Ursprung und Kultur

Friedrich Nietzsches und Franz Overbecks genealogische Reflexionen

von Andreas Urs Sommer (Universität Greifswald)

 

"Das Neue hat nun einmal auf keinem Gebiet wie auf dem der Religion und dessen was damit zusammenhängt das Vorurtheil gegen sich, willkürlich entstanden zu sein, das Alte hat an sich selbst schon Werth." (EhB 3—OWN 1,83) Franz Overbeck (1837-1905), neuberufener Professor für Neues Testament und Alte Kirchengeschichte an der Universität Basel, beschreibt mit diesen Worten 1870 in seiner Antrittsvorlesung Über Entstehung und Recht einer rein historischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie die Neigung, ausschliesslich das Anfängliche, die Entstehungsmomente einer Religion für authentisch und degenerationsfrei zu halten.[1] Eine kritische Lektüre von Nietzsches 1872 erschienener Geburt der Tragödie fördert eine Ursprungsversessenheit zutage, die derjenigen, die Overbeck im christlich(-protestantisch)en Umfeld lokalisiert, erstaunlich ähnlich sieht.[2] Wer Nietzsches frühe Texte liest, wird sich ihrem autoritativen und politisch-reformatorischen Gestus schwerlich entziehen können. Der frühe Nietzsche, seinen retrospektiven Selbstinterpretationen zum Trotz, hat es, zumindest als ein vom zeitgenössischen Publikum wahrnehmbarer Autor, noch nicht auf eine dekonstruktive Subversion all dessen abgesehen, was wir von uns und von der Welt zu wissen glauben, sondern bescheidet sich mit radikaler und entschieden reaktionärer Kulturkritik, die phasenweise durchaus mit derjenigen von Leuten wie Paul de Lagarde konkurrieren kann.[3]

Ein zentrales Instrument, den umgestaltenden Ideen Nachdruck zu verleihen, stellte gerade in der Geburt der Tragöde der Rekurs auf eine normative Frühzeit dar, die Nietzsche im archaischen, vorklassischen und vorsokratischen Griechentum verwirklicht sah.[4] Nietzsches Freund Overbeck, der es nicht versäumen sollte, "die Lection der 'Geburt der Tragödie'" (ChT2,15—OWN 1,269) in der Rückschau auf die Entstehung seiner 1873 publizierten Polemik Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie dankbar zu erwähnen, mass damals seinerseits die Erscheinungsformen modernen, ja überhaupt nachapostolischen Christentums am Archetypus des Urchristentums.[5] Zugleich aber hypostasierte er dieses Urchristentum nicht, wie es spätestens seit dem Pietismus unter Protestanten Mode geworden war, zu einer zeitlosen Norm, der nachzuleben Overbeck selber für vielversprechend gehalten hätte. Vielmehr beschränkte er sich darauf, die inhaltlichen Widersprüche zwischen einer ganz der eschatologischen Naherwartung zu- und von der Welt abgewandten Urzeit des Christentums und den vielfältigen Formen ihrer Verweltlichung aufzuzeigen, ohne selber wie Nietzsche eine Wiederauflage der Archaik für wünschenswert auszugeben. Für Overbeck selbst führte kein Weg zurück zu einer authentischeren Christlichkeit, es sei denn, man wäre wie etwa Pascal bereit, Weltverzicht zu leisten. Overbeck, der diese Bereitschaft nicht aufbrachte, stürzte die theologische Zunft in eine tiefgreifende Legitimationskrise, indem er sozusagen ihre 'apostolische Sukzession', ihr Recht bestritt, sich in Intention und Glauben mit dem ursprünglich Christlichen identifizieren zu dürfen.

Uns sollen im folgenden nicht Nietzsches und Overbecks frühe Werke beschäftigen, sondern Texte, die dieser Ursprungsfaszination folgten und eine Distanznahme zu Konzepten normativer Frühzeit erkennen lassen.[6] In Nietzsches sogenannter "Freigeist-Phase" ist von einem exzessiven Kult der Götter Griechenlands oder auch nur des Dionysos nurmehr wenig zu vermelden, während Overbeck, der mit den Göttern Griechenlands ohnehin nie viel am Hut hatte, sich zur selben Zeit in das Problem vertieft, auf welche Weise die Ursprünge des Christentums, die er seinen Zunftgenossen in seiner Streitschrift von 1873 als Spiegel ihrer vermeintlichen "Christlichkeit" vorgehalten hatte, durch historische Prozesse, die man sehr grob als Hellenisierung einer jüdischen Sekte begreifen mag, zu einem nicht mehr wirklich erschliessbaren Bereich von "Urgeschichte" geworden waren. In Nietzsches und Overbecks Frühwerken, die sich, ohne dass sie zueinander in strenger Abhängigkeit gestanden hätten, gegenseitig befruchteten, sind die Ursprünge — des Griechentums, des Christentums — die Richtschnur der Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen. Die Schaffensphase, die wir nun ins Auge zu fassen haben — in ihr verlässt Nietzsche Basel und vorher schon die Hausgemeinschaft mit Overbeck, der seinerseits, seit 1876 verheiratet, den Rest seines Lebens in Basel verbringen wird — zeichnet sich bei beiden nicht zuletzt durch eine Emanzipation von diesen Ursprungsorientierungen aus. Die Frage wäre, was als Massstab der Kritik an die Stelle der Ursprünge tritt. Überdies auch, ob die Loslösung von der Ursprungsnormativität einen spezifischen Ausbruch in die Modernität verrät. Falls ja, dann in eine sehr eigentümliche, gegen alle gründerzeitliche Modernitätsduselei gerichtete Modernität (vgl. OWN 5,150-167), die sich bei den beiden Freunden überdies wesentlich voneinander unterschieden haben dürfte. Unser Augenmerk wird sich demgegenüber darauf konzentrieren, wie sich das Verhältnis zu den Ursprüngen entwickelt, das sich schliesslich in Nietzsches genealogischem Programm auskristallisiert. Was bedeutet "Ursprung" da noch? "[D]efinirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat" (GM II 13—KSA 5,317).

