***************************************************************** * * Titel: Wittgenstein und die Frankfurter Schule Eine Einleitung Autor: Geert-Lueke Lueken, Universität Leipzig Dateiname: 06-1-96.TXT Dateilänge: 31 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 1/96, Datei: 06-1-96.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1996 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** In den hier zusammengestellten Texten werden Bezüge hergestellt zwischen Wittgensteins Philosophie und einer einflußreichen Strömung der Gegenwartsphilosophie: der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.*1* Ein solches Unternehmen bedarf sicherlich der Erläuterung, denn auf den ersten Blick liegen solche Bezüge nicht eben auf der Hand. Weder haben die Vertreter der Frankfurter Schule, deren Geschichte mit der Gründung des "Instituts für Sozialforschung" in den frühen 20er Jahren beginnt, von Wittgenstein zu dessen Lebzeiten überhaupt in nennenswerter Weise Notiz genommen, noch hat Wittgenstein je Interesse für diejenigen linksintellektuellen Traditionen gezeigt, denen man Adorno, Benjamin, Marcuse und Horkheimer (um nur die bekanntestes Namen in Erinnerung zu rufen) zurechnen kann. Das Thema "Wittgenstein und die Frankfurter Schule" birgt nach meiner Erfahrung zumindest die Gefahr, auf Verständnislosigkeit zu stoßen. Deshalb sei zunächst einmal klargestellt, daß es hier nicht darum gehen kann, offenkundige Unterschiede zwischen Wittgenstein und den Autoren der Frankfurter Schule zu ignorieren. Wer jemals von ihren Texten Notiz genommen hat, weiß um die gravierenden Differenzen in den Themen, in der Sprache und im Ton. Eingefleischte Anhänger der einen oder der anderen Seite sind wohl nach wie vor nicht wenig geneigt, auf der jeweils anderen Seite sozusagen den Verfall der Philosophie zu sehen. Natürlich geht es hier auch nicht um persönliche Kontakte zwischen Wittgenstein und einem der Frankfurter Philosophen - die hat es wohl nicht gegeben. Der Schwerpunkt soll auch nicht auf der Rekonstruktion von gemeinsamen geistes- oder kulturgeschichtlichen Hintergründen liegen - die hat es wohl gegeben. Über Wittgensteins Wien oder Adornos Wien gab es bekanntlich schon einiges zu lesen. Bezüge zwischen Wittgenstein und der Frankfurter Schule sollen hier in SYSTEMATISCHER HINSICHT in den Blick genommen werden, sei es rückblickend oder im Interesse einer Erneuerung und Befruchtung philosophischer Projekte. Die teilweise durchaus verständlichen Reserven gegenüber dem Thema sollten nicht dazu führen, sich in alten Feindschaften zu verschanzen und philosophische Suchbewegungen von vornherein zu diskreditieren. Die versammelten Texte können als Ausdruck solcher Suchbewegungen gelesen werden. Aber was wird denn gesucht? Nun, in den vorliegenden Beiträgen spielen zwei Arten von Suchbewegungen eine Rolle, die metaphilosophische Suche nach einem angemessenen Verständnis des Ortes und der Methode gegenwärtigen Philosophierens einerseits, andererseits die Suche nach philosophischen Grundlagen einer kritisch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogenen Theorie. Der Plan, dieses Thema aufzugreifen, geht auf meine Begegnung mit Andreas Roser auf dem Kongreß ANALYOMEN 2 der Gesellschaft für Analytische Philosophie zurück. Dabei stellten wir fest, daß wir zwar etliche Philosophen und Philosophinnen kennen, die sich sowohl für Wittgenstein als auch für Benjamin, Adorno oder Habermas interessieren - und auch sachliche Verbindungen zwischen diesen Interessen sehen -, daß es aber nur sehr wenige gibt, die sich ausdrücklich um eine Diskussion dieser Bezüge zu bemühen trauen. Offenbar, so war unser Eindruck, scheuen viele die Auseinandersetzung mit den hier zu erwartenden Widerständen aus dem einen oder anderen Lager. Aus der Unzufriedenheit mit dieser Situation heraus entschlossen wir uns, einen Versuch zu unternehmen, Überlegungen zu diesem Thema in den WITTGENSTEIN- STUDIEN zur Diskussion zu stellen. Schließlich bat mich Andreas Roser, geeignete Beiträge zusammenzutragen und die Gastherausgeberschaft dafür zu übernehmen. Das Ergebnis liegt hiermit vor: I. Zur metaphilosophischen Frage - Thomas Rentsch (Dresden): Die Negativität der Sprache. Bemerkungen zu Adorno und Wittgenstein - Geert-Lueke Lueken (Leipzig): Konstellationen. Zu eigentümlichen Verwandtschaften zwischen Wittgenstein und Adorno - Wilhelm Beermann (Düsseldorf): Negative Dialektik und Sprachspiel. Zum Verhältnis der Philosophie Adornos zur Philosophie Wittgensteins - Michael Quante (Münster): Unzusammenhängende Zusammenhänge zusammenhängen? Einige Bemerkungen zu drei Versuchen, Adorno und Wittgenstein ins Gespräch zu bringen II. Zur Grundlegung einer kritischen Gesellschaftstheorie - Christoph Demmerling (Dresden): Language and Reification. Some Remarks on Wittgenstein and Critical Theory - Hans Herbert Kögler (Urbana): Kritische Sprechakttheorie oder Semiotik der Macht? Habermas und die Wittgenstein-Tradition - Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig): Ideologie, Macht und Sprache. Zu Versuchen, Wittgenstein mit der Kritischen Theorie in ein Verhältnis zu setzen III. Zur Philosophie der Erinnerung - Johann Kreuzer (Wuppertal): Missing Links. Zum Denken der Erinnerung bei Wittgenstein und bei Benjamin und Adorno - Richard Raatzsch (Leipzig): Erinnerung und Philosophie. Kommentar zu Kreuzer 1. ZUR METAPHILOSOPHISCHEN FRAGE Erst in den 60er Jahren setzte, nach langen Jahren der getrennten Entwicklung, in Deutschland die Wiederaneignung der durch die Nazis ins Exil vertriebenen philosophischen Traditionen ein. Bis weit in die 70er Jahre hinein war diese Auseinandersetzung allerdings von einem Denken in Lagern, Schulen und, damit verbunden, intellektuellen Feindschaften und Diffamierungen verbunden. In diesem Klima war es noch möglich, Wittgenstein als unphilosophischen Positivisten, Heidegger als raunenden Dunkelmann und Adorno als gefährlichen Staatsfeind abzukanzeln. Das Klima in der Philosophie hat sich seither geändert. Keiner der Genannten gehört einer Schule allein. Besonders Wittgenstein ist weit über die Analytische Philosophie hinaus wahrgenommen und aufgegriffen worden. Daß sich heute ein Interesse für Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Helden verschiedener Philosophietraditionen entwickelt hat, kann an Buch- und Aufsatztiteln abgelesen werden, in denen "Adorno und Heidegger" oder "Heidegger und Wittgenstein" vorkommt. Nun also auch noch "Adorno und Wittgenstein"? Man mag den Eindruck gewinnen, daß das alles nur eine der gegenwärtigen Fluchtbewegungen in der Philosophie ist. Manche Philosophen ziehen sich zurück, auf die Geschichte der Philosophie etwa, oder auf eine logisch-semantische Scholastik. Andere suchen ihr Heil in der Flucht nach vorn, also indem sie auf "Anwendung" setzen, von der "Angewandten Ethik" bis zu den Bemühungen, sich den Computerwissenschaften oder der KI