***************************************************************** * * Titel: Wittgenstein über Sprache und Regeln Autor: Barbara Harder, Hamburg - Deutschland Dateiname: 15-2-95.TXT Dateilänge: 41 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/95, Datei: 15-2-95.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Gegenstand dieses Aufsatzes ist beileibe nicht alles, was Wittgenstein über den Themenkomplex Sprache und Regeln gesagt hat, sondern nur das direkte oder lineare Verhältnis zwischen beidem -- genauer gesagt: die Frage, ob Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" *1* der Ansicht war, daß Sprache notwendig geregelt ist. Diese These wird Wittgenstein üblicherweise unterstellt, meistens jedoch eher implizit, so daß ihre Unterstellung sich im Einzelfall nur höchst umständlich nachweisen ließe. Daß Wittgenstein der Ansicht gewesen sei, daß Sprache notwendig geregelt ist, folgt scheinbar aus der zentralen Rolle der Untersuchung des Regelbegriffs in den "Philosophischen Untersuchungen", sowie aus der Privatsprachen-Argumentation, welcher diese These als wichtigste Prämisse zugrundezuliegen scheint. So wird der Privatsprachen-Argumentation üblicherweise folgende Grobstruktur *2* unterstellt: Sprache ist notwendigerweise geregelt; unter den Bedingungen der Privatheit ist es nicht möglich, eine Regel festzulegen oder zu befolgen; also ist eine Sprache unter den Bedingungen der Privatheit unmöglich. Im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes soll gezeigt werden, daß Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" entgegen allem Anschein konsequenterweise nicht die Position vertreten haben kann, Sprache sei notwendig geregelt. Abschließend soll noch angedeutet werden, daß sein Standpunkt zu diesem Thema wohl eher durch die Behauptung wiedergegeben werden kann, Sprache sei charakteristischerweise geregelt, aber Geregeltheit sei weder hinreichende noch notwendige Bedingung von Sprache. Im zweiten Teil soll dann gezeigt werden, daß die Annahme, Sprache sei notwendig geregelt, der Privatsprachen- Argumentation nicht nur nicht zugrundeliegt, sondern daß dies auch zu unanehmbaren Komplikationen führen würde. Eine konstruktive exegetische Auseinandersetzung mit der Privatsprachen-Argumentation erfolgt jedoch an diesem Ort nicht mehr. ABSCHNITT 1 Zunächst ein paar Andeutungen zur Bedeutung, welche das Wort "notwendig" in diesem Zusammenhang hat. Ich möchte zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen des Wortes "notwendig" (und der damit verwandten modalen Ausdrücke wie "(un-)möglich", "kann (nicht)" usw.) unterscheiden. Diese sind "grammatisch notwendig" und "metaphysisch notwendig". METAPHYSISCH NOTWENDIG WAHR ist ein Satz genau dann, wenn seine Geltung im Seienden begründet liegt (was auch immer das heißen mag); und GRAMMATISCH NOTWENDIG WAHR ist ein Satz genau dann, wenn seine Geltung in der Grammatik der Sprache, der er angehört, begründet ist (was auch immer das heißen mag). Die Formulierungen "im Seienden begründet" bzw. "in der Grammatik ... begründet" sind dabei gezielt unscharf gehalten, damit die entsprechenden Theorietypen möglichst umfassend sind, so daß möglichst viele Positionen als metaphysische bzw. grammatikalische Theorien der Notwendigkeit einander gegenübergestellt werden können. Je nachdem, ob der Ausdruck "notwendig" im Sinne der grammatischen oder der metaphysischen Notwendigkeit interpretiert wird, ist auch die Behauptung, Sprache sei notwendig geregelt, zweideutig. Wittgenstein kann, aus Gründen, die hier nicht angeführt werden sollen, konsequenterweise nicht die These vertreten haben, Sprache sei metaphysisch notwendig geregelt. Dennoch ist es naheliegend, ihm wenigstens die Behauptung zuzuschreiben, Sprache sei grammatisch notwendig geregelt. Wenn im Folgenden die Frage diskutiert wird, ob Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" die Ansicht vertreten habe, Sprache sei notwendig geregelt, dann ist "notwendig" im Sinne der grammatikalischen Auffassung von Notwendigkeit zu verstehen. Falls Wittgenstein dieser Ansicht gewesen sein sollte, dann muß sie also im Sinne von (1) verstanden werden: (1) Es ist eine Regel unserer Sprache, daß wir, was nicht geregelt ist, nicht "Sprache" nennen. Der modale Ausdruck "notwendig" ist in dieser Formulierung nicht nötig, denn der Modus der grammatischen Notwendigkeit ist bereits in der Qualifizierung der Funktion des Satzes als Sprachregel enthalten. Behauptet Wittgenstein (1)? ABSCHNITT 1.1 Die Untersuchung des Begriffes der Regel, sowie des