***************************************************************** * * Titel: Ideologie, Macht und Sprache Zu Versuchen, Wittgenstein mit der kritischen Theorie in ein Verhältnis zu setzen Autor: Pirmin Stekeler-Weithofer, Universität Leipzig Dateiname: 13-1-96.TXT Dateilänge: 16 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 1/96, Datei: 13-1-96.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1996 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Die folgenden Bemerkungen sind Kommentare und Nachfragen zu Ch. DEMMERLINGS "Language and Reifications. Some Remarks on Wittgenstein and Critical Theory" und H. H. KÖGLERS anspruchsvollem Aufsatz "Kritische Sprechtaktheorie oder Semiotik der Macht? Habermas und die Wittgenstein-Tradition". DEMMERLINGS Text setzt im wesentlichen folgende Punkte: Wittgensteins Spätphilosophie kann nicht einfach als oberflächlich positivistisch abgetan werden, wie dies bekanntlich bei Th. W. Adorno und H. Marcuse u.a. geschieht. Obwohl Wittgenstein kein Vertreter der politischen Linken war, können seine Überlegungen für eine normativ-kritische Gesellschaftstheorie Hilfsmittel an die Hand geben, "die klassische Tradition einer Philosophie der Praxis mit größerer Beachtung der Rolle der Intersubjektivität zu rekonstruieren". Zugleich führe er eine radikale Kritik an ontischen Reifizierungen bzw. am Fetischcharakter korrespondenztheoretischer Sprach- und Wirklichkeitsauffassungen aus dem Geiste einer Philosophie der Praxis vor. Damit wird die Kritik an der These, daß die soziale Welt ein Resultat menschliches Handelns sei, wie sie insbesondere 'Systemtheoretiker' vorzubringen lieben, relativiert: Weder ist das Soziale bloßes Ereignis, noch Ergebnis einzelner Handlungen, noch individuell planbar. Demmerling befürwortet denn auch so etwas wie eine 'schwache Version einer Konstitutionstheorie des Sozialen'. Das Problem, das man mit diesen und den folgenden Thesen haben kann, ist nicht, daß sie irgend falsch wären, sondern daß man sich fragt, wie irgendjemand an ihnen zweifeln kann. Dies gilt auch für die folgende Thesen: Sprachlichkeit gehört zur Form des menschlichen Lebens. Die spezifische Form der menschlichen Praxis, Erfahrungen zu machen, ist wesentlich sprachlich konstituiert. Gern glauben wir auch, daß Adorno weniger monologisch vorgeht, als man oft meint, und daß er Begriffe verflüssigen möchte, sie jedenfalls nicht einfach als starre Schemata auffaßt. Auch ist es sicher nicht falsch zu sagen, in der Zielsetzung einer 'Entzauberung des Begriffs' seien Adornos und Wittgensteins Philosophie erstaunlich ähnlich. Sicher kann man Wittgenstein Methode auch unter einen Titel wie "Einbettung in den rechten Gebrauch" oder "Aufhebung des Besonderen und des Allgemeinen" setzen oder die 'Assimilation' eines begriffichen Musters an einen besonderen (oder gar einzelnen?) Fall "Mimesis" nennen und damit eine angemessene Anpassung mit Urteilskraft meinen. Ferner ist richtig, daß falsche Beschreibungen oft zu falschen Folgerungen führen oder daß ein reifizierter Sprachgebrauch im wesentlichen darin besteht, borniert an bestimmten Schemata des Sprachverständnisses festzuhalten und die jeweils notwendigen Anpassungsleistungen zu unterschätzen. Nur ist dies, wie alles, was aus begrifflichen Gründen und daher (nicht etwa nur von Adorno oder Wittgenstein) von einer guten philosophischen Analyse zu fordern ist, noch nicht sehr spezifisch. Es ähneln sich also Adorno und Wittgenstein im wesentlichen darin, daß sie beide Philosophen sind. Womöglich würden die spezifischen Ähnlichkeiten deutlicher, wenn wir noch erführen, wie sie in bezug auf Zielsetzung und Methode der Analyse und Darstellung differieren. Vor dem Hintergrund der Frage, wie soziale Macht Verstehen beeinflußt, versucht KÖGLER die Beschränkungen postwittgensteinianischer Philosophie und damit Verengungen der im Rahmen der Philosophie von Habermas noch möglichen, d.h. angeblich nicht hinreichend fundamentalen, Ideologiekritik aufzuzeigen. Dabei folgt Kögler Searle darin, daß er die Sprechakttheorie in die Wittgenstein-Nachfolge stellt, ohne auf (womöglich) wichtige Differenzen hinzuweisen. Der Aufsatz behandelt so eher die Rolle der Sprechakttheorie als den Einfluß der Sprachkritik Wittgensteins auf die Gesellschaftstheorie von Habermas. Kögler beginnt mit einer Kritik an den Vereinfachungen korrespondenztheoretischer, intentionaler und dann auch 'sozialpragmatischer' Ansätze einer Bedeutungstheorie. Er verlangt, daß die 'vorgängige Erfahrungsdimension' bzw. eine 'urspüngliche symbolische Welteröffnung' unter den Titeln "Welt, Bedeutung, Macht" zu berücksichtigen sei. Um sich ein Bild zu machen, was damit angesprochen sein mag, erinnere man sich einfach daran, daß, wie nicht nur Wittgenstein sagt, bloße Klassifikationen ohne zugehörige praktische Implikate, d.h. ohne 'praktisch-syllogistische' Folgerungen im Umgang mit wahren Aussagen bzw. den entsprechend eingeordneten Situationen oder Zuständen sinnleer blieben. Der Begriff ist, wie schon Hegel formuliert, die Macht. Das heißt zunächst: jeder Begriff bzw. das Begriffssystem als ganzes ist eine Macht. Und das bedeutet, daß Begriffe immer schon einen 'Horizont' je besonderer Handlungsmöglichkeiten und Handlungsweisen aufspannen. Sie sind dabei immer schon in einem Geflecht von Handlungsorientierungen situiert, die dann oft artikuliert werden durch normative Urteile. Kögler kritisiert an Habermas in diesem Zusammenhang, daß dessen Analyse kommunikativen Handelns noch zu sehr dem korrespondenz- bzw. geltungstheoretischen Ansatz verhaftet bleibe, auch wenn bei ihm neben den Bedingungen der Wahrheit auch die der Geltung normativer Urteile und subjektive Ehrlichkeitsbedingungen mitberücksichtigt würden. Übersehen werde damit aber immer noch die strukturelle Macht, die hinter den zugehörigen Kriterien stünde. Damit greift Kögler explizit auf Foucault zurück. Wie eben hervorgehoben wurde, ist daran zwar richtig, daß die vorgängige 'structure of symbolic world disclosure' unsere Möglichkeiten des Redens, Urteilens und Handelns im Positiven wie im Negativen wesentlich (mit)bestimmt. Dennoch erzeugt hier die Rede von einer strukturellen Macht oder gar Gewalt semantisch irreführende Konnotationen und zwar weil sie vorzugsweise auf einschränkende oder negative Folgerungen hinweist. Ähnlich irreführend sind die Fokussierungen auf die apologetischen Funktionen der 'Humanisierung des Strafvollzugs' in Foucaults Analysen, die Kögler zustimmend als Paradigmen nennt. Plakative Urteile wie diese taugen im Streitgespräch mit allzu selbstsischeren Verfechtern der Moderne. Doch wäre die Topik einer markanten Positionierung im interessierten Streit zu unterscheiden von der reflektierenden Abwägung eines Für und Wider. Es wäre ein argumentativer Lobbyismus vom Versuch zu unterscheiden, mit Urteilskraft und möglichst hinreichendem Abstand die Rolle eines möglichst guten 'Scorekeepers' oder 'Schiedsrichters' in bezug auf derartige Streitgespräche und Widersprüche zu spielen. Foucault ist sicher kein guter Schiedsrichter, ja er will gar keiner sein. Vielmehr vermutet er, nicht zu unrecht, daß sich (subjektive oder sonstwie partikulare) Macht am effektvollsten gerade in der Form einer vorgeblich exakten, neutral-formalen oder 'wissenschaftlichen' Analyse und einer angeblich vernünftig-klaren Reflexion und Beurteilung maskiert. Aber aus dieser Vermutung folgt nicht, wie auch Foucaults Gewährsmann Nietzsche zu glauben scheint, daß wir auf den Versuch verzichten müßten, in der Reflexion auf einen je vorgängigen Streit zu möglichst vernünftigen Urteilen zu gelangen und dabei auf allerlei bisher bekannt gewordene Gefahren zu reflektieren. Aus der Tatsache, daß wir nie alle tradierten Präsuppositionen und unterstellten Machtverhältnisse explizit und damit kritisierbar machen können - das meint wohl der Slogan von der "Nichthintergehbarkeit von Sinn" -, folgt auch nicht, daß jedes Argument und jeder Vernunftanspruch selbst schon Teil einer Apolegetik dieser unbefragten strukturellen Macht sei. Es folgt vielmehr, daß auch die Ansprüche einer Fundamentalsemiotik der Macht wahrscheinlich besser klingen als einlösbar sind. Zweifelsohne aber steht hier ein wichtiges Problem zur Debatte, nämlich was eine (für eine ideologiekritische Zielsetzung angemessene) Analyse der gerade durch die Sprache tradierten institutionsartigen Gesamtverhältnisse einer Kulturgemeinschaft (auf der Ebene der 'Lebenswelt') und einer institutionell schon ausdifferenzierten, 'schematisierten' Gesellschaft sein könnte. Die Frage ist nur, ob dieses Problem in seiner Größe und Schwierigkeit schon erkannt ist. Wird es nicht eher gerade dadurch verkannt, daß man es durch eine frische Theorie beantworten möchte. Es wäre zwar schön zu wissen, wie ideologische Strukturen intern symbolisch organisiert sind, welcher Logik allerlei Verzerrungen tatsächlich folgen. Auch würden wir gerne alle möglichen tiefliegenden, d.h. impliziten, Annahmen unseres gesamten, normalen, sozialen oder auch wissenschaftlichen Redens und Handelns verstehen. Nur: wie macht man das? Die These, daß dies bei Searle, Wittgenstein oder Habermas völlig im Dunkeln bleibe, stimmt für Partialanalysen sicher nicht. Was die Globalanalyse angeht, so könnte es sein, daß uns gerade die Hoffnung auf eine UMFASSENDE Ideologiekritik und die Verheißung einer fundamentalen Analyse symbolisch-institutionell verfestigter Machtverhältnisse den Weg zu erreichbareren Zielen verstellt. Die Überbietung von 'konservativer' Kritik behindert womöglich ein vernünftiges Urteil, welches Traditionen nicht im Bausch verurteilt, sondern 'nur' die Probleme abschaffen möchte, die schon aufgewiesen sind. Es ist daher auch die Vor- und Umsicht eines Heidegger oder eines Wittgenstein, die versuchsweise oder exemplarisch auf allgemeine Mißverständnisse reifizierenden Redens und schematisierten Urteilens hinweisen, nicht einfach dadurch aufzuheben, daß man dem einen die Verhaftung im Subjekt-Objekt-Schema vorwirft, dem anderen, daß er die faktischen Verhältnisse so lassen will, wie sie sind. Daß in jeder Rede, nicht etwa nur in der 'semantischen Struktur der Sprache' (wie auch immer diese zu beschreiben wäre) ein situationstranszendenter (allgemeiner) Zug steckt, der sich nicht aus der besonderen Praxis oder dem einzelnen Gebrauch ableiten läßt, ist freilich wahr. Doch wie erkennen wir das Allgemeine? Vielleicht zeigen beide, Heidegger und Wittgenstein, auf je ihre Weise, wie schwierig es ist, so etwas wie implizite 'begrifflich- strukturelle' Grundlagen unseres Redens und Handelns explizit zu machen und das dort quasi apriorisch Unterstellte allererst in der einen oder anderen Form zu vergegenwärtigen. Die Schwierigkeit besteht darin, daß dies vernünftig zu geschehen hat, d.h. aus dem Vernehmen oder Hören oder dem geschärften Wahrnehmen des reflektierenden Teilnehmers heraus. Erst dann können wir uns daran machen, die Formen zu beurteilen. - Freilich könnte es dann immer noch so sein, daß Heideggers Philosophie eine Antwort auf ein Scheinproblem geben will, weil die Sprache gerade nicht, wie Heidegger nach Tugendhat bloß unterstelle, ein 'einheitliches Seinsverständnis' nahelege. Doch gerade Tugendhats eigenen Urteile in bezug auf das, was es gibt und was man verstehen kann, und gerade sein eigener Gebrauch des rhetorischen Arguments des 'Kanntiverstan' in bezug auf andere Redemodi zeigt, daß Heideggers Vermutung, es gäbe ein tiefsitzendes Fehlurteil in bezug auf die Funktionsweise der Sprache, wohlbegründet gewesen sein mochte. Die Frage, ob Habermas etwa vorsichtiger vorgeht als Kögler selbst, ist dann eine weitere hier nicht im Detail zu erörternde Frage. Auch weiterhin klingen viele Kritikpunkte Köglers überzeugender als sie sind. Wenn etwa von einer quasicartesischen Zersplitterung von Welten (etwa in Lebenswelt und verregelte Gesellschaft) die Rede ist, fragt man sich, ob nicht schon die übliche Kritik an Descartes modifiziert werden müßte: Nicht die Einteilung in kategoriale Sphären unterschiedlicher Erfahrungs- und Redebereiche mystifiziert uns per se, sondern nur ihr unangemessenes Verständnis. Die bloße Kritik an irgendeiner Grobeinteilung als (dualistische oder pluralistische) 'Zersplitterung' der Welt ist damit immer allzu billig. Sie verweist auf ein implizites Pathos einheitlichen, und das bedeutet durchaus immer auch eindimensionalen Denkens. Hierher dürfte übrigens auch die übliche Betonung einer 'ontologischen' (?) Einheit der Welt gehören, etwa der Welt der 'nackten Tatsachen', von der nicht nur bei Searle die Rede ist. Kögler folgt dann übrigens auch noch einem weiteren Zug der Zeit, wenn er Cassirers Analyse (einer fingierten Genese) symbolischer Formen anderen Analyseformen (etwa der Heideggers) vorzieht. Man übersieht hier aber leicht die Gefahr der Verobjektivierung sprachlichen Sinns bzw. die folgende Frage: Wie wissen und beurteilen wir, ob Cassirers Analysen oder Geschichten die richtigen sind? Warum und wann können wir sie in unserem Urteil über die gegenwärtigen 'Formen' des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens vernünftigerweise als Orientierung gebrauchen? Doch auch diese Debatte verlangt andere Orte.