anzudienen. Das sachliche Problem, das hierin offenbar wird, ist das der Ortsbestimmung gegenwärtigen Philosophierens. Es ist ein bekannter Topos, daß mit der Ausdifferenzierung und den Fortschritten der Wissenschaften die Philosophie an Terrain verloren hat. Manches, was früher zur Philosophie gehörte, ist heute eine eigene Wissenschaft - und wird dort, wie viele meinen, wesentlich erfolgreicher bearbeitet. Angesichts dieser Entwicklung ist immer wieder behauptet worden, mit der Philosophie gehe es zu Ende. Ein anderer Topos besagt, der Philosophie bleibe, ähnlich der Kunst oder der Religion, auch und gerade im wissenschaftlichen Zeitalter die Aufgabe der Sinnstiftung, sozusagen eine kompensatorische Aufgabe. Aber die wenigsten Philosophen sind bereit, ihre Arbeit als Seelsorge oder Dichtung zu verstehen. Wenn aber Philosophie weder Wissenschaft, noch Ideologie oder Dichtung ist - was ist sie dann? Die Lage der Philosophie zeichnet sich zum einen dadurch aus, daß sie neben den Wissenschaften ihren Platz finden will, zum anderen durch die internen Differenzen zwischen verschiedenen Traditionen des Philosophierens. In dieser Lage kann die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der "Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie" im Rahmen einer metaphilosophischen Fragestellung Sinn machen. Was Wittgenstein und Adorno verbindet, ist die Überzeugung, daß Philosophie weder in Wissenschaft, noch in Kunst aufgehen kann. Wittgenstein und Adorno exemplifizieren auf verschiedene Weise, wie die spezifisch philosophische Tätigkeit unter den "modernen" Bedingungen ausgeübt und zur Geltung gebracht werden kann. Darin liegt ein sachlicher Grund, sich einmal vergleichend mit ihnen zu befassen. Für uns normale Philosophen ist dies ein naheliegender Weg, sich darüber zu verständigen, was wir beim Philosophieren eigentlich tun - jedenfalls wenn wir über die Verehrung oder (gelegentlich peinliche) Nachahmung der Helden hinauskommen wollen. Drei der hier vorgelegten Beiträge (Rentsch, Lueken, Beermann) lassen sich auf dem Hintergrund der angesprochenen metaphilosophischen Fragestellung verstehen. Dabei beschränken sie sich weitgehend auf das Verhältnis von Wittgensteins Philosophie zu der Adornos, andere Autoren der Frankfurter Schule kommen hier kaum zu Wort. In dem Beitrag von Thomas Rentsch wird zunächst die Sprachkritik als Zentrum gegenwärtigen Philosophierens und als die grundlegende Ebene eines Vergleichs zwischen Wittgenstein und Adorno herausgestellt. Sodann werden die Wurzeln von Adornos Sprachphilosophie in dessen Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik aufgezeigt.*2* Schließlich stellt Rentsch die "systematische Kompatibilität" von Adornos und Wittgensteins "Denken in Ähnlichkeiten" dar, welches sich in der Methode und Darstellungsform von Konstellationen, Familienähnlichkeiten und übersichtlichen Darstellungen ausdrückt. Rentsch sieht in Wittgensteins und Adornos Form des Philosophierens eine "Transformation des Vernunftkonzepts" vollzogen. Damit sind bereits die Themen benannt, denen Geert-Lueke Lueken und Wilhelm Beermann in ihren Beiträgen nachgehen. Lueken geht von dem naheliegenden Befund aus, daß Philosophie bei Wittgenstein wie bei Adorno als Sprachkritik auftritt, die in der Einsicht in Grenzen des Sagbaren gründet - und darin, daß der Philosophie ihre Sprache nicht äußerlich ist, nicht bloß Mittel der Mitteilung, sondern sozusagen ihr Lebenselement. Der