***************************************************************** * * Titel: Klarheit, Tiefe, Ironie. Oder wie man von Frege zu Wittgenstein kommt, indem man den Weg über Kierkegaard nimmt. Autor: Richard *Raatzsch* Universität Leipzig, Germany (d) Dateiname: 14-2-97.TXT Dateilänge: 119 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/97, Datei: 14-2-97.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1997 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Richard Raatzsch Klarheit, Tiefe, Ironie. Oder wie man von Frege zu Wittgenstein kommt, indem man den Weg über Kierkegaard nimmt In diesem Aufsatz will ich den Versuch unternehmen, in sehr groben Zügen zu zeigen, in welcher Weise die beiden dominanten Lesarten von Wittgensteins "Logisch-philosophischer Abhandlung" Ausdruck eines tiefen philosophischen Problems sind. Anders gesagt: die Tatsache, daß es, stark vereinfacht, zwei Deutungen der "Abhandlung" - eine, wenn man so will "analytische" und eine "existentialistische" - gibt, ist KEIN Zeichen dafür, daß wenigstens eine Lesart der "Abhandlung" nicht gerecht wird derart, daß sie auf einem einfachen Unvermögen beruht. Vielmehr soll im folgenden deutlich werden, inwiefern jede Lesart einer Art von Philosophieren zugehört, die, für sich betrachtet, berechtigte Prinzipien verkörpern. Diese Prinzipien lauten: Klarheit und Tiefe. Insofern aber beide Arten für sich betrachtet berechtigt sind, sich aber dennoch ausschließen, sind beide sie verkörpernden Arten des Philosophierens auch defizitär. Daß dem so ist, muß sich an jeder Art für sich selbst zeigen lassen. Hier wird dies anhand einiger Ausführungen von Frege versucht. Die internen Schwierigkeiten, in die diese Fregeschen Bemerkungen uns führen, sind die Schwierigkeiten, in die auch die analytische Lesart des "Tractatus logico-philosophicus" uns führt. Ähnlich läßt sich zeigen, was hier jedoch nicht versucht wird, daß die existentialistische Deutung des "Tractatus" nicht befriedigen kann. Was Wittgensteins "Tractatus" von Freges Bemerkungen unterscheidet, ist nun gerade die Tatsache, daß er sowohl analytischem als auch existentialistischem Philosophieren wesentliche Anknüpfungspunkte bietet. Anders gesagt: in ihm finden sich beide Prinzipien explizit. Dies gelingt Wittgenstein jedoch nur, wie es scheint, um den Preis der ebenfalls im "Tractatus" enthaltenen Passagen über die Unsinnigkeit eben des "Tractatus". Die Synthese der Prinzipien Klarheit und Tiefe scheint also nur als Paradox möglich. Dem soll hier zwar nicht widersprochen werden, doch soll versucht werden, mit Hilfe von Kierkegaards Begriff der Ironie die Wittgensteinsche paradoxe Einheit von Klarheit und Tiefe zu beleuchten. Nicht behandelt wird der sich nun aufdrängende Gedanke, daß die existentialistische Lesart Kierkegaards dann, wenn die hier postulierte Paralellität zum Denken Wittgensteins tatsächlich besteht, in dem Grade problematisch ist, als sie die analytische Lesart Kierkegaards ausschließt. I.1. Nehmen wir an, die Polizei hat Wind von einem Gerücht bekommen, demzufolge eine Bande einen Überfall auf das Britische Schmuck Zentrum plant. Miller, ein bekannter Autofanatiker, soll zufällig Zeuge der Vorbereitung geworden sein. Nun will die Polizei, daß Miller ihr Rede und Antwort steht. Miller fängt also an: "Also, die haben sich einen Lieferwagen besorgt, einen Fiat. Dieser Wagen hat zwei Sitze, vier Zylinder, ist maximal 120 km/h schnell, verbraucht im Schnitt 8 Liter Normalbenzin, hat Vorderradantrieb, einen Wendekreis von genau 10 Metern und ..." Hier unterbricht ihn der Inspektor mit den Worten: "Kommen sie, bitte, zur Sache." Daraufhin Miller: "Ja, das tue ich doch, oder glauben Sie etwa, es spiele keine Rolle, ob ein Wagen Hinter- oder Vorderradantrieb hat, ob er mit Diesel oder mit Benzin fährt, wie schnell er ist usw.?" Hierauf der Inspektor: "Diese Unterschiede mögen für Sie wichtig sein. Für mich als Inspektor sind sie es nicht. Mir genügt es, wenn ich weiß, was es für ein Wagen ist. Wichtig für mich ist, wann er wo sein soll, ob es ein oder mehrere Täter sind, ob nur Männer oder ob auch Frauen dabei sind, was verabredet wurde usw." - Man wird wohl zugeben müssen, daß der Inspektor im Recht ist. Spräche Miller dagegen mit einem Menschen seines Schlages, dann könnte es durchaus der Fall sein, daß dieser genau das hören wollte, was Miller unnützerweise dem Inspektor erzählte. Berichtete Miller aber nun, etwa in Erinnerung an die belehrenden Worte des Inspektors, seinem neuen Zuhörer das, was der Inspektor lieber gleich gehört hätte, dann müßte Miller damit rechnen, erneut ermahnt zu werden, endlich zur Sache zu kommen. Allgemein muß man also, wie es scheint, dem zustimmen, was Gottlob Frege in "Der Gedanke. Eine logische Untersuchung" sagt: "Es ist ebenso wichtig, Unterscheidungen zu unterlassen, welche den Kern der Sache nicht berühren, wie Unterscheidungen zu machen, welche das Wesentliche betreffen. Was aber wesentlich ist, hängt von dem Zwecke ab."*1* Frege geht es in seiner Untersuchung nicht um Dinge, für die sich Autofans oder die Polizei interessieren, sondern um die Frage, was Gedanken sind. Von den Fragen, die die ersten beiden Gruppen bewegen, wissen wir recht gut, wie man sie beantworten kann. Aber wie beantwortet man die Frege-Frage? Denn es ist wohl so, wie Frege schreibt: "Ich bin hier nicht in der glücklichen Lage eines Mineralogen, der seinen Zuhörern einen Bergkristall zeigt. Ich kann meinen Lesern nicht einen Gedanken in die Hände geben mit der Bitte, ihn von allen Seiten recht genau zu betrachten." (G, 40, Fn.) Was also tun? Nun, Frege glaubt, einen Notbehelf zu haben: "Ich muß mich begnügen, den an sich unsinnlichen Gedanken in die sinnliche sprachliche Form gehüllt dem Leser darzubieten." (G, 40, Fn.) Die Möglichkeit dieses Verfahrens beruht auf folgender Eigenart des zu untersuchenden Gegenstandes: "Der an sich unsinnliche Gedanke kleidet sich in das sinnliche Gewand des Satzes und wird uns damit faßbar." (G, 33) Jetzt versteht man auch, warum Frege den oben angeführten allgemeinen Hinweis auf die Abhängigkeit des Wesentlichen vom Zweck der Untersuchung folgendermaßen ergänzt: "Dem auf das Schöne in der Sprache gerichteten Sinne kann gerade das wichtig erscheinen, was dem Logiker gleichgültig ist." (G, 37) I.2. Was soll man nun, genauer betrachtet, unter "was dem Logiker wichtig ist" und "dem auf das Schöne gerichteten Sinn" verstehen? Frege gibt uns auch hierauf eine Antwort: "Wie das Wort schön der Ästhetik und gut der Ethik, so weist wahr der Logik die Richtung." (G, 30) Wenn man nur auf diesen Satz schaut, dann bewegt man sich freilich am Rande eines Mißverständnisses. Denn so könnte es scheinen, als sei Frege der Ansicht, nur die Logik habe es mit der Wahrheit zu tun. Dieser Idee hängt Frege jedoch nicht an. Denn er fährt fort: "Zwar haben alle Wissenschaften Wahrheit als Ziel; aber die Logik beschäftigt sich noch in ganz anderer Weise mit ihr. Sie verhält sich zur Wahrheit etwa so wie die Physik zur Schwere oder zur Wärme. Wahrheiten zu entdecken, ist die Aufgabe aller Wissenschaften: der Logik kommt es zu, die Gesetze des Wahrseins zu erkennen." (G, 30) Insofern die Logik, wie alle Wissenschaften, nach der Wahrheit über ihren Gegenstand strebt, aber ihr Gegenstand eben die Wahrheit selbst ist, geht es der Logik, wie man sagen könnte, um Wahrheiten über die Wahrheit. Das Wahre ist nicht nur vom Guten und Schönen zu unterscheiden, sondern auch vom Fürwahrgehaltenen - das ist einer von Freges Grundsätzen. Was wahr ist, kann für falsch gehalten werden, und was falsch ist, kann für wahr genommen werden. Der Mensch kann irren. Das Zustandekommen des Irrtums muß nicht zufällig sein. Es kann auch hier Gesetze geben. Dies sind dann aber keine logischen Gesetze, keine Gesetze des Wahrseins. "Der Irrtum, der Aberglaube hat ebenso seine Ursachen wie die richtige Erkenntnis. Das Fürwahrhalten des Falschen und das Fürwahrhalten des Wahren kommen beide nach psychologischen Gesetzen zustande." (G, 30) Was für wahr gehalten wird, sind GEDANKEN. Einen Gedanken für wahr halten ist ein Geschehen in der Zeit. Es beginnt mit dem, was Frege, nicht ohne jedes Unbehagen, das "Fassen des Gedankens" nennt. Das Unbehagen betrifft die Bildlichkeit des Ausdrucks "Fassen". Der Ausdruck "Fassen" ist nicht AN SICH bildlich. Wenn ich einen Hammer fasse, dann fasse ich ihn nicht bildlich, nicht "sozusagen", sondern ich fasse ihn, sozusagen, wörtlich. Bildlich ist der Ausdruck, wenn er auf Gedanken angewendet wird. "Der Ausdruck Fassen ist ebenso bildlich wie Bewußtseinsinhalt . Das Wesen der Sprache erlaubt es eben nicht anders. Was ich in der Hand halte, kann ja als Inhalt der Hand angesehen werden, ist aber doch in ganz anderer Weise Inhalt der Hand und ihr viel fremder als die Knochen, die Muskeln, aus denen sie besteht, und deren Spannungen."(G, 49, Fn.) Die Schwierigkeit, der wir in bezug auf den Ausdruck "Fassen eines Gedankens" begegnen, ist nur ein Aspekt der oben erwähnten allgemeinen Problematik, daß man den "an sich unsinnlichen Gedanken" dem Leser nur "in die sinnliche sprachliche Form gehüllt" darbieten kann. Und dies wiederum ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Sachlage, derzufolge ein Gedanke uns nur in die "sprachliche Form des Satzes" gekleidet erscheint und damit faßbar wird. "Dabei macht die Bildlichkeit der Sprache Schwierigkeiten. Das Sinnliche drängt sich immer wieder ein und macht den Ausdruck bildlich und damit uneigentlich. So entsteht ein Kampf mit der Sprache, und ich werde genötigt, mich noch mit der Sprache zu befassen, obwohl das hier ja nicht meine eigentliche Aufgabe ist." (G, 40, Fn.) Man darf also den Aspekt der Bildlichkeit der Sprache nicht aus dem Auge verlieren, wenn man herausfinden will, was Gedanken sind. Umso wichtiger ist es, sich klar darüber zu sein, worauf es bei der Untersuchung ankommt, was also das Besondere einer logischen Untersuchung ist. Bleiben wir zunächst beim Bildlichen. Das Fassen und das Gefaßte sind verschieden. Insofern sie dies sind, brauchen wir neben dem Gedanken als dem Gefaßten noch etwas dem Fassen entsprechendes, etwas also, das uns als Antwort auf die Frage "Wer (oder was) faßt das Gefaßte?" dienen kann. Dies ist "ein besonderes geistiges Vermögen, die Denkkraft". (G, 49f.) Die Denkkraft, aufgefaßt nach dem Bild des Fassens, bedarf eines Agens, welches über sie verfügt; das besondere geistige Vermögen hat einen Träger nötig, der es hat. Dies ist der einzelne Mensch. Nicht jeder Mensch muß dies besondere geistige Vermögen in gleichem Umfang haben wie jeder andere Mensch - manche Menschen sind klüger als andere. Ein Gedanke mag schwerer zu fassen sein als ein zweiter - einige Probleme sind hartnäckiger als andere. Auch hier können Gesetze herrschen. Dies wären dann wieder psychologische Gesetze. Das Finden dieser Gesetze ist Aufgabe der Psychologie. Die Gesetze des Fassens der Gedanken, oder der Psychologie, sind Gesetze eines zeitlichen Geschehens. I.3. Was beim Denken gedacht wird, ist, wie gesagt, der Gedanke. Der Gedanke ist wahr oder falsch. Das macht ihn zum Gedanken. "Ohne damit eine Definition geben zu wollen, nenne ich Gedanken etwas, bei dem überhaupt Wahrheit in Frage kommen kann. Was falsch ist, rechne ich also ebenso zu den Gedanken, wie das, was wahr ist." (G, 33) Nichts ist also ein Gedanke, was nicht entweder wahr oder falsch ist, also wahr und falsch sein kann. Insofern der Gedanke, den der Denkende faßt, nun an sich selbst wahr oder falsch ist, und dies den Gedanken zum Gedanken macht, wird dieser vom Denkenden nicht GESCHAFFEN, sondern eben nur gefaßt. (Vgl.: G, 44, Fn.) Wenn der Gedanke vom Denkenden geschaffen würde, würde der Denkende damit auch Wahrsein und Falschsein schaffen. Ich hätte dann, eventuell, meine Gedanken und meine Wahrheit, während du vielleicht deine Gedanken und deine Wahrheit hättest; und morgen könnte wieder alles anders sein. Dann wäre die Logik eine Abteilung der Psychologie, ebenso wie, zum Beispiel, die Mathematik. Aber: "Weder die Logik noch die Mathematik hat als Aufgabe, die Seelen und den Bewußtseinsinhalt zu erforschen, dessen Träger der einzelne Mensch ist. Eher könnte man vielleicht als ihre Aufgabe die Erforschung des Geistes hinstellen, des Geistes, nicht der Geister." (G, 50) Das Reich des Geistes ist das Reich der Gedanken. Ist dieses auch ein Reich von Zeitlichem? Kann ein Gedanke erst wahr, dann falsch und dann vielleicht wieder wahr sein, so daß man in diesem zeitlichen Geschehen gesetzmäßige Zusammenhänge entdecken könnte? Aber was hieße es, daß "der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprechen", heute wahr und morgen falsch ist? Seine Wahrheit "ist doch wohl zeitlos, ewig, unveränderlich." (G, 52) Aber müssen denn alle Gedanken von der Art des Gedankens sein, der im Satz des Pythagoras ausgedrückt wird? Nein, das müssen sie freilich nicht. Aber: "Der Gedanke z.B., daß der Baum dort grün belaubt ist, ist doch wohl nach einem halben Jahr falsch? Nein; denn es ist gar nicht derselbe Gedanke. Der Wortlaut dieser Baum ist grün belaubt allein genügt ja nicht zum Ausdrucke, denn die Zeit des Sprechens gehört dazu. Ohne die Zeitbestimmung, die dadurch gegeben ist, haben wir keinen vollständigen Gedanken, d.h. überhaupt keinen Gedanken." (G, 52) Wenn wir in den Wortlaut "Dieser Baum ist grün belaubt" den Zeitpunkt der Äußerung aufnehmen (und alles, was ihm sonst noch fehlen und in den Umständen liegen könnte, unter denen er geäußert wird), dann