Regelfolgens und damit verwandter Ausdrücke ist ein Schwerpunkt der "Philosophischen Untersuchungen". Dennoch behauptet Wittgenstein (1) an keiner Stelle dieses Werkes explizit; dabei wäre, wenn er dieser Ansicht war, nichts naheliegender, als diese Behauptung auch zu äußern. Es steht außer Frage, daß unsere Sprache geregelt ist und daß die Wichtigkeit dieser Tatsache nicht unterschätzt werden darf; doch daraus, daß unsere Sprache faktisch geregelt ist, folgt nicht, daß jede Sprache notwendig geregelt ist. Gerade WEIL es eine Reihe von Parallelstellen in früheren Entwürfen Wittgensteins gibt, scheint sein Schweigen zu diesem Thema in den "Philosophischen Untersuchungen" bedeutsam. ABSCHNITT 1.2 Es hat eine Phase in der Entwicklung seiner Philosophie gegeben, in der es für Wittgenstein geradezu "natürlich" war, daß nur Geregeltes als Sprache bezeichnet werden darf -- im "Early Big Typescript" von 1932 schreibt er: "Man kann nun fragen: ist es denn aber auch noch ein Spiel, wenn Einer die Buchstaben abbc sieht und irgend etwas macht? Und wo hört das Spiel auf, und wo fängt es an? Die Antwort ist natürlich: Spiel ist es, wenn es nach einer Regel vor sich geht. Aber was ist noch eine Regel und was keine mehr?" *3* Darin, daß Wittgenstein hier vom Spiel spricht und nicht von der Sprache, liegt wohl kein Problem, denn was Wittgenstein über Spiele sagt, soll ja generell auf Sprachen übertragen werden. Allerdings hatte Wittgenstein in dieser Phase noch ganz andere Vorstellungen von philosophischer Methode als in den "Philosophischen Untersuchungen" - d.h. seine Methode beschränkte sich noch nicht streng auf die Konstatierung vorhandener Sprachregeln, sondern er arbeitete noch mit stipulativen bzw. dezisionistischen Elementen und mit funktionalistischen Erklärungen. So schreibt er in einem auf den 30. 1. 1931 datierten Entwurf: "D.h. die Sprache funktioniert als Sprache nur durch die Regeln, nach denen wir uns in ihrem Gebrauch richten. (Wie das Spiel nur durch die Regeln als Spiel funktioniert.)" *4* Auch dieser Entwurf stammt jedoch aus einer Zeit, in der Wittgensteins Methodik alles andere als konsolidiert war und er seinen Ansatz immer und immer wieder revidiert hat. Von funktionalistischen Erklärungsansätzen hat sich Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" verabschiedet.*5* Im späteren "Big Typescript" von 1933 ist noch ein dezisionistisches Element zu finden: "Ich nenne daher "Spiel" das, was auf dieser Liste steht, wie auch, was diesen Spielen bis zu einem gewissen (von mir nicht näher bestimmten) Grade ähnlich ist. Im übrigen behalte ich mir vor, in jedem neuen Fall zu entscheiden, ob ich etwas zu den Spielen rechnen will oder nicht." *6* Nach diesen methodischen Maximen ist es möglich, das Geregeltsein zu dem zu rechnen, was gegeben sein muß, damit der nicht "näher bestimmte" Grad der Ähnlichkeit erfüllt ist, und in jedem neu auftretenden Fall von etwas ansonsten Sprachähnlichem, aber nicht Geregeltem die Entscheidung zu treffen, daß es eben nicht "Sprache" genannt wird. Auch dieses dezisionistische Element, das in der Übergangsphase Wittgensteins geherrscht hat, hat in den "Philosophischen Untersuchungen" weichen müssen. Diese methodische Entwicklung äußert sich vor allem darin, daß dort nicht mehr die Rede davon ist, was LUDWIG WITTGENSTEIN so-und-so nennen WILL, sondern davon, was WIR so-und-so NENNEN. Dieser Übergang vom Ich zum Wir ist kein stilistischer Wechsel, sondern kennzeichnet die methodisch einschneidende Entscheidung, daß nicht mehr mit Explikationen bzw. Dezisionen des Autors gearbeitet wird, sondern nur noch in der Sprechergemeinschaft geltende Regeln konstatiert werden. Daß das "Big Typescript" in einer Übergangsphase der Entwicklung der Methode Wittgensteins entstanden ist und eine Bruchstelle markiert, ist auch daran ersichtlich, daß dort an anderer Stelle auch die spätere Methode bereits formuliert worden ist: Wir können sagen: Untersuchen wir die Sprache auf ihre Regeln hin. Hat sie dort und da keine Regeln, so ist das das Resultat unserer Untersuchung.