Sprachkritik korrespondiert ein Konzept davon, wie sich Philosophie der Sprache zu bedienen habe. In diesem Zusammenhang weist Lueken zunächst auf die rhetorischen Momente hin, die bei Adorno und Wittgenstein in die philosophische Sprache aufgenommen werden. Dann führt er die schon bei Rentsch angesprochenen Analogien zwischen Adornos Verfahren der Komposition von begrifflichen Konstellationen und Wittgensteins Verfahren der auf Übersichtlichkeit zielenden Anordnung weiter aus. Die Verwandtschaft der Darstellungsformen wird aus einem gemeinsamen Motiv heraus erklärlich: der Suche nach einer philosophischen Sprache, die sich der Alternative zwischen den wissenschaftlichen und dem dichterischen Modi entzieht. Während Lueken (wie Rentsch) Ähnlichkeiten zwischen Wittgensteins und Adornos Form des Philosophierens hervorhebt, geht Beermann einem zentralen Unterschied im Detail nach. Dabei betont er zunächst, daß sich Wittgensteins Verfahren des Zeigens von Tatsachen des Gebrauchs der Sprache aus Adornos Perspektive als "Kultus der Unmittelbarkeit" darstellt und entsprechend zurückgewiesen werden müßte. Indem er dann die schon bei Rentsch angesprochenen Wurzeln von Adornos negativer Dialektik in Hegels "idealistischer Dialektik" aufgreift, macht Beermann umgekehrt deutlich, wie Adornos Verständnis vom dialektischen Widerspruch aus Wittgensteins Perspektive zu kritisieren wäre, nämlich als ein Scheinwiderspruch, der sich aus einem Verfangen in den Regeln der Sprache erklärt. Beermann versucht nicht, in dieser Konfrontation weiter zu vermitteln, deutet aber abschließend an, daß das von Wittgenstein (in PU, 125) herausgestellte philosophische Problem, nämlich die "Stellung des Widerspruchs in der bürgerlichen Welt", genuines Thema von Adornos negativer Dialektik ist und im Anschluß an diese weiterzuverfolgen sei. Die Gruppe von Texten zur metaphilosophischen Frage wird mit einer kurzen kritischen Replik von Michael Quante abgeschlossen, in der einige grundsätzliche Fragen zum Sinn der "Versuche, Adorno und Wittgenstein ins Gespräch zu bringen" aufgeworfen werden. 2. ZUR GRUNDLEGUNG EINER KRITISCHEN GESELLSCHAFTSTHEORIE Die beiden Beiträge von Christoph Demmerling und Hans Herbert Kögler sind weniger von der metaphilosophischen Fragestellung her motiviert, sondern eher als Bemühungen um die Grundlagen einer Kritischen Theorie der Gesellschaft zu verstehen. Im Rahmen der WITTGENSTEIN-STUDIEN, deren Leser vielleicht nicht allzu vertraut sind mit den Entwicklungen des Projekts einer Kritischen Theorie, mag es für das Verständnis dieser Beiträge hilfreich sein, den Hintergrund ein wenig auszuleuchten. Die Kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie für die Frankfurter Schule programmatisch von Max Horkheimer formuliert wurde,*3* hat sich mit ihrer interdisziplinären Orientierung und ihrer politisch-emanzipatorischen Zielsetzung auf etwas verpflichtet, was Wittgenstein bestimmt höchst unsympathisch gewesen ist. Die Horkheimersche Idee einer material und normativ gehaltvollen Philosophie, die im Verbund mit den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen Gesellschaftskritik zu leisten habe, läuft Gefahr, Grenzen zwischen empirischem und historischem Wissen, normativen Ansprüchen und philosophischer Reflexion aufzuweichen, Grenzen, deren strenge Beachtung zu den zentralen Motiven Wittgensteins gehört. Empirisches, Normatives und Begriffliches zu vermischen, dürfte für Wittgenstein sozusagen