***************************************************************** * * Titel: Negative Dialektik und Sprachspiel Zum Verhältnis der Philosophie Adornos zur Philosophie Wittgensteins Autor: Wilhelm *Beermann*, Universität Düsseldorf Dateiname: 09-1-96.TXT Dateilänge: 44 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 1/96, Datei: 09-1-96.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1996 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** ABSTRACT: The paper explores basic differences between the philosophies of Adorno and Wittgenstein by asking what one says about the other. It is shown that the conflicts between them are productive because they criticize each other constructively, so that each can learn from the other in essential ways. The central part of the paper contains a critique of a certain episode of Hegelian dialectics from a Wittgensteinian point of view. Die folgenden Darlegungen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Adornos und Wittgensteins Philosophie in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Sie gehen von der Frage nach grundlegenden Differenzen zwischen den beiden Philosophien aus, ohne damit anzunehmen, daß ein Ausgang von Gemeinsamkeiten nicht auch interessante Resultate erbringen könnte. Die Darstellung beschränkt sich auf die Hauptwerke der beiden Autoren, die NEGATIVE DIALEKTIK*1* bzw. die PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN*2*, als Textgrundlage. 1 Adorno eröffnet seine Darstellung mit der Frage, ob und wie Philosophie heute 'überhaupt noch möglich sei' (ND 16).*3* Eine erste, bündige Antwort findet sich bereits nach wenigen Seiten: "Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse (...) beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen." (ND 19) Das Grundthema der Adornoschen Philosophie ist das Begriffslose, Heterogene; ihr Ziel ist es, "das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen" (ND 21). Damit ist aber nur das fernliegende Ziel benannt. Die Hauptaufgabe, mit der sich Adorno konfrontiert sieht - angezeigt mit der Formel "nach dem geschichtlichen Stande" im ersten Zitat -, ist noch nicht in den Blick genommen. Dem Begriffslosen kommt im gegenwärtigen geschichtlichen Stand nicht etwa der Status eines den Begriffen gleichberechtigten zu. Die Ausschließung des "begriffslos" Genannten ist besonderer Art, sie hat Zwangscharakter: "Was aber an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene". (ND 21) Desgleichen stehen 'Allgemeines' und 'Besonderes' nicht frei nebeneinander, sondern die Differenz von Allgemeinem und Besonderem ist vom Allgemeinen selber 'diktiert' (ND 18). Das Denken, das sich vermittels dieser diktierenden Allgemeinheit bzw. unterdrückenden Begrifflichkeit vollzieht, nennt Adorno das Einheits-(Identitäts-) Denken (ND 17); das Begriffslose heißt dementsprechend das Nichtidentische. In einem weiteren - dem entscheidenden - Schritt identifiziert Adorno nun den Zwangscharakter des Einheitsdenkens als bloße 'Verlängerung' (ND 58) bzw. 'Selbstfortsetzung' (ND 148) einer unterdrückenden Herrschaft, deren Gesetz, wie Adorno sagt, 'keines von Denken, sondern real' ist (ND 18). (Adorno sagt auch: Im begrifflichen Zwangscharakter werde der reale Zwang 'nachgeahmt' (ND 137); zwischen beiden bestehe ein 'Urverwandtschaft' (ND 144); ersterer sei das 'vergeistigte herrschaftliche Prinzip' (ND 58)). Das somit zugrundeliegende gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis - den realen 'falschen Zustand' oder auch das 'antagonistische System' (ND 22) - charakterisiert Adorno als das System des allgemeinen Äquivalententausches (ND 22) sowie das 'Klassenverhältnis' (ND 52). Schließlich ist die gesellschaftliche Herrschaft für Adorno tendenziell totale Herrschaft, und die 'Identifikation' seitens des Einheitsdenkens entsprechend 'total' (ND 18). Zwar behauptet Adorno nicht, daß etwa die Fähigkeit des Bewußtseins zu kritischer Selbstreflexion schlichtweg zerstört sei: " ... kritische Selbstreflexion behütet (das Subjekt) (...) davor, eine Wand zwischen sich und das Objekt zu bauen, sein Fürsichsein als das An und Für sich zu supponieren." (ND 41) Auch ist die im Bewußtsein realisierte Allgemeinheit nicht einfachhin unwahr: "Weil sie in sich allgemein ist, und soweit sie es ist, reicht individuelle Erfahrung auch ans Allgemeine heran." (ND 56) Wenn aber der Begriff zunehmend total mit dem 'Unwahren fusioniert' ist (ND 57), dann werden solche - mit Marx gesprochen - entgegenwirkenden Ursachen aufgehoben: Die Allgemeinheit hat die Tendenz, "in der individuellen Erfahrung die Vorherrschaft zu erlangen"; die sogenannte Realitätsprüfung wird zum Schein, sie 'negiert' in Wirklichkeit 'Regungen und Wünsche des Einzelnen' (ND 56). Die kritische Selbstreflexion droht zusammenzubrechen. Damit haben wir den Einsatzpunkt der negativen Dialektik erreicht: Philosophie kann und muß nach Adorno einzig als negative Dialektik auf die skizzierte Lage reagieren. Dieses schließt vor allem eine Auseinandersetzung