*7* Dieser deskriptive Ansatz ist mit dem vorher formulierten dezisionistischen schwerlich zu vereinbaren, denn letzterem zufolge endet die Untersuchung ja nicht achselzuckend mit der Feststellung, daß an dem und dem Ort keine Regel festgelegt ist, sondern es kann eine Entscheidung gefällt und somit eine neue Regel festgelegt werden. Wittgensteins Position in methodischen Fragen ist zu dieser Zeit wirklich alles andere als ungebrochen gewesen. Zu dem Ergebnis, daß Sprache notwendig geregelt ist, kann Wittgenstein aber nur unter Verwendung stipulativer, funktionaler oder dezisionistischer Argumentationsweisen kommen, denn faktisch wird das Wort "Sprache" nicht nur auf Geregeltes korrekt angewendet. Gegenbeispiele werden in Abschnitt 1.4 und 1.5 präsentiert. ABSCHNITT 1.3 Der Begriff der Sprache ist -- wie auch der Begriff der Regel -- ein Familienähnlichkeits-Begriff. (Dazu mehr im zweiten Teil.) Das schließt zwar strenggenommen nur aus, daß dieser Begriff durch notwendige UND hinreichende Bedingungen definierbar ist, und nicht, daß es dennoch notwendige Bedingungen geben kann, die für den Gebrauch dieses Wortes gelten. Aber bei einem komplexen Begriff wie dem der Sprache kann die Behauptung, daß eine notwendige Bedingung gilt, erst als Resümee einer umfassenden Untersuchung der Grammatik des Wortes "Sprache" aufgestellt werden; vorher gibt es keine Gewähr dafür, daß nicht ein Zweig der Familie außer acht gelassen worden ist, für den die Bedingung nicht gilt. Das bedeutet nicht, daß eine statistische Untersuchung über das Sprachverhalten der Leute vorgenommen werden soll; aber -- das ist eines der Hauptthemen in Wittgensteins Philosophie -- die Sprachregeln sind so komplex, daß wir sie nicht ohne weiteres vollständig vor unser geistiges Auge rufen können: wir müssen uns -- getreu dem Motto "Denk nicht, sondern schau!" *8* -- die ÜBERSICHT erst einmal erarbeiten. Jemandem, der eine Verallgemeinerung vornimmt, ohne sich vorher einen Überblick verschafft zu haben, kann es ergehen wie Wittgensteins imaginärem Kontrahenten in § 66: für jede Verallgemeinerung, die er bietet, wird ein Gegenbeispiel gegeben. Wittgensteins Position ist auch keine Variante des Skeptizismus oder des Fallibilismus, denn da die Bedeutung sich seiner Ansicht nach im Gebrauch konstituiert und der Gebrauch räumlich und zeitlich begrenzt ist, ist es theoretisch möglich, sich einen vollständigen Überblick zu verschaffen. Und schließlich verfügt jeder Sprecher über die Kenntnis dieser Regeln. Je komplexer die Regeln für ein Wort sind, umso aufwendiger ist es allerdings, sich einen vollständigen Überblick zu verschaffen. Für Wittgensteins destruktive Zwecke ist ein vollständiger Überblick im Normalfall nicht nötig. Ebensowenig behauptet Wittgenstein, daß man nicht wissen könne, daß beispielsweise der Satz "Junggesellen sind unverheiratete Männer" wahr ist. Aber die Regeln für die Verwendung des Wortes "Junggeselle" sind verhältnismäßig einfach und überschaubar; dazu kommt, daß dies Wort typischerweise verbal gelehrt wird (wie sollte man eine Ostension in diesem Fall verständlich machen?), so daß es nicht verwundert, daß kompetente Sprecher des Deutschen mühelos in der Lage sind, die verbale Erklärung des Wortes "Junggeselle" zu reproduzieren bzw. Reproduktionen als wahr zu erkennen. Damit ist nicht gezeigt, daß man sich in komplexeren Fällen nicht irren könnte, besonders, wenn der Anspruch auf Vollständigkeit einer Erklärung erhoben wird. Auch in dieser Hinsicht ist der "Junggeselle" ein einfacher Fall. (Weniger einfach würde es, wenn jemand versuchen sollte, eine vollständige Erklärung des Wortes "bachelor" zu geben.) Daß Sprache grammatisch notwendig geregelt ist, wäre also eine voraussetzungsvolle Behauptung, die nach Wittgensteins eigener Methode erst als Resümee aus detaillierten Untersuchungen aufgestellt werden könnte. ABSCHNITT 1.4 Wenn Wittgenstein tatsächlich der Ansicht gewesen sein sollte, Sprache sei grammatisch notwendig geregelt, dann ist ihm - und zwar nach seinen eigenen Maßstäben - genau der in Abschnitt 1.3 erwähnte Fehler der vorschnellen Verallgemeinerung unterlaufen, denn es gibt Gegenbeispiele, welche (1) widerlegen: denn wir schreiben tatsächlich einigen Tierarten (z.B. Bienen, Walen) Sprachen zu, und diese sind zwar regelmäßig, aber nicht geregelt. D.h. es gibt weder ausdrückliche Formulierungen von Regeln, noch gibt es eine Unterscheidung in richtige und falsche Anwendungen oder Korrekturen falscher Verwendungen, so daß man eventuell von impliziten Regeln sprechen könnte. Auch kann man nicht sagen, daß Tiere wie beispielsweise Bienen Regeln folgen, denn einer Regel zu folgen setzt zumindest die implizite Kenntnis dieser Regel voraus, und Bienen gehören nicht zu den Wesen, denen wir prinzipiell solche geistigen Prädikate zuzuschreiben bereit sind. So gesehen handelt es sich bei der Sprache der Bienen oder der Wale eher um Signalcodes. Aber GEMESSEN AN WITTGENSTEINS EIGENEN MAßSTÄBEN wäre es keine Rettung der Gültigkeit von (1), zu sagen, es handle sich