 

Wer sich Overbecks quantitativ spärliche Publikationen oberflächlich ansieht, mag unwillkürlich dem Eindruck erliegen, hier habe ein Fachgelehrter Angst vor dem eigenen, 1873 in ChT1 artikulierten Mut bekommen, weswegen er sich fortan in gelehrte Fachsimpelei zurückgezogen habe. Arbeiten mit Titeln wie Studien zur Geschichte der alten Kirche (1875), Über die Auffassung des Streits des Paulus mit Petrus in Antiochien (Gal. 2,11ff.) bei den Kirchenvätern (1877), Zur Geschichte des Kanons (1880) oder Über die Anfänge der patristischen Litteratur (1882) werden ausser Spezialisten kaum jemanden zu begieriger Lektüre verführen. Overbeck scheint genau das nicht geglückt zu sein, was sich sein Freund Nietzsche durch das Ausscheren aus dem akademischen Betrieb und den schon mit GT vollzogenen Ausstieg aus der wissenschaftlichen Philologie erkaufte, nämlich die Fesselung einer weiteren Öffentlichkeit für seine Anliegen, ja gar die Entfaltung weltliterarischer Ambitionen. Man kann dies mit dem Hinweis auf die von Overbeck in seinen autobiographischen Aufzeichnungen[7] immer wieder herausgestrichenen Mangel an Ehrgeiz zu erklären suchen.

Faktum bleibt indessen, dass insbesondere die neuerdings in einer grossangelegten Auswahlausgabe zugänglichen Nachlassaufzeichnungen Overbecks (OWN 4 - 6) jene Vorstellung vom gelehrten Fachidioten Overbeck, der bloss in einem winzigen Schrebergarten sein Scherflein zu leisten gedenkt, Lügen strafen. Gewichtigster Teil dieses Nachlass ist das mehr als 20'000, häufig doppelseitig beschriebene Oktavblätter umfassende, von Overbeck so genannte Kirchenlexicon, eine bereits vor der Basler Zeit als Arsenal für Lehrveranstaltungen und Forschungsarbeiten grundgelegte Sammlung von Exzerpten, Notizen und Reflexionen, die miteinander durch alphabetische Lemmatisierung und ständige Querverweise verbunden sind. So wenig dieses Kirchenlexicon ein literarisches Werk sein wollte, hätte es doch die Basis einer "profanen Kirchengeschichte", mit deren Erarbeitung sich Overbeck trug, abgeben sollen, ohne dabei aber ausschliesslich Dinge aus dem Bereich des Christentums oder auch nur der Religion zu traktieren. Erst die neue Edition macht Overbecks eigentümlichen Denkstil nachvollziehbar, der sich nie bei einer einmal erlangten Erkenntnis aufhält, sondern sogleich mit anderem in Verbindung bringt, revidiert, falsifiziert, um später vielleicht wieder an derselben Stelle weiterzubohren, dadurch jedoch neues Terrain erschliessend. Es ist ein Denkstil, der sich in den zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften offenbar strenge Zügel angelegt hat, um sich insgeheim desto exzessiver auszuleben. Ein Denkstil, der die Ruhe, die unwiderrufliche Meinung und die letzte Gewissheit zwar nicht theoretisch verabscheut, aber doch praktisch aushebelt — indem nämlich das Kirchenlexicon nie zur einem Punkt der Ruhe, der unwiderruflichen Meinung oder der letzten Gewissheit gelangt. So wenig sich Overbeck als Aphoristiker zu betätigen gedachte, so sehr erzeugt doch die der lemmatischen Ordnung geschuldete Fragmentarisierung des Textes aphoristische Schärfen und Kanten. Die Unabschliessbarkeit des Unternehmens, das gar kein Unternehmen sein wollte, führt eine Verzettelung herbei, die allem Dogmatismus — dem religiösen so gut wie dem weltanschaulichen — Feind sein musste, ganz einfach, weil es in dieser Verzettelung auch keinen gedanklichen Abschluss, keine Saturierung geben konnte. Der unendliche Verweisungs- und Revisionscharakter des Kirchenlexicons scheint eine normative Macht von Ursprüngen schon strukturell aufzuheben; diese haben allenfalls noch heuristische Funktion.