mit Hegel ein, dessen Versuch dialektischer Philosophie 'scheiterte' (ND 16). Im Wege der Dialektik, d.h. im wesentlichen des dialektischen Widerspruchs, ist es möglich, das Identitätsdenken aufzubrechen, bis hin zum Punkt der Versöhnung, von der Adorno sagt: "Diese gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen ..." (ND 18) Dialektisches Denken bringt dieser Wahrheit näher, denn der dialektische Widerspruch ist der 'Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff' (ND 17): "Das Differenzierte erscheint solange divergent, dissonant, negativ, wie das Bewußtsein der eigenen Formation nach auf Einheit drängen muß: solange es, was nicht mit ihm identisch ist, an seinem Totalitätsanspruch mißt. Das hält Dialektik dem Bewußtsein als Widerspruch vor." (ND 17) Aber Adorno geht noch einen Schritt weiter: ALLES, was sich in die begriffliche Totalität gemäß der ihr eigenen Logik nicht einfügt, 'nimmt die Signatur des Widerspruchs an' (ND 17). "Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität" (ND 17). So erscheint die negative Dialektik als der exklusiv richtige Weg, das Nichtidentische zur Sprache und schließlich in den Stand der Versöhnung zu bringen. In diesem Zusammenhang lautet einer der härtesten Sätze der ND, daß der wirklich kritische Gedanke "nichts positiv hypostasieren darf außerhalb des dialektischen Vollzugs" (ND 39). 2 Auch für Wittgenstein ist die Frage nach der Möglichkeit von Philosophie zentral. Die PU legen eine 'Methode' (bzw. 'Methoden') dar (PU 133), die philosophischen Probleme so anzugehen und zu lösen erlaubt, daß die Philosophie "nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die SIE SELBST in Frage stellen" (PU 133). Ferner stehen auch für Wittgenstein BEGRIFFE im Zentrum des Interesses. Philosophische Untersuchungen sind für ihn begriffliche Untersuchungen.*4* Jene 'Methode' beinhaltet eine bestimmte Auffassung und Umgangsweise mit philosophisch relevanten Begriffen. Betrachten wir jedoch Wittgensteins Ansatz genauer, dann wird die Divergenz zu Adornos Auffassung deutlich. Wittgenstein löst philosophische Probleme, vor allem Paradoxe *5*, indem er die Verwendung von Begriffsworten untersucht, die bei der Formulierung der Probleme bzw. Paradoxe wichtig sind. Ein Beispiel verdeutliche seine Vorgehensweise. "Jemand fragt mich: "Kannst du dieses Gewicht heben?" Ich antworte "Ja". Nun sagt er: "Tu's!" - da kann ich es nicht." (PU 182) Das Problem lautet: konnte ich das Gewicht heben, als ich "Ja" sagte? Bzw. das dazugehörige Paradox: daß ich das Gewicht heben konnte und doch nicht heben konnte. - Das Begriffswort, das hier Probleme macht, ist das Wort "können". Wittgenstein schlägt vor, das Problem bzw. Paradox zu lösen, indem man Fälle der Verwendung von "können" hinsichtlich der Frage analysiert: "Unter was für Umständen würde man die Rechtfertigung gelten lassen: "Als ich antwortete 'Ja', da KONNTE ich's, nur jetzt kann ich's nicht"?" (ebd). Allgemein gesprochen: Wittgenstein behandelt philosophische Begriffe, indem er nach der 'Rolle der Begriffsworte in unserer Sprache' fragt (PU 182), d.h. untersucht, unter welchen Umständen wir die Begriffsworte in den und den Fällen der Verwendung gebrauchen, oder, wie Wittgenstein auch sagt, wie wir das Sprachspiel mit dem betreffenden Begriffswort in diesen Fällen spielen.*6* Wittgenstein löst also philosophische, d.h. begriffliche Probleme, indem er gewisse, den Gebrauch von Worten betreffende Tatsachen anführt. Diese klärenden Tatsachen liegen 'offen zutage' (PU 92)*7* und müssen nur auf übersichtliche Weise angeordnet werden.*8* Allenfalls sind sie uns nicht subjektiv präsent; insofern ist die "Arbeit des Philosophen ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck" (PU 127). Fragen wir nun: Wie stellt sich Wittgensteins philosophischer Ansatz aus der Perspektive Adornos dar? Indem Wittgenstein, wie beschrieben, von Begriffen zu Tatsachen übergeht, in die der Gebrauch von Begriffsworten eingebettet ist, macht er, wie Adorno sagen würde, einen Schritt von den Begriffen zum 'Nichtbegrifflichen' (ND 20). Dieser Schritt ist aber einer Kritik ausgesetzt, wie sie analog die beiden anderen 'Träger philosophischer Moderne' (ND 20), Husserl und Bergson, trifft. Zwar läßt sich Wittgenstein offensichtlich nicht wie diesen vorwerfen, er verharre 'im Umkreis subjektiver Immanenz' (ND 21). Gleichwohl glaubt Wittgenstein, des Nichtbegrifflichen angemessen habhaft zu werden, indem er einfach gewisse offen daliegende Tatsachen zusammenstellt, von denen er dann noch fordert, daß wir sie 'als 'Urphänomene' sehen sollten', bzw. daß 'wir sagen sollten: DIESES SPRACHSPIEL WIRD GESPIELT' (PU 654). Für Adorno ist damit ein 'Kultus der Unmittelbarkeit' inszeniert (ND 20): Nicht ein subjektivistischer Kultus der Unmittelbarkeit der Intuitionen, wie bei Husserl und Bergson, sondern ein objektivistischer Kultus der Unmittelbarkeit offen daliegender Tatsachen. In jedem Fall handelt es sich um eine 'souveräne Freiheit inmitten des Unfreien' (ND 20). Wittgenstein verkennt mit seiner Konzeption des Verhältnisses von Begrifflichem und Nichtbegrifflichem die für dieses Verhältnis tatsächlich bestimmenden Zusammenhänge, wie wir sie unter den Stichworten 'Identitätsdenken' und 'antagonistisches System' dargestellt haben. Gemessen an einer Dialektik, die die bezeichneten Zwangszusammenhänge aufbrechen will, ist Wittgensteins Positivismus undialektisch, ja er erleichtert die Durchsetzung der von Adorno kritisierten Tendenzen. 