DIE philosophische Todsünde darstellen. Und doch ist es gerade Wittgenstein, der auf den PRAKTISCHEN Sinn und die historische Relativität dieser Grenzziehung aufmerksam gemacht hat. In Wittgensteins Konzept von Philosophie ist kein Platz für eine THEORIE der Gesellschaft. Theorien gehören in die Wissenschaft, nicht in die Philosophie. Und zudem ist fraglich, ob die Gesellschaft in Wittgensteins Perspektive überhaupt ein theoriefähiger Gegenstand, ob Soziologie eine Wissenschaft sein kann. So scheint es zunächst wenig Sinn zu machen, sich im Interesse an einer Grundlegung Kritischer Gesellschaftstheorie an Wittgenstein zu halten. Daran ändert sich auch durch die Arbeit von Peter Winch nichts, der im Anschluss an Wittgenstein ein Bild von Sozialwissenschaft gezeichnet hat, wonach grundlegende sozialwissenschaftliche Fragen eher philosophischer als wissenschaftlicher Natur sind.*4* Was Winch mit der Frankfurter Schule verbindet, ist die ANNÄHERUNG von PHILOSOPHIE UND SOZIALWISSENSCHAFT. Aber diese Annäherung erfolgt bei Winch gerade im Sinne der Ablehnung einer THEORIE der Gesellschaft, erst recht einer Theorie, die über Ressourcen zu verfügen glaubt, soziale Praktiken zu kritisieren. Entsprechend wurde Winch von Adornos berühmtestem Schüler, Jürgen Habermas, stets als Relativist wahrgenommen. Ein zentrales Problem der Kritischen Theorie, welches zumeist unter dem Titel "normative Grundlagen" behandelt wird, besteht darin: Wer den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft oder Kultur begründet kritisieren will, muß diese Kritik auf etwas stützen, einen Maßstab, das Bild eines besseren Zustands oder ein Ideal.*5* Bei Adorno und Benjamin war die Geschichtsphilosophie eine solche Ressource der Kritik. Für Habermas und die meisten jüngeren Anhänger Kritischer Theorie aber war diese Geschichtsphilosophie nicht akzeptabel. Mit der Verabschiedung der geschichtsphilosophischen Grundlage wurde nun, wollte man die Begründung von Kritik nicht dezisionistisch verweigern, die Frage nach positiv begründeten Kriterien oder Maßstäben der Gesellschaftskritik dringlich. Aus diesem Bedürfnis heraus kam es zur Suche nach "normativen Grundlagen" der Kritischen Theorie. Aus heutiger Sicht sind drei Wege erkennbar, die bei dieser Suche eingeschlagen wurden: (a) die diskursethische Grundlegung, (b) die Rekonstruktion einer impliziten Moralphilosophie bei Adorno und (c) sprachkritisch- hermeneutische Fundierungsversuche. Bei allen dreien geht es um eine ETHISCHE Grundlegung. (a) Die "kommunikationstheoretische" oder diskursethische Antwort auf die Frage nach den normativen Grundlagen Kritischer Theorie ist Resultat der Auseinandersetzung von Schülern der Frankfurter Schule mit der erst in den 60er Jahren in Deutschland wieder an Einfluss gewinnenden Analytischen Philosophie. Im Anschluß an Apel (der allerdings nicht eigentlich zu den Schülern Adornos und Horkheimers zu rechnen ist) haben neben Jürgen Habermas vor allem Albrecht Wellmer und Herbert Schnädelbach diese Auseinandersetzung vorangetrieben. Normative Grundlagen für eine Kritische Theorie der Gesellschaft wurden von Habermas in den Strukturen der Kommunikation gesucht, und im Rekurs auf die Sprechakttheorie Searles auch gefunden. Die sprechakttheoretisch analysierten Regeln gelingender Kommunikation werden hier als in faktischer Kommunikation antizipierte Normen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft gelesen und zu einer Diskursethik