Mit dem Schatz dieses Werkes, das sich weigerte, ein Werk zu sein, in der Hinterhand, möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen jener scheinbar so trocken fachwissenschaftlichen Traktate lenken, nämlich auf den Aufsatz Über die Anfänge der patristischen Litteratur von 1882.[8] Es handelt sich dabei um den Entwurf einer Literaturgeschichte der Alten Kirche, die auf alle dogmatischen Vorurteile verzichten möchte und stattdessen die Formen der untersuchten Werke ins Blickfeld rückt. Inwiefern hat dies mit der Frage nach den Ursprüngen zu tun? Die Neudefinition der Patristik als einer nicht länger dogmatischen, sondern literaturgeschichtlichen Disziplin scheint zunächst wiederum ein kirchenhistorisches Spezialproblem ohne weitere Implikationen zu sein. Jedoch erschliesst sich bei näherem Hinsehen rasch, dass viel mehr auf dem Spiel steht als bloss gelehrte Methodendiskussionen. Overbeck stellt heraus, dass die Literatur der Kirchenväter, die er ansatzweise bei den Apologeten des 2. Jahrhunderts und ausgereift beim eingehend besprochenen Werk des Clemens Alexandrinus einsetzen sieht, qualitativ prinzipiell von dem getrennt ist, was als christliche Literatur bis etwa um das Jahr 150 entstanden ist. Aber die Abgrenzung der patristischen Literatur von den "christliche Urliteratur" (ApL 35 u.ö.) getauften frühen schriftlichen Quellen des Christentums ist nicht etwa ein bloss chronologischer. Vielmehr seien es fundamentale formale Differenzen, die die "Urliteratur" — zu der Overbeck die kanonischen Schriften des Neuen Testaments, die neutestamentlichen Apokryphen sowie die Briefe der sogenannten Apostolischen Vätern zählt — von den eigentlich patristischen Werken trennten: Bei ersteren handle es sich um "Trümmer": "Es ist eine Literatur, welche sich das Christentum so zu sagen aus eigenen Mitteln schafft, sofern sie ausschliesslich auf dem Boden und den eigenen Interessen der christlichen Gemeinde noch vor ihrer Vermischung mit der sie umgebenden Welt gewachsen ist. […] Wovon sie sich aber in der Tat noch ganz fernhält, das sind die Formen der bestehenden profanen Weltliteratur" (ApL 36). Diesem Schema zufolge seien also die frühesten Zeugnisse des Christentums in einem ganz und gar abgeschiedenen Raum geboren, der zwar auch in einem Traditionszusammenhang steht — nämlich im jüdischen—, jedoch keinerlei Fusions- oder Diffusionstendenzen zum umgebenden, römisch-hellenistischen Kulturraum erkennen lasse. Die christliche "Urliteratur" war ganz und gar für den unmittelbaren Gebrauch innerhalb der noch weitgehend im Judentum verhafteten Gemeinden bestimmt und nicht etwa für ein aussenstehendes Publikum. Ihre einzelnen Elemente — namentlich die Briefe — waren als Antworten auf sehr konkrete Fragen in sehr konkreten Umständen, aber nicht als universale Gefässe des einzig wahren Glaubens gedacht. Der Prozess der Kanonisierung habe nicht allein zu einem recht frühen Abreissen der Produktion solcher "Urliteratur" geführt, sondern zudem zu einer Entrückung dieser Texte, die deren reale Probleme und Entstehungsumstände zugunsten überhistorischer Dignität und universaler Anwendbarkeit ausblenden musste. Overbecks 1880 unter dem Titel Zur Geschichte des Kanons erschienenen Abhandlungen wurden mit dem programmatischen Satz eröffnet: "Es liegt im Wesen aller Kanonisation ihre Objecte unkenntlich zu machen, und so kann man denn auch von allen Schriften unseres neuen Testamentes sagen, dass sie im Augenblick ihrer Kanonisirung aufgehört haben verstanden zu werden." (OWN 2,393)