3 Ich möchte nun umgekehrt fragen, wie es sich mit Adornos philosophischer Konzeption vom Standpunkt des Wittgensteinschen Ansatzes aus verhält. Gemäß Wittgensteins kritischer Haltung gegenüber den überkommenen philosophischen Begriffsbildungen muß hier diejenige zum Thema werden, die in Adornos Philosophie eine zentrale Rolle spielt, nämlich der Begriff des dialektischen Widerspruchs, den Adorno bei Hegel - seinerseits kritisch - aufnimmt. Allerdings zielt die darzulegende Wittgensteinsche Kritik*9* nicht auf Adornos Konzeption als ganze, denn wie bereits erwähnt, sind philosophische Untersuchungen für Wittgenstein begriffliche Untersuchungen, die er von sachlichen unterscheidet: "Das Wesentliche der Metaphysik: daß ihr der Unterschied zwischen sachlichen und begrifflichen Untersuchungen nicht klar ist. Die metaphysische Frage immer dem Anscheine nach eine sachliche, obschon das Problem ein begriffliches ist."*10* Insofern in Adornos Behauptung REALER Widersprüche bzw. seinem Begriff des antagonistischen Systems Sachfragen hineinspielen - wir würden heute vielleicht eher sagen: empirische Fragen -, beschränkt sich die Wittgensteinsche Kritik zunächst auf Adornos Betrachtung von Widersprüchen IM DENKEN, d.h. die negative Dialektik vis-a-vis Identitätsdenken. Gegenüber Thesen über reale Widersprüche verhält sich der Wittgensteinsche Ansatz offen, ja es wird deutlich werden, daß Wittgensteins begriffliche Kritik solche Thesen klarer in Geltung zu setzen verhilft. Vergegenwärtigen wir uns zunächst etwas genauer, in welchem Verhältnis Adornos negative Dialektik zu Hegels idealistischer steht. Adorno führt aus, "daß das Objekt der geistigen Erfahrung an sich, höchst real, antagonistisches System sei, nicht erst vermöge seiner Vermittlung zum erkennenden Subjekt, das darin sich wiederfindet. Die zwangshafte Verfassung der Realität, welche der Idealismus in die Region von Subjekt und Geist projiziert hatte, ist aus ihr zurückzuübersetzen." (ND 22) Adorno nennt Gesellschaft die 'objektive Determinante des Geistes' und spricht davon, daþ der Idealismus aus der 'abstrakten Gesetzmäßigkeit des Tausches' den 'absoluten Geist abdestilliert' (ND 57). Die idealistische Projektion der zwangshaften Verfassung der Realität ist eine vollständige in folgendem Sinne: "Begriff und Realität sind des gleichen widerspruchsvollen Wesens. Was die Gesellschaft antagonistisch zerreißt, das herrschaftliche Prinzip, ist dasselbe, das, vergeistigt, die Differenz zwischen dem Begriff und dem ihm Unterworfenen zeitigt." (ND 58) Nun gilt aber zusätzlich: Idealistische Dialektik ist nicht nur Projektion des realen Antagonismus in dem Sinne, daß auf der begrifflichen Ebene dasselbe Szenarium unterdrückenden Ausschließens statthat. Es gibt Adorno zufolge einen Kern in den Bewegungen idealistischer Dialektik, der dafür verantwortlich ist, daß das idealistische Subjekt die dialektischen Widersprüche nicht einfach kontrolliert PRODUZIEREN kann; sondern der Widerspruch geschieht diesem Subjekt zugleich, es ist ihm auch ausgeliefert. Insofern kann das idealistische Subjekt die Widersprüche immer nur wieder unter Kontrolle HALTEN. Es ist nun diese Seite der idealistischen Dialektik, die Adorno ergreift, wenn er sein Konzept negativer Dialektik an die idealistische Dialektik anschließt. Adornos Pointe besteht also darin, daß er bereits der idealistischen Dialektik zugesteht, sie enthalte, wenn auch 'verborgen', bereits selbst eine negative Dialektik, so daß die Projektion der Realität auf 'Subjekt und Geist', von der oben die Rede war, eigentlich eine doppelte ist: Adorno sagt, daß 'der IDEALISTISCH GEWONNENE Begriff der Dialektik Erfahrungen birgt', "die, entgegen der Hegelschen Emphase, UNABHÄNGIG sind von der idealistischen Apparatur" (ND 19, H.v.m.). Jene verborgene (negative) Dialektik ist es, von der Adorno sagt: "Als idealistische war sie verklammert mit der Vormacht des absoluten Subjekts." (ND 18) Ja, für Adorno steht und fällt sein Projekt negativer Dialektik damit, daß die idealistische diesen Kern wahrer Dialektik enthält, denn anderenfalls bliebe, wie er sagt, 'der Philosophie eine Entsagung unausweichlich' (ND 19). Adorno zeigt jene untergründige Bewegung in der idealistischen Dialektik auch positiv an, wenn er beispielsweise über die Intention der Hegelschen Logik schreibt: "Die Mikroanalyse der einzelnen Kategorien, zugleich als deren objektive Selbstreflexion auftretend, sollte, ohne Rücksicht auf ein von oben Aufgestülptes, einen jeden Begriff in seinen anderen übergehen lassen." (ND 35) Bedenkt man nun noch,*11* daß der Weg der negativen Dialektik für Adorno der der Philosophie einzig verbleibende ist, dann ist vollends klar, daß die idealistische Dialektik in Adornos Gesamtkonzeption eine Schlüsselstellung innehat. Eine Wittgensteinsche Kritik an der idealistischen Dialektik würde also einen zentralen Punkt in Adornos Konzeption treffen. Wäre die Kritik erfolgreich, so würde sie auf die Forderung Wittgensteins an Adorno hinauslaufen, sich von der idealistischen Dialektik als - verborgenerweise - Repräsentant und somit Garant negativer Dialektik zu trennen. 