hochstilisiert, die zur Kritik gesellschaftlich etablierter Kommunikationsverhältnisse taugen soll. (b) Eine Reihe von Schülern Adornos und Horkheimers haben die sogenannte "kommunikationstheoretische Wende" der Kritischen Theorie nicht mitmachen wollen. Sie witterten Verrat an den kritischen Gehalten der Frankfurter Schule. Und in der Tat geht Adornos Negativismus ja nicht recht zusammen mit Habermas' Modernismus. Dennoch: Nachdem sie sich lange der Frage nach "normativen Grundlagen" verweigert haben, ist seit einigen Jahren zu bemerken, daß sich auch die Traditionalisten nun nicht mehr allein auf geschichtsphilosophische Grundlagen verlassen wollen. Das vorläufige Resultat der eher traditionalistischen Bemühungen besteht darin, daß man (auf der Basis des Nachlasses und der Vorlesungsaufzeichnungen von Adorno) eine bislang nicht beachtete Ethik oder Moralphilosophie Kritischer Theorie zu rekonstruieren versucht.*6* (c) Nicht nur Traditionalisten der Frankfurter Schule sind mit Habermas' Art der Aufnahme sprachphilosophischer Begriffe aus der Analytischen Philosophie unzufrieden, wenn sich auch insgesamt Habermas' Reform der Kritischen Theorie weitgehend durchgesetzt zu haben scheint. Schließlich ist die Sprechakttheorie alles andere als sprachphilosophisch unstrittig. Sich ganz auf sie zu verlassen, erscheint nicht sinnvoll. Problematisch erscheint auch der harte Kognitivismus und Normativismus der Diskursethik. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, daß sich einige Vertreter des Projekts Kritischer Theorie, etwa Albrecht Wellmer und Christoph Demmerling, noch einmal genauer der Spätphilosophie Wittgensteins zugewandt haben.*7* Normative Grundlagen im ursprünglich gesuchten Sinne wird man hier zwar nicht finden, wohl aber eine Praxis der Sprachkritik, die sich fruchtbar mit kulturkritischen Motiven verbinden läßt. "Wir müssen uns", schreibt Friedrich Kambartel, "auf den mühseligen Prozeß einlassen, in dem Wittgenstein eine ETHISCH bedeutsame Einsicht in immer neuen Anläufen und an immer neuen Paradigmen zur Klarheit bringt: daß nämlich unsere alltägliche SPRACHE (und ihre Formen) mit unserem LEBEN (und seinen Formen) auf eine Weise zusammenhängt, welche dem ganzen Geist unserer Epoche, und dies praktisch folgenreich, zuwiderläuft."*8* Was Kambartel hier andeutet, betrifft den Zusammenhang zwischen Wittgensteins Untersuchungen zum Sitz sprachlicher Äußerungen in der Praxis und Wittgensteins verstreuten kulturkritischen Bemerkungen - ein Zusammenhang, der erst bei einer Lektüre in der Teilnehmerperspektive sichtbar wird.*9* Der hier vorliegende Beitrag von Christoph Demmerling, der vor allem die "Verdinglichungskritik" als gemeinsames Motiv Adornos und Wittgensteins in den Vordergrund rückt, gibt einen Eindruck davon, wie sich eine solche Wittgenstein-Lektüre in das Projekt einer Kritischen Theorie fügen kann. Während Demmerling also mit Wittgenstein und Adorno eine Alternative zu Habermas' Grundlegung Kritischer Theorie sucht, sieht Hans Herbert Kögler die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas sprachphilosophisch ganz in einer Traditionslinie von Wittgenstein über Austin zu Searle. Die großperspektivische Betrachtung, die Kögler anstellt, macht das in der Tat ganz plausibel. In Abgrenzung zu einer intentionalistischen oder einer Wahrheitsbedingungen-Semantik sitzt Habermas in einem Boot mit der an Konzepten wie Sprachspiel, Sprechakt, Gebrauch und Regel orientierten