Overbeck begreift die von ihm herausgehobene christliche "Urliteratur" mitnichten als Vorform der patristischen Literatur. Im Grunde sind die Zeugnisse der "Urliteratur", insbesondere die apostolischen Briefe, noch gar keine Literatur im emphatischen Sinne des Wortes (vgl. ApL 16-20); "vielmehr hängt die schriftliche Form eines Briefes nur an dem in Hinsicht auf den Ausdruck menschlicher Gedanken zufälligen Umstand der räumlichen Trennung der Korrespondenten" (19). Auch die nicht-epistolarischen Teile der "Urlitteratur", namentlich die kanonischen und apokryphen Evangelien und Apokalypsen fanden (im Unterschied zu den zu allen Zeiten, mit den genannten nichtliterarischen Intentionen geschriebenen Briefen) in der späteren christlichen, eben der patristischen Literatur keine Nachahmer. "Hat man aus der patristischen Literatur die christliche Urliteratur ausgeschieden, so steht der Definition der patristischen nichts mehr im Wege als der griechisch-römischen Literatur christlichen Bekenntnisses und christlichen Interesses." (ApL 37) Das klingt zunächst harmlos — ebenso wie die Feststellung, "dass das Christentum nur im Anschluss an die vorhandene Weltliteratur es selbst zu einer lebensfähigen Literatur gebracht hat" (ApL 38). Dieses Dürsten nach "Anschluss" verdankte sich zunächst der akuten Bedrohung des Christentums durch eine feindliche Umwelt, der christianisierte 'Heiden' ihre Apologien entgegensetzten, um so einem nichtchristlichen Publikum Scheu und Abscheu vor der neuen Religion zu nehmen (vgl. ApL 43-45).

Overbeck mag sich jedoch nicht mit der idyllischen Sicht der Dinge anfreunden, wie er sie bei den Patristikern seiner Zeit gefunden hat: Der Bruch zwischen christlicher "Urliteratur" und christlicher Weltliteratur konnte keineswegs bloss in einer neuen Einkleidung des wahren Christentums mit dem Gewand griechisch-römischer Weltläufigkeit gelegen haben. Overbecks Scharfblick entgehen die immensen Skrupel nicht, mit der sich die frühen Kirchenväter der zweiten Hälfte des 2. und des ersten Drittels des 3. Jahrhunderts, d.h. die Apologeten, der Ketzerbestreiter Irenäus von Lyon und dann vor allem Clemens Alexandrinus, plagten, als sie zunächst für das 'heidnische' Publikum, sodann für das eigene die Formen der profanen Literatur gebrauchten, um die äussere und innere Selbstbehauptung des Christentums zu bewerkstelligen. "Die Kirchenväter sind Schriftsteller, die es nicht sein wollen." (ApL 41) Sie wollten es nicht sein, weil sie im Unterschied zu den meisten ihrer modernen Ausleger die mehr oder weniger klare Erkenntnis besassen, dass eine solche Selbstbehauptung des Christentums in der römisch-griechischen Welt nicht ohne Verlust in der Substanz zu haben war. Auch wenn sie das, was sie für die Essenz des Christlichen hielten, so gut es ging in die literarischen Formen des Hellenismus zu übertragen vermeinten, liessen die Formen — vor allem des philosophischen 'Diskurses' — doch die Substanz nicht unberührt. Wie kaum ein anderer Forscher seiner Zeit hat Overbeck ein Gespür für das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Inhalt und Form; er versagt es sich, wie es viele seiner Fachkollegen bis heute tun, den Inhalt für eine einfach von der Form ablösbare Grösse zu erachten und zu meinen, nur die Form, nicht aber der Inhalt sei der historischen Kontingenz ausgeliefert. Die feinsinnige Analyse, die Overbeck im letzten Drittel seiner Abhandlung von Clemens gibt, beleuchtet nicht nur, wie sehr dieser paradigmatische christliche Schriftsteller mit der literarischen Form seines Werkes zu ringen hatte, sondern überdies, wie sehr solche Formprobleme der Reflex eines fundamentalen Umbruchs, nämlich des unwiderruflichen Endes der christlichen "Urliteratur" und damit der christlichen "Urgeschichte" (vgl. OWN 5,616-625) waren. Clemens flüchtete — da er sich "die Frage ob eine Form der Gedankenmitteilung, die so vielen Missverständnissen schutzlos ausgesetzt sei, wie die schriftstellerische, fähig und würdig sei die Wahrheit des Christentums kund zu tun" (ApL 62), nicht zufriedenstellend zu beantworten wusste — mit seinen Stromateis in die klandestine Formlosigkeit scheinbar blosser Gedankenansammlung ohne systematischen Aufbau: "die Formlosigkeit ist hier eben die gewollte und bezeichnende Form" (ApL 63). Clemens' Werk ist ohne wirklichen Anfang und ohne wirkliches Ende; es ist ein Versteckspiel, in welchem die Wahrheit "nicht unmittelbar […] kund" wird, sondern sie soll sich "vielmehr teilweise verbergen und nicht ohne Mühe soll der Eingeweihte hineindringen" (ApL 61 nach Stromateis VI 1,2). Man hat, wohl nicht ganz zu Unrecht, in der Form der Formlosigkeit, die Clemens seinem Werk laut Overbeck verliehen hatte, eine Parallele zu Overbecks eigenem Schaffen sehen wollen.[9] Das Kirchenlexicon, das im Unterschied zu den Stromateis nach Auskunft seines Verfassers nicht für die Publikation bestimmt war, hat in Struktur und Aufbau, dem unendlichen Verweisungscharakter und der Mischung von "allgemeinem Reflexionsmedium"[10] und Material(an)sammlung durchaus Ähnlichkeiten mit dem letzten Werk des Clemens.