4 Das Anliegen der Wittgensteinschen Kritik ist es nun darzulegen, daß idealistisch-dialektische Widersprüche nicht auf solche Weise zu verstehen sind, daß sie im Kern als Widersprüche qua Herrschen eines 'herrschaftlichen Prinzips' gelten können. (Wohlgemerkt ist mit diesem "Herrschen" nun nicht die Scheinherrschaft des Identitätsdenkens gemeint, sondern reale Herrschaft, die, wie oben ausgeführt, in der idealistischen Dialektik verborgen projiziert ist; die Kritik bestreitet also, daß es Sinn macht, von dieser Projektion zu reden). Zu diesem Zweck analysiere ich vom Wittgensteinschen Ansatz her beispielhaft eine Episode Hegelscher Dialektik;*12* daran anschließend läßt sich der betreffende dialektische Widerspruch als philosophisches Paradox in Wittgensteins Sinn erweisen. Als Beispiel wähle ich die 'Dialektik der sinnlichen Gewißheit'*13* im ersten Abschnitt der PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES*14*. Hegel stellt die sinnliche Gewißheit in einer Abfolge von drei Gestalten dar, wobei die letzte die Erfahrungen der beiden ersten verarbeitet hat.*15* Hegel beschreibt diese letzte Gestalt folgendermaßen: "Ich, dieser, behaupte also das Hier als Baum und wende mich nicht um, so daß mir das Hier zu einem Nichtbaum würde; ich nehme auch keine Notiz davon, daß ein anderer Ich das Hier als Nichtbaum sieht oder daß Ich selbst ein anderes Mal das Hier als Nichtbaum, das Jetzt als Nichttag nehme, sondern ich bin reines Anschauen." (PdG 88) Die 'Wahrheit' einer solchen 'unmittelbaren Beziehung', sagt Hegel, "ist die Wahrheit DIESES Ich, das sich auf ein JETZT oder ein HIER einschränkt" (PdG 88). Um den Wahrheitsanspruch eines derart wissenden Ich zu prüfen, müssen wir uns, wie Hegel sagt, die Wahrheit ZEIGEN lassen, 'in denselben Punkt der Zeit oder des Raumes eintreten' wie jenes Ich (PdG 88). Hegel entfaltet nun die Dialektik dieser Gestalt sinnlicher Gewißheit sowohl am Beispiel eines 'Jetzt' als auch eines 'Hier'. Da Hegels Argumentation in beiden Fällen analog verläuft, können wir uns auf das 'Hier'-Beispiel beschränken:*16* "(I) Das AUFGEZEIGTE HIER, das ich festhalte, ist ebenso ein DIESES Hier, das in der Tat NICHT DIESES Hier, sondern ein Vorn und Hinten, ein Oben und Unten, ein Rechts und Links ist. (II) Das Oben ist selbst ebenso dieses vielfache Anderssein in oben, unten usf. (III) Das Hier, welches aufgezeigt werden sollte, verschwindet in anderen Hier, aber diese verschwinden ebenso; (IV) das Aufgezeigte, Festgehaltene und Bleibende ist ein NEGATIVES DIESES, das nur so IST, indem die HIER, wie sie sollen, genommen werden, aber darin sich aufheben; es ist eine einfache Komplexion vieler Hier." (PdG 89; Satznumerierung von mir (W.B.)) In naiver Sicht behandelt Hegel hier einen Sachverhalt, der intuitiv ohne weiteres zugänglich ist: Etwas, auf das ich zeige (ein 'Hier'), z.B. ein Haus, besteht aus Teilen und hat so ein 'Vorne und Hinten', 'Oben und Unten'; auf diese kann ich ihrerseits zeigen: sie sind andere Hier; somit ist das erste Hier (das Haus) eine 'einfache Komplexion vieler Hier', z.B. von Mauern und Dach, die ihrerseits wieder Komplexionen von Hier sind. Aber nach Hegel handelt es sich hier um etwas anderes: Das erste gezeigte Hier VERSCHWINDET in den anderen Hier. Das ist die erste Negation in der dialektischen Entwicklung, und sie führt auf den Widerspruch,*17* daß das erste Hier die anderen Hier ebenso einschließt wie ausschließt.*18* Der zweite Schritt, die Negation der Negation, besteht dann darin, daß das erste Hier in Wahrheit als die Negation bzw. Aufhebung der anderen Hier resultiert; es ist ein 'negatives Dieses'. Wir interessieren uns im folgenden für den Schritt in dem Modelltext, der diese widerspruchsvolle Bewegung offenbar in Gang setzt, nämlich den folgenden Übergang in Satz (I): 'Das aufgezeigte Hier (...) ist (...) ein dieses Hier, das (...) nicht dieses Hier ist'. Von einem 'dieses Hier', das nicht 'dieses Hier' ist, wird man in der Tat sagen müssen, daß es ein verschwindendes Hier ist. Sehen wir jedoch genauer hin, ist klar, daß die beiden "dieses Hier" in Satz (I) nicht Ausdrücke identischer Bedeutung sind. Das zweite "dieses Hier" steht in dem Kontext 'Ein so und so ist (nicht) dieses Hier', das erste hingegen in dem Kontext 'Ein so und so ist (nicht) EIN dieses Hier'. Wir müssen also fragen, was 'ein dieses Hier' ist. Die Antwort ist im Text leicht zu finden, denn Hegel verrät sich am Ende des 'Sinnliche Gewißheit'-Abschnitts gewissermaßen selbst, indem er sich zur Bildung des Prädikats (P) 'ein dieses ... sein' äußert: "Genauer bezeichnet, als DIESES STÜCK PAPIER, so ist ALLES und JEDES Papier ein DIESES Stück Papier." (PdG 92)*19* Was heißt 'dieses Stück Papier' im Unterschied zu 'ein dieses Stück Papier'? 