haben wir einen Gedanken, also etwas, was wahr oder falsch ist. Richtig ist, daß dieser Baum, der heute grün belaubt ist, in einem halben Jahr wohl nicht mehr grün belaubt sen wird. Aber mit der Wahrheit und damit auch mit Gedanken verhält es sich nicht so. Gedanken gehören nicht zu dem, was entsteht und vergeht, was irgendjemand zerstört und (wieder)herstellt, wenn ihm danach ist. Gedanken sind nicht zufälligerweise unverändert, so daß ihr ewiges Unverändertsein nur immer ein BISHERIGES Unverändertsein ist, welches morgen nicht mehr bestehen muß. Gedanken sind wesentlich zeitlos, sie sind unveränderBAR, sie KÖNNEN nicht entstehen, vergehen, zerstört oder (wieder)hergestellt werden. Diese Unmöglichkeit ist aber keine des gestrigen, heutigen und morgigen Tages. Gedanken sind nicht in dem Sinne "immer unveränderlich", den man mit der Wendung "es gibt keinen Zeitpunkt, zu dem ein Gedanke veränderlich ist" auszudrücken geneigt sein könnte, sondern in dem Sinne, den man der Phrase "ein Gedanke ist niemals veränderlich" zusprechen könnte, wenn man diese nicht mit der vorherigen gleichsetzt. Gedanken sind, mit anderer Worten gesagt, Teil des zeitlosen, nicht Teil des zeitlichen Seins. Sie gehören in diesem Sinne zum ewig Unveränderlichen. Dies trennt den Gedanken vom Fassen des Gedankens und dem Fürwahrhalten, die zu dem Bereich des Werdens, Bestehens und Vergehens gehören. I.4. Wenn wir auf diese Weise die Gedanken vom Denkenden trennen, dann haben wir gesichert, daß Wahrsein und Fürwahrhalten sowie Falschsein und Fürfalschhalten nicht vermengt werden können. Denn welcher Unterschied könnte größer sein als der zwischem dem, was in die Zeit fällt (wie dem Menschen), und dem, was außer ihr liegt (wie der Wahrheit)? Indem wir Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit nicht durcheinander geraten lassen, haben wir dafür Sorge getragen, daß die Logik nicht unter dem Regiment der Psychologie steht. Allerdings geht mit dieser Trennung auch ein ernsthaftes Problem einher. Es kündigt sich mit Freges folgenden Worten an: "Das Wirken von Mensch auf Mensch wird zumeist durch Gedanken vermittelt. Man teilt einen Gedanken mit. Wie geschieht das? Man bewirkt Veränderungen in der gemeinsamen Außenwelt, die, von dem anderen wahrgenommen, ihn veranlassen sollen, einen Gedanken zu fassen und ihn für wahr zu halten. Die großen Begebenheiten der Weltgeschichte, konnten sie anders als durch Gedankenmitteilung zustande kommen?" (G, 53) Der Verkehr zwischen Mensch und Mensch ist - vom Standpunkt des Einzelnen betrachtet - nur ein Spezialfall. Das Allgemeine ist die Beziehung zwischen Mensch und Welt insgesamt. Was den Menschen zum Menschen macht, ist gerade die Tatsache, daß er denken kann; in Freges Worten gesagt: daß er Träger der Denkkraft ist, daß er einen Geist hat. Als solcher steht er dann auch in einer wesentlichen Beziehung zum Reich der Gedanken. "Wie wirkt ein Gedanke? Dadurch, daß er gefaßt und für wahr gehalten wird. Das ist ein Vorgang in der Innenwelt eines Denkenden, der weitere Folgen in dieser Innenwelt haben kann, die, auf das Gebiet des Willens übergreifend, sich auch in der Außenwelt bemerkbar machen. [...] So werden unsere Taten gewöhnlich durch Denken und Urteilen vorbereitet. [...]" (G, 53) Wenn wir nun aber Denken und Gedanken, Geister und Geist, Psychologie und Logik so scharf voneinander trennen, wie wir es gerade mit Frege getan haben, dann stehen wir vor folgendem Dilemma: "Und doch! Welchen Wert könnte das ewig Unveränderliche für uns haben, das Wirkungen weder erfahren noch auf uns haben könnte? Etwas ganz und in jeder Hinsicht Unwirksames wäre auch ganz unwirklich und für uns nicht vorhanden. Selbst das Zeitlose muß irgendwie mit der Zeitlichkeit verflochten sein, wenn es uns etwas sein soll. Was wäre ein Gedanke für mich, der nie von mir gefaßt würde!" (G, 52) "Der Wert des ewig Unveränderlichen" - besteht er allein in der möglichen Wirksamkeit des ewig Unveränderlichen auf uns und in seinem potentiellen Bewirktwerden durch uns, wie es Freges Bemerkung nahelegt, wonach etwas, das weder auf uns wirken noch von uns bewirkt werden kann, für uns ganz unwirklich und nicht vorhanden wäre? "Nun, wenn es keine Wirkung geben kann, dann hat die Sache eben keinen Wert für uns", könnte man sagen - könnte man, wenn der letzte Satz nicht wäre: "Was wäre ein Gedanke für mich, der nie von mir gefaßt würde!" Wenn der Mensch keinen Zugang zum Unveränderlichen haben kann, dann er auch keinen Gedanken fassen! dann kann er nicht denken! dann können die menschlichen Geister nicht an dem einen Geist teilhaben! Aber ist es denn nicht erst die Teilhabe an DEM Geist, der DIE Geister zu Geistern macht? Wenn diese Teilhabe nicht möglich ist, wie kann der Mensch dann überhaupt ein Mensch sein? Der Wert des ewig Unveränderlichen - oder seine Wichtigkeit -, das ist die Bedeutung des Zeitlosen (und damit der Logik), die es für unser Leben hat. Die Art der Bedeutung, die uns hier interessiert, läßt sich mit Arthur Schopenhauer folgendermaßen zum Ausdruck bringen: "... wenn irgend etwas auf der Welt wünschenswert ist, so wünschenswert, daß selbst der rohe und dumpfe Haufen, in seinen besonneneren Augenblicken, es höher schätzen würde als Silber und Gold; so ist es, daß ein Lichstrahl fiele auf das Dunkel unsers Daseins und irgendein Aufschluß uns würde über diese rätselhafte Existenz, an der nichts klar ist als ihr Elend und ihre Nichtigkeit."*2* Das von Schopenhauer angesprochene Dunkel ist von besonderer Art. Es betrifft nicht diesen oder jenen Zug unseres Daseins als solchen, sondern das Ganze des Daseins. Ein Einzelnes unseres Daseins ist nur insofern berührt, als es um dessen Grundlagen geht. Insofern man das Einzelne von seinen Grundlagen unterscheiden kann, kann man sich im Einzelnen auskennen, ohne deshalb schon seine Grundlagen zu kennen. In diesem Sinne kann allergrößte Klarheit mit tiefster Dunkelheit einhergehen, wie dies, jedenfalls für Frege, in der Arithmetik der Fall ist. Denn in Rücksicht auf die "Feinheit des Baues der Begriffe; [...] möchte die Mathematik von keiner Wissenschaft, selbst der Philosophie nicht, übertroffen werden."; dagegen herrschen, wenn es um die Grundlagen geht, "rohe Auffassungen" vor.*3* Es mag, allgemein gesprochen, völlig klar sein, was wie zu tun ist, ohne daß doch nur die geringste Ahnung bestünde, was der Sinn allen Tuns ist oder warum man überhaupt etwas tun soll. Wenn wir rechnen, oder allgemeiner: denken, dann geschieht etwas in der Zeit. Unser Denken und unsere Existenz überhaupt - gehören sie nicht zu dem "Bereich des Zeitlichen"? wo Ursache und Wirkung herrschen? wo wir Wirkungen erfahren und von uns Wirkungen ausgehen? Und wie kommen hier Wahrheit und Gedanken ins Spiel? Nichts wäre also falscher, als zu sagen, daß Frege nicht in starkem Maße das hätte, was Schopenhauer das "metaphysische Bedürfnis des Menschen" nennt! Im Lichte von Schopenhauers Bemerkung gewinnt Freges Streben nach einer VERFLECHTUNG von Zeitlosem und Zeitlichem, von Wahrem und Fürwahrgehaltenem, Denkendem und Gedanken sein volles Gewicht. Um so dringender wird nun das Problem, wie man sich diese Verflechtung vorstellen soll. I.5. Frege meint, daß dann, wenn ich einen Gedanken fasse, ich zu ihm in eine Beziehung trete, so wie er zu mir in eine Beziehung tritt. Diese Beziehung kann bestehen, muß aber nicht bestehen. Sie kann, wie wir gesehen haben, heute bestehen und morgen nicht mehr. Oder umgekehrt. Und nun Freges überraschende Schlußfolgerung: "Damit ist die strenge Unzeitlichkeit des Gedankens allerdings aufgehoben." (G, 52) Überraschend ist die Schlußfolgerung deshalb, weil vorderhand nicht zu sehen ist, wie durch die Tasache, daß ein Denkender einen Gedanken faßt, die Zeitlosigkeit des Gedankens überhaupt berührt, geschweige denn aufgehoben sein sollte. So, wie der Unterschied zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit eingeführt wurde, ist von ihm hier ja gar nicht die Rede, sondern nur von Vorgängen in der Zeit - eben dem Fassen und Loslassen von Gedanken. "Durch Fassen eines Gedankens durch einen Denkenden treten Denkender und Gedanke zueinander in eine Beziehung" - wie kann das mehr sein als eine analytische Bemerkung? Und durch eine solche kann jedenfalls das schon Gesagte nicht wieder zurückgenommen werden. Das soll auch nicht geschehen, denn Frege beeilt sich, klarzustellen: "Die Gedanken sind nicht durchaus unwirklich, aber ihre Wirklichkeit ist ganz anderer Art als die der Dinge. Und ihr Wirken wird ausgelöst durch ein Tun der Denkenden, ohne das sie wirkungslos wären, wenigstens soweit wir sehen können. Und doch schafft der Denkende sie nicht, sondern muß sie nehmen, wie sie sind." (G, 53) Damit ist unser Problem freilich nicht gelöst. Frege verschiebt es, sozusagen, nur in die Kulissen, wenn er einerseits sagt, die strenge Unzeitlichkeit des Gedankens sei aufgehoben, und damit dem Gedanken die Möglichkeit des Wirksam-Seins und dadurch der Bedeutsamkeit für uns eröffnet wird, dann aber sagt, es sei eine Wirklichkeit ganz anderer Art und die Wirkung sei ausgelöst durch das Tun des Denkenden. Von letzterem stand nie infrage, daß es ganz gewöhnlich mit ihm zugeht. Die ganze Not Freges wird beinahe schon offensichtlich, wenn er schreibt: " [... ] im Grunde hat der Mensch keine Macht über ihn (d.i. den Gedanken, R.R.). Indem der Gedanke gefaßt wird, bewirkt er Veränderungen zunächst nur in der Innenwelt des Fassenden; doch bleibt er selbst im Kerne seines Wesens davon unberührt, da die Veränderungen, die er erfährt, nur unwesentliche Eigenschaften betreffen. Es fehlt hier das, was wir im Naturgeschehen überall erkennen: die Wechselwirkung." (G, 53) Dadurch, daß wir die Wirkung mit einem Einbahnstraßenschild versehen und die Verflechtung von Denken und Gedanken in die Intermundien der Seinsbereiche verschieben, lösen wir unser Problem natürlich nicht. Gleichwohl ist es schwer zu sehen, wie man Frege widersprechen kann, wenn er uns daran erinnert, daß wir Gedanken übertragen, wenn wir uns Mitteilungen machen, daß wir unser Verhalten danach ausrichten, was wir für wahr halten, daß nicht nur der Satz vom Pythagoras nicht gestern, heute und hoffentlich auch morgen wahr ist, sondern daß hier von Wahr-Sein im "TEMPUS der Unzeitlichkeit" (G, 52) die Rede ist. Es scheint also, daß Frege insofern Recht hat, als der Denkende, der einen Gedanken faßt, damit etwas zeitlich fassen muß, was nicht zeitlich sein kann. Anders gesagt: Wenn es überhaupt ein Fassen von Gedanken gibt und wenn das Fassen zeitlich und das Gefaßte zeitlos sind, dann MUSS es auch, wie es scheint, eine Verflechtung zwischen Zeitlosem und Zeitlichem geben. Das Problematische an Freges Schlußfolgerung liegt also nicht in der postulierten Verflechtung als solcher, sondern in der Art ihrer Herbeiführung qua Aufhebung der strengen Unzeitlichkeit des Gedankens. (Angesichts von Freges Schwierigkeiten könnte man Verständnis gewinnen für jene, die die strenge Zeitlichkeit des Denkens aufheben und das Fassen eines Gedankens zu einem Akt der bloßen Bewußtwerdung eines schon immer Gefaßten machen, die also, statt den Geist zu verzeitlichen, die Geister für zeitlos erklären.) Frege fährt an der oben zitierten Stelle folgendermaßen fort: "Aber man wird geneigt sein, zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften zu unterscheiden und etwas als zeitlos anzuerkennen, wenn die Veränderungen, die es erfährt, nur die unwesentlichen Eigenschaften betreffen. Unwesentlich aber wird man eine Eigenschaft eines Gedankens nennen, die darin besteht oder daraus folgt, daß er von einem Denkenden gefaßt wird." (G, 52) Aber Halt! Wir haben schon gesehen, daß Frege an anderer Stelle dies sagt: "Es ist ebenso wichtig, Unterscheidungen zu unterlassen, welche den Kern der Sache nicht berühren, wie Unterscheidungen zu machen, welche das Wesentliche betreffen. Was aber wesentlich ist, hängt von dem Zwecke ab." Wenn wir nun zwei Untersuchungen anstellen, eine logische und eine psychologische, dann ist für das Untersuchte einmal die Zeitlosigkeit wesentlich - im Falle der logischen Untersuchung -, und dann wieder ist die Zeitlichkeit essentiell - wenn wir Psychologie treiben. Aber dann hat das Untersuchte sowohl die Eigenschaft der Zeitlosigkeit als auch die der Zeitlichkeit. Oder hat es eine dieser beiden Eigenschaften nur dann wesentlich, wenn und solange wir eine der beiden Untersuchungen anstellen, und zwar jeweils die Eigenschaft, die der Art der Untersuchung entspricht? SCHAFFT die Untersuchung dann erst die Eigenschaften des Untersuchten? Inwiefern ist sie dann eine Untersuchung? Was hieße es hier, nach WAHRHEIT zu streben? Hier stimmt etwas nicht! Auf diese Weise jedenfalls gelingt der Brückenschlag vom Reich des Zeitlosen zum Reich des Zeitlichen nicht. I.6. Wenn der Brückenschlag nicht gelingt - muß man dann nicht zugeben, daß das Reich der Gedanken für uns ohne Belang ist? Wie ist es dann aber um die Rolle der Logik als Wissenschaft "des Geistes, nicht der Geister", für (die Einsicht in) das Leben der Menschen bestellt? Frege sichert mit seinem Vorgehen die Unabhängigkeit der Logik von der Psychologie, aber dies scheint er nur um den Preis der vollständigen Belanglosigkeit der Logik für (das Wissen um) unser Dasein erreichen zu können. Dieser Preis ist Frege zu hoch. Deshalb sucht er einen Ausweg aus der Situation, in der man ihn, scheinbar, zu zahlen hat. So reiht Frege sich in die Reihe jener Philosophen ein, für die es nicht auf KLARHEIT allein ankommt, sondern auf etwas weiteres: auf die BEDEUTUNG oder WICHTIGKEIT einer Sache, die jeweils Gegenstand philosophischer Untersuchungen ist. Daß es Frege um beides geht, heißt aber nicht, daß er ZUNÄCHST Interesse an dem Einen und dann ZUSÄTZLICH auch noch am Anderen hat, sondern es geht ihm um das Eine, INDEM es ihm um das Andere geht. Es geht nicht um Klarheit und AUSSERDEM um Wichtigkeit, sondern um Klarheit über das Wichtige. (Nebenbei bemerkt: Die Reihe der Philosophen, denen es um beides geht, ist, wie mir scheint, die Reihe der GROSSEN Philosophen.) "Belanglosigkeit der Logik" - das ist eigentlich noch eine harmlose Ausdrucksweise. Denn wenn es für den Menschen keinen Zugang zu den Gedanken gibt, wie kann dann die Wissenschaft der Logik als menschliches Unternehmen zu irgendeinem Satze über das Reich der Gedanken kommen? Wie kann man überhaupt jemals Einsicht in das Ganze unseres Daseins, in die Grundlagen dessen erlangen, was wir täglich tun? Aber wenn wir die Grundlagen nicht kennen können, ist dann nicht alles erlaubt? könnte dann nicht das, was heute wahr ist, morgen falsch sein - denn die Auffassung, daß Wahrsein und Fürwahrhalten streng zu unterscheiden sind, ist ja eben nur eine AUFFASSUNG? Ist dann nicht gar vielleicht eines Tages 2 mal 2 gleich drei? Sollen wir also sagen: "Soweit wir wissen, ist zwei mal zwei gleich vier, aber wer weiß, was morgen sein wird."