Doch zurück zu den Anfängen der patristischen Literatur und damit zur Frage nach der Valenz der Ursprünge. Clemens hat, gleich wie seine christlichen Schriftstellerkollegen, nach Overbeck zu einem im Geruche der Uneigentlichkeit stehenden Behelfsmittel greifen müssen, um das, was man im hellenistischen Kontext für christlich hielt, sowohl den eigenen Gläubigen als auch den Aussenstehenden einsehbar zu machen. Das Misstrauen gegenüber dem geschriebenen Wort — zumal gegenüber demjenigen mit literarischem, d.h. über reine (briefliche) Mitteilungen an abwesende Eingeweihte hinausgehendem Anspruch — zugunsten der mündlichen Belehrung findet Overbeck gerade hier vorherrschend. Dieser zwar postulierte (vgl. z. B. ApL 41), aber faktisch von Clemens als nicht durchhaltbar erkannte "Phonozentrismus" (um ein wohlfeiles Modewort des "dekonstruktiven Diskurses" zu bemühen) drückt hier viel weniger die allgemeine Tendenz der abendländischen Rationalität, als vielmehr eine sehr spezifische Krise aus, die im Verschwinden der urchristlichen Welt, ihrer Literatur und ihres Publikums begründet ist. Die eng beschränkten Adressaten der "Urliteratur", nämlich die Angehörigen der urchristlichen Gemeinden, haben allmählich einem allgemeinen, kosmopolitischen Publikum Platz gemacht, das sich auf der einen Seite vor allem aus christianisierten 'Heiden', auf der andern Seite aus noch 'heidnisch' gebliebenen 'Heiden' zusammensetzte, und eine neue, weltliterarische Art von Literatur unabdingbar werden lassen — "jedes Literaturwerk" sei "ein Symptom seines Publikums" (ApL 66). Der Kanon der neutestamentlichen Schriften, über dessen Entstehung wir ausser der ungefähren Zeit (nach 150) laut Overbeck kaum etwas wissen, dient den sich etablierenden Kirchenvätern nun dazu, der "Gefahr […], sich am Ende in der fremden Welt der profanen Literatur selbst zu verlieren" (ApL 68), entgegenzutreten. "Als Clemens sein Hauptwerk schrieb, war aus der christlichen Urliteratur nach dem Prinzip der apostolischen Herkunft schon eine Auswahl getroffen und der so zusammengekommenen Sammlung die Bedeutung einer einzigartigen und für alle Zeiten gültigen Urkunde der christlichen Offenbarung und Norm für alles als christlich Anzuerkennende zugesprochen. Dieser Norm hatte sich fortan natürlich auch alle Literatur zu unterwerfen, welche das Christentum vom Standpunkt der Kirche aus zu ihrem Gegenstande hatte, und nur auf diese Norm gestützt hat die patristische Literatur den inhaltsschweren Schritt über Apologetik und Polemik hinaus gewagt." (ApL 68)

So erfreulich sich das anhören mag: Damit war das authentisch Christliche — was immer das inhaltlich gewesen sein mochte — nicht wirklich gerettet, ganz einfach, weil die sich nun formierende Exegese die ursprünglichen Intentionen des kanonisierten Teils der "Urliteratur" im Interesse der dogmatischen Vereinheitlichung eher verdeckte als erhellte. "Denn am Kanon der neutestamentlichen Schrift hält Jedermann unter uns den Totenschein der Literatur, von welcher hier die Rede ist, in der Hand." (ApL 29) Was wir bei der Genese der patristischen Literatur vor uns haben, ist demnach nicht die ruhmreiche Inkulturation des Christentums in der römisch-griechischen Welt, sondern die Tragödie eines unwiderruflichen, ja katastrophalen Verlustes. Um eine Tragödie handelte es sich noch nicht, wenn durch das Wegsterben der Apostel und ihrer direkten Schüler die Verbindung mit den Anfängen allmählich verblasst, aber doch eigentlich die ursprüngliche Struktur und Anhängerschaft dieser Religion erhalten geblieben wäre. Zur Tragödie wird die Geschichte mit allen zugehörigen Elementen von der schuldlosen Schuld bis hin zur Anagnorisis erst durch den Anpassungsdruck, dem die Vertreter der Kirche nolens volens nachgaben.