'Dieses Stück Papier' nenne ich ein Stück Papier, auf das ich gerade zeige. - Als Paraphrase für Hegels Ausdruck 'ein dieses Stück Papier' schlage ich folgendes vor: Wenn ich von einem Stück Papier sage, es sei ein dieses Stück Papier, dann spreche ich von ihm als von einem Stück Papier, auf das ich zeigen könnte, bzw. charakterisiere es als einen Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme. Das Prädikat 'ist ein dieses Stück Papier' trifft also für Situationen tatsächlicher demonstrativer Bezugnahme ebenso zu wie für bloß mögliche Fälle einer Bezugnahme. Ich kürze die vorgeschlagene Paraphrase im folgenden ab: 'Ein dieses so und so sein' heißt 'Ein so und so als Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme sein', also 'ein dieses Stück Papier sein' heißt 'ein Stück Papier als Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme sein'. Gehen wir nun zu Satz (I) des Modelltextes zurück. Dort tritt die Ausdrucksform 'ein dieses so und so' in der Ausprägung 'ein dieses Hier' auf, so daß wir noch klären müssen, was Hegel unter einem 'Hier' versteht. 'Hier' bezeichnet einen Gegenstand, auf den ich mit "hier" demonstrativ bezugnehme, wie klar wird, wenn Hegel etwa sagt: "Das HIER ist z.B. der BAUM." (PdG 85) Demnach heißt 'ein dieses Hier sein' so viel wie 'ein Gegenstand demonstrativer Bezugnahme als Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme sein', was ich als 'ein das und das als ein Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme sein' abkürze, oder noch weitergehend: 'ein Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme sein'. (1) Hegel sagt: 'Das aufgezeigte Hier (z.B. ein Haus) ... ist ... ein dieses Hier'. Das ist sofort nachvollziehbar und trivialerweise wahr, denn daraus, daß ich z.B. auf ein Haus zeige (oder gerade gezeigt habe), folgt, daß das Haus ein Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme ist. (2) Weiter sagt Hegel: 'Das aufgezeigt Hier ... ist ... ein dieses Hier, das ... ein Vorn und Hinten, ein Oben und Unten, ein Rechts und Links ist'. Das besagt: Das aufgezeigte Hier, z.B. das Haus, hat, als Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme, ein Vorn und Hinten, Oben und Unten. (3) Das Vorn und Hinten, Oben und Unten nennt Hegel dann in Satz (III) 'andere Hier'. Damit wird etwa gesagt: Wenn ich auf das Oben, z. B. das Dach, demonstrativ bezugnehme, dann nehme ich auf etwas anderes als das 'aufgezeigte Hier', das Haus, Bezug. (4) Schließlich sagt Hegel ("(A)" bedeutet "im ersten Sinne"): 'Das aufgezeigte Hier ... ist ... ein dieses Hier (A), das ... nicht dieses Hier (B) ist. Das heißt: Das aufgezeigte Hier, z.B das Haus, ist ein Gegenstand möglicher demonstrativer Bezugnahme, der - siehe Punkt (2) - ein Vorne und Hinten, Oben und Unten hat; diese Vorn und Hinten, Oben und Unten sind 'nicht dieses Hier', d.h. nicht das aufgezeigte Hier (das Haus), sondern andere Hier (z.B. das Dach). - Was Hegel in dem Modelltext als widersprüchliches Ganzes präsentiert, erweist sich demnach als eine trivialerweise stimmige Abfolge von einfachen Sachverhalten. Der SCHEIN einer ersten Negation sowie eines darauffolgenden Widerspruchs entsteht dadurch, daß Hegel die aufgeführten, mit dem Prädikat (P) eintretenden Differenzierungen mißachtet und 'dieses Hier (A)' mit 'dieses Hier (B)' als gleichbedeutend behandelt. Positiv wird der Schein also letztlich bloß verbal, durch die Gleichheit der Ausdrucksvorkommnisse "dieses Hier" und "dieses Hier" erzeugt. Der sogenannte Widerspruch entsteht also nicht einfach dadurch, daß Hegel ein neues Prädikat schöpft, und ebensowenig daraus, daß er den Gebrauch eines Wortes der deutschen Sprache mißverstünde. Sondern es handelt sich um einen Selbstwiderspruch in Hegels Vorgehen. Er schafft ein neues Prädikat und entsprechende Differenzierungen. Während er aber das Prädikat verwendet und so die Differenzierungen in Anspruch nimmt, verhält er sich zugleich so, als seien diese Differenzierungen nichtig. Beides zugleich zu tun, ist konflikthaft; diesen Konflikt nenne ich den wirklichen Widerspruch. Zusammenfassend kommt es also zu einem sogenannten dialektischen Widerspruch, weil Hegel das Prädikat (P) nicht in Übereinstimmung mit der Beschreibung gebraucht, die er selbst von dem Gebrauch dieses Prädikats gibt.