Semantik, die ihren Ausgang vom späten Wittgenstein nimmt. Kögler, der die Weiterentwicklung dieser Linie durch Habermas im einzelnen rekonstruiert, argumentiert nun, daß eine Reduktion von sprachlichem Sinn auf soziale Praktiken nicht nur der relativen Autonomie sprachlicher Sinnkonstitution nicht gerecht werde, sondern sich auch der Mittel beraubt, die Verschleierung und Verstärkung von Praktiken der Machtausübung durch die sprachliche Produktion von Sinn ideologiekritisch aufzudecken. Es mangelt einer Kritischen Theorie a la Habermas eines Konzepts der symbolischen Vermittlung von struktureller Macht und individuellen Sprechakten. Entsprechend plädiert Kögler für eine kritische Gesellschaftstheorie auf der Basis einer "Semiotik der Macht". Auf die Beiträge von Demmerling und Kögler repliziert Pirmin Stekeler-Weithofer mit einigen Nachfragen, was "kritische" Philosophie eigentlich heißen kann. 3. ZUR PHILOSOPHIE DER ERINNERUNG Der Beitrag von Johann Kreuzer stellt sozusagen eine Klammer dar, die die beiden hier angesprochenen Kontexte zusammenhält. Es wird eine Verbindung zwischen Wittgenstein, Adorno und Benjamin über einen Sachpunkt hergestellt, der in der Wittgenstein-Rezeption verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden hat, nämlich über den Erinnerungsbegriff. Anders als die anderen metaphilosophischen Beiträge setzt Kreuzer also nicht bei der Sprachphilosophie ein. Er sucht eine Verbindung über Wittgensteins Charakterisierung der Philosophie als Zusammentragen von Erinnerungen und geht dem Erinnerungsbegriff in Benjamins und Adornos geschichtsphilosophischen Überlegungen nach. Damit rehabilitiert er in gewisser Hinsicht mit Wittgenstein (und gegen Habermas) eine geschichtsphilosophische Grundlegung Kritischer Theorie. Kreuzer geht im Aufsuchen unterschwelliger Bezüge zwischen Benjamin, Adorno und Wittgenstein genealogisch weit zurück, nämlich zu Augustin. Er zeichnet die Spuren Augustins in Wittgensteins Verständnis von Erinnerung nach*10* und arbeitet die Stellung des Erinnerungsbegriffs in der Geschichtsphilosophie der Kritischen Theorie heraus. Schließlich findet er in Augustin das "missing link", mittels dessen Wittgensteins "Zusammenstellen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck"*11* mit der Geschichtsphilosophie von Benjamin, Horkheimer und Adorno verbunden werden kann. Das Erinnern selbst ist, wenn wir Kreuzers Darstellung folgen, die Quelle der Kritik gegenwärtiger Zustände. Auch zu diesem Thema gibt es eine Replik. Richard Raatzsch antwortet Kreuzer mit einem umfangreichen, kritischen Kommentar, der eine Fülle von begrifflichen und methodischen Fragen aufwirft und darüber hinaus eigene Überlegungen zum Erinnerungsbegriff entwickelt. Raatzsch problematisiert Kreuzers These, wonach zwischen dem erkenntnistheoretischen Problem der Erinnerung, wie es bei Wittgenstein behandelt wird, und dem geschichtsphilosophischen Problem der Kritischen Theoretiker ein WESENTLICHER Zusammenhang besteht. Der Rekurs auf Augustinus reicht dafür nicht hin, weil der Hinweis auf genealogische Zusammenhänge das Zeigen begrifflicher Zusammenhänge nicht ersetzen kann. Raatzsch betont zunächst eher Differenzen als Verbindungen. Sein Fazit: Sind die geschichtsphilosophischen "Grundeinsichten" von Adorno, Horkheimer und Benjamin, gerade wo sie einen kritischen Sinn haben sollen, auch als "empirische" zu lesen, so haben sie mit den begrifflichen Sätzen bei Wittgenstein