Overbeck hütet sich, über das nachklassisch-hellenistische oder gar das klassische Griechentum im Stile Nietzsches ein Verdammungsurteil zu sprechen. Im Zentrum seiner Betrachtung steht nicht irgendeine idealtypische oder antiidealtypische Antike, sondern die sehr konkrete Einwirkung der griechisch-römischen Zivilisation auf ein Gebilde, das zunächst unabhängig davon, ganz aus jüdischen Wurzeln gesprossen war. Die Anfänge der patristischen Literatur machen klar, dass die griechisch-römische Kultur die "Welt" verkörperte, von der sich die Christen zunächst fernzuhalten versuchten (vgl. ApL 42). Wollte das Christentum jedoch "in dieser Welt, wie sie einmal war, etwas bedeuten, so hatte es auch in dieses Bücherwesen sich zu finden" (ApL 39) — was es eben tat mit der Adaption "weltliterarischer" Formen. Overbeck begreift auf diesem Hintergrund die sich damals konstituierende Kirche als durch und durch antikes Phänomen[11]: "Das Christenthum ist das Phosphoresciren des verwesenden Alterthums." (OWN 4,157) So sehr das Christentum ein Produkt der Alten Welt ist, ihr zugehört und viele ihrer Elemente in die Neuzeit importiert hat, so wenig kann dieser Sachverhalt darüber hinwegtäuschen, dass mit der christlichen Partizipation an der hellenistischen Weltkultur für Overbeck die Substanz des Christlichen nicht nur gefährdet, sondern beinah schon aufgegeben ist.

Freilich ist auch "die" Antike im Christentum nicht einfach wohlbehalten aufgehoben, sondern selber vielfältigen Transformationen ausgesetzt. Im Kirchenlexicon zitiert Overbeck eine Passage aus der Feder Jakob Philipp Fallmerayers (1790-1861), der das Christentum als "sociale Revolution" verstand und fragte, ob diese "nicht alles, was im Orbis Romanus zu Recht bestand, umgeworfen" habe. "Hat sie nicht von den unscheinbarsten Anfängen, von der verachteten Opposition eines kleinen Häufleins von 'Handwerkern, Weibern, Bettlern und Sclaven' in einigen Winkelgassen von Rom ausgehend, das bürgerliche Gesetz, die Rostra auf dem Forum, die Götter des Capitoliums, den öffentlichen Cultus, die kaiserliche Administration, das Diadem, das Heer, die gesellschaftliche Hierarchie, die Sitte und den Besitzstand der Romuliden langsam, aber mit furchtbarer Geduld unterwühlt, und nach dem unwiederherstellbaren Bankerott aller sittlichen und politischen Triebkräfte den Plan einer neuen Weltordnung auf die Ruine hingezeichnet?" (OWN 4,159f.)[12] Doch Overbeck versagt es sich, diesem an die Aufklärungshistoriographie eines Edward Gibbon anknüpfende Verdacht Fallmerayers, das Christentum zeichne für den Untergang der antiken Ordnung verantwortlich, einen billigenden Kommentar hinzuzufügen, auch wenn er drei Seiten später im selben Lemma ("Christenthum und Alterthum. Allgemeines") noch Bruno Bauer referiert, der das Christentum als "revolutionäre Modification des Alterthums" angesehen hatte, welches gerade deswegen für uns "zur Vergangenheit geworden" sei (OWN 4,161).[13] Overbeck betont in seinen eigenen Reflexionen häufiger die Kontinuitäten als die scheinbar so abrupten und "revolutionären" Brüche zwischen Antike und Christentum.[14] Dass dieses nicht eben deren besten Stücke konserviert habe, steht für ihn jedoch fest: "Die katholische Kirche ist das unter uns noch aber corrumpirt fortlebende Alterthum." (OWN 4,157)