*20* Damit ist genau die Konstellation benannt, der sich Wittgensteins Ansatz zufolge philosophische Konflikte verdanken, so daß sich der dialektische Widerspruch in Hegels 'Die sinnliche Gewißheit' als philosophisches Paradox im Wittgensteinschen Sinne erwiesen hat: "Was ist an der Idee abstoßend, daß wir den Gebrauch eines Wortes studieren, Fehler in der Beschreibung dieses Gebrauchs aufzeigen, u.s.w.? Vor allem fragt man sich: Wie könnte DAS uns so wichtig sein? Es kommt drauf an, ob man 'falsche Beschreibung' die nennt, die nicht mit dem sanktionierten Sprachgebrauch übereinstimmt, - oder die, die nicht mit der Praxis des Beschreibenden übereinstimmt. Nur im zweiten Fall entsteht ein philosophischer Konflikt." (BPP I 548) Wie in unserem Modelltext ausgesprochen, verweilt Hegel nun nicht bei seinem Widerspruch, sondern er hebt ihn auf, bzw., wie Hegel sagt, der Widerspruch hebt SICH auf (vgl. in Satz (IV) 'die Hier ..., (die) sich aufheben'). Es ist nun klar geworden, daß allenfalls ein Scheinwiderspruch sich aufhebt - was immer 'aufheben' dabei heißen mag. Der zugrundeliegende wirkliche Widerspruch bleibt, wie wir gesehen haben, unberührt bestehen. Hegels Aufheben seines (Schein-)Widerspruchs läuft darauf hinaus, daß Hegel sich von dem wirklichen Widerspruch entfernt, psychologisch gesprochen: ihn verdrängt. Wittgensteins Philosophie bietet nun nicht nur eine Erklärung zur Entstehung von philosophischen Paradoxen wie den dialektischen Widersprüchen, sondern auch einen Ansatz zum Verständnis der Tatsache, daß (wirkliche) Widersprüche in der Philosophie umgangen und verdrängt werden, wie etwa bei Hegel mit seinem Konzept der Aufhebung des Widerspruchs. "Es ist nicht Sache der Philosophie, den Widerspruch durch eine mathematische, logisch-mathematische, Entdeckung zu lösen. Sondern den Zustand der Mathematik, der uns beunruhigt, den Zustand VOR der Lösung des Widerspruchs, übersehbar zu machen (...). Die fundamentale Tatsache ist hier: daß wir Regeln, eine Technik, für ein Spiel festlegen, und daß es dann, wenn wir den Regeln folgen, nicht so geht, wie wir angenommen hatten. Daß wir uns also gleichsam in unseren eigenen Regeln verfangen. Dieses Verfangen in unsern Regeln ist, was wir verstehen, d.h. übersehen wollen. Es wirft ein Licht auf unsern Begriff des Meinens. Denn es kommt also in jenen Fällen anders, als wir es gemeint, vorausgesehen, hatten. Wir sagen eben, wenn, z.B., der Widerspruch auftritt: "So hab' ich's nicht gemeint." Die bürgerliche Stellung des Widerspruchs, oder seine Stellung in der bürgerlichen Welt: das ist das philosophische Problem." (PU 125) Auch Hegel verfängt sich, wie wir gesehen haben, gleichsam in seinen eigenen Regeln (das Prädikat (P) betreffend). In PU 125d+e geht Wittgenstein auf eine Erklärung zu, warum Widersprüche verdrängt werden, anstatt das Verfangen in den Regeln zu verstehen. Es ist eine spezielle Form des Meinens, ein 'bürgerliches' Meinen, das beim Auftreten des Widerspruchs sagt: 'So hab' ich's nicht gemeint'. Nach dieser Erklärung stellt Hegels 'Aufheben' der Widersprüche eine Episode bürgerlichen Meinens dar; Hegels 'Aufheben' der (Schein-)Widersprüche ist ein 'So war es nicht gemeint' angesichts eintretender (wirklicher) Widersprüche. Nehmen wir an - wofür das Vorangehende nur ein schwacher Indizienbeweis ist*21* -, daß auch andere von Hegel entwickelte Widersprüche Paradoxe im Wittgensteinschen Sinne sind. Dann besteht Wittgensteins Kritik an Adorno in dem Vorwurf, daß dieser seine Konzeption an die idealistische Dialektik bindet. Denn wenn Wittgensteins Kritik an Hegel treffend ist, ist nicht mehr zu sehen, was als ein genuiner Gehalt idealistischer Dialektik übrigbleiben könnte. So ergibt sich aus einer Wittgensteinschen Perspektive die Forderung an eine negative Dialektik, sich von der erklärtermaßen bestehenden Bindung an die idealistische Dialektik zu lösen. Damit läßt sich die Behauptung eines 'herrschaftlichen Prinzips' und die Analyse von Herrschaftsverhältnissen nicht mehr in den quasi-tautologischen Bewegungen idealistischer Dialektik als einer aprioristischen Basis absichern. Stattdessen müßte sich die Theorie eng an Erfahrungen und Phänomene halten, so daß ihr jede Anwendung externer Maße suspekt wäre.*22* Das erinnert an Marx' theoretischen Anspruch, der in seiner Aussage zum Ausdruck kommt, er habe mit seiner Analyse von Entfremdungsverhältnissen 'bloß ein nationalökonomisches Faktum analysiert'.*23* 5 Nachdem im vorangehenden Abschnitt Wittgensteins Kritik und Korrekturen an der negativen Dialektik aufgrund dieser Kritik Thema waren, möchte ich abschließend noch einmal den zitierten Absatz 125 der PU aufgreifen. Das bürgerliche Meinen, von dem dort die Rede war, ist offenbar Wittgensteins Pendant zu dem, was Adorno Identitätsdenken nennt: Eine Haltung, die Widersprüche in eine harmonisierende Einheit auflöst. Es ist nun aber deutlich, daß der Begriff des bürgerlichen Meinens in Wittgensteins Ansatz eine wichtige Rolle spielen muß, denn die Frage, warum begriffliches Denken nicht in die Tiefendimension der Widersprüche hineinreicht, scheint mir eine legitime zu sein. Wittgenstein beantwortet diese Frage gemeinhin entweder psychologisch - jemand ist durch die Sprache oder bestimmte Vorurteile irregeführt worden - oder durch Hinweis darauf, daß unsere gewöhnliche Grammatik inadäquat darstelle. Auf solche Weise zu erklären, steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zu Wittgensteins Bemühungen, Sachverhalte aus den Zusammenhängen von Lebensformen heraus zu verstehen. Im Begriff des bürgerlichen Meinens hingegen ist der Bezug auf solche Zusammenhänge ausdrücklich gegeben: Das 'so hab' ich's nicht gemeint', die Stellung des Widerspruchs und die bürgerliche Welt gehören zusammen. Wittgenstein war jedoch kaum daran interessiert, in die damit angezeigte Richtung weiterzugehen. Andererseits ist die Thematik aus PU 125 ein genuines Thema negativer Dialektik. Das ist der wichtigste Punkt, in dem Wittgensteinsche Philosophie ihrerseits von negativer Dialektik zu lernen hätte.