bei Tiersprachen eben um Sprachen in einem anderen Sinne des Wortes. Denn erstens folgt für Wittgenstein daraus, daß es verschiedene Arten von Sprachen gibt, nicht, daß das Wort "Sprache" mehrdeutig ist -- ebensowenig wie daraus, daß es Kartenspiele und Kriegsspiele gibt, folgt, daß das Wort "Spiel" mehrdeutig ist. Zweitens würde es sich bei einer Unterscheidung in Tiersprachen und menschliche Sprachen um eine terminologische Nachbesserung handeln: These (1) müßte dann zumindest umformuliert werden, denn in (1) ist von Sprachen überhaupt die Rede und nicht von einer speziellen Art von Sprachen. Diese terminologische Nachbesserung hätte -- wiederum gemessen an Wittgensteins eigenen Maßstäben -- explikativen Charakter, also den Charakter der Ziehung einer scharfen Grenze, die vorher noch nicht da war. Wittgenstein streitet die Legitimität solcher Grenzziehungen im Allgemeinen nicht ab, er würde aber darauf bestehen, daß es sich um einen schöpferischen Akt handle und nicht um eine philosophische Entdeckung. Das Aufstellen neuer Sprachregeln oder das Verbessern von alten gehören Wittgensteins Auffassung nach nicht zu den Aufgaben der Philosophie. Man kann es also drehen und wenden wie man will, gemessen an Wittgensteins eigenen Maßstäben ist These (1) durch die Gegenbeispiele der Tiersprachen widerlegt. Wittgenstein hat recht gut daran getan, (1) in den "Philosophischen Untersuchungen" zumindest nicht mehr explizit zu behaupten. ABSCHNITT 1.5 Ein weiteres Gegenbeispiel liefert Wittgenstein selbst: in einer etwas späteren Passage der "Philosophischen Untersuchungen" schreibt er, man könne sich auch Menschen denken, die eine völlig ungeregelte Sprache hätten, deren Verstehen eher mit dem Verstehen von Musik vergleichbar wäre. Eingeführt werden diese "Lautgebärden" als etwas "einer Sprache nicht ganz Unähnliches", und schon im nächsten Paragraphen werden sie "Sprache" genannt: § 528: Man könnte sich Menschen denken, die etwas einer Sprache nicht ganz Unähnliches besäßen: Lautgebärden, ohne Wortschatz oder Grammatik. (`Mit Zungen reden.') § 529: "Was wäre aber hier die Bedeutung der Laute?" -- Was ist sie in der Musik? Wenn ich auch gar nicht sagen will, daß diese Sprache der klanglichen Gebärden mit Musik verglichen werden müßte. In dieser Passage, fernab von allem, was mit der Privatsprachen-Argumentation zu tun hat, sieht Wittgenstein offenbar kein Problem darin, Lautgebärden, die nicht geregelt sind, als Sprache zu bezeichnen. Diese Laute wären natürlich keine Privatsprache, und die Laute, die Privatus von sich gibt, diese kümmerlichen Es und Üs, sind weit davon entfernt, klangliche Gebärden zu sein, die mit Musik verglichen werden könnten. Nur: wenn es im Fall der "klanglichen Gebärden" kein Argument dagegen ist, von einer Sprache zu sprechen, daß sie nicht geregelt sind, wie kann dann die wichtigste Prämisse der Privatsprachen-Argumentation sein, daß nur das "Sprache" genannt werden darf, was geregelt ist? ABSCHNITT 1.6 Die Argumentation aus Abschnitt 1.1 bis 1.5 sei noch einmal kurz zusammengefaßt: In 1.1 habe ich zunächst darauf hingewiesen, daß Wittgenstein nirgends in den "Philosophischen Untersuchungen" explizit behauptet, Sprache sei notwendig geregelt -- obwohl es eine Reihe von Parallelstellen in früheren Entwürfen gibt. In 1.2 bin ich darauf eingegangen, daß Wittgenstein zwar in einem früheren Stadium der Entwicklung seiner Methode die Behauptung vertreten hat, Sprache sei notwendig geregelt, daß er zu diesem Ergebnis aber mit dezisionistischen und funktionalistischen Argumentationsweisen gekommen war, die er später in den "Philosophischen Untersuchungen" abgelehnt hat. In 1.3 wurde erwähnt, daß nach der Methode, die Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" angewendet hat, eine Behauptung wie die, daß Sprache notwendig geregelt ist, auf einer eher umfangreichen grammatischen Untersuchung beruhen müßte, besonders bei so komplexen Familienähnlichkeits-Begriffen wie "Sprache" und "Regel". In 1.4 habe ich dann mit den Tiersprachen ein erstes Gegenbeispiel gegen die Behauptung, daß wir nur Geregeltes "Sprache" nennen, angegeben. Und in 1.5 wurde gezeigt, daß auch Wittgenstein selbst in den "Philosophischen Untersuchungen" prinzipiell nichts dagegen hatte, Ungeregeltes "Sprache" zu nennen. Diese Argumente machen es hoffentlich einigermaßen plausibel, daß Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" nicht mehr der Ansicht war, daß Sprache notwendig geregelt ist. Die Alternative wäre, Wittgenstein eine ziemlich krasse Inkonsistenz vorzuwerfen. Da