Overbeck lässt keinen Zweifel keimen, dass die in der Welt sich etablierende Kirche längst bevor sie im 4. Jahrhundert Staatskirche wurde, sich mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten des Römischen Reiches bestens zu arrangieren wusste. Dieser immerhin halbe Freispruch des Christentums von der Anklage, am Ende der Alten Welt schuld zu sein, entlastet es aber mitnichten von womöglich noch unangenehmeren Nachfragen. In den Studien zur Geschichte der alten Kirche geht Overbeck mit gewohnt stupender Kenntnis der altchristlichen Literatur der Fabel auf den Grund, das Christentum habe für die Abschaffung der Sklaverei gestritten. Bei der Darstellung des altkirchlichen Verhältnisses zur Sklaverei seien bisher "Ansichten" laut geworden, "bei welchen man, ob es gleich in der Regel christliche Theologen sind, welche sich hierbei vernehmen lassen, eher etwa Feueranbeter über das Christenthum reden zu hören meinen kann" (OWN 2,145). Bei näherem Hinsehen zeige sich nämlich, dass die Repräsentanten der Alten Kirche, wenn sie den gesellschaftlichen Nutzen der Sklaverei nicht gar hervorgehoben haben, ihr bestenfalls indifferent gegenüberstanden. Von einem 'humanitären Engagement' oder einer 'humanitären Gesinnung' kann nach Overbeck bei diesen Herren, so gern die moderne Theologie das auch hätte, nicht die Rede sein. Auch wenn das Mönchtum als eine isolierte Erscheinung innerhalb der Kirche zusammen mit dem Besitzdenken die Sklaverei verabschiedete, sei es doch selber "ein gar zu einleuchtender Beweis davon, wie fern der alten Kirche der Gedanke an das 'Selbstbestimmungsrecht des Individuums' gelegen hat, welcher zur politischen Aufhebung der Sclaverei geführt hat" (OWN 2,189). Vielmehr müsse man von einer "fundamentalen Gleichgültigkeit der Kirche gegen die politische Gleichstellung der Menschen" (ibd.) sprechen. "Diesem Staate [sc. dem Römischen Reich] hat die Kirche keine neuen Kräfte erweckt und viele entzogen, aber sie hat ihn in allen seinen Institutionen geschützt und vollends kein Interesse gefunden, sie zu erschüttern oder auch nur in Frage stellen zu lassen, seit sie selbst darin Bollwerke ihrer Macht zu sehen sich gefallen liess." (OWN 2,200) Mit dieser illusionslosen Sicht der Dinge hat Overbeck u.a. jene Tendenzen abgewehrt, die im Christentum wie Fallmerayer oder Bauer eine sozialrevolutionäre Bewegung sehen wollten[15], ohne dass der kritische Kirchenhistoriker freilich selber wie Nietzsche im Griechischen Staat einer neuen Sklaverei das Wort geredet hätte.

Wer dennoch das Christentum sozialrevolutionär deuten möchte, müsste schon zu den Ursprüngen herabsteigen, um diese als normatives Gegengewicht zur späteren 'christlichen' Bereitwilligkeit aufzubieten, die Interessen des Staates und seiner gesellschaftlichen Organisation zu den eigenen zu machen. Ein solches Verfahren wenden nicht nur revolutionär gesinnte Christen seit dem Mittelalter an, sondern, mit gänzlich entgegengesetzten Intentionen, etwa der späte Nietzsche, wenn er im Antichrist mittels divininatorisch-psychologistischer Kritik die ganz und gar anarchistischen Gelüste der Urchristen denunziert. In Overbecks Bild des frühen Christentums scheinen hingegen solche gegen die realen gesellschaftlichen Gegebenheiten gerichteten Emanzipationsbestrebungen vollständig zu fehlen; die einzig emanzipatorische Kraft des Urchristentums findet er im dezidierten Rückzug, von dem, was als "Welt" abqualifiziert wird, in die fromme Innerlichkeit einer isolierten Gemeinde. Die Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse, die Overbeck in der von ihm als Hauptantriebskraft des Urchristentums wiederentdeckten Eschatologie erblickt, ist ganz und gar nur auf das Kommen einer anderen, besseren Welt ausgerichtet.[16] Die Apokalyptik liess die frühen Christen das Ende der Welt als unmittelbar bevorstehend erwarten; ihnen eröffnete sich keine Weltperspektive, erst recht nicht hin auf eine mögliche, künftige irdische Geschichte ihrer selbst. Die eschatologisch-apokalyptische Option der Urchristen implizierte Overbeck zufolge gerade keinen aktiven Willen, die Welt zu verändern, weswegen jede sozialemanzipatorische Bezugnahme darauf eine letztlich leere Referenz wäre. Die Weltlosigkeit des Christentums ist einzig in der totalen Absage an die Welt reproduzierbar — und eben dies wollten weder die apologetischen, noch die liberalen oder gar die emanzipatorisch-progressiven Interpreten des Christentums wahrhaben.