*24* ANMERKUNGEN *1* Frankfurt/M. 1994; abgekürzt ND. *2* In: Werkausgabe Bd.1, Frankfurt/M. 1995; abgekürzt PU, zitiert nach Absatznummern. *3* Ich zitiere kürzere Teile aus Sätzen mit einfachen Anführungszeichen (zugehörige Seitenzahlen stehen meistens am Ende des zitierenden Satzes), längere Passagen mit doppelten Anführungszeichen. Hervorhebungen sind, wenn nicht anders vermerkt, aus den Originalen übernommen. *4* "Philosophische Untersuchungen: Begriffliche Untersuchungen." (L. Wittgenstein, BEMERKUNGEN ZUR PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE I (abgekürzt BPP I) Frankfurt/M. 1982, Abs. 949). *5* S. PU 95, 96, und 182. *6* S. PU 23a+b und 182b. *7* S. auch PU 126. *8* S. PU 92 und 128. *9* Mit 'Wittgensteinscher Kritik' ist hier und im folgenden gemeint: Kritik mit den Mitteln des Wittgensteinschen Ansatzes. *10* BPP I 949 *11* S.o. das Ende von Abschnitt 1. *12* Tugendhat hat Hegel kritisiert, weil dieser der folgenden Forderung nicht nachgekommen sei: "der genau vorzuführende mögliche Gebrauch (philosophischer Begriffe (W.B.)) muß nachgewiesen werden". ('Das Sein und das Nichts', in: DURCHBLICKE. Frankfurt/M. 1970, S. 151; s. auch ders., SELBSTBEWUSSTSEIN UND SELBSTBESTIMMUNG, Frankfurt/M. 1989, S. 318). Diese Kritik kann eine Wittgensteinsche Auseinandersetzung mit Hegel nicht übernehmen. Nach meinem Verständnis wäre, solche Verhaltensregeln aufzustellen, der Wittgensteinschen Spätphilosophie fremd. Den praktizierten Sprachgebrauch, wie Wittgenstein es tut, zu klären, ist eine Sache; eine andere Sache ist es, nun Forderungen zur Vermeidung möglicher Unklarheiten aufzustellen. Letzteres läuft darauf hinaus, zu bestimmen, was Sinn und Unsinn ist, anstatt es bloß zu beschreiben. (S. auch Anm. 20). *13* Die Wahl des Beispiels gibt Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß es ausgehend vom Korpus der Wittgensteinschen Texte noch andere systematische Zugänge zu Hegels Dialektik gibt, in diesem Fall den Zugang von Wittgensteins ÜBER GEWISSHEIT her. *14* Frankfurt 1970; abgekürzt PdG. *15* S. PdG 87b. *16* Ein weiterer Grund für die Einschränkung liegt darin, daß Hegels Untersuchung der 'Jetzt'-Beispiele mit einer problematischen Vorentscheidung belastet ist, indem er nämlich das Temporaladverb "jetzt" in Analogie zum Lokaladverb "hier" als Demonstrativum auffaßt. (In Hegels Text ist nicht der nicht-demonstrative Sinn von "hier" thematisch (wie in "Hier stehe ich und kann nicht anders"); an diesem orientiert zu sein, kann andererseits jene Angleichung von "jetzt" und "hier" befördern). Hegel übergeht damit den wesentlichen Unterschied zwischen, wie D. Kaplan es nennt, 'true demonstratives' und 'pure indexicals' (z.B. "jetzt"). Für letztere gilt: "no associated demonstration is required, and any demonstration supplied is either for emphasis or is irrelevant." ('Demonstratives', in: J. Almog, J. Perry, H. Wettstein (eds), THEMES FROM KAPLAN, Oxford 1989, S. 491) Diese Feststellung bleibt zutreffend, auch wenn sich, wie M. Kettner zeigt, ein 'Äquivalent der Deixis für Zeit-Bezugnahme' finden läßt (M. Kettner, HEGELS "SINNLICHE GEWISSHEIT". Diskursanalytischer Kommentar, Frankfurt/M. 1990, S. 180). *17* Dieser 'Widerspruch' ist im Vergleich zum dialektischen Widerspruch im umfassenden Sinne des Wortes noch kein voll ausgebildeter. Fulda definiert 'Widerspruch' in Anlehnung an den einschlägigen Abschnitt der WISSENSCHAFT DER LOGIK II als "die Tätigkeit von Gliedern eines polaren Gegensatzes, ihre eigene Selbständigkeit aus sich auszuschließen". ('Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise', in: R. P. Horstmann (ed), SEMINAR: DIALEKTIK IN DER PHILOSOPHIE HEGELS, Frankfurt 1978, S. 145). In unserem Modelltext handelt es sich lediglich um die 'Tätigkeit' einer von einer anderen unterschiedenen Bestimmung, 'ihre eigene Selbständigkeit aus sich auszuschließen'. Dieser Widerspruch ist also noch nicht die wechselseitige Selbstausschließung zweier Glieder. Daß Hegel bereits die einseitige Selbstausschließung eines Gliedes Widerspruch nennt, läßt sich beispielsweise mit dem Abschnitt 'Aufheben des Werdens' der WISSENSCHAFT DER LOGIK I belegen: Dort konstruiert Hegel den 'Widerspruch des Werdens in sich selbst' (Frankfurt/M. 1972 S. 113). - Daß in der 'Sinnlichen Gewißheit' lediglich eine Minimalform des Widerspruchs