Wittgenstein nirgends in den "Philosophischen Untersuchungen" explizit behauptet, Sprache sei notwendig geregelt, gibt es keine Grundlage, welche dies rechtfertigen würde. Es kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht gezeigt werden, wie die Privatsprachen-Argumentation ohne die Prämisse auskommt, daß Sprache notwendig geregelt ist. In Abschnitt 2 soll jedoch gezeigt werden, daß diese Prämisse Wittgenstein, wenn er sie seiner Privatsprachen-Argumentation zugrundelegen würde, in einige Bedrängnis brächte. ABSCHNITT 1.7 Abschließend noch einige Spekulationen darüber, wie das direkte Verhältnis zwischen Sprache und Regel nach Wittgenstein beschrieben werden könnte. (Wittgenstein untersucht viele indirekte Zusammenhänge und Vernetzungen zwischen der Grammatik von "Sprache" und der von "Regel". Aber eine direkte oder lineare Verbindung ist in den "Philosophischen Untersuchungen" nicht zu finden. Daher ist der folgende Versuch, mithilfe eines einschlägigen Ausdrucks der Wittgensteinschen Philosophie eine direkte Verbindung zwischen "Sprache" und "Regel" aufzuzeigen, Spekulation.) Die zentrale Rolle, welche die Untersuchung des Regelbegriffs in Wittgensteins Philosophie spielt, kann einerseits aus der Kritik an der Auffassung erklärt werden, Sprache sei ein Kalkül nach festen Regeln, die keine Lücken offen ließen. (Das ist der Grund, den Wittgenstein auf S. 49 im "Blauen Buch" angibt.) Andererseits kann dies wohl auch daraus erklärt werden, daß unsere Sprache dennoch charakteristischerweise geregelt ist, wenn auch nicht im strikten Sinn von "geregelt" (wie ein Kalkül), so doch in einem weiteren Sinn, in dem auch Spiele geregelt sind. In der Familie der Sprachen bildet die normale, menschliche Wortsprache das Zentrum der Variation, um das sich die anderen "Familienmitglieder" herumgruppieren: § 494: Ich will sagen: Der Apparat unserer gewöhnlichen Sprache, unserer Wortsprache, ist vor allem das, was wir "Sprache" nennen; und dann anderes nach seiner Analogie oder Vergleichbarkeit mit ihr. In dieser Passage aus den "Philosophischen Untersuchungen" ist der doppelte Schritt vom Ich zum Wir und von der Festlegung einer Norm zur Konstatierung einer Norm vollzogen: nicht mehr, was L.W. "Sprache" nennen WILL, sondern was WIR "Sprache" NENNEN, ist entscheidend. Wenn neue oder ungewöhnliche Fälle auftreten, dann entscheidet vor allem die Ähnlichkeit zu unserer gewöhnlichen Wortsprache -- und diese ist, das soll im Folgenden erläutert werden, charakteristischerweise geregelt. Wenn man "Sprache" und "Regel" in ein direktes Verhältnis zueinander setzen will, dann ist hierfür von allen Ausdrücken in Wittgensteins Philosophie am Besten die Relation "ist charakteristisch für" geeignet. Dieser Ausdruck wird von Wittgenstein überwiegend in der "Philosophischen Betrachtung" und an vielen Stellen in den "Philosophischen Untersuchungen" verwendet. Er wird von Wittgenstein nicht definiert, sondern in der "Philosophischen Betrachtung" anhand des Beispiels der nach oben gezogenen Mundwinkel eingeführt, die charakteristisch für das lachende Gesicht sind.*9* Daß etwas charakteristisch für etwas anderes ist, z.B. die nach oben gezogenen Mundwinkel für ein lachendes Gesicht, drückt keine Regel aus; es bedeutet nicht, daß die nach oben gezogenen Mundwinkel hinreichend oder notwendig für ein lachendes Gesicht wären; auch nicht, daß sie ein Kriterium dafür wären, denn auch eine kriterielle Relation ist eine Regel im Sinne Wittgensteins. (So können wir die Verwendung eines Wortes mit dem Hinweis auf das Vorliegen eines Kriteriums rechtfertigen.) Dennoch kann man sagen, daß das Gesicht lacht, WEIL die Mundwinkel hochgezogen sind -- wir nehmen die hochgezogenen Mundwinkel als das Wesentliche am lachenden Gesicht wahr, sozusagen als das Lachende am lachenden Gesicht. Ebenso wie die Tatsache, daß wir etwas als Witz eines Spieles oder einer Regel sehen, gehört die Tatsache, daß wir etwas als das Charakteristische an etwas wahrnehmen, zu den psychologischen und ästhetischen Aspekten von Sprache, im Gegensatz zu den grammatischen. Daß wir das Geregeltsein als charakteristischen Zug unserer Sprache sehen, bedeutet, daß wir dem Vorhandensein oder Nicht--Vorhandensein dieses Zuges bei Vergleichen höheres Gewicht einräumen werden als anderen Eigenschaften. Wenn wir, im Sinne des oben zitierten § 494, etwas auf seine Ähnlichkeit zu unserer Sprache hin untersuchen, um zu entscheiden, ob wir es "Sprache" nennen sollen oder nicht, dann können Analogien und Disanalogien nicht gegeneinander