Die eben referierte, inhaltliche Bestimmung des Christentums ist freilich nicht den Anfängen der patristischen Literatur, sondern vielmehr der Polemik gegen die Christlichkeit unserer heutigen Theologie sowie einigen Kirchenlexicon-Artikeln entnommen. Der formengeschichtliche Ansatz der Anfänge der patristischen Literatur kommt ohne Rekurs auf den Inhalt der "Urlitteratur" oder die durch die spätere Kirche korrumpierten Intentionen der "urgeschichtlichen" Christenheit aus. Das ist taktisch, wenn man so will, ein genialer Schachzug, der gerade jene Replik ausbootet, die sich Overbeck von seinen Kritikern bis in die Gegenwart hinein immer hatte gefallen lassen müssen, nämlich die "Urgeschichte", die Ursprünge als Norm unbegründet absolut zu setzen, mit deren Hilfe dann alle späteren Erscheinungsweisen des Christlichen als Abfall und Verrat verurteilt werden können. Gleichwohl rückt Overbeck, wie spätere Nachlassaufzeichnungen belegen, keineswegs prinzipiell von der Überzeugung ab, "Urgeschichte" sei "bedeutsamere, entscheidendere Geschichte, als alle sonstige Geschichte, und zwar durchaus nicht nur in der Kirchengeschichte, sondern Entstehungsgeschichte ist in der Geschichte alles Lebendingen, im Leben überhaupt unvergleichlich" (OWN 5,619). Man hat diese Position wiederholt als unhistorisch kritisiert[17], und tatsächlich ist schwer einzusehen, wie man nach Overbecks Vorgabe eine in sich geschlossene "Entstehungsgeschichte" von der Gesamtgeschichte eines Phänomens abgrenzen soll. Overbecks Urgeschichtskonzeption setzt, der morphologischen Metaphorik allzuviel Tribut zollend[18], offenbar voraus, dass sich ein Ding zunächst in der Retorte, in einem abgeschlossenen Raum entelechetisch zur Reife entwickelt, und danach, durch die Interaktion mit der umgebenden Welt, eigentlich nur noch verwelken und absterben kann. Wieso aber sollte man nicht die ganze Geschichte eines Dinges von seinen ersten Anfängen bis hin zu seinem gegenwärtigen Zustand als einen kontinuierlichen Entwicklungs-, Transformations- und Interaktionsprozess begreifen dürfen? Wieso sollte die 'eigentliche' Entwicklung nach einer im dunkeln vegetierenden "Urgeschichte" abgeschlossen sein, um danach nur noch Niedergang zu gewärtigen? Woher rührt im übrigen die Gewissheit, dass ein Phänomen wie das Christentum gleichsam einer inneren Teleologie folgend, zunächst sein irgendwie vorgegebenes Wesen entfaltet, das nachher zwangsläufig unters Rad der Geschichte gerät? Woher weiss Overbeck denn, dass es ein solches anscheinend von allem äusseren Umständen unabhängiges "Wesen" gibt, das sich realisiert, um erst dann in die Geschichte einzutreten? Und schliesslich: Wie kann es Entstehen jenseits von Welt und Geschichte geben; wie kann etwas werden, was es sein wird, ohne Interaktion mit der Welt, in der es sich befindet?

Aber all die Anfragen treffen die vermeintlich rein formengeschichtliche Analyse in den Anfängen der patristischen Literatur nicht wirklich. Denn unabhängig davon, ob man an eine normative Kraft des Uranfänglichen für die Beurteilung des Späteren glaubt — was bei Overbeck im Unterschied zum frühen Nietzsche, wie gesagt, nie hiess, dass er für eine Reanimierung der Ursprünge, in seinem Falle also für eine Wiederbelebung des Urchristlichen plädiert hätte! —, oder aber sich darauf beschränkt, Transformationsprozesse zu konstatieren, ohne die Anfänge absolut zu setzen, veranschaulicht Overbecks Abhandlung, dass am Ende des 2. Jahrhunderts eine fundamentale Veränderung in der Geschichte des Christentums eintrat, die es nicht mehr erlaubte, die alten Inhalte unbeschadet in die Zukunft hinüberzuretten. Overbeck exemplifiziert anhand der literarischen Formen, deren sich die Vertreter der jungen Kirche bedienten, eine fundamentale Diskontinuität des geschichtlichen Verlaufes, der gerade nicht als organisches Wachstum, sondern, wie man das auf poststrukturalistisch wohl formulieren würde, als ein Prozess fortgesetzter Überschreibungen eines nicht mehr verstandenen, ursprünglichen Textes erscheint. Auch wenn man, gegen Overbecks andernorts geäusserte Thesen, selbst die "Urgeschichte" nicht mehr als einheitliches Gebilde fasst, sondern (beispielsweise wie Nietzsche im Antichrist) das Missverstehen und Umdeuten bereits in die unmittelbaren Jünger Jesu hineinliest, bleibt Overbecks Schlüsselargument einer sich steigernden Verzeichnung der Ursprünge im Verlaufe der Geschichte davon unangefochten. Overbecks scheinbar formalistischer Zugang zu den Quellen der Alten Kirche klammert das, was in der "Urgeschichte" geschehen sein mag, als mögliche inhaltliche Norm späterer Christlichkeit zunächst aus, erbringt dafür aber umso vorurteilsloser den Beweis, dass das, was nachher kam, trotz aller Anstrengungen etwa eines Clemens, mit dem Ursprünglichen nicht mehr identisch sein konnte, obwohl man doch mit der Kanonisierung des Neuen Testaments selber diese Ursprünge normativ gesetzt hatte![19] Die Väter verstanden nicht mehr, worum es im Anfang wirklich zu tun gewesen sein mochte, weshalb sie dank ihrer exegetischen Künste zwar alle möglichen Parallelwelten und künstlichen Paradiese, jedoch nie mehr das Authentische, sprich: Ursprüngliche wiederentdeckten. Mit modernen Mitteln kann es zwar besser gelingen, die Geisteswelt der christlichen Urzeit auszuloten; diese Auslotung führt Overbeck indes zur illusionslosen Erkenntnis, dass es im nachurchristlichen