auftritt, hängt mit seiner Stellung als Teil der die Gesamtentwicklung der Phänomenologie ERÖFFNENDEN Dialektik zusammen. Diese Stellung weist ihm andererseits eine Schlüsselrolle zu (was - neben Kompaktheit und Verständlichkeit - ein weiterer Grund dafür ist, die 'Sinnliche Gewißheit'-Passage als Bezugstext für unsere Diskussion zu wählen). Denn nur insofern der dialektische Übergang in der Darstellung der sinnlichen Gewißheit gelingt, kann Hegel behaupten, daß unser 'Aufnehmen' in den der sinnlichen Gewißheit folgenden Gestalten "nicht mehr ein erscheinendes Aufnehmen (...), sondern ein notwendiges" ist (PdG 93). Somit zieht die im Haupttext anstehende, auf die sinnliche Gewißheit beschränkte Kritik eine Kritik an diesem Anspruch auf 'Notwendigkeit' nach sich. *18* Anläßlich dieser Formulierung sei daran erinnert, daß dialektische Widersprüche logischen notorisch nahestehen. Vgl. Hegels Charakterisierung in der WISSENSCHAFT DER LOGIK II, derzufolge ein Widerspruch gegeben ist, wenn eine Bestimmung "in derselben Rücksicht, als sie die andere enthält und dadurch selbständig ist, die andere ausschließt" (Frankfurt/M. 1969, S. 65). Das impliziert den logischen Widerspruch, daß die eine Bestimmung die andere zugleich einschließt und nicht einschließt. *19* Auch Kettner hebt diese Stelle hervor, die in seiner Argumentation aber einen anderen Stellenwert hat (op. cit. S. 203). *20* Das wirft nochmal ein Licht auf Tugendhats Hegelkritik (s.o. Anm. 12). Das Problem mit Hegels Darstellung liegt offenbar nicht im Mangel einer Definition von (P), wie Tugendhat sie fordert. Denn keine noch so klare Definition kann verhindern, daß jemand seine Worte nicht in Übereinstimmung mit dieser Definition gebraucht. *21* Weitergehende Behauptungen erfordern eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema 'Hegel und Wittgenstein'. *22* Die Interpretation von M. Theunissen ('Negativität bei Adorno', in: L. v. Friedeburg, J. Habermas (Hrsg.), ADORNO- KONFERENZ 1983, Frankfurt/M. 1983) legt eine andere Alternative nahe. Theunissen faßt das 'Negative' bei Adorno zunächst als das nicht zu Affirmierende, verlegt dann aber dieses Negative eines nicht zu Affirmierenden ganz in den Bereich des 'Sollens', im Unterschied zum Bereich des 'Seienden'. Ferner spreche Adorno zwar auch vom Negativen im Sinne eines Nichtseienden, "aber er spricht davon als von einem Negativen (...) allein insoweit, als es im Horizont der Negativität des Nichtseinsollenden erscheint" (S. 42). Hand in Hand mit dieser Stilisierung visiert Theunissen dann eine Umkehrung des Themas negativer Dialektik an: Statt des 'Negativen der Herrschaft' die 'Herrschaft des Negativen' (s. S. 49). Dazu möchte ich zweierlei anmerken. (1) Adornos 'Negatives', das Negative der Herrschaft, läßt sich nicht in einem Gegensatz von Sein und Sollen auf die eine Seite zwingen. Allerdings ist Herrschaft, die zugleich nichtseinsollend und nichtseiend ist, kaum von Interesse; die bei Adorno thematische Herrschaft ist aber immer nichtseinsollende und seiende. (Daß die von Theunissen versuchte Abbildung des 'Negativen' auf die Differenz von Sein und Sollen ihre Schwierigkeit hat, kommt zum Ausdruck, wenn Theunissen erklärt: "das Thema Adornos (ist) die ONTISCHE Negativität des Nichtseinsollenden" (42, H.v.m.)). - (2) Ich bestreite, daß das Negative der Herrschaft und Herrschaft des Negativen wesentlich trennbar sind. Nach meinem Verständnis müßte es gerade eine These negativer Dialektik sein, daß das eine nur durch das andere und umgekehrt statthat. *23* 'Zur Kritik der Nationalökonomie - Ökonomisch-Philosophische Manuskripte', in: K. Marx, FRÜHE SCHRIFTEN, 1. Band, H.-J. Lieber, P. Furth (hrsg.), Darmstadt 1971, S. 569. Vgl. übrigens Adornos Kritik an der 'Theorie der Entfremdung' (ND 174). *24* Der zweite wichtige Punkt, in dem Wittgenstein der berechtigten Kritik Adornos ausgesetzt ist, betrifft eine grundlegende Ambivalenz in Wittgensteins Ansatz. Wittgenstein betont immer wieder, wie wichtig ihm Lebensformen, Tätigkeiten, Handlungen und ähnliches sind. Andererseits hält er seit dem TRAKTAT daran fest, daß sein Interesse ein LOGISCHES sei (s. dazu vor allem S. Hilmy, THE LATER WITTGENSTEIN, New York 1987, z.B. die Zusammenfassung S. 125 ff.). Diese Ambivalenz schlägt sich vor allem im Sprachspielbegriff nieder, in seinem Bezug auf Tätigkeiten einerseits (s. PU 23) und Regeln andererseits (s. PU 108). (In meiner Dissertation ('DIE FESTLEGUNG DES SPRACHSPIELS. Eine Erörterung von Wittgensteins 'Über Gewißheit' im Ausgang vom Sprachspielbegriff der 'Philosophischen Untersuchungen', Ms. Essen 1995) habe ich diese Ambivalenz im Sprachspielbegriff herausgearbeitet und zu zeigen versucht, daß Wittgenstein in ÜBER GEWISSHEIT den Standpunkt der Sprachspielphilosophie verläßt). - Es liegt auf der Hand, daß ein solches logisches Interesse dem Angriff negativer Dialektik ausgesetzt ist. (Zu klären bliebe dann jedoch, warum Adorno seine negative Dialektik eine MikroLOGIE nennt (ND 39, 399, 400)).