abgezählt werden, da sich zwischen allen Gegenständen beliebig viele Unterschiede und Ähnlichkeiten feststellen lassen. Wenn eine Entscheidung getroffen werden soll, kann dies nur aufgrund einer Abwägung der kontextabhängigen Relevanz der Analogien und Disanalogien geschehen. Weil wir sie als charakteristisch an unserer Sprache wahrnehmen, fällt der Eigenschaft des Geregeltseins bei dieser Abwägung ein höheres Gewicht zu als anderen Eigenschaften. ABSCHNITT 2 Wenn Wittgensteins Privatsprachen-Argumentation wie in der Einleitung beschrieben strukturiert wäre und auf der Prämisse basierte, Sprache sei notwendig geregelt, dann käme es zu erheblichen Schwierigkeiten, die daraus resultierten, daß die deskriptive Methode Wittgensteins, angewandt auf Familienähnlichkeits-Begriffe, eine andere Argumentationsweise erfordert. Daran, daß der Begriff der Sprache Wittgenstein zufolge ein Familienähnlichkeits-Begriff ist, kann kein Zweifel sein, er wird in einigen Passagen geradezu als Paradigma für die Konzeption der Familienähnlichkeit verwendet. So unter anderem in § 65, mit dem Wittgenstein von einer Diskussion über Definition und Analyse überleitet zu der Einführung seines Konzeptes der Familienähnlichkeiten: § 65: Hier stoßen wir auf die große Frage, die hinter allen diesen Betrachtungen steht. -- Denn man könnte einwenden: "Du machst Dir's leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache, ist. Was allen diesen Vorgängen gemeinsam ist und sie zur Sprache, oder zu Teilen der Sprache macht. Du schenkst dir also gerade den Teil der Untersuchung, der dir selbst seinerzeit das meiste Kopfzerbrechen gemacht hat, nämlich den, die allgemeine Form des Satzes und der Sprache betreffend." Und das ist wahr. -- Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, -- sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. Und dieser Verwandtschaft oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle "Sprachen". Ich will versuchen, dies zu erklären. Offenbar spricht im ersten Absatz der Opponent, mit dessen Stimme Wittgenstein nun eine Selbstinterpretation vornimmt, derzufolge für ihn selbst zu Zeiten des "Tractatus" die hauptsächliche Frage in einer Untersuchung über die Sprache die Frage nach dem Wesentlichen der Sprache war, und derzufolge diese Frage wiederum gleichbedeutend mit der Frage nach der allgemeinen Form des Satzes war.*10* Wittgenstein bestätigt dies in eigener Person und führt anhand des Begriffs der Sprache sein Konzept der Familienähnlichkeiten ein. Im Folgenden soll angenommen werden, daß Wittgenstein tatsächlich argumentiert wie eingangs beschrieben UND davon ausgeht, daß der Begriff der Sprache ein Familienähnlichkeits-Begriff ist; und es soll gezeigt werden, daß ihn diese Kombination von Annahmen vor ein methodisches Dilemma stellen würde. Zu diesem Zweck soll untersucht werden, was Wittgenstein in diesem Rahmen entgegnen könnte, wenn er mit einem Opponenten konfrontiert wäre, welcher bestimmte Laute äußerte, die er als Privatsprache bezeichnete, ohne jedoch zu behaupten, daß sie geregelt seien. Dieser Opponent würde natürlich als erstes die Prämisse hinterfragen, daß Sprache notwendig geregelt sein soll. I.: Das erste Horn des Dilemmas, vor dem Wittgenstein nun stünde, wäre, sich nicht auf eine Rechtfertigung einzulassen, sondern die Prämisse dogmatisch einzuführen. Aber warum sollte der Opponent sie dann akzeptieren? Und selbst wenn sie der eine oder andere Opponent akzeptierte, was würde das helfen? Wenn Wittgenstein die Unmöglichkeit einer Privatsprache beweisen will, dann muß er, um diesen starken Anspruch zu erfüllen, jeden möglichen Opponenten widerlegen können und nicht nur den, welchen er sich selbst aussucht. Er muß sich also auf eine Rechtfertigung einlassen, wenn seine Meinung nicht bloß als eine unter vielen gelten soll. II.: Wenn Wittgenstein dagegen versucht, die Prämisse aufrechtzuerhalten und zu rechtfertigen, steht er vor einem Problem, auf das er in drei verschiedenen Weisen reagieren kann. Und die einzige dieser drei Alternativen, die nicht damit endet, daß er die Prämisse, Sprache sei notwendig geregelt, aufgeben muß, resultiert in einem methodischen Zirkel. Wenn Wittgenstein tatsächlich eine notwendige Bedingung konstatieren will, die für alle Zweige der Familie gilt, dann besteht, wie oben gezeigt worden ist, die sehr reale Gefahr, daß er einen oder mehrere Zweige der Familie übersehen hat, für die diese Bedingung nicht gilt. Davon, daß es die im ersten Abschnitt erwähnten Gegenbeispiele gibt, soll jetzt aber abgesehen werden, hier