? Was ist jetzt noch ein Fehler? Wenn einer sagt, zwei mal zwei sei drei, könnte es dann nicht sein, daß er uns schon weit voraus ist, daß er schon sieht, was wir erst noch begreifen müssen? Was wird dann erst aus den anderen Sätzen, die wir bisher für wahr gehalten haben, wenn selbst "zwei mal zwei gleich vier" in s Rutschen gerät? Dann zerrinnt uns alles, was wir bisher für klar und richtig hielten. Unsere ganze Praxis wird schwankend. Wir können keinen Unterschied mehr machen zwischen einer richtigen und einer falschen Rechnung, zwischen dem Fall, wo eine Folgerung besteht, und dem, wo wir nur glauben, daß sie besteht. Wenn wir dagegen daran festhalten wollen, daß es wahre und falsche Gedanken, richtige und unrichtige Rechnungen gibt, dann müssen wir dem Vorstehenden zufolge wohl zugeben, daß wir nie dahin gelangen können, zu sagen, worin dieser Unterschied besteht und worauf er beruht. Was, wenn nicht dies, drückt sich in Wilhelm Buschs folgenden Worten aus? Zwei mal zwei gleich vier ist Wahrheit. Schade, daß sie leicht und leer ist. Denn ich wollte lieber Klarheit über das, was voll und schwer ist.*4* II.1. Wie entsteht das Problem, daß man, wie es aussieht, Klarheit und Wahrheit nicht über das Volle und Schwere haben kann, sondern nur über das Leichte und Leere? Wie kommt es dazu, daß das, was zunächst als das Wichtigste erschien - die Wahrheit, der Geist, die Logik - am Ende als belanglos dasteht? Gehen wir noch einmal an den Anfang zurück, zu Miller und dem Inspektor. Nehmen wir an, daß das Vorkommnis, dessen heimlicher Zeuge Miller gewesen sein soll, folgendes war: Wir sind in einer Dachkammer; um einen Tisch haben sich vier verwegene Gestalten versammelt und studieren einen Lageplan; ein fünfter Mann schaut aus dem Fenster auf die Straße; es ereignet sich folgendes Gespräch*5*: Boß (eindringlich): Gut der Plan geht also so. Um 10 Uhr 45 holst du, Reg, mich und Ken mit dem Fiat-Lieferwagen ab, und fährst uns in die High Street zum Britischen Schmuck Zentrum. Um 10 Uhr 50 kommen wir dort an. Ich steige aus und du, Reg, fährst ihn hierher, in die Denver Street, klar? Um 10 Uhr und 51 Minuten trete ich durch das Portal in s Innere des Gebäudes. Dort stößt du, Vic, zu mir, verkleidet als Kunde. Du übergibst mir dann 5 Pfund, 18 Shilling und 3 Pence. Um 10 Uhr und 52 Minuten nähere ich mich der Kasse. Dort erwerbe ich eine Uhr für 5 Pfund, 18 Shilling und 3 Pence. Ich verlasse die Kasse und du, Vic, stößt wieder zu mir. Ich übergebe dir die Uhr, Vic, woraufhin du dich direkt in Normans Autowerkstatt in der East Street begibst. Dann stoßen wir drei, Reg, Vic und ich, zu den anderen, die die ganze Zeit hier oben warteten. - Alles klar? Irgendwelche Fragen? Larry: Boß, wir machen doch irgendwie überhaupt nichts Illegales. Boß: Was meinst du damit? Larry: Na ja, wir bezahlen die Uhr doch, oder? Boß (geduldig): Jaa? Larry (stockend): Also wieso bezahlen wir die Uhr? Boß (gewichtig): Weil man sie uns nicht geben würde, wenn wir sie nicht bezahlen würden, oder? Larry: Eben! Mir gefällt die Sache nicht. Boß: Wieso nicht? Larry (erlösend): Na ja, wir brechen verdammtnochmal nie das Gesetz! Allgemeine Bestürzung. Boß: Wie soll ich das verstehen? Larry: Na ja, zum Beispiel letzte Woche diese Sache mit der Bank. Boß: Was stimmte denn dabei nicht? Larry: Daß ich maskiert da reingehen mußte und 15 Pfund von meinem Bankkonto abheben mußte, DAS stimmte dabei nicht! Boß: Moment mal! Worauf willst du eigentlich hinaus? Larry: Könnten wir die Uhr nicht einfach KLAUEN, Boß? Boß: Du dumme Nuß, du! Da hängen wir Wochen dran, um diese Sache auszutüfteln, Reg mietet ein Zimmer auf der anderen Straßenseite, wir filmen Tag für Tag die Leute, die rein- und rausgehen, Vic studiert drei Wochen lang die Uhrenkataloge, bis er die Preise rückwärts auswendig kann, da werd ich doch jetzt nicht den ganzen Überfall auf s Spiel setzen, nur um das Gesetz zu brechen! Soweit die kleine Geschichte. Nun zu ihrer Moral. Sie ist dreifältig. Die Geschichte zeigt zunächst, wie WICHTIG KLEINE DETAILS und wie UNWICHTIG GROSSE PROZEDUREN sein können, wenn es um das WESEN einer Sache geht, oder wie sehr das FEHLEN eines kleinen Details eine große Prozedur entwerten kann, sie in ein völlig anderes Licht tauchen kann, indem sie für uns einen völlig anderen Charakter annimmt. Für einen anständigen Verbrecher gehört es sich, wie Larry richtig spürt, daß er eine Uhr nicht KAUFT, sondern KLAUT. Das Klauen der Uhr dauert wenige Sekunden, das Vorbereiten kann dagegen Wochen dauern. Trotzdem: es ist das Klauen der Uhr, und nicht die Vorbereitung, die den Menschen zum Verbrecher, oder den Verbrecher zum anständigen Verbrecher macht. Wer sich wie der Boß verhält, verhält sich nur SCHEINBAR wie ein Verbrecher und ist IN WIRKLICHKEIT keiner, oder jedenfalls kein ANSTÄNDIGER. Der zweiten Einsicht bereitet man den Weg, wenn man sich vor Augen hält, daß es um eine Uhr IM WERT VON 5 PFUND, 18 SCHILLING UND 3 PENCE geht, um derentwillen der ganze Aufwand gepflegt wird. Beides steht ja in keiner Relation zueinander. Selbst wenn der Boß sich hinreißen lassen würde, die Uhr zu KLAUEN, statt zu KAUFEN, wäre es immer noch eine LÄCHERLICHE Veranstaltung, so lächerlich wie der Einbruch in eine Bank um 15 PFUND zu rauben. Ein anständiger Verbrecher klaut nicht nur, statt zu kaufen, er klaut auch, was sich lohnt, geklaut zu werden. Und eine Sache zu klauen, lohnt sich nur, wenn diese Sache mehr einbringt, als man investiert hat, um an sie heranzukommen. Ein Handwerk, das seinen Mann nicht ernährt, taugt nichts. Der Unterschied zwischen beiden Punkten nun ist der, daß man bei einem Verstoß gegen den ersten Punkt - Kauf statt Diebstahl - schwerlich von einer verbrecherischen Handlung reden kann, es sich also um einen Verstoß gegen die Regeln des Verbrechens SCHLECHTHIN handelt, während es bei einem Verstoß gegen den zweiten Punkt sozusagen um einen Verstoß gegen die Regeln des ORDENTLICHEN Verbrechens geht. Anders gesagt: ein Verstoß gegen den ersten Punkt verdeutlicht uns, was zum WESEN einer Sache gehört, einer gegen den zweiten Punkt, was einen einzelnen Fall zu einer NORMALEN Instanz einer Gattung macht. Ein Verstoß gegen den zweiten Punkt kann in der Regel nur erfolgen, wenn gegen den ersten nicht verstoßen wurde. Diese beiden Einsichten haben wir aus der Betrachtung EINER EINZIGEN Situation gewonnen. Worauf man aufpassen muß, ist, daß man nun nicht denkt, was man an einer Situation gesehen hat, ließe sich auf jede andere unmittelbar übertragen. Larrys Unbehagen war ja nicht nur auf den Kauf der Uhr gerichtet, sondern auch auf das Abheben der 15 Pfund. Was ihn mißtrauisch stimmte, war die TENDENZ, die sich abzeichnete. Ein Verbrecher, der fleißig seiner Bestimmung nachgeht und ordentliche Einbrüche und Diebstähle begeht, bleibt ein Verbrecher, auch wenn er einmal eine Uhr kauft, statt sie zu klauen. Und weil er vorher und hinterher ordentlich gearbeitet hat, stellt sich die Frage, ob er mit dem, was aussah und von ihm vielleicht selbst auch so ausgegeben wurde, wie ein Diebstahl, aber des Fehlens einer entscheidenden Nuance wegen keiner war, nicht vielleicht einem ganz anderen Zwecke diente. Wenn der Boß normalerweise weiß, was er tut, dann aber etwas macht, was keinen Sinn ergibt, dann hatte ja vielleicht, was er tat, nicht DEN Sinn, den man dem Anschein nach der Sache beilegen zu müssen glaubte, nur eben nicht finden konnte. II.2. Was bedeuten diese Einsichten für unser Problem? Sie zeigen uns dies: Es ist zwar richtig, daß man eine Sache unter diesem oder unter jenem Gesichtspunkt betrachten kann, und daß es für einen Gesichtspunkt wesentliche und unwesentliche Fragen gibt, aber dabei wird stets vorausgesetzt, daß feststeht, WAS es ist, für das man sich unter verschiedenen Gesichtspunkten interessiert. Was alles geschehen kann, wenn man dies aus dem Auge verliert, sieht man deutlich, wenn man vergleicht, was Miller und was Larry zu sagen haben. Wodurch ist nun das, WAS eine Sache ist, bestimmt, wenn nicht durch ihren Kern? Insofern müssen wir also die Sache schon kennen, wenn wir mit Frege von der Möglichkeit verschiedenartiger Untersuchungen EINER UND DERSELBEN Sache reden wollen. Aber wenn wir die Sache schon kennen, was heißt es dann, daß erst die Untersuchung festlegt, was der Kern der Sache ist? Nichts. Andererseits ist aber auch nicht in jedem Fall klar, wo die Grenzen zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, Kern und Hülle, verlaufen, wann also etwas nicht zum Kern, sondern zur Hülle einer Sache gehört, und wann es vielleicht am Rande des Kerns oder im Übergangsgebiet von Kern und Hülle angesiedelt ist. Deshalb können wir Frege einerseits zustimmen, wenn er darauf hinweist, daß der Zweck einer Untersuchung bestimmt, worauf es ankommt, müssen aber dabei immer im Auge behalten, daß für diesen Fall vorausgesetzt ist, daß feststeht, was untersucht wird, dürfen ferner den Verdacht haben, daß Freges Schwierigkeiten von der Vermengung beider Fälle herrühren, müssen ihm natürlich zugute halten, daß oft nicht klar ist, wo die Grenze liegt, dürfen aber trotzdem seine Ansichten für nicht mehr als eine Herausforderung ansehen, nicht für die Lösung des Problems. Wir können die Sache auch umdrehen. Wenn wir sagen, es habe eine Untersuchung stattgefunden, dann muß wohl ETWAS untersucht worden sein. Denn was soll es heißen, eine Untersuchung habe stattgefunden, allerdings ohne daß es der Fall war, daß etwas untersucht wurde? Wer untersucht, untersucht etwas. Richtig ist auch: man kann etwas nicht nur auf eine Weise untersuchen. Etwas auf DIESE Weise zu untersuchen, ist nicht dasselbe, wie etwas auf JENE Weise zu untersuchen. Was für eine Untersuchung wichtig ist, hängt davon ab, von welcher Art die Untersuchung ist. Die Art, wie man etwas untersucht, hängt davon ab, was man wissen will. Damit hängt auch das, was wichtig ist, vom Interesse ab. Das Interesse legt fest, ob dieses oder jenes Verhalten, diese oder jene Beschaffenheit des Untersuchten interessant sind. Aber wenn man dies oder das über etwas wissen will, dann muß das, worüber man etwas wissen will, FESTSTEHEN. WAS untersucht wird, darf sich nicht unter der Hand verändert haben, wenn man sagen will, jener habe die Sache unter diesem und dieser unter jenem Gesichtspunkt untersucht. Wenn Frege einmal sagt, das Wesen hänge vom Zweck der Untersuchung ab, und dann wieder meint, das Wesen gehe der Untersuchung voran, dann verwendet er, wie wir nun wohl sagen können, stillschweigend zwei Begriffe des Wesens: einmal im Sinne des WAS, und einmal im Sinne des WIE. Dieser stillschweigenden Verwendung von zwei Begriffen des Wesens korrespondiert bei Frege die stillschweigende Benutzung zweier Begriffe der Logik. Erinnern wir uns an den Anfang von Freges "Logischer Untersuchung" über den Gedanken, wonach zwar alle "Wissenschaften Wahrheit als Ziel" haben, "aber die Logik [...] sich noch in ganz anderer Weise mit ihr (beschäftigt)", indem sie "sich zur Wahrheit etwa so (verhält) wie die Physik zur Schwere oder zur Wärme. Wahrheiten zu entdecken, ist die Aufgabe aller Wissenschaften: der Logik kommt es zu, die Gesetze des Wahrseins zu erkennen." (G, 30) Der Physik, soll das wohl heißen, obliegt es, die Gesetze der Schwere oder der Wärme zu erkennen. Diese Gesetze sagen uns, wie es sich mit der Schwere und der Wärme verhält, ob es um beide so oder so bestellt ist. Die Gesetze geben uns, kurz gesagt, Auskunft über das Wie von Schwere und Wärme. Und wie steht es um das Was? Sicher müssen wir das Was beider kennen - und sei es nur deshalb, daß wir nicht die Gesetze der Schwere mit denen der Wärme verwechseln. Wer sagt uns nun, WAS Schwere und Wärme sind? Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist es wieder die Physik, die uns sagt, was Schwere und Wärme sind. In diesem Fall hätte die Physik insofern einen Doppelcharakter, als ihr zwei Aufgaben zukämen: Antworten auf die Frage nach dem Was und und die Frage nach dem Wie zu geben. Übertragen auf die Logik bedeutete dies: sie sagt uns einerseits, WAS Wahrheit ist, wie sie uns andererseits auch die Gesetze des Wahrseins, sein WIE, liefert.