nichts zu tun. Im zweiten Teil seines Kommentars macht er Vorschläge für ein Verständnis Benjaminscher Sätze, welches diese als grammatische zu lesen erlaubt. *1* Zur Geschichte der Frankfurter Schule vgl.: Rolf Wiggershaus, DIE FRANKFURTER SCHULE. GESCHICHTE, THEORETISCHE ENTWICKLUNG, POLITISCHE BEDEUTUNG; München, Wien 1986 *2* Vgl. dazu auch: Thomas Rentsch, VERMITTLUNG ALS PERMANENTE NEGATIVITÄT. DER WAHRHEITSANSPRUCH DER »NEGATIVEN DIALEKTIK« AUF DER FOLIE VON ADORNOS HEGELKRITIK; in: Christoph Menke und Martin Seel (Hg.), ZUR VERTEIDIGUNG DER VERNUNFT GEGEN IHRE LIEBHABER UND VERÄCHTER; Frankfurt/M. 1993 *3* Max Horkheimer, TRADITIONELLE UND KRITISCHE THEORIE; in: ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALFORSCHUNG VI/2; Paris 1937; auch in: ders., TRADITIONELLE UND KRITISCHE THEORIE. VIER AUFSÄTZE; Frankfurt/M. 1984 *4* Peter Winch, DIE IDEE DER SOZIALWISSENSCHAFT UND IHR VERHÄLTNIS ZUR PHILOSOPHIE; Frankfurt/M. 1966 *5* Horkheimer scheint sich diesem Begründungsanspruch noch verweigert zu haben. Für ihn ist die Schlechtigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse Grund genug zur Kritik. Und daß Autonomie und Emanzipation der gesellschaftlichen Subjekte sein soll, muss nicht begründet werden. Den dezisionistischen Zug Horkheimers hat Schnädelbach in seinem Horkheimer-Text (in: Herbert Schnädelbach, ZUR REHABILITIERUNG DES ANIMAL RATIONALE. VORTRÄGE UND ABHANDLUNGEN 2; Frankfurt/M. 1992) herausgestellt. *6* Für diese Anstrengungen sind die Arbeiten von Gerhard Schweppenhäuser und Mirko Wischke typisch, sowie die jüngst unternommene Publikation von Vorlesungen Adornos zur Moralphilosophie. Vgl. Gerhard Schweppenhäuser, ETHIK NACH AUSCHWITZ. ADORNOS NEGATIVE MORALPHILOSOPHIE; Hamburg 1993 und Mirko Wischke, KRITIK DER ETHIK DES GEHORSAMS. ZUM MORALPROBLEM BEI THEODOR W. ADORNO; Frankfurt/M., Berlin, ... 1993; sowie ders., BETROFFENHEIT UND VERSÖHNUNG. DIE GRUNDMOTIVE DER MORALPHILOSOPHIE VON THEODOR W. ADORNO; in: DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE 8/1992, S. 900ff. *7* Vgl. Albrecht Wellmer, ZUR DIALEKTIK VON MODERNE UND POSTMODERNE. VERNUNFTKRITIK NACH ADORNO; Frankfurt/M. 1985; ders., LUDWIG WITTGENSTEIN. ÜBER DIE SCHWIERIGKEITEN EINER REZEPTION SEINER PHILOSOPHIE UND IHRE STELLUNG ZUR PHILOSOPHIE ADORNOS; in: Brian McGuiness et al., »DER LÖWE SPRICHT ... UND WIR KÖNNEN IHN NICHT VERSTEHEN«; Frankfurt/M. 1991, S. 138 ff. sowie Christoph Demmerling, SPRACHE UND VERDINGLICHUNG. WITTGENSTEIN, ADORNO UND DAS PROJEKT EINER KRITISCHEN THEORIE; Frankfurt/M. 1994. *8* Friedrich Kambartel, PHILOSOPHIE DER HUMANEN WELT. ABHANDLUNGEN; Frankfurt/M. 1989, S. 147. *9* Daß es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt, dürfte nicht ganz unstrittig sein. Viele sehen Wittgensteins kulturkritischen Bemerkungen eher als Ausdruck einer pessimistisch-konservativen Einstellung, die durch seinen persönlichen, biographischen Hintergrund zu erklären ist, aber mit seinen philosophischen Leistungen nichts zu tun hat. Andererseits aber gibt es nicht wenige Hinweise, daß Wittgensteins philosophischen Untersuchungen weitgend von ethischen Motiven getragen sind - Motive, die möglicherweise auch seine kulturkritischen Äußerungen plausibel machen. *10* Vgl. Johann Kreuzer, SPUREN AUGUSTINS BEI WITTGENSTEIN; in: Kjell S. Johannessen & Tore Nordenstam (Hg.), CULTURE AND VALUE. PHILOSOPHIE UND DIE KULTURWISSENSCHAFTEN; Kirchberg am Wechsel 1995, S. 40 ff. *11* PU, 127