geht es um ein anderes Problem. Wenn Wittgenstein nämlich eine umfassende grammatische Untersuchung über unsere Verwendung des Wortes "Sprache" anstellen wollte, dann müßte er ALLE Zweige der Familie der Sprachen in diese Untersuchung einbeziehen. Das setzt natürlich voraus, zu wissen, welches überhaupt ALLE Zweige sind. Und dies setzt wiederum voraus, daß Wittgenstein sich bereits jetzt in irgendeiner Weise festlegt, was die Frage betrifft, ob der Opponent die Laute, die er von sich gibt, zu Recht als Sprache bezeichnet oder nicht. Es ist kein gangbarer Weg, Privatus Laute einfach außen vor zu lassen. Denn dann wäre die grammatische Untersuchung nicht vollständig und die Annahme, daß die notwendige Bedingung des Geregeltseins auch für diese Art von Lauten gilt, wäre wiederum ungerechtfertigt. Man wäre somit wieder beim ersten Horn des Dilemmas angelangt und der Opponent könnte Wittgenstein entgegenhalten, die Laute des Privatus seien eine ungeregelte Art von Sprache. Wittgenstein muß sich also für eine der drei Alternativen entscheiden, die für diesen Fall theoretisch in Frage kommen: II.a: Wenn der Opponent seine Laute zu Recht als Sprache bezeichnet, dann sind sie repräsentativ für den Familienzweig der Privatsprachen und Wittgenstein muß sie in seine grammatische Untersuchung miteinbeziehen und anerkennen, daß es ungeregelte Sprachen gibt. Damit wäre die Prämisse aufgegeben. II.b: Unter der Voraussetzung, daß der Opponent seine Laute zu Unrecht als Sprache bezeichnet, braucht Wittgenstein sie zwar nicht in die Untersuchung miteinzubeziehen, was den Vorteil hat, daß er nicht anerkennen muß, daß es ungeregelte Sprachen gibt (von den im ersten Teil dieses Aufsatzes erwähnten Gegenbeispielen sei hier einmal abgesehen), was jedoch auch den nicht zu übersehenden Nachteil hat, daß seine Privatsprachen-Argumentation dann auf einem methodischen Zirkel beruhte. Denn die Position des Opponenten, die widerlegt werden soll, nämlich daß seine Laute eine Privatsprache darstellen, wird bereits bei der Begründung einer Prämisse der Argumentation als falsch vorausgesetzt. II.c: Die letzte Alternative wäre, einfach zu konstatieren, daß es keine übereinstimmende Praxis und somit auch keine Regel gibt, die uns sagt, ob Privatus' Es und Üs, "Sprache" heißen oder nicht. Wenn Philosophie weiter nichts macht, als Sprachregeln zu konstatieren, müßte die Untersuchung dann zu Ende sein und das Resümee wäre, daß die Frage, ob eine Privatsprache möglich ist, unsinnig ist, da unsere Sprache in dieser Hinsicht nicht geregelt ist. In diesem Fall wäre nicht nur die Prämisse der Argumentation, sondern die gesamte Argumentation samt Fragestellung aufgegeben. Diese Problematik entstünde nicht, wenn bei der Interpretation der Privatsprachen-Argumentation auf die Prämisse verzichtet würde, daß Sprache notwendig geregelt sei. Dies liegt umso näher, als bereits oben dafür argumentiert worden ist, daß Wittgenstein diese Behauptung in den "Philosophischen Untersuchungen" nicht vertreten hat. Als ein Argument dafür, Wittgenstein diese Behauptung zu unterstellen, ist genannt worden, daß sie eine unverzichtbare Prämisse der Privatsprachen-Argumentation zu sein scheint. Diese Annahme ist hoffentlich entkräftet, auch wenn in diesem Aufsatz nicht mehr darauf eingegangen werden kann, wie es möglich ist, daß die Privatsprachen-Argumentation ohne diese Prämisse auskommt. ABSCHNITT 3 Bevor dieser Aufsatz abgeschlossen wird, ein Exkurs darüber, wie es angehen kann, daß das Dilemma nicht entstünde, wenn "Sprache" kein Familienähnlichkeits-Begriff wäre und wenn man die mit der Konzeption von Familienähnlichkeit einhergehende Argumentationsstrategie zugunsten einer traditionelleren Argumentationsweise fallenließe. Würde man die Annahme aufgeben, daß der Begriff der Sprache ein Familienähnlichkeits-Begriff ist, und stattdessen davon ausgehen, daß es möglich ist, diesen Begriff durch Angabe hinreichender und notwendiger Bedingungen zu definieren, und würde man es dabei als legitim betrachten, wenn die Definition von den unscharfen Grenzen des umgangssprachlichen Begriffs der Sprache leicht abwiche, dann ergäbe sich für den Prozeß der Argumentation ein ganz anderer Ablauf. Denn von einem derartigen Standpunkt aus kann eine Definition nicht nur dazu dienen, eine faktisch geltende Sprachregel zu formulieren, sondern auch dazu, Fälle zu entscheiden, die unter gleichermaßen kompetenten Sprechern derselben Sprache strittig sind. Der Verlauf der Privatsprachen-Argumentation könnte dann so aussehen: 1.) Der Begriff der Sprache wird expliziert; Bestandteil dieser Explikation ist, daß Sprache notwendig geregelt ist. 2.) Ein strittiger Fall taucht auf: der Fall, daß jemand vor sich hinstarrt und versucht, seiner privaten Empfindung einen Namen zu geben; ist das eine Sprache oder nicht? 3.) Der strittige Fall ist nicht eine Widerlegung des Allsatzes, der ja als eine Explikation aufzufassen ist (eine "Widerlegung" könnte nur ein unstrittiger Fall sein, der für das Konzept der Sprache als so zentral angesehen wird, daß er bei der Explikation nicht vernachlässigt werden darf), sondern wir können unter Berufung auf die Explikation entscheiden, daß der bisher strittige Fall nicht unter den Begriff der Sprache fällt -- sofern wir zeigen können, daß dieser Fall die notwendige Bedingung des Geregeltseins nicht erfüllt. Ein Zirkel entstünde bei dieser Vorgehensweise einzig dann, wenn die alleinige Motivation dafür, die Definition so eng zu fassen, darin bestünde, daß der betreffende strittige Fall ausgeschlossen werden soll; und selbst dann wäre zu bemerken, daß ein solcher definitorischer Zirkel nicht unter allen Umständen vitiös sein müßte. Aber der eben beschriebene methodische Ablauf (1-3) verliert seinen Sinn, wenn man von der Konzeption der Familienähnlichkeiten ausgeht. Das Problematische ist die Übertragung der Geltung der notwendigen Bedingung auf den strittigen Fall, denn wenn der Opponent Recht hat, dann ist der strittige Fall -- der ja ohnehin kein konkreter, sondern ein paradigmatischer Fall ist -- repräsentativ für eine ganze Gruppe von Fällen, den Familienzweig der Privatsprachen. Die "Privatsprache(n)" bereits in der Begründung einer Prämisse der Privatsprachen-Argumentation aus der Familie der Sprachen auszugrenzen wäre nicht nur nicht ganz fair, es würde den mit der Argumentation verbundenen Beweisanspruch zunichte machen. Die in Abschnitt 2 beschriebene, gleichermaßen paradoxe Situation resultiert daraus, daß Wittgenstein bei der Interpretation fälschlich eine Argumentationsstrategie unterstellt wird, die mit seiner deskriptiven Konzeption von Philosophie und der Familienähnlichkeitskonzeption nicht vereinbar ist. Dies führt zu einer Interferenz miteinander unvereinbarer methodischer Argumentationsregeln. Denn wenn Wittgenstein überhaupt behaupten würde, daß Sprache notwendig geregelt ist, bzw. daß nur, wie oben mit (1) formuliert, Geregeltes korrekt "Sprache" genannt wird, dann könnte er dies nur im Sinne der Konstatierung der Geltung einer sprachlichen Norm, aber nicht als eine zumindest partiell normative Explikation wie eben in (1-3) beschrieben. Daß die Privatsprachen--Argumentation ohne (1) als Prämisse auskommen kann, ist eine Behauptung, deren Geltung hier nicht mit Argumenten ausgewiesen worden ist. Aber die vorgebrachten Argumente sollten genügen, die Überzeugung, daß Wittgenstein (1) vertreten habe, zu erschüttern. ANMERKUNGEN: Diese Arbeit ist ein umgearbeiteter Abschnitt meiner Magisterarbeit über Wittgensteins Privatsprachen-Argumentation; für detaillierte Kritik an der gesamten Magisterarbeit bedanke ich mich bei Wolfgang Künne. Für ebenfalls sehr hilfreiche Kritik an einer früheren Fassung dieses Aufsatzes bedanke ich mich bei Andreas Kemmerling. <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> FUISSNOTEN *1* In: L.Wittgenstein, Werkausgabe Bd.1, F.a.M. 1984 *2* Eine grundsätzliche Klärung des Begriffs der Argumentationsstruktur wäre sicherlich wünschenswert, kann jedoch an diesem Ort nicht nur aus Platzgründen nicht vorgenommen werden. Da hier von diesem Begriff weiter nichts abhängig gemacht werden soll, ist eine Auseinandersetzung mit diesem Problem hier entbehrlich. *3* "Early Big Typescript" S. 514, zitiert nach G. Baker & P.M.S. Hacker: "Wittgenstein - Understanding and Meaning - An analytical commentary on the Philosophical Investigations", Vol.1, Oxford 1980, S. 643 *4* MS 109, S. 284f. zitiert nach M. & J. Hintikka: "Untersuchungen zu Wittgenstein" F.a.M. 1990, S. 310, Fußn. *5* Z.B. "Philosophische Untersuchungen" § 109, §§ 491-496 *6* "Big Typescript" S. 68f. zitiert nach Baker & Hacker Vol. 1, S. 388 *7* "Big Typescript" S. 254, zitiert nach G. Baker & P.M.S. Hacker: "Wittgenstein -- Rules, Grammar and Necessity -- An analytical commentary in the Philosophical Investigations" Vol. 2, Oxford 1985, S. 442 *8* "Philosophische Untersuchungen" § 66 *9* L. Wittgenstein: "Eine Philosophische Betrachtung" in: Werkausgabe Bd.5, S.220f. *10* Vgl. "Tractatus logico-philosophicus", Satz 4.5 und "Philosophische Untersuchungen" § 114 und §§ 134 ff.