*6* Die andere Möglichkeit besteht darin, daß das Was den Wissenschaften der Physik und der Logik jeweils vorgegeben ist. Hier stünde das, was schwer, warm und wahr ist, fest, ohne daß es eine Physik oder eine Logik - verstanden als Suche nach den jeweiligen Gesetzen - geben müßte. II. 3. Wie soll man sich nun, im Falle der Logik, die Verbindung zwischen der Antwort auf die Frage nach dem Was der Wahrheit und der Antwort auf die Frage nach ihrem Wie vorstellen? Bei Frege heißt es kurz nach der zuletzt erwähnten Stelle: "Um jedes Mißverständnis auszuschließen und die Grenze zwischen Psychologie und Logik nicht verwischen zu lassen, weise ich der Logik die Aufgabe zu, die Gesetze des Wahrseins zu finden, nicht die des Fürwahrhaltens oder Denkens. In den Gesetzen des Wahrseins wird die Bedeutung des Wortes wahr entwickelt." (G, 31) Aber auch hier stoßen wir wieder auf ein Problem. Oben sprach Frege so, als hätte die Logik eine doppelte Beziehung zur Wahrheit: einmal hinsichtlich ihres Zieles, dem Finden wahrer Gesetze, und dann bezüglich des Gegenstandes der Untersuchung, dem Wahrsein. Nun sieht es so aus, als fielen beide Beziehungen zusammen, indem die Gesetze des Wahrseins die Bedeutung des Wortes "wahr" entwickeln, so daß man nicht wissen kann, was "wahr" bedeutet, bevor man nicht weiß, wie es sich mit der Wahrheit verhält, also die Gesetze des Wahrseins kennt. Aber wir hatten ja gerade gesehen, daß man das, was etwas ist, von dem unterscheiden muß, wie es ist, wenn einem nicht unter der Hand die Dinge durcheinandergeraten sollen. Wenn erst die Gesetze des Wahrseins uns sagen, was das Wort "wahr" bedeutet, und wenn die Logik diese Gesetze findet, wie soll es das Wort "wahr" dann anstellen, der Logik die Richtung zu weisen? Wenn aber das Wort "wahr" der Logik die Richtung nicht weisen kann, woher wissen wir dann, daß das, was wir für die Gesetze des Wahrseins halten, auch wirklich diese Gesetze und nicht in Wirklichkeit die Gesetze des Gutseins oder des Schönseins sind, soweit es überhaupt wirkliche Gesetze sind? So wie Frege oben zwischen dem Zeitlichen und dem Zeitlosen hin und her schwankt, so hier zwischen zwei Ansätzen zur Charakterisierung der Logik. Bezogen auf die Untersuchung von etwas Gegebenem, also hinsichtlich der Anwendung von Logik, Ästhetik und Ethik, scheint es, als stünden diese alle auf einer Stufe. Sie gleichen sich, insofern jede Disziplin von einem Wort die Richtung gewiesen bekommt; sie unterscheiden sich, insofern es jeweils ein anderes Wort ist, welches einer Disziplin die Richtung weist: der Ästhetik das Wort "schön", der Ethik das Wort "gut" und eben der Logik das Wort "wahr". Aber dies alles geht natürlich nur, wenn schon klar ist, was die Worte "wahr", "gut" und "schön" bedeuten! Aber insofern erst durch die Gesetze des Wahrseins die Bedeutung des Wortes "wahr" entwickelt wird, kann das eben umrissene Bild, zumindest was den einen Fall betrifft, eben nicht das richtige sein. Um hier einen Ausweg zu finden, empfiehlt es sich, den von Frege selbst herangezogenen Vergleich zur Naturwissenschaft genauer zu betrachten. Inwiefern kann man sagen, es seien die Worte "warm" und "schwer", die der Physik den Weg weisen, so wie Frege von der Logik sagt, das Wort "wahr" weise ihr den Weg? Sind es denn nicht die Wärme und die Schwere, die der Physik die Richtung vorgeben? Die Physik untersucht doch sowenig den Platz des Wortes "schwer" in der Sprache, wenn sie wissen will, was die Gesetze der Schwere sind, wie die Mineralogie sich um das Wort "Bergkristall" kümmert, wenn sie der Frage nachgeht, woraus ein gegebener Bergkristall besteht. Liegt der Unterschied also darin, daß man die Wahrheit - im Unterschied zu einem Bergkristall - sowenig in die Hand nehmen und betrachten kann, wie man dies mit einem Gedanken tun kann, so daß man, WENN man die Wahrheit wie einen Kristall betrachten KÖNNTE, man nicht mehr auf Hilfsmittel angewiesen wäre, sondern den Gegenstand DIREKT untersuchen könnte? (Vgl. das Zitat von G, 40, Fn. oben.) Angenommen, ein Mineraloge hält uns einen Bergkristall hin und fordert uns auf, ihn genau zu betrachten. Können wir hier nicht fragen: "WAS sollen wir genau betrachten?"? Freilich können wir dies. Angenommen, wir bekämen zur Antwort: "Nun, natürlich den Bergkristall." - welchen Nutzen hätte diese Antwort für uns? Kann denn das Wort "Bergkristall" nicht alles Mögliche bedeuten - die Form des Gegenstandes, seine Farbe, das Material etc.? Solange wir nicht wissen, was das Wort "Bergkristall" bedeutet, nützt es uns gar nichts, wenn uns einer gezeigt wird. Wenn wir wissen, was das Wort bedeutet, dann wissen wir, was ein Bergkristall ist.*7* Dieses Wissen ist unabhängig von dem Wissen, welches wir noch über Bergkristalle erlangen mögen, einschließlich Wissen um Gesetzmäßigkeiten. Zu wissen, was die Bedeutung von "Bergkristall" ist, ist deshalb nicht gleich unabhängig von ALLEM Wissen und JEGLICHER Erfahrung. Zum Beispiel müssen wir wissen, wann wir sagen dürfen, daß die Merkmale, die für einen Bergkristall PER DEFINITIONEM bestimmend sind, vorliegen und wann nicht. Aber die Erfahrung, derer wir hierfür bedürfen, wäre nicht alle Erfahrung, die wir mit Bergkristallen machen könnten. Nicht alles Wissen findet seinen Niederschlag in Begriffsbestimmungen. Richtig ist aber auch, daß sich mit zunehmendem Wissen über Bergkristalle auch ein Bedürfnis fühlbar machen kann, die gegebene Bedeutung des Wortes zu ändern. In der Tat wäre es verhängnisvoll, wenn man übersehen würde, daß die Begriffe der Wissenschaften sich in Abhängigkeit von dem, was man weiß oder zu wissen glaubt, verändern und von denen des Alltags entfernen. Gleichwohl muß man man beides auseinanderhalten, sonst käme man leicht zu einer Idee, die sich so ausdrücken ließe: "In den Gesetzen der Mineralogie wird die Bedeutung des Wortes Bergkristall entwickelt.". Aber dann kann es natürlich auch nicht mehr den Fall geben, daß ein Gesetz der Mineralogie sich als nur vermeintliches Gesetz herausstellt. Ist es diese Vermengung zweier Sachlagen, was Frege sagen läßt: "In den Gesetzen des Wahrseins wird die Bedeutung des Wortes wahr entwickelt."? II.4. Das Gegenstück zu Freges letztzitierter Bemerkung ist die Feststellung, wonach jeder Versuch scheitert "[...], das Wahrsein zu definieren. Denn in einer Definition gäbe man gewisse Merkmale an. Und bei der Anwendung auf einen besonderen Fall käme es dann immer darauf an, ob es wahr wäre, daß diese Merkmale zuträfen. So drehte man sich im Kreise. Hiernach ist es wahrscheinlich, daß der Inhalt des Wortes wahr ganz einzigartig und undefinierbar ist." (G, 32) Daß etwas einzigartig ist, bedeutet, daß es nicht so ist, wie es gewöhnlich ist. Anders gesagt: die Einzigartigkeit des Wortes "wahr" besteht darin, daß es sich mit anderen Worten nicht so verhält wie mit ihm. Die Worte "Schwere", "Wärme" und "Bergkristall" lassen sich definieren, ohne daß man sich bei der Anwendung der Definitionen im Kreise drehte. Aber das ist nicht alles, was das Wahrsein unterscheidend kennzeichnet. Es selbst kann zwar nicht ohne Zirkel definiert werden, aber auch für die Anwendung der Definitionen anderer Worte bedarf es der Kenntnis des Wahrseins insofern, "als es immer darauf ankäme, ob es wahr wäre, daß die besagten Merkmale zuträfen". Daß man sich im Kreise bewegt, wenn man versucht, den "Inhalt des Wortes wahr " zu definieren, liegt also daran, daß man überhaupt kein Wort definieren kann, ohne daß man in einem Anwendungsfall entscheiden kann, "ob es wahr wäre, daß diese Merkmale zuträfen." Münchhausen kann zwar, wenn die Umstände günstig sind, jeden am Schopfe aus dem Sumpf ziehen, nur eben sich selbst nicht. Dann aber muß man sagen, daß die Logik - als Untersuchung des Wahrseins - ALLEN Untersuchungen überhaupt vorangeht, insofern für jede Untersuchung feststehen muß, was untersucht wird. Mit den Worten aus Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus"*8* gesagt: "Die Logik ist VOR jeder Erfahrung - daß etwas SO ist. Sie ist vor dem Wie, nicht vor dem Was." (TLP 5.552) Wenn wir von der Logik als Untersuchung des Was, verstanden im Sinne von "Kern der Sache" oder "Wesen der Sache" reden, dann können wir statt von der Logik auch von der Philosophie reden. Denn diese ist der Ort, wo traditionell die Untersuchungen hingehören, die den Kern oder das Wesen einer Sache betreffen. Insofern die Logik aber jeder möglichen Untersuchung VORANGEHT, steht sie nicht auf einer Stufe mit den anderen Wissenschaften, etwa der Physik oder Psychologie. "Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften. (Das Wort »Philosophie« muß etwas bedeuten, was über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften steht.)" (TLP 4.111) Es gibt nicht nur eine Naturwissenschaft; und insofern die Philosophie über oder unter den Naturwissenschaften steht, kann man in ihr Gebiete unterscheiden, die jeweils über oder unter einer einzelnen Wissenschaft liegen. Wie etwa in diesem Fall: "Erkenntnistheorie ist die Philosophie der Psychologie." (TLP 4.1121) Da nun aber auch gilt: "Die Psychologie ist der Philosophie nicht verwandter als irgendeine andere Naturwissenschaft." (TLP 4.1121) kann man auch sagen, daß die Logik JEDER möglichen Untersuchung vorangeht. Insofern geht es ihr nicht um das Wesen von diesem oder jenem, sondern um diese nur, insofern es ihr um DAS WESEN DER WELT geht. Nun können wir die Erfahrung nachvollziehen, die Wittgenstein vor langer Zeit gemacht hat: "Ja, meine Arbeit hat sich ausgedehnt von den Grundlagen der Logik zum Wesen der Welt."*9* Wie kann aber die Logik vor jeder "Erfahrung - daß etwas SO ist" sein, ohne zugleich auch vor jeder "Erfahrung, WAS etwas ist", zu sein? Erfährt man denn, indem man erfährt, was etwas ist, nicht auch etwas darüber, wie es ist? Das Was und das Wie sind ja nicht voneinander getrennt wie zwei Bergkristalle. Wenn man das Was und das Wie aber nicht voneinander trennen kann - inwiefern kann man dann sagen, die Logik sei eine Untersuchung von etwas? "Die Erfahrung , die wir zum Verstehen der Logik brauchen, ist nicht die, daß sich etwas so oder so verhält, sondern daß etwas IST [...]" (TLP 5.552) Erinnern wir uns an Larrys Unbehagen. Es entspringt seinem Selbstbild. Ist Larry, wenn er tut, was der Boß will, noch ein ordentlicher Verbrecher? Wohl kaum. Aber ein normaler Bürger ist er wohl auch nicht. Vielleicht sagt man am besten, Larry sei ein "Verbrecher", also in gewissem Sinne weder ein Verbrecher noch kein Verbrecher. Jedenfalls sind Anführungszeichen ein brauchbares Mittel, um sich in solchen Ausdrucksschwierigkeiten zu behelfen. Blicken wir von hier zurück auf die Anführungszeichen im letzten Zitat. Worum geht es dort? um eine Erfahrung oder um keine Erfahrung? Nun, der ganze Abschnitt geht so: "Die Erfahrung , die wir zum Verstehen der Logik brauchen, ist nicht die, daß sich etwas so oder so verhält, sondern daß etwas IST: aber das ist eben KEINE Erfahrung." (TLP 5.552) WAS "erfährt" man dann, wenn man die Keine- Erfahrung hat, daß etwas ist? Nach Wittgenstein unter anderem dies: "Die Welt ist alles, was der Fall ist. [...] Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten." (TLP 1 und 2) II.5. Daß eine "Erfahrung" keine Erfahrung ist, das, könnte man beinahe sagen, versteht sich von selbst. Wenn nun das, was man zum Verstehen der Logik braucht - wie immer man es nennen mag - keine ERFAHRUNG ist, dann erfährt man auch nicht etwas, was man mit einem wahren oder falschen Satz darstellen kann, der besagt, was mit einer bestimmten logisch-philosopischen Untersuchung herausgefunden wurde. Das ist, für Wittgenstein, auch nicht die Aufgabe der Philosophie. "Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. [...] Das Resultat der Philosophie sind nicht philosophische Sätze , sondern das Klarwerden von Sätzen." (TLP 4.112) Nun ahnt man, daß man Sätze wie "Die Welt ist alles, was der Fall ist." nicht einfach so nehmen darf, wie sie dastehen. (Wer seinen sprachlichen Instinkt nicht verloren hat, hat es freilich gleich geahnt.) Denn nehmen wir an, wir stoßen auf etwas, was der Fall ist. Gehört es dann zur Welt oder nicht? Wenn es nicht zur Welt gehört, wie kann es dann der Fall sein? Wenn es aber unmöglich ist, daß es nicht zur Welt gehört, was sagt uns dann der Satz, daß die Welt alles ist, was der Fall ist? Oder soll es heißen, die Welt sei alles was der Fall ist - vorausgesetzt, es fehlt nichts? Aber dann wird der Unsinn wohl offensichtlich. Und nicht viel besser sieht es mit dem zweiten Satz aus. Andererseits, was sonst sollte bei einer logischen Untersuchung herauskommen? Angesichts der zuletzt zitierten Bemerkungen erscheinen nun manche Sätze des TLP in neuem Licht. Man darf sie nicht als Feststellungen nehmen, sondern als Erläuterungen. "Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen." (TLP 4.112) Was erläutert werden soll, sind Gedanken, denn diese sind ",gleichsam, trübe und verschwommen" (ebd.). Deshalb bringen sie uns auf die unsinnigsten Ideen, wenn wir versuchen, nicht mit ihnen, sondern über sie nachzudenken - etwa wie Frege es tut, wenn er darüber nachdenkt, was man eigentlich tut, wenn man denkt "zwei mal zwei gleich vier". Die Trübe und Verschwommenheit der Gedanken haben ihren Grund in der schon von Frege vermerkten Verbindung der Gedanken mit der Sprache. "Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; [...]" (TLP 4.002) Philosophie ist, um im Bild zu bleiben, eine Entkleidung des sprachlich verhüllten Gedankens. Sie legt damit das bloß, was den Gedanken trübe und verschwommen macht. Ist der sprachlich verkleidete Gedanke nun AN SICH trübe und verschwommen? Keineswegs, denn ";[...] die äußere Form des (ist) nach ganz anderen Zwecken gebildet ... als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen." (TLP 4.002) Wie gesagt: "nach ganz anderen Zwecken", also immerhin nach irgendwelchen Zwecken. FÜR DIESE ist der Gedanke nicht trübe und verschwommen, sondern zweckmäßig. (Und falls doch trübe und verschwommen, dann macht dies in diesem Fall nichts aus.) Aber wie oben schon: Klarheit im Einzelnen geht einher mit Trübheit im Ganzen. Trübe und verschwommen ist der Gedanke also erst für den, der ihn daraufhin betrachtet, was er AN SICH ist, also für den, der ihn philosophisch betrachtet. Wenn gesagt wird: "Alle Philosophie ist »Sprachkritik«." (TLP 4.0031) dann darf man folgendes nicht vergessen: "Alle Sätze unserer Umgangssprache sind tatsächlich, so wie sie sind, logisch vollkommen geordnet." (TLP 5.5563) Philosophie als »Sprachkritik« ist, mit anderen Worten, KRITIK der Philosophie. II.6. Allerdings steht es mit den Sätzen des TLP, die uns als Deutungshilfen seiner anderen Sätze dienen sollen, auch nicht besser, als mit den in erster Instanz deutungsbedürftigen. Hegel bringt es auf den Punkt, was schief klingt an ihnen, wenn er am Beispiel Kants ausführt, daß von diesem: "[...] mit Bewunderung angeführt (wird), daß er PHILOSOPHIEREN, nicht PHILOSOPHIE lehre; als ob jemand das Tischlern lehrte, aber nicht, einen Tisch, Stuhl, Schrank usf. zu machen."*10* Freilich wäre nichts falscher, als zu sagen, diese Probleme seien dem Autor der "Logisch- philosophischen Abhandlung" nicht bewußt. Er weist vielmehr selbst darauf hin: "Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig." (TLP 6.54) "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." (TLP 7) Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie weit wir uns inzwischen von dem entfernt haben, was man "Freges Denkungsart" nennen könnte. Wozu, könnte man mit diesem fragen, alle diese Verrenkungen? Kann man nicht geradeheraus sagen, was Sache ist, und da, wo man es nicht kann, diese Schwierigkeit markieren und Gründe für sie geben? - So, wie Frege selbst es versucht, wenn er von den Schwierigkeiten spricht, die die Bildlichkeit der Sprache bereitet, oder wenn er meint, man könne das Wahrsein nicht definieren. Otto Neurath verhält sich in der angedeuteten Weise, wenn er TLP 6.54 lakonisch kommentiert: "Wir brauchen keine metaphysische Erläuterungsleiter."*11* Es mag Grenzen des Definierbaren geben, aber sie so weit auszudehnen, wie Wittgenstein es zu tun scheint, heißt schlicht und einfach, jede Hoffnung aufzugeben, man könne das Wissen von der Art des "zwei mal zwei gleich vier" doch irgendwann auf die Bereiche ausdehnen, um die es uns in der Philosophie geht. Was Neurath verteidigt - und worin er wohl auch in Freges Sinne handelt -, ist die Idee der Philosophie als Wissen(schaft). Neurath exemplifiziert zugleich ein Schema der Deutung des "Tractatus", das als solches nicht an eine bestimmte Philosophie, etwa die des Wiener Kreises, gebunden ist. Es ist von allgemeiner Anwendbarkeit. Insbesondere kann man es auf eine Weise anwenden, die der Anwendung Neuraths genau entgegengesetzt ist: man nimmt nur die metaphilosophischen (mystischen) Passagen und läßt die anderen weg. Man erhält dann in gewissem Sinne durchaus eine alternative Deutung. Frege meint also man könne Wahrheit nicht definieren. Das immerhin könne man wohl klar sagen. Mit Wittgenstein könnte man darauf entgegnen: WAS kann man hier nicht definieren? Wie kann ich wissen, daß es das Wahrsein ist - und nicht etwa das Gutsein oder Schönsein -, was man nicht definieren kann? Wenn man es nicht definieren kann, dann kann man auch nicht sagen, daß man es nicht definieren kann, weil man, um dies (wahrer- oder falscherweise) sagen zu können, in der Lage sein muß, anzugeben, was das ist, was man nicht definieren kann. Das allgemeine Problem mit Freges Worten ist dies: so wie er es darstellt, ist das Reich der Gedanken belanglos; bei genauerem Hinsehen zeigt sicht, daß wir nicht einmal sagen können, daß hier etwas sei, was belanglos ist, weil wir gar keinen Zugang zu diesem Etwas haben können. Ja, wir könnten nicht einmal sagen, daß wir dies nicht sagen können. Und dies führt nun zum "Tractatus". Dort wird das Problem deutlich ausgesprochen. Es ist also kein leerlaufendes Rad, wenn Wittgenstein sagt, daß das, was er sagt, Unsinn sei. Freilich ist auch nicht zu sehen, wie es etwas bewegen soll. Insofern spiegelt sich in den alternativen "Tractatus"-Deutungen eben auch das Dilemma, auf welches schon Wilhelm Busch hinweist. Die einander widersprechenden Deutungen sind sozusagen ein Echo der beiden Dinge, von denen Wilhelm Busch meint, daß sie wohl leider nicht zusammen zu haben sind. In einem Sinne natürlich muß man sagen, daß der "Tractatus" selbst beide Seiten enthält. Man hat sie gewissermaßen beide, ohne zu sehen, wie sie zusammenzupassen, ein einheitliches Ganzes bilden. So, wie sie dastehen, heben sie sich gegenseitig auf, oder widersprechen sie einander. Man kann hier, wie Neurath, einfach eine Seite auswählen. Aber wer mit Frege, Schopenhauer und Busch fühlt, ist dagegen leicht versucht, nach einer Lesart zu suchen, die den manifesten Widerspruch der verschiedenen Sätze zu einem nur scheinbaren macht, den Widerspruch so auflöst und beide Seiten vereint. II.7. Einen ersten Schritt in Richtung auf eine solche Lesart findet man bei Frank P. Ramsey. Ramsey schreibt: "Philosophy must be of some use and we must take it seriously; it must clear our thoughts and so our actions. Or else it is a disposition we have to check, and an inquiry to see that this is so; i.e. the chief proposition of philosophy is that philosophy is nonsense. And again we must then take seriously that it is nonsense, and not pretend, as Wittgenstein does, that it is important nonsense!"*12* Ramsey zufolge geht es also nicht an, Wittgensteins Erklärung der philosophischen Sätze zu Unsinn einfach zu ignorieren. Aber dafür sollten wir dann sicher die anderen, die unsinnigen, expatriieren. Denn wie sonst sollen wir besagte "chief proposition of philosophy" wirklich ernstnehmen? Freilich gerät man mit Ramseys Lesart in Schwierigkeiten, sobald man sich fragt, ob denn nun die "chief proposition of philosophy" selbst unter das Unsichtsverdikt fällt oder nicht. Auf den ersten Blick muß sie es: insofern sie nämlich zum "Tractatus" gehört. In gewissem Sinne gleicht sie dann dem Paradox "Dieser Satz ist unsinnig.". Aber nun ist es schwer zu sehen, wie die "chief proposition of philosophy" wahr sein kann. Wenn man diese Konsequenz nicht will, dann bleibt nur die Möglichkeit, dem "Tractatus" eine Struktur aufzuerlegen, die die Scheidung zwischen den beiden Satzarten plausibel macht. Andernfalls läuft das, was Wittgenstein im "Tractatus" sagt - wenn wir Ramseys Deutung folgen -, auf eine moderne Fassung eines alten Satzes hinaus, auf das "Ich weiß, daß ich nichts weiß" des Sokrates.*13* In Ramseys kurzer Bemerkung findet sich kein Zeichen dafür, daß Ramsey sich dieses Problems bewußt war. Ramsey unterscheidet mit seiner Lesart die Sätze des TLP nach dem Kriterium der Gegenstände, von denen die Sätze handeln. Manche Sätze im TLP handeln von der Welt, der Logik, dem Subjekt etc., während andere Sätze von den Sätzen handeln, die von der Welt, der Logik, dem Subjekt etc. handeln. Mit anderen Worten: manche Sätze sind philosophische Sätze, während andere meta- philosophische Sätze sind. Neurath, können wir nun sagen, wirft die Meta-Philosophie hinaus, weil sie für ihn nicht stimmen kann; Ramsey meint, wenn sie stimmt, sollte man die philosophischen Sätze über Bord werfen. Beide folgen dabei dem gleichen Bild vom Satz als etwas, das wesentlich wahr oder falsch ist. Man sieht, inwiefern Ramseys Lesart zwar dem von Neurath exemplifizierten Schema folgt, allerdings eine verfeinerte Variante der Anwendung des Schemas darstellt. Für Ramsey stehen alle Sätze des TLP - also sowohl die Unsinnigkeitserklärung, als auch die durch diese zu Unsinn erklärten Sätze - ihrem Gewicht nach auf einer Stufe. Dennoch folgt Ramsey Neurath insofern, als seine Ablehnung der Unterscheidung zwischen bedeutendem und unbedeutendem Unsinn einhergeht mit der Behandlung der Sätze des TLP, die von der Unsinnigkeit des TLP reden, als entweder wahren oder falschen Sätzen, und damit als Ausdruck von Wissen(schaft). Ramseys Bemerkung deutet allerdings in gewissem Sinne schon über sich hinaus. Seine Bemerkung läßt die Ähnlichkeit zwischen dem "Tractatus" und dem Satz des Sokrates fast handgreiflich werden. Diese Ähnlichkeit gibt uns einen Fingerzeig, wie unser von Wilhelm Busch auf den Punkt gebrachtes Problem am Beispiel des "Tractatus" zu lösen sein könnte. Was wir brauchen, muß dem Doppelaspekt der Philosophie - Wahrheit und Tiefe, oder Logik und Mystik - gerecht werden, ohne der Wahrheit oder der Logik einen Teil des Textes und der Tiefe oder der Mystik einen anderer zuzuweisen. Da wir beide Aspekte im TLP vorfinden, nimmt unser Problem nun die Form an, den Doppelaspekt im Text als Ganzem, und insofern in JEDEM Satz, zu zeigen. Hier kommt die Gestalt des Sokrates ins Spiel, insofern sie die Verkörperung einer Idee ist - der Idee der PHILOSOPHIE ALS IRONIE.*14* III.1. Was ist das - Ironie? Und inwiefern kann uns ihr Begriff helfen, unser Problem der Vermittlung des Wahren und Klaren mit dem Vollen und Schweren - als Problem nun für uns nun in der Form der Frage der Vermittelbarkeit der beiden "Tractatus"-Deutungen erscheinend - zu lösen? Mir scheint, daß beim großen "Schüler" des Sokrates, bei S¢ren Kierkegaard, der Ansatz zu einer Lösung zu finden ist. Sich auf Kierkegaard zu berufen, ist keine leichte Sache. Denn nicht jeder Text, der aus seiner Feder stammt, trägt auch seinen Namen. Vielmehr hat Kierkegaard ein in sich verschachteltes, kompliziertes System von Pseudonymen verwendet (oder die Pseudonyme haben sich Kierkegaards bedient). Wie wichtig ihm die Beachtung dieser Tatsachen ist, macht folgende Bemerkung in einem der späteren Texte, die er auch mit seinem Namen verbunden hat - "Eine erste und eine letzte Erklärung" - deutlich: "Es ist daher mein Wunsch und meine Bitte, daß man mir, wenn es jemand einfallen sollte, eine einzelne Äußerung aus den Büchern zu zitieren, nur den Dienst erweisen wollte, die Namen der respektiven pseudonymen Verfasser zu zitieren, nicht meinen eigenen, das heißt, so zwischen uns zu teilen, daß die Äußerung weiblich dem Pseudonym, die Verantwortung bürgerlich mir gehört."*15* Dieser Wunsch ist keine Marotte Kierkegaards. Seine Pseudonymität oder Polyonymität hat "keinen ZUFÄLLIGEN Grund in (s)einer Person", wie etwa Furcht vor den Folgen seines Tuns. Sie hat vielmehr "einen WESENTLICHEN Grund in der PRODUKTION selbst, die um der Replik, um der psychologisch variierten Individualitäts- Verschiedenheit willen die Rücksichtslosigkeit in Gut und Böse, in Zerknirschung und Ausgelassenheit, in Verzweiflung und Übermut, in Leid und Jubel und so weiter dichterisch erforderte, die nur von der psychologischen Konsequenz ideell begrenzt ist, wie sie sich keine faktisch wirkliche Person in der sittlichen Begrenzung der Wirklichkeit erlauben darf oder sich erlauben wollen kann. Das Geschriebene ist also wohl mein Eigenes, aber nur soweit ich der PRODUZIERENDEN dichterisch-wirklichen Individualität ihre Lebensanschauung durch die Hörbarkeit der Replik in den Mund gelegt habe. [...] So ist in den pseudonymen Büchern nicht ein einziges Wort von mir selbst; nur als Dritter habe ich eine Meinung über sie, nur als Leser ein Wissen von ihrer Bedeutung, ich habe nicht das entfernteste private Verhältnis zu ihnen, wie es ja unmöglich ist, ein solches zu einer doppelt-reflektierten Mitteilung zu haben. Ein einziges, von mir persönlich, in meinem eigenen Namen geäußertes Wort würde die anmaßende Selbstvergessenheit sein, die sich mit diesem einen Wort zuschulden kommen ließe, die Pseudonyme, dialektisch gesehen, wesentlich vernichtet zu haben."*16* Kierkegaards System der Pseudonymität und Polynymität kann man selbst schon als Anwendung der Einsichten betrachten, die er in seiner Dissertationsschrift von 1841 "Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates"*17* ausspricht. Von einer Anwendung ann man insofern reden, als ein Pseudonym erlaubt, etwas sowohl zu sagen als es auch nicht zu sagen. In diesem Sinne heißt es in der Dissertation (prophetisch?): "Die Ironie kann sich aber auch zeigen, indem der Ironiker versucht, DIE UMGEBUNG betreffs seiner eigenen Person AUF FALSCHE FÄHRTE ZU BRINGEN." (I, 255)*18* Ist dies durch Äußerliches veranlaßt, so haben wir es mehr mit Verstellung zu tun, meint Kierkegaard, während der Ironiker als solcher um so mehr hervortritt, je weniger dies dem Äußeren geschuldet ist. (I, 256) Oben hieß es, in Parenthese, die Pseudonyme hätten sich Kierkegaards bedient. Bezogen auf den Punkt, um den es hier geht, heißt dies: die Einstellung, die sich in Kierkegaards Dissertation ausspricht, drückt sich später im System der Pseudonyme aus. Es ist dies allerdings keine EINFACHE Fortsetzung, wie man sogleich sieht, wenn man bedenkt, daß die Pseudonyme sich ihrerseits nun auch der Ironie bedienen können - was sie tatsächlich zur Genüge tun. Es ist aber auch nicht nur eine ETWAS KOMPLEXERE Angelegenheit, sondern der CHARAKTER DER SACHE wandelt sich. III.2. Zunächst zur Komplexität. Wenn einer die Ironie als REDNERISCHE FIGUR benutzt, dann sagt er das Gegenteil von dem, was er meint (vgl.: I, 251f.). Wer zum Beispiel ironisch bemerkt, dieser Hinweis sei recht wichtig, der meint, er sei ziemlich belanglos. Wenn nun Einer ironisch einen Anderen ironisch sagen läßt, dieser Hinweis sei recht wichtig, dann meint der Andere, er sei belangslos - allerdings meint der Erste dies nun, wie gesagt, wieder ironisch, was darauf hinausläuft, daß der Erste meint, der Andere hätte im Ernst gesagt, der Hinweis sei recht wichtig. Als rednerische Figur funktioniert die Ironie also wie eine (klassische) Negation. Wenn es sich bei der Ironie im Sinne Kierkegaards nur um eine Redefigur handelte, dann wäre sie nicht mehr als eine Form der Verneinung, die nicht als solche erscheint. Das System der Pseudonyme als Anwendung dieser Art von Ironie wäre insofern nicht mehr als eine verborgene Verneinung, die hier dem Zwecke dienen könnte, möglichem Ärger (mit dem Zensor, dem Publikum etc.) aus dem Wege zu gehen. Dies soll sie aber für Kierkegaard erklärtermaßen nicht sein. Wo kommt also die neue Stufe der Ironie her, wie kommt der Wandel ihres Charakters ins Spiel? Nehmen wir ein Beispiel. Ein Chef gibt als solcher nur wichtige Hinweise. Allerdings sind manche dieser wichtigen Hinweise, insofern sie als Hinweise betrachtet werden, wichtig, während andere belanglos sind. Der Untergebene als solcher findet, daß alle Hinweise, die sein Chef als solcher ihm gibt, als Hinweise des Chefs wichtige Hinweise sind. Allerdings findet der Untergebene, insofern er nicht Untergebener ist, daß manche dieser wichtigen Hinweise als Hinweise wichtig sind, während andere belanglos sind. Die Ironie erlaubt es dem Untergebenen, dem Chef stets und ständig zu geben, was des Chefs ist: die Anerkennung aller seiner Hinweise als wichtige Hinweise. Er geht damit solche Bindungen ein, die er in dieser Rolle nach herrschender Meinung auch eingehen sollte. Zugleich macht er sich so nicht selbst vollständig zum Untergebenen, das heißt: der Untergebene kann zugleich auch stets und ständig Denkender bleiben. Als Untergebener ist er ein Gebundener - gebunden an das Wort des Chefs; als Denkender ist er ungebunden, also frei. Die Ironie gibt ihm die Möglichkeit, beides zugleich zu sein. In dem Grade, in welchem man zu der Ansicht neigt, daß Untergebener-Sein und Nichtuntergebener-Sein, Frei-Sein und Unfrei-Sein sich gegenseitig ausschließen, ist die Ironie der Versuch, was sich ausschließt, zugleich zu haben, also keine Negation mehr, sondern, sozusagen, der "praktizierte Widerspruch". Selbst wenn man geneigt ist, so zu reden, wird man kaum leugnen können, daß dies, in Kierkegaards Worten, immer noch eine Art von dem Äußeren geschuldeter Verstellung wäre. Der Ironiker wäre hier noch nicht rein als solcher hervorgetreten. Welcher Schritt fehlt uns also noch? Betrachten wir den folgenden Fall. Wenn wir nur wissen, daß etwas nicht rot ist, wissen wir dann schon, ob es gelb, grün oder farblos ist, oder ob es vielleicht gar außerhalb des Bereichs dessen ist, von dem man sagen kann, es habe eine Farbe? Wohl kaum. Aber wie ist es dann mit dem Fall, in dem wir nur wissen, daß es nicht der Fall ist, daß etwas nicht rot ist? Ist es dann rot? Wenn "nicht rot" heißen kann "nicht zum Bereich dessen gehörend, was eine Farbe haben kann", dann kann "nicht nicht rot" bedeuten "zum Bereich dessen gehörend, was eine Farbe haben kann". Und dies heißt freilich nicht, es habe die rote Farbe, auch wenn dies nicht ausgeschlossen ist. Aber insofern "nicht rot" auch bedeuten kann "eine andere Farbe als rot habend", und insofern "eine andere Farbe als rot habend" nicht mit "nicht zum Bereich dessen gehörend, was eine Farbe haben kann" vereinbar ist, kann die Verneinung von "nicht rot" nicht nur ganz Verschiedenes bedeuten, sondern sogar einander Ausschließendes. Wenn wir nun sagen wollen, daß wir einen Satz nur dann verstehen, wenn wir auch seine Verneinung verstehen, dann verstehen wir den Satz "a ist nicht rot" nicht, solange wir nicht wissen, in welchem Sinne die Verneinung IN diesem Satz zu verstehen ist, denn erst dieses Verständnis erlaubt es uns, die Verneinung des GESAMTEN Satzes zu verstehen. Denn wenn wir erst einmal gesehen haben, daß "nicht rot" ganz Verschiedenes bedeuten kann, dann sehen wir auch, daß wir für die verschiedenen Bedeutungen jeweils ganz verschiedene Zeichen an die Stelle von "nicht rot" setzen können. Wenn wir aber für "nicht rot" im Sinne von "eine andere Farbe als rot" etwa schreiben "(nicht rot)1" und für "nicht rot" im Sinne von "nicht zu Bereich dessen gehörend, was eine Farbe haben kann" das Zeichen "(nicht rot)2" , dann verstehen wir den Satz "a ist nicht rot" erst dann, wenn wir wissen, ob wir in diesem Satz für "nicht rot" "(nicht rot)1" oder "(nicht rot)2" zu setzen haben. Erst dann, wenn wir dies wissen, verstehen wir auch, was es heißt, wenn einer sagt "Es ist nicht der Fall, daß a nicht rot ist", weil wir erst dann wissen, WELCHER Satz hier überhaupt verneint werden soll. Denn es sind - was durch die Gleichheit des Ausdrucks verschleiert wird - ja ganz verschiedene Sätze, um die es sich hier handelt. Die Gleichheit des Zeichens verschwindet zwar, wenn wir von "nicht rot" zu "(nicht rot)1" und "(nicht rot)2" übergehen. Aber beide sind sich immer noch sehr ähnlich. Insofern nun "(nicht rot)1" und "(nicht rot)2" verschiedene Ausdrücke sind, könnten wir aber auch gleich für jeden Ausdruck ein Zeichen einführen, welches keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem anderen hat.*19* Wenn wir nun von etwas sagen, es sei ironisch gesagt, dann wissen wir in einem Sinne, daß das ironisch Gesagte verneint wird, aber insofern wir nicht mehr wissen als dies, wissen wir noch nicht, WAS hier verneint wurde. III.3. Nehmen wir einen Fall, der geeignet ist, die Bedeutung des erläuterten Unterschiedes für unser Problem des Übergangs zu einem anderen Begriff der Ironie deutlich zu machen. In der "Dreigroschenoper" singt Peachum: Das Recht des Menschen ist s auf dieser Erden Da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein Teilhaftig aller Lust der Welt zu werden Zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein. Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden. Doch leider hat man bisher nie vernommen Daß etwas Recht war, und dann war s auch so. Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.*20* Wenn man auf die Worte achtet, dann hat Peachum ein Problem. Wenn das Recht des Menschen, von dem am Anfang die Rede ist, das Recht JEDES EINZELNEN Menschen ist, was soll es dann heißen, daß noch nie etwas Recht war, und dann war s auch so? Will Peachum bestreiten, daß JEMALS JEMAND Brot, statt eines Steins, zum Essen bekam, daß es EINIGE Menschen gibt, die im Wohlstand leben, in dem allein man angenehm lebt, wie Macheath in der "Ballade vom angenehmen Leben" klarstellt? Es wäre wohl sehr ungewöhnlich, wenn Peachum dies bestreiten wollte. Sind dann diejenigen, die im Wohlstand leben, KEINE MENSCHEN? Das wäre eine genauso seltsame Moral. So bleibt, wie es scheint, nur noch die Möglichkeit, daß das Recht des Menschen als Recht jedes einzelnen Menschen noch nie für JEDEN einzelnen Menschen auch verwirklicht war. Aber was soll es dann heißen, daß man leider "nie vernommen (hat,) daß etwas Recht war, und dann war s auch so"? Wenn es noch nie so war, daß für jeden das Menschenrecht gegeben war, haben sich dann immer alle darin geirrt, daß jedem sein Recht gegeben ist? Hab ich es nicht gemerkt, wenn ich statt Brot zum Essen eine Stein kriegte? Habe ich nur nicht genau hingesehen, ob mein Nachbar auch Brot bekam? Wie man es auch dreht, die Worte passen wohl nicht ganz reibungslos zusammen. Versuchen wir es also einmal damit, Peachums und Macheats Songs nicht wörtlich zu nehmen, sondern so, wie sie klingen: wie Ironie. Was ist das hier für eine Ironie? Die Ironie ALS REDEFIGUR kommt zu nicht mehr als zur Bejahung des Gegenteils dessen, was ironisierend gesagt wird. Insofern verbleibt sie im Rahmen der bestehenden Kriterien der Bewertung als wahr/falsch, recht/unrecht, gut/böse etc.. WAS ist nun in Peachums Song der Gegenstand der Ironie? Daß man sagt, etwas sei Recht? Aber dann dürfte Peachum nicht gleich hinzufügen, es sei doch nicht Recht. Dann könnte der Untergebene auch zu seinem Chef sagen: Da haben Sie einen wichtigen Hinweis gegeben, aber wichtig war der Hinweis nicht. So hebt sich die Ironie - als Redefigur - wieder auf. (Vgl.: I, 251f.) Gegenstand der Ironie in Brechts und Weills Oper ist, wie man sagen könnte, die gesamte Praxis. Über sie wird nicht GEURTEILT, sondern sie wird VORGEFÜHRT. Wie Peachum selbst sagt: Ein guter Mensch sein! Ja, wer wär s nicht gern? Sein Gut den Armen geben, warum nicht? Wenn alle gut sind, ist SEIN Reich nicht fern Wer säße nicht sehr gern in Seinem Licht? Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär s nicht gern? Doch leider sind auf diesem Sterne eben Die Mittel kärglich und die Menschen roh. Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so! Wenn wir dies "Ironie" nennen wollen, es aber nicht unter unsere bisherige Bestimmung des Begriffs der Ironie fällt, dann müssen wir eben unsere Begriffsbestimmung ändern, sei es, daß wir sie erweitern, sei es, daß wir sie in eine andere überführen. Für Frege wäre das Besondere der Ironie als Redefigur ein Teil dessen, was er "Stimmung, Duft, Beleuchtung" nennt. Und dieses "gehört nicht zum Gedanken." (G, 37) Aber wenn das, was Peachum tut, kein Beispiel für Ironie als Redefigur ist, also nicht in den Bereich des Gestimmten, Duftenden, Beleuchteten hineinpaßt, aber auch nicht in das Reich des Wahren oder Falschen fällt, dann gibt es eine Form der Ironie, die eben nicht in Freges Schema paßt. Wenn das Schema zu eng sind, um die Dreigroschenoper als Ironie zuzulassen, oder wenn es zu absurden Konsequenzen führt, wenn wir diese Ironie Fregesch auffassen, dann umso schlimmer für Frege! III.4. Ironie als Redefigur, sagt Kierkegaard, ist noch nicht die REINE IRONIE, noch nicht die IRONIE ALS STANDPUNKT. Reine, oder auch: strenge Ironie, Ironie als Standpunkt unterscheidet sich von der bisher behandelten wie der vulgäre und empirische Zweifel vom spekulativen. "Die Ironie im strengeren Sinne richtet sich nicht gegen das eine oder andre einzelne Daseiende, sie richtet sich wider die ganze zu einer gewissen Zeit und unter gewissen Verhältnissen gegebene Wirklichkeit." (I, 258) Aber was heißt hier "Gesamtansicht", was ist gemeint mit "das Ganze des Daseins"? WAS schaut man an, wenn man das Ganze des Daseins anschaut? Klar ist, wie es scheint, daß man nicht das Ganze des Daseins anschaut, wenn man sich das Auto von Larrys Verein anschaut. Klar ist auch, was es heißen könnte, das Ganze einer Gruppe von Dingen anzuschauen. Man schaut, zum Beispiel, das Ganze der Gruppe der Autos aus Larrys Straße an. Hier mag es, sozusagen, sehtechnische Schwierigkeiten geben - der Blickwinkel ist nicht weit genug, die Dinge sind zu weit weg oder nicht klar von ihrer Umgebung zu unterscheiden etc.. Aber dies sind wohl keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Was heißt es nun dagegen, das Ganze des Daseins, oder der Welt, anzuschauen? Hieße es gewissermaßen die Summe alles dessen, was zum Dasein gehört, auf einen Schlag anzuschauen? Hier tauchen die Probleme nicht erst in den Durchführungsbestimmungen auf, sondern sind schon grundsätzlicher Art. Denn woher weiß man, wenn man das Ganze des Daseins angeschaut zu haben glaubt, daß auch wirklich alles dabei war? Könnte nicht etwas gefehlt haben? Wie entsteht die Schwierigkeit? Vielleicht so: Man sagt zuerst, daß man sich ein Auto anschaut, dann fügt man hinzu, daß ein Auto, insofern man es anschauen kann, ein Teil des Ganzen des Daseins ist, und dann sieht es so aus, als schaue man dann das Ganze des Daseins an, wenn man alle Autos, alle Straßen, alle Menschen, eben einfach alles, was es gibt, anschaut. Und als einziges Problem stellt sich hier die Frage, wie man dies bewerkstelligen könnte. Wenn wir uns aber fragen, woher wir denn wissen, daß wir wirklich alles anschauen, was es gibt, dann scheint es so, als müßten wir schon alles kennen, was es überhaupt geben kann, um zu sagen, ob auch nichts fehlt bei dem, was wir gerade anschauen. Aber wie sollen wir das nun wissen? Was es gibt, kann man ja vielleicht ansehen, aber wie soll man das anschauen, was es zwar nicht gibt, aber immerhin geben könnte? Hier erkennt man, wie mir scheint, warum Kierkegaard von der Ironie ALS STANDPUNKT spricht. Der Witz dieser Form der Ironie ist nicht, daß sie, sozusagen, extensional umfassender wäre als die andere Form, die es immer nur mit einem oder mehreren bestimmten Dingen zu tun hat, von denen sie gerade spricht. Sondern der Witz der Ironie als Standpunkt ist der, daß sie, was immer ihr Gegenstand sei, diesen unter einem besonderen Blickwinkel anschaut. Ironie als Standpunkt unterscheidet sich von der Ironie als Redefigur also nicht dadurch, daß sie MEHR oder ETWAS ANDERES in den Blick nimmt, sondern durch DIE ART UND WEISE der Betrachtung. Wo sich die Ironie gegen das ganze Dasein wendet, da ist das ganze Dasein nicht dies und das und jenes und, wenn nichts fehlt, dann auch noch solches. Sondern die Ironie als Standpunkt betrachtet, was immer sie betrachtet, unter dem Blickpunkt des Gegensatzes von Wesen und Erscheinung, Innen und Außen. Die Ironie als Standpunkt richtet sich nicht gegen die Erscheinung im Namen einer ANDEREN ERSCHEINUNG. Es ist nicht wie oben: man sagt ironisch, der Hinweis des Chefs sei wichtig, ist aber der Meinung, der Hinweis sei belanglos; sondern: man sagt, der Hinweis des Chefs sei wichtig, während man meint: na ja, was man so Wichtigkeit nennt. In diesem Sinne könnte Kierkegaard auch Russell einen (unfreiwilligen) Ironiker nennen, wenn Wittgensteins Urteil zutrifft: "Russells Verdienst ist es, gezeigt zu haben, daß die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muß." (TLP 4.0031) III.5. Das, womit sich Russell seinen Verdienst erworben hat, läßt, in Wittgensteins Augen, die gewöhnlichen Sätze in gewissem Sinne unangetastet. Denn von diesen gilt, daß sie, wie oben schon gesehen, "so wie sie sind, logisch vollkommen geordnet" sind. Insofern nun aber gilt: "Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die Gesamtheit der Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften)." (TLP 4.11) verhält es sich mit der Ironie als Standpunkt, die das Ganze des Daseins anschaut, wie mir scheint, wie im folgenden Fall: "Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als - begrenztes - Ganzes." (TLP 6.45) Aber könnte es denn auch anders sein? Was wäre hier eine mögliche Alternative? Ein unbegrenztes Ganzes? Wie kann ein Ganzes unbegrenzt sein? Oder wäre die Alternative ein begrenztes Nicht-Ganzes? Wäre dies nicht ein Teil des Ganzen? Aber muß ein Teil als solches nicht schon begrenzt sein, denn wenn es unbegrenzt wäre, wie könnte es nicht mit dem Ganzen identisch sein? So lange wir die Worte so verstehen, als ginge es darum, etwas Besonderes, Neues, noch nie Gesehenes auf eine der herkömmlichen Weisen anzuschauen, geraten wir in Schwierigkeiten. Diese verschwinden, wenn wir die Betonung auf die ART des Anschauens, nicht den GEGENSTAND des Anschauens, legen. Was wird nun aber aus der Philosophie als Kritik, also aus dem Slogan, alle Philosophie sei »Sprachkritik«"? Allgemeiner: Gegeben die Orientierung auf das Ganze des Daseins im Sinne jeden möglichen Daseins, ist damit nicht der Verzicht auf jede Kritik verbunden, der Ausschluß jedes Unterschiedes zwischen Sein und Sein-Sollen? Kierkegaard meint über die Ironie als Standpunkt: "Sie trägt daher in sich eine Apriorität, und sie gelangt zu ihrer Gesamtansicht nicht dadurch, daß sie allmählich ein Stück der Wirklichkeit nach dem andern vernichtet, sondern kraft ihrer Gesamtansicht richtet sie Zerstörung an im einzelnen. Nicht diese oder jene Einzelerscheinung, sondern das Ganze des Daseins wird von ihr sub specie ironiae betrachtet." (I, 258f.) Werfen wir von dieser Bemerkung einen Blick zurück auf Peachums Worte. "Doch leider hat man bisher nie vernommen, daß etwas Recht war, und dann war s auch so.", Dies kann, für sich genommen, einmal heißen "Doch leider hat man bisher nie vernommen, daß etwas Recht war, und dann war s auch so, SONDERN ES WAR IMMER UNRECHT.", es kann aber auch bedeuten "Doch leider hat man bisher nie vernommen, daß etwas Recht war, und dann war s auch so; SONDERN DAS, WAS BISHER SO GENANNT WURDE, HAT MIT DEM, WAS EIGENTLICH RECHT UND UNRECHT IST, NICHTS ZU TUN." Im ersten Fall geht es um die tatsächliche bisherige Anwendung von Kriterien, im zweiten Fall geht es um die Kriterien selbst. Der Spruch - verstanden im ersten Sinne - wird hinfällig, wenn von nun an gesagt werden würde, daß das, was bisher Recht war, Unrecht war. Wenn wir den Spruch dagegen im zweiten Sinne verstehen, dann wird er durch die genannte Änderung des Urteilens nicht hinfällig. Im ersten Fall geht es um Irrtum oder Betrug; im zweiten Fall haben wir es dagegen mit dem Ganzen solcher Urteile zu tun, seien sie wahr oder falsch, aufrichtig oder unaufrichtig gefällt. Im ersten Fall sagt Peachum: Die Welt ist nicht so, wie sie sein müßte, damit in ihr Recht wäre - nämlich so und so. Im zweiten dagegen sagt er: Die Welt ist nicht so, wie sie sein müßte, damit in ihr Recht wäre - aber nimm, was ich über das Recht des Menschen sage, auch nicht als Beschreibung dessen, wie die Welt sein sollte, damit in ihr Recht wäre, sondern laß es Dir auffallen, daß es so schief in der Welt zugeht, daß das, was alle Recht nennen, kein Recht ist, und zugleich alle dies wissen. Diese Art von Ironie kennzeichnet "der sichere Blick für das Schiefe, das Verkehrte, das Eitle am Dasein. Indem sie dies nun zu fassen weiß, könnte es so scheinen, als ob Ironie in eins zusammenfiele mit SPOTT; SATIRE; PERSIFLAGE usw. Eine Ähnlichkeit hat sie natürlich damit, sofern sie ebenfalls das Eitle sieht; aber indem sie ihre Wahrnehmung zur Darstellung bringen will, weicht sie ab, sofern sie das Eitle nicht vernichtet, sich dazu nicht verhält wie die strafende Gerechtigkeit zum Laster, nicht etwas Versöhnliches an sich hat wie das Komische, sondern eher das Eitle in seiner Eitelkeit bestärkt, das Verkehrte noch verkehrter macht. Dies könnte man nennen den Versuch der Ironie, die auseinandergetretenen Momente zu vermitteln, nicht in höherer Einheit, sondern in höherer Narrheit." (I, 261)*21* III.6. So gelesen haben wir auch in Peachum einen Ironiker vor uns, von dem gilt, "daß er die gegebene Wirklichkeit mit der gegebenen Wirklichkeit SELBST VERNICHTET, [...]." (I, 267) Aber dies tut er eben nicht, indem er "Hott!" ruft, wo alle "Hüh!" rufen. Er hat keinen Entwurf des Daseins, den er gegen den stellen kann, der die Welt so abbildet, wie sie ist. Trotzdem redet er nicht über etwas, was mit der Welt, wie sie ist, nichts zu tun hat. Es ist nicht seine Sache, "DAS ABSTRAKTE KONKRET zu machen, sondern gerade durch das unmittelbar Konkrete hindurch das ABSTRAKTE zum VORSCHEIN kommen zu lassen." (I, 272) In bezug auf die Umgangssätze unserer Sprache, die "so wie sie sind, logisch vollkommen geordnet" sind, bedeutet dies: "- Jenes Einfachste, was wir hier angeben sollen, ist nicht ein Gleichnis der Wahrheit, sondern die volle Wahrheit selbst. (Unsere Probleme sind nicht abstrakt, sondern vielleicht die konkretesten, die es gibt.)" (TLP 5.5563)*22* Nun hat auch die IRONIE ALS STANDPUNKT teil an der allgemeinen Gestalt aller Ironie: das Gegenteil dessen zu sagen, was gemeint ist. Insoweit aber nun das Gegenteil hier nicht wieder eine Erscheinung ist, kann es auch nichts sein, was man in der Welt finden könnte, selbst wenn die Welt anders wäre, als sie ist. Wenn gilt, daß die Welt alles ist, was der Fall ist (TLP 1), dann ist das, was in der Ironie als Standpunkt zum Ausdruck kommt, nicht etwas, was NICHT der Fall ist, sondern etwas, was JENSEITS dessen ist, was der Fall oder was nicht der Fall ist. Insofern ist es weder eine bestehende, noch eine nichtbestehende Tatsache. Es ist, sozusagen, Nichts. "In letzter Instanz muß der Ironiker stets etwas setzen , aber das von ihm Gesetzte ist das Nichts. [...] Die Ironie ist das unendlich leichte Spiel mit dem Nichts, ein Spiel, das sich durch das Nichts nicht erschrecken läßt, sondern noch einmal mehr den Kopf hochreckt. [...] Man kann darum von der Ironie sagen, es sei ihr ein ERNST mit NICHTS , sofern das nicht der Ernst mit ETWAS ist. Sie faßt das Nichts fort und fort in Richtung auf etwas auf, und, um sich von dem Ernst mit etwas zu befreien, greift sie Nichts ." (I, 275) Aber vielleicht drückt man dies besser auf diese Weise aus: "Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt IN ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nichtzufällig macht, kann nicht IN der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muß außerhalb der Welt liegen." (TLP 6.41) Soweit es darum geht, wie das Leben des Menschen SEIN SOLL, was der SINN dieses Lebens ist, das Sollen, oder der Sinn, aber nicht in der Welt zu finden ist, versteht sich für den Ironiker also eines jedenfalls von selbst: "Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. Die Ethik ist transzendental." (TLP 6.421) Allerdings, wenn man von der Ironie sagt, "es sei ihr ein ERNST mit NICHTS , sofern das nicht der Ernst mit ETWAS ist", inwiefern SAGT sie dann etwas? Wenn "Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so." (TLP 4.5) und wenn "Der Satz [...] das Bestehen und Nichtbestehen der Sachverhalte dar(stellt)" (TLP 4.1), dann muß man zugeben, daß wir nun der Schwierigkeit gegenüberstehen, "daß die Ironie in strengerem Sinne nie einen Satz aufstellen kann" (I, 275) Aber dies ist nicht weiter verwunderlich, denn erinnern wir uns des Verdienstes Russells: "gezeigt zu haben, daß die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muß." Wir brauchen dies nur auf die "Sätze" der Philosophen anzuwenden. Dann erhalten wir wohl dies: "Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. (Sie sind von der Art der Frage, ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Schöne.) Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich KEINE Probleme sind." (TLP 4.003) Und nun fehlt uns nur noch ein Schritt, um die Vermittlung der beiden Deutungen des TLP und damit und des Wahren und Klaren mit dem Vollen und Schweren zu vollenden: Wir müssen uns auffallen lassen, daß TLP 6.54 in genau dem Sinne auch auf TLP 6.54 zutrifft, wie Kierkegaards Bemerkungen zur Ironie als Standpunkt schon von diesem Standpunkt aus getroffen werden. "Das Denken merkte gar nicht, daß das von ihm Gesuchte in seinem Suchen selber lag, und wenn es das Gesuchte nicht dort suchen wollte, war dieses in alle Ewigkeit nicht zu finden. Es erging der Philosophie wie einem Manne, der seine Brille aufhat und gleichwohl nach seiner Brille sucht, er sucht nämlich nach dem, was er dicht vor der Nase hat, sucht es aber nicht dicht vor der Nase, und darum findet er es nimmermehr." (I, 277) Wenn wir auch Peachum diese Ironie der Ironie zuschreiben, dann ist das Interessante an seinen Worten - und daran, daß sie uns ansprechen - daß sie das Problem zum AUSDRUCK BRINGEN, nicht daß sie es BESCHREIBEN. Dann kann man aber klarerweise auch von ihm nicht die Lösung erwarten. Sondern: "Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist dies nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)" (TLP 6.521) IV. Professor Quine hat einmal gesagt, philosophische Untersuchungen, wenn sie so betrieben werden, daß sie nach seinem Urteil gut wären, hätten im "Hinblick auf Inspiration oder Trost" wahrscheinlich wenig zu bieten. Doch wer Philosophie in erster Linie wegen des geistigen Trostes studiert, ist irregeleitet und wahrscheinlich sowieso kein sonderlich guter Student, denn es ist nicht die geistige Neugierde, die ihn bewegt." Es ist also nur konsequent, wenn für den Zitierten gilt: "[...] ich sehe auch nicht ein, weshalb vieles von dem, was mich in der Philosophie beschäftigt, den Laien bekümmern sollte."*23* Für den, der Trost sucht oder glaubt, ihn spenden zu können, gibt es einen Ratschlag: "Begeisternd und erbaulich zu schreiben, ist etwas Bewundernswertes, aber der Ort dafür ist der Roman, das Gedicht, die Predigt oder der literarische Essay. Philosophen im professionellen Sinne sind dazu nicht spezifisch geeignet. Sie sind auch nicht spezifisch dazu geeignet, der Gesellschaft zu helfen, ins Gleichgewicht zu kommen, obwohl wir alle freilich dazu beitragen sollten, was wir können. Was diese immerfort laut werdenden Bedürfnisse gerade erfüllen könnte, ist die Weisheit: SOPHIA ja, PHILOSOPHIA nicht unbedingt." "Trost oder Wissen" lautet die Alternative; und es ist klar, wofür wir uns den zitierten Worten folgend entscheiden sollen. Auf diese Weise verliert die Philosophie leicht den Kontakt zu den Menschen? Umso schlimmer für die Menschen! Nicht die Philosophie muß sich ändern, sondern die Menschen müssen Ordnung in ihre Erwartungen bringen. Sie dürfen die Philosophie nur nach Wißbarem fragen, nicht nach Tröstendem. Aber was ist das nun für eine Bemerkung, gemessen an dem zuvor gelieferten Schema? Ist sie mehr als eine trostspendende Bemerkung für die, die es - wie etwa Frege - nicht lassen können, nicht nur nach Wahrheit,sondern auch nach der Wichtigkeit einer Sache zu fragen? Nun, sie ist wohl nicht mehr als was man "meta-philosophischen Trost" nennen könnte. Insofern braucht man nun aber auch nicht sagen, daß sie falsch ist. Ein Kind hat sich verletzt; nun schreit es und wir reden ihm zu, trösten es. Wenn man NUR DAS unter Trost versteht, dann kann man dem zustimmen, der meint: "Das ist doch aber nicht Philosophie!". Aber das ist nicht alles, was wir "Trost spenden" nennen! Millers Auto wurde gestohlen - wir trösten ihn. Miller ist unglücklich verliebt - wir trösten ihn. Millers Sohn ist im Krieg geblieben - wir trösten ihn. Miller ist der einzige Überlebende seines Volkes - wir trösten ihn. Miller bemerkt, daß das Rad der Welt über Menschenleiber rollt - wir trösten ihn. Spätestens im letzten Fall können wir Miller mit Schopenhauer kommen oder manch einer anderen "diese(r) strahlenden Erscheinungen [...], die wir als große Philosophen verehren". Oder wir versuchen es mit Wittgenstein. Aber erinnern wir uns, daß dieser im "Vorwort" des "Tractatus" sagt, dieser hätte seinen "Zweck [...] erreicht, wenn er Einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitet". Nun, so gesehen, könnten wir einem, der am "Elend und der Nichtigkeit unserer rätselhaften Existenz" verzweifeln möchte, auch S¢ren Kierkegaard ans Herz legen, oder ihm Wilhem Busch empfehlen, denn in seiner Gänze lautet sein Gedicht folgendermaßen: BERUHIGUNG Zwei mal zwei gleich vier ist Wahrheit. Schade, daß sie leicht und leer ist. Denn ich wollte lieber Klarheit über das, was voll und schwer ist. Emsig sucht ich aufzufinden, Was im tiefsten Grunde wurzelt, lief umher nach allen Winden Und bin dabei oft gepurzelt. Endlich baut ich eine Hütte. Still nun zwischen ihren Wänden Sitz ich in der Welten Mitte Unbekümmert um die Enden.*24* ANMERKUNGEN *1* In: G. Frege, "Logische Untersuchungen", hrgg. u. eingel. v. G. Patzig, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986 (3. Aufl.), S. 37. Im folgenden Nachweise mit Kürzel "G" und Seitenzahlen im Text. Siehe auch R. Carnaps Ausführungen zur "erkenntnistheoretischen Analyse" in seinem "Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit", Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, S. 9ff.. *2* A. Schopenhauer, "Die Welt als Wille und Vorstellung", Zweiter Band, Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 1996, S. 211. Das Zitat gehört zu Kapitel 17 mit dem Titel "Über das metaphysische Bedürfnis des Menschen". *3* Frege, "Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logische-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl", hrsg. v. J. Schulte, Stuttgart: Reclam 1987, S. 16f. *4* Ich bin auf diesen Vers gestoßen in: G. Patzig, "Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff", in: ders.: "Tatsachen, Normen, Sätze. Aufsätze und Vorträge", Stuttgart: Reclam 1980, S. 84. Er gehört zu dem Gedicht "Beruhigt" aus der Sammlung "Schein und Sein", nachzulesen in: W. Busch, "Summa summarum", Berlin, Eulenspiegel Verlag 1961, S.50. Die Dichotomie Klares/Wahres vs. Volles/Schweres/Tiefes taucht bei anderen Autoren unter anderen Bezeichnungen auf. Zu den bekannteren gehört die von Russell benutzte: Logik vs. Mystizismus. Siehe z.B.: B. Russell, "Mysticism and Logic", in: Hibbert Journal for July, 1914. Siehe auch: H. Putnam, "Words and Life", edited by James Conant, Cambridge (Mass.), London (Engl.): Harvard University Press 1994, Teil IV, S. 243ff., und die "Introduction" von Conant, v.a. S. xlviff.. *5* Ganz leicht modifiziert abgeschrieben von: G. Chapman, J. Cleese, T. Gilliam, E. Idle, T. Jones und M. Palin, "Monty Python s Flying Circus. Sämtliche Worte", Band I. München: Heyne, 1993, S. 115f. Eine Gesamtdarstellung der Philosophie von Monty Python findet sich in den drei Bänden "The MP-Philosophy. Vol. I: Ontology, and Logic; Vol. II: Epistemology, and Anthropology, Vol. III: Ethics, and Aesthetics" von Hubert de Selby, Oxford and Cambridge University Press, Harvard 1992, 1991, 1990. *6* In genau dem Sinne, in welchem man von der Logik sagen kann, daß sie die Frage nach dem Was der Wahrheit (und Falschheit) zu beantworten trachtet und insofern der Gedanke das ist, was wahr oder falsch ist, in genau diesem Sinne trägt Freges Untersuchung mit dem Namen "Der Gedanke" auch berechtigterweise den Untertitel "Eine logische Untersuchung". *7* Im ersten Satz von Freges "Grundlagen der Arithmetik", a.a.O., S. 15, heißt es: "Auf die Frage, was die Zahl Eins sei, oder was das Zeichen 1 bedeute, wird man meistens die Antwort erhalten: ...." *8* In: L. Wittgenstein, Werke, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984; zitiert mit Kürzel "TLP" und Angabe der Satznumerierung. *9* L. Wittgenstein, "Tagebücher 1914-1916", in: ders., Werke, Band 1, a.a.O., S. 174; (Eintrag vom 2.8.16. *10* G.W.F. Hegel, "Aphorismen aus Hegels Wastebook (1803-1806)", in: G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 2, Jenaer Schriften 1801-1807 (= Theorie Werkausgabe), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 559. *11* O. Neurath, "Soziologie im Physikalismus", in: Erkenntnis, 2, 1931, S. 396. *12* F.P. Ramsey, "Philosophy" [1929], in: F.P. Ramsey, Philosophical Papers, edited by D.H. Mellor, Cambridge et. al.: Cambridge Unversity Press 1990, S. 1. *13* Einen Ansatz, der sich in gewissem Sinne als Ausführung dieses Programms ansehen läßt, findet sich bei James Conant. Siehe seinen Aufsatz "Putting Two and Two Together: Kierkegaard, Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors", in: T. Tessin und M. v.d. Ruhr (Hrg.), "Philosophy and the Grammar of Religious Belief", New York, St. Martin s Press 1994, S. 248-331; sowie den im vorliegenden Band enthaltenen Aufsatz. *14* Cora Diamond schreibt in ihrem "Throwing Away the Ladder: How to Read the TRACTATUS" (in: dies., "The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy, and the Mind", Cambridge (Mass.): The MIT Press 1995, S. 198)) anläßlich TLP 6.37 und 6.375: "But the remark that there is only logical necessity is itself ironically self-destructive. It has the form, the syntactic form, of There is only this sort of thing, i.e., it uses the linguistic forms in which we say that there are only thises rather than thises and thats. It belongs to its syntax that it itself says something the other side of which can be represented too." Voller Anregungen ist auch Claus-Artur Scheiers Buch "Wittgenstein s Kristall. Ein Satzkommentar zur Logisch-philosophischen Abhandlung ", München: Alber 1991. *15* In: S. Kierkegaard, "Unwissenschaftliche Nachschrift", deutsch von B. und S. Diderichsen, in: S. Kierkegaard, "Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift", unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard- Gesellschaft herausgegeben von H. Diem und W. Rest, Köln und Olten: Jakob Hegner MCMLIX, Originaltitel: "Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brosamen. Mimisch-pathetisch- dialektische Sammelschrift, existentieller Beitrag von Johannes Climacus. Herausgegegen von S. Kierkegaard", Kopenhagen 1846, S. 841. *16* Ebd., S. 839f. *17* S. Kierkegaard, Gesammelte Werke, 31. Abteilung, hrgg. von E. Hirsch und H. Gerdes, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gert Mohn 1991 (2. Aufl.). Im folgenden beziehe ich mich auf dieses Buches mit dem Kürzel "I" und der Seitenzahl. *18* Man kann hierin eine Steigerung oder Durchführung der Ironie sehen: die Sache gewinnt dramatische Züge. In Analogie dazu lassen sich Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen" (in: ders., Werke, Band 1, a.a.O.) verstehen, in denen wir ebenfalls dramatische Züge (Dialoge, Aufrufe etc.) finden. Diese Lesart der PU gewinnen im Lichte der Deutung des TLP als Ironie natürlich an Gewicht. *19* Vgl. hierzu Freges Kritik an Jevons Erklärung der Eins; im Paragraphen 36 seiner "Grundlagen der Arithmetik ...", a.a.O, S. 68ff.. Vgl. auch TLP: 5.02: "In Russells »c« ist z.B. »c« ein Index, der darauf hinweist, daß das ganze Zeichen das Additionszeichen für Kardinalzahlen ist. Aber diese Bezeichnung beruht auf willkürlicher Übereinkunft und man könnte statt »c« auch ein einfaches Zeichen wählen; in »~p« aber ist »p« kein Index, sondern ein Argument: der Sinn von »~p« KANN NICHT verstanden werden, ohne daß vorher der Sinn von »p« verstanden worden wäre." Siehe auch: "Jeder Satz muß SCHON einen Sinn haben; die Bejahung kann ihn ihm nicht geben, denn sie bejaht ja gerade den Sinn. Und dasselbe gilt von der Verneinung, etc." (TLP 4.064) und "Man könnte sagen: Die Verneinung bezieht sich schon auf den logischen Ort, den der verneinte Satz bestimmt. (/) Der verneinende Satz bestimmt einen ANDEREN logischen Ort als der verneinte. (/) Der verneinende Satz bestimmt einen logischen Ort mit Hilfe des logischen Ortes des verneinten Satzes, indem er jenen als außerhalb diesem liegend beschreibt. (/) Daß man den verneinten Satz wieder verneinen kann, zeigt schon, daß das, was vereint wird, schon ein Satz und nicht erst die Vorbedingung zu einem Satze ist." (TLP 4.0641) *20* Ich zitiere hier aus der Plattenfassung von 1930, die abweicht von der in "Bertolt Brechts Dreigroschenbuch. Texte. Materialien. Dokumente" (herausgegeben von Siegfried Unseld, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973) veröffentlichten Textfassung. Die hier wiedergebene Zeilen "Doch leider hat man bisher nie vernommen (/) Daß etwas Recht war, und dann war s auch so." lautet dort (S. 41): "Doch leider hat man bisher nie vernommen (/) Daß einer auch sein Recht bekam - ach wo!". Natürlich hat ein Autor, der sich, was einem wachsamen Moraliner wie Alfred Kerr nicht entgehen konnte, dermaßen frei bei anderen Autoren bedient wie Brecht alles Recht verwirkt, die Deutung "seines" Textes zu beeinflussen. Wenn hier auf Brechts Betonung des komisch-kritischen Charakters der Dreigroschenoper hingewiesen wird (siehe dazu das Gespräch zwischen Brecht und Giorgio Strehler in dem genannten Band, S. 188ff.), dann also nicht deshalb, weil dies in irgendeiner Weise die hier angedeutete Lesart unterstützen würde. *21* Kaum jemand hat einen so "sicheren Blick für das Schiefe, das Verkehrte, das Eitle", wie Frege, wenn er Kübel von "SPOTT, SATIRE, PERSIFLAGE usw." über andere ausschüttet, wie etwa über Mill: "Man sollte denken, daß die Zahlformeln synthetisch oder analytisch, a posteriori oder a priori sind, je nachdem die allgemeinen Gesetze es sind, auf die sich ihr Beweis stützt. Dem steht jedoch die Meinung JOHN STUART MILLS entgegen. Zwar scheint er zunächst wie LEIBNIZ die Wissenschaft auf Definitionen gründen zu wollen, da er die einzelnen Zahlen wie dieser erklärt; aber sein Vorurteil, daß alles Wissen empirisch sei, verdirbt sofort den richtigen Gedanken wieder. Er belehrt uns nämlich, daß jene Definitionen keine im logischen Sinne seien, daß sie nicht nur die Bedeutung eines Ausdruckes festsetzen, sondern damit auch eine beobachtete Tatsache behaupten. Was in aller Welt mag die beobachtete oder, wie MILL auch sagt, physikalische Tatsache sein, die in der Definition der Zahl 777864 behauptet wird? Von dem ganzen Reichtume an physikalischen Tatsachen, der sich hier vor uns auftut, nennt uns MILL nur eine einzige, die in der Definition der Zahl 3 behauptet werden soll. Sie besteht nach ihm darin, daß es Zusammenfügungen von Gegenständen gibt, welche, während sie diesen Eindruck 000 auf die Sinne machen, in zwei Teile getrennt werden können, wie folgt: 00 0. Wie gut doch, daß nicht alles in der Welt niet- und nagelfest ist; dann könnten wir diese Trennung nicht vornehmen, und 2 1 wäre nicht 3! Wie schade, daß MILL nicht auch die physikalischen Tatsachen abgebildet hat, welche den Zahlen 0 und 1 zugrunde liegen!" (§ 7 der "Grundlagen ...", a.a.O., S. 32f.) Freges Ausdruck für "das Schiefe etc." ist "das Ungereimte" (siehe ebd., § 24, S. 54, auch gegen Mill). Im Unterschied zu Kierkegaard ist für Frege das Ungereimte jedoch nicht Prinzip, sondern Mangel. Für Frege scheint das Wesentliche an dem, was Mill sagt, zu sein, daß es falsch ist. Für Kierkegaard ist das Schiefe/Ungereimte eben gerade nicht das Falsche, freilich auch nicht das Wahre. Allerdings sagt Frege auch dies: "Durch große geistige Arbeit, die Jahrhunderte hindurch andauern kann, gelingt es oft erst, einen Begriff in seiner Reinheit zu erkennen, ihn aus den fremden Umhüllungen herauszuschälen, die ihn dem geistigen Auge verbargen. Was soll man nun dazu sagen, wenn jemand, statt diese Arbeit, wo sie noch nicht vollendet scheint, fortzusetzen, sie für nichts achtet, in die Kinderstube geht oder sich in [die] ältesten erdenkbaren Entwicklungsstufen der Menschheit zurückversetzt, um dort wie J. ST. MILL etwa eine Pfefferkuchen- oder Kieselsteinarithmetik zu entdecken! Es fehlt nur noch, dem Wohlgeschmacke des Kuchens eine besondere Bedeutung für den Zahlbegriff zuzuschreiben. Dies ist doch das grade Gegenteil eines vernünftigen Verfahrens und jedenfalls so unmathematisch wie möglich. Kein Wunder, daß die Mathematiker nichts davon wissen wollen!" (Ebd., Einleitung, S. 20f.) Man gewinnt so als Leser immer wieder den Eindruck, Frege stehe unmittelbar vor der Tür, die ihm Zugang zu den Einsichten und Einstellungen Kierkegaards verschaffen würde. Er kehrt ihr aber immer wieder den Rücken zu, sobald er sich ihr nähert. Es ist im übrigen nicht klar, daß Freges Urteil über Mills Begriffsbestimung zutrifft. *22* "Wir müssen nun die Frage nach allen möglichen Formen der Elementarsätze a priori beantworten. (/) Der Elementarsatz besteht aus Namen. Da wir aber die Anzahl der Namen von verschiedener Bedeutung nicht angeben können, so können wir auch nicht die Zusammensetzung des Elementarsatzes angeben." (TLP 5.55) Vgl. auch "Philosophische Untersuchungen", a.a.O., Abschnitt 97: "Das Denken ist mit einem Nimbus umgeben. - Sein Wesen, die Logik, stellt eine Ordnung dar, und zwar die Ordnung a priori der Welt, d.i. die Ordnung der MÖGLICHKEITEN, die Welt und Denken gemeinsam sein muß. Diese Ordnung aber, scheint es, muß HÖCHST EINFACH sein. Sie ist VOR aller Erfahrung; muß sich durch die ganze Erfahrung hindurchziehen; ihr selbst darf keine erfahrungsmäßige Trübe oder Unsicherheit anhaften. - Sie muß vielmehr vom reinsten Kristall sein. Dieser Kristall aber erscheint nicht als Abstraktion; sondern als etwas Konkretes, ja als das Konkreteste, gleichsam HÄRTESTE ("Log. Phil. Abh." No. 5.5563.)" *23* W.V.O. Quine, "Hat die Philosophie den Kontakt zu den Menschen verloren?", in: ders., "Theorien und Dinge", übers. v. J. Schulte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 232ff. *24* Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes wurde in Bielefeld vorgetragen. Ich habe aus der anschließenden Diskussion inbesondere mit Eva Picardi, Katia Saporiti, Eike von Savigny und Joachim Schulte großen Gewinn gezogen. Rüdiger Bittner (Bielefeld), Uta Eichler (Halle/Saale) und Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig, Swansea) haben mir wertvolle Hinweise gegeben. Gespräche mit James Conant (Pittsburgh, Pennsylvania) haben mich in meinem Unternehmen sehr bestärkt. Die VW-Stiftung hat das Ganze finanziell ermöglicht. Allen Genannten und Erwähnten gilt mein Dank.