***************************************************************** * * Titel: Wittgenstein und die Wittgensteinforschung in Rußland Autor: Sinaida Alexandrowna Sokuler, Moskau - Rußland Dateiname: 19-2-95.TXT Dateilänge: 24 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/95, Datei: 19-2-95.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Beginnen wir unsere Betrachtung mit dem Jahre 1958, als in der damaligen UdSSR die russische Übersetzung der "Logisch-Philosophischen Abhandlung" erschienen war. Das Buch erblickte die Welt dank der Anstrengungen von Frau Sofia A. Janowskaja, die viel zur Entwicklung der mathematischen Logik unter den Bedingungen des ideologischen Drucks der dialektisch-materialistischen Ideologie beigetragen hat. Die Übersetzung wurde gemacht, da man Wittgenstein als einen bedeutenden Logiker betrachtet hat. In den 60-er Jahren wurde diese Betrachtungsweise beibehalten. Die Ansichten von Wittgenstein wurden mit dem Positivismus des Wiener Kreises gleichgestellt, man betrachtete ihn als Gegner der Philosophie und als Apologeten der mathematischen Naturwissenschaft. Die Philosophie des dialektischen Materialismus wertete die These, daß philosophische Sätze und Fragen unsinnig sind, als direkten Angriff auf sich selbst, was das Verhältnis zu Wittgenstein und die vernichtenden Einschätzungen zur Folge hatten, die jede schriftliche Erwähnung seiner Philosophie begleiteten. Gleichzeitig muß gesagt werden, daß die dialektisch-materialistische Philosophie in gewissem Sinne die positivistischen Ansichten geteilt und die positivistischen Wissenschaften gebilligt hat, da die Logik in den 50er und 60er Jahren für eine dieser Wissenschaften gehalten wurde. Daraus ergab sich die Möglichkeit, die "Logisch-Philisophische Abhandlung" als eine Publikation zu einer konkreten Wissenschaft - der Logik - zu studieren. Man muß unterstreichen, daß die Logik in den 60er Jahren eine besondere Anziehungskraft auf die sowjetischen Wissenschaftler ausgeübt hat. Einerseits stellte sie ein strenges wissenschaftliches Denken im Gegensatz zur "dialektischen Logik" dar, die im Rahmen der Philosophie des dialektischen Materialismus alles vermochte zu beweisen, was von ihr verlangt wurde. Andererseits traute die herrschende Ideologie in den 60er Jahren der Logik eine gewisse ideologische Neutralität zu und hinderte daher ihre Entwicklung nicht. Das war der weltanschauliche Kontext, in dem die Wittgensteinschen Ideen ihre erste Aufnahme fanden. Nach der "Logisch-Philosophischen Abhandlung" war die Vorstellung über die Evolution der Wittgensteinschen Philosophie noch sehr unvollständig. Es fehlten die Übersetzungen der entsprechenden Texte. Einen wesentlichen Beitrag zum Kennenlernen der Sprachinterpretation in der Konzeption von Wittgenstein stellte die Monographie von Maria C. Koslowa "Philosophie und die Sprache. Kritische Analyse einiger Tendenzen der Evolution des Positivismus des 20. Jahrhunderts" dar, die auch den Artikel "Die Konzeption der Philosophie in den späten Werken von Wittgenstein" im Jahre 1975 veröffentlicht hat. Dieser Artikel unterschied sich wesentlich von den meisten Veröffentlichungen der damaligen Zeit, die der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie gewidmet wurden. Das war der Versuch, die Wittgensteinschen Ausführungen zu verstehen und sie zu erleben. Koslowa trat gegen die damals herrschenden Vorstellungen von dem positivistischen Verhältnis von Wittgenstein zur Philosophie auf. Sie bemühte sich, Wittgensteins tiefe Besorgnis über die philosophische Probleme zu zeigen. Wittgenstein, schrieb sie, suchte sein Leben lang eine Klarheit, die er nicht als Eigenschaft von Begriffen und Feststellungen betrachtet, sondern sie mit der Fähigkeit verbindet, die Sprachausdrücke und die Realität auf vielfältige Weise miteinander zu vergleichen. Die Wittgensteinschen Analysen der Sprache betrachtete sie in dem oben genannten Artikel als Beispiel dafür, wie er die traditionellen philosophischen Probleme löste, wobei sie besonders seine ständige und teilweise existentielle Aufmerksamkeit für mathematische Probleme unterstrich. Wittgenstein, behauptete sie, erkannte den "ewigen" Charakter der philosophischen Fragen. Ihre Interpretation entwickelte Koslowa in einer ganzen Reihe späterer Arbeiten, z.B. in "Überlegungen zum Phänomen des Bewußtseins des späteren Wittgenstein" in der Anthologie "Das Problem des Bewußtseins in der modernen westlichen Philosophie" (1989) u.a. Koslowa arbeitet heute im Institut der Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften und an der philosophischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität. Ihr Artikel vom Jahre 1975 enthielt eine ganz neue Interpretation von Wittgenstein als Persönlichkeit und Philosoph, die sich sehr deutlich von der damals offiziell anerkannten abhob. Schon damals hätte dieser Artikel einen großen Einfluß auf die Rolle von Wittgenstein für die sowjetische Philosophie haben können, wenn er nicht den Vermerk "Nur für den Dienstgebrauch" getragen hätte. Alle Veröffentlichungen mit diesem Vermerk wurden durchnumeriert, nicht öffentlich verkauft, sondern ausgeliehen und nur ausschließlich an die Personen, die mit Philosophie zu tun hatten - Hochschullehrer, Mitarbeiter des Instituts der Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR sowie Mitarbeiter der Ideologieabteilungen in den Parteiorganisationen. Diese Veröffentlichungen durften nicht einmal in Fußnoten öffentlicher Publikationen erwähnt werden. Der oben genannte Artikel erschien in der Anthologie "Das Wesen des philosophischen Wissens" und wurde vom Institut der Wissenschaftlichen Informationen über die Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (heute die Russische Akademie der Wissenschaften - RAW) herausgegeben. Man kann nicht über die Bekanntschaft der sowjetischen Philosophen mit den Ideen von Wittgenstein sprechen, ohne dabei die Rolle dieses Instituts (INION) wenigstens kurz zu erwähnen. Diese Institution wurde Anfang der 70er Jahre auf Beschluß der Parteiführung des Landes gegründet. Das INION gab Referatzeitschriften zu den verschiedenen Gesellschaftswissenschaften von der Wirtschaft bis zur Philosophie heraus. Außerdem wurden thematische Referatbände als Übersichten zur Literatur, die im Westen zu diesen Themen erschien, veröffentlicht. Die Tätigkeit des INION hatte zwei Gesichter: das eine Gesicht schaute nach dem Westen, und damit schuf die Administration von Breshnjew den Anschein einer sich öffnenden Gesellschaft in der UdSSR. Die Referate enthielten keine "marxistische Kritik" der westlichen Autoren. Sie entstanden nach dem Muster der Standardreferate in den Naturwissenschaften oder in der Mathematik. Statt der "marxistischen Kritik" gaben sie - zum ersten Mal in unserer Philosophie und Kultur - genau die Argumente und Formulierungen der Thesen dieser Autoren wieder. Natürlich konnten sie nicht ganz frei von "marxistischer Kritik" sein. Das war aber nicht so wichtig, weil die Positionen der westlichen Philosophen in den Veröffentlichungen des INION genau und kompetent dargestellt wurden, wie kaum woanders in unserem Lande. Das zweite Gesicht des INION schaute in das Land, und hier war das wichtigste, den Zugang zu Informationen möglichst einzuschränken, z. B. durch den Vermerk "Nur für den Dienstgebrauch". Und trotzdem waren u.a. solche Referatzeitschriften wie "Gesellschaftswissenschaften im Ausland" und "Philosophie und Soziologie" den sowjetischen Philosophen bekannt, und man kann ihre Rolle in den 25 Jahren ihrer Existenz in der Anhebung des allgemeinen Niveaus unserer Philosophie und u.a. auch im Vertrautmachen mit den gegenwärtigen Interpretationen der Wittgensteinschen Ideen kaum überschätzen. Ich möchte an dieser Stelle deshalb keine weitere Bewertung dieser Zeitschriften geben, umso mehr, da ich selbst Mitautor bin. Ich möchte hier nur erwähnen, daß bis jetzt 3 Veröffentlichungen der Referatzeitschrift "Die moderne analytische Philosophie" (1988 - 1991) erschienen sind und daß sie im wesentlichen Wittgenstein gewidmet waren. Ich selbst habe in meiner Übersichtsarbeit "Die Probleme der mathematischen Erkenntnis: moderne Forschungen im Ausland" (1984) zum ersten Mal in unserer Literatur die Philosophie der Mathematik von Wittgenstein betrachtet. Insbesondere war es mir wichtig, die Ansichten von Wittgenstein auf die Widersprüche in den Grundlagen von Mathematik oder Logik von den Angriffen der Formalisten und Logiker zu verteidigen. 1985 erschien in der ehemaligen UdSSR die Übersetzung eines Textes "Philosophische Untersuchungen" (Paragraphen 1-132). Diese Übersetzung erschien nach der Initiative unserer Linguisten für jene Linguisten, die sich für die Ideen von Wittgenstein interessierten - insbesondere muß hier der Kreis unter Leitung von N.D. Arutjunowa (Institut der Sprachwissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften) erwähnt werden. Ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung von Wittgensteinstudien in unserem Land war die Arbeit von A.F. Griasnow "Die Evolution der philosophischen Einsichten von L. Wittgenstein" (1985). Diese Arbeit enthielt eine vollständigere Übersicht verschiedener Schattierungen des Wittgensteinischen Denkens. Wittgenstein wurde hier als "österreichischer Philosoph" vorgestellt. Damit wurde Wittgenstein von Griasnow dem Kontinent wiedergegeben indem er Wittgensteins Verbindungen mit den Traditionen der Kultur und Philosophie zeigte und die Sicht auf Wittgenstein nur im Kontext der britischen philosophischen Tradition beendete. Als erster in unserer Literatur schloß Griasnow einen größeren Themenkreis in die Betrachtung ein und analysierte nicht nur die wittgensteinischen Studien über die Sprache und die Beziehung zur Philosophie, sondern auch seine Notizen "Über Gewißheit" und teilweise die Philosophie der Mathematik. 1987 gab Griasnow eine kleine Sammlung von Wittgensteins Werken für die Studenten der philosophischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität heraus. Sie enthielt Auszüge nicht nur aus der "Logisch- Philosophischen Abhandlung" und den "Philosophischen Untersuchungen", sondern auch aus den Tagebüchern 1914-1916, den "Blauen" und "Braunen" Büchern sowie die "Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik". Das nächste Buch von Alexander F. Griasnow erschien 1993 unter dem Titel "Die Sprache und die Tätigkeit: kritische Analyse des Wittgensteinianismus". Es wurde ganz der modernen Interpretation von Wittgenstein in der westlichen Literatur gewidmet. Dabei hat der Autor (ausgehend von seinen eigenen Interessen) eine besondere Aufmerksamkeit den wittgensteinischen Interpretationen des Begriffes "Praxis" und der "Sprache" als sozialkulturelle Erscheinung gewidmet. Griasnow arbeitete an der philosophischen Fakultät der Universität. 1988 erschien mein Buch "Das Problem der Begründung der wissenschaftlichen Erkenntniskonzeptionen von L. Wittgenstein und K. Popper". Hier ging es darum, daß das Problem der Begründung der Erkenntnis ein Schwerpunktproblem der klassischen Philosophie ist. In der modernen Philosophie setzt sich aber der Antifundamentalismus durch. An seinen Anfängen stehen L. Wittgenstein und K. Popper. Von unterschiedlichen Positionen ausgehend, zerstörten beide die Vorstellung davon, daß die wahre Begründung der Erkenntnis notwendig und wichtig ist. In meinem Buch wurden die Positionen von L. Wittgenstein und K. Popper mit einander verglichen, wobei ich befürchte, daß meine Sympathie zu Wittgenstein kaum zu verbergen war (insbesondere bei der Analyse der Popperschen Theorie "der dritten Welt", die, wie ich glaube, vom wittgensteinischen Gesichtspunkt unannehmbar ist). Jedoch heute, sieben Jahre später, bereue ich, daß ich überhaupt von der Wittgenschen Erkenntnistheorie geschrieben habe, denn für die Charakteristik seiner Ansichten sind solche Begriffe, wie "Erkenntnis" und "Epistemologie" nicht relevant. In meinem letzten Buch "Ludwig Wittgenstein und sein Platz in der Philosophie des 20. Jahrhunderts", das als Lehrwerk für Philosophiestudenten entstanden war, hatte ich die Möglichkeit meine gegenwärtige vertiefte Interpretation darzulegen. 1989 war ein sehr wichtiges Jahr in der Entwicklung der Wittgensteinstudien in unserem Land. In diesem Jubiläumsjahr erschienen neue Übersetzungen der Wittgensteinischen Texte: "Vorlesung über Ethik" und " Bemerkungen über Frazer's "The Golden Bough"; es fand die erste Konferenz in unserem Land statt, die Wittgenstein gewidmet war. Die Teilnahme an der Konferenz war gering. Als jedoch ein Jahr später im Rahmen einer Unionskonferenz über Logik, Methodologie und Philosophie der Wissenschaft ein Kolloquium "Ludwig Wittgenstein und der philosophische Gedanke des 20. Jahrhunderts" organisiert wurde, war die Teilnahme bedeutend größer. Es stellte sich heraus, daß es im ganzen Land schon eine breite Schicht von Menschen gibt, die sich für Wittgensteins Ideen interessieren und ihn als Persönlichkeit verehren. Gleichzeitig blieb aber der Kreis derer, die sich systematisch mit dem Studium seiner Texte befassen, klein. Zu ihm gehört unsere bekannte Logikerin Elena D. Smirnowa (Philosophische Fakultät der Universität). Smirnowa kommt immer wieder auf die Interpretation der "Logisch-Philosophischen Abhandlung" zurück und meint, daß es keinen Sinn hat die Abhandlung den philosophischen Studien gegenüberzustellen. Das sind nicht unkompatible Konzeptionen, sondern Studien mit verschiedenen Aufgaben. Ihrer Meinung nach untersucht und analysiert Wittgenstein in seiner Abhandlung repräsentative und kognitive Sprachstrukturen, während die Studien den kommunikativen Aspekt der Sprache, sein Funktionieren im System der menschlichen Tätigkeit zum Gegenstand haben. Smirnowa entwickelt die These, daß die wittgensteinische Interpretation der Sprache als Bild der Wirklichkeit Parallelen zu der Lehre von Kant über die Schemata des Verstandes aufweist. Während bei Kant das Schema ein allgemeines Verfahren ist, durch dessen Hilfe die Vorstellung dem Begriff ein Bild verschafft, ist laut Wittgenstein das Bild eine Projektion, die nach bestimmten Regeln konstruiert ist. Man muß betonen, daß unsere Logiker sich auch weiter mit L. Wittgenstein beschäftigen und ihn für "ihren" Denker halten. Das geschieht aber eher im Kontext der logischen Probleme, als durch das Verstehen der inneren Logik seiner Ideen. So interessiert sich der Logiker Akardij A. Blinow (Institut der Philosophie der RAW) für Wittgenstein im Kontext des theoretisch-spielerischen Herangehens an die Semantik der natürlichen und formalisierten Sprachen. Hier wird der Einfluß von J. Hintikkka deutlich. Der Philosoph und Logiker aus Litauen, Roman Panilems, der insgesamt an den Problemen der logischen Semantik arbeitet, betrachtet die wittgensteinische Sprachkonzeption als Pragmatika, die den Übergang von der "Semantik der Sprache" zur "Semantik der Wirklichkeit" gestattet. Der armenische Philosoph G.P. Grigorjan analysierte die modernen Interpretationen der wittgensteinischen Betrachtungen über die Privatsprache und über fremde Bewußtsein. G.P. Saitschenko, ein ukrainischer Philosoph, untersuchte die wittgensteinische Konzeption des Wesens des philosophischen Wissens. (Man muß hinzufügen, daß Saitschenko als einer der ersten mit dem Studium der späteren Philosophie Wittgensteins begann.) Bis heute vertritt er die Überzeugung, daß Wittgenstein eine positivistische Einstellung zur Philosophie hat. In der letzten Zeit zeigt Saitschenko Interesse an westlichen Publikationen, die Parallelen zwischen der späten Philosophie von Wittgenstein und dem Postmodernismus, unter anderem den Ansichten von Derrida und Lyotard herstellen . Ludmila A. Mikeschina (Lehrstuhl der Philosophie der Staatlichen Pädagogischen Universität Moskau) arbeitet im allgemeinen an den Problemen der Methodologie der Gesellschaftswissenschaften. Dabei wendet sie sich auch solchen Problemen wie Glaube, Wissen, Gewißheit und Verstehen zu und bezieht verständlicherweise die wittgensteinischen Notizen "Über Gewißheit" in ihre Überlegungen ein. Nina C. Julina (Institut der Philosophie der RAW) beschäftigt sich schon lange mit der Geschichte der analytischen Philosophie und analysiert die wittgensteinische Konzeption der Sprache im Kontext der Konzeptionen von B. Russell, R. Carnap, W. Quine. Galina B. Sorina (Lehrstuhl für Philosophie der Staatlichen Pädagogischen Universität Moskau) mißt dem Widerspruch zwischen Psychologismus und dem Antipsychologismus eine allgemeinkulturelle Bedeutung bei. Sie sieht die Beispiele dafür nicht nur in der Philosophie oder Logik, sondern auch in der Liguistik, in der Literaturwissenschaft - Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts - und betrachtet das Schaffen Wittgensteins unter diesem Aspekt. Ihrer Meinung nach vertritt Wittgenstein in der "Abhandlung" eine klare antipsychologische Position und in der späteren Philosophie - eine antipsychologische und gleichzeitig eine anti-antipsychologische Position. Unter den jungen Wissenschaftlern, die sich in den letzten Jahren der Gesellschaft für Wittgensteins Anhänger angeschlossenen haben, möchte ich Nicolai W. Medwedew nennen, der 1994 zum Thema der hermeneutischen Interpretationen von Wittgenstein promovierte. Medwedew hält diese Interpretation für überzeugend (obwohl ich bestimmte Unterschiede zwischen der wittgensteinischen Position und der Hermeneutik sehe, worauf ich ihn auch schon aufmerksam gemacht habe). Igor F. Michailow entwickelt das Thema des Mystischen im Schaffen von Wittgenstein, wobei er sie nicht nur in den abschließenden Sätzen der "Abhandlung" findet. Er vertritt die Meinung, daß gegen die Möglichkeit einer Privatsprache der Hinweis auf die Unmöglichkeit spricht, die mystischen Erfahrungen mit der Sprache zum Ausdruck zu bringen. 1993 haben alle, die sich zu Wittgenstein hingezogen fühlen und an der Interpretation seiner Texte arbeiten, die "Gesellschaft von Ludwig Wittgenstein in Moskau" gegründet. Ihre konkrete Aufgabe sieht die Gesellschaft in der Organisation und Durchführung von mehr oder weniger regelmäßigen Konferenzen und der Veröffentlichung ihrer Materialien. Das Leben im postkommunistischen Rußland ist jedoch mit zahlreichen Problemen verbunden, unter anderem mit finanziellen, darum lassen sich unsere Pläne nur mit viel Aufwand realisieren. Die Gesellschaft arbeitet in den Räumen des Instituts der Philosophie der RAW. In der Zwischenzeit wächst das Interesse an Wittgenstein in unserem Land. So bereitet z.B. die Gruppe der Philosophen der Mathematik (Lehrstuhl der Philosophie und der Methodologie der Universität) eine Anthologie zur mathematischen Philosophie für die Forschungsstudenten der Universität vor. Sie haben dem Buch auch einige Fragmente der wittgensteinischen Texte beigefügt, in der Überzeugung, daß ohne diese kein vollständiges Bild der modernen Philosophie der Mathematik möglich sei. Das Interesse an Wittgenstein seitens eines breiten Kreises der Philosophen und Nicht-Philosophen stieg nach der Veröffentlichung des Buches "Ludwig Wittgenstein : Mensch und Denker" bedeutend an. In diesem Buch sind die Übersetzungen der bekanntesten Erinnerungen an ihn, u.a. von N. Malcolm, G.H. von Wright, Fania Pascal enthalten, aber auch das Buch von W. Bartley III, mit dem umfangreichen biographischen Material. Die nächste wichtige Etappe in der Popularisierung des wittgensteinischen Nachlasses war die Veröffentlichung der Übersetzungen der ersten Bände von wittgensteinischen Texten. Übersetzt wurden: "Logisch-Philosophische Abhandlung", "Philosophische Untersuchungen", "Über Gewißheit", "Vermischte Bemerkungen", "Bermerkungen über die Grundlagen der Mathematik". Herausgeberin war Maria S. Koslowa, von der die Vorbereitungen der Publikationen unter den bisherigen Bedingungen einen enormen Einsatz abverlangten. Sie beabsichtigt diese Reihe der Übersetzungen fortzusetzen. Ich glaube, daß sich das Interesse für Wittgenstein in Rußland auch weiterhin entwickeln wird, d.h. daß trotz aller ökonomischen und finanziellen Schwierigkeiten immer neue Übersetzungen veröffentlicht und immer neue Versuche der Interpretation seiner Ideen aufgenommen werden. Wittgenstein findet allmählich Eingang in unsere Kultur und nimmt in ihr eine besondere Stellung ein. Das geschieht im Ergebnis der Zusammenwirkung zweier Ursachen: erstens fühlte sich das russische Bewußtsein schon immer zur westlichen Philosophie hingezogen und sah seine moralische Pflicht darin, sich ihren Hauptströmungen anzunähern, oder sie zu berühren. Das ist schon an den vielen Übersetzungen der Literatur westlicher Philosophen zu erkennen, die in Rußland vor 1917 veröffentlicht wurden und - nachdem es jetzt wieder möglich ist - wieder erscheinen. In dieser Hinsicht kommt unser Selbstverständnis als Europäer zum Ausdruck. Zum zweiten gibt es für die russische Mentalität keine Wahrheit ohne die Persönlichkeit, die diese Wahrheit proklamiert. Die russische Philosophie hatte in dieser Hinsicht schon immer eine religiös-existenzielle Orientierung. Deswegen ist Ludwig Wittgenstein einerseits der Philosoph, der vom russischen philosophischen Gedanken sehr gut aufgenommen werden kann. Andererseits werden sich die Wittgensteinstudien eher auf sein religiös-ethnisches Suchen, als auf die Analyse der Sprachausdrücke konzentrieren.