trotz zutage. Das zweite Ausgangszitat, in dem es um die Hinnahme der Lebensformen geht, führe ich hier noch einmal in seiner ursprünglichen Gestalt an: Statt des Unzerlegbaren, Spezifischen, Undefinierbaren: die Tatsache, daß wir so und so handeln, z.B., gewisse Handlungen STRAFEN, den Tatbestand so und so FESTSTELLEN, BEFEHLE GEBEN, Berichte erstatten, Farben beschreiben, uns für die Gefühle der Andern interessieren. Das hinzunehmende, gegebene - könnte man sagen - seien Tatsachen des Lebens//seien Lebensformen//. Wieder ist die Richtung klar: Wir werden aufgefordert, die gewohnten und vielleicht auch recht eleganten theoretischen Begriffe fallenzulassen, um uns einem hausbackeneren Verfahren zuzuwenden, nämlich der Beachtung, Sichtung und Beschreibung der gar nicht so offensichtlichen Tatsachen unseres alltäglichen Handelns. Diese für unsere Lebensform bezeichnenden Tatsachen müssen wir als Gegebenheiten hinnehmen - das ist der Akt der Demut. Aber in dem Entschluß, es im expliziten Gegensatz zu anspruchsvolleren Theorien bei diesen Tatsachen zu belassen, aus ihrer übersichtlichen Darstellung etwas zu machen und auf diesem Wege philosophische Einsichten zu vermitteln, liegt, wie ich meine, ein gehöriges Maß an Trotz. FUSSNOTEN: *1* PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, II. Teil, 3. Aufl. Oxford: Blackwell, S. 200; Werkausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 529. *2* PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, S. 226/S. 572. *3* BEMERKUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE, Bd. I, § 630, Werkausgabe, Bd. 7. *4* PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, §§ 654-656. *5* Zit. nach G. P. Baker/P. M. S. Hacker, WITTGENSTEIN: UNDERSTANDING AND MEANING. AN ANALYTICAL COMMENTARY ON THE PHILOSOPHICAL INVESTIGATIONS, Oxford: Blackwell, 1980, S. 16. *6* PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, II. Teil, S. 174/489. *7* Newton Garver, »Form of Life«, in: Garver, THIS COMPLICATED FORM OF LIFE: ESSAYS ON WITTGENSTEIN, Chicago/La Salle, Ill.: Open Court, 1994, S. 237-267. *8* Rudolf Haller, »Lebensform oder Lebensformen?«, in: Haller, FRAGEN ZU WITTGENSTEIN UND AUFSÄTZE ZUR ÖSTERREICHISCHEN PHILOSOPHIE, Amsterdam: Rodopi, 1986. *9* EINE PHILOSOPHISCHE BETRACHTUNG (DAS BRAUNE BUCH), Werkausgabe, Bd. 5, S. 202. *10* PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, § 206. Vgl. hierzu meinen Aufsatz »KONTEXT«, in: Schulte, CHOR UND GESETZ. WITTGENSTEIN IM KONTEXT, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990, S. 146-161. *11* Eike v. Savigny, Wittgensteins »PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN«. EIN KOMMENTAR FÜR LESER, Bd. 1, 2. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1994. *12* ÜBER GEWISSHEIT, Werkausgabe, Bd. 8, § 94. Zu den Begriffen der Mythologie und des Weltbilds vgl. das letzte Kapitel meines Buches Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart: Reclam, 1989. *13* BEMERKUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE, Bd. II, § 689. *14* »Ursache und Wirkung. Intuitives Erfassen«, in: Wittgenstein, VORTRAG ÜBER ETHIK UND ANDERE KLEINE SCHRIFTEN, hg. von J. Schulte, S. 115. *15* TAGEBÜCHER 1914-1916, Werkausgabe, Bd. 1. *16* Vgl. Garth Hallett, A COMPANION TO WITTGENSTEIN'S »PHILOSOPHICAL INVESTIGATIONS«, Ithaca, N. Y.: Cornell University Press, 1977, S. 738. *17* VERMISCHTE BEMERKUNGEN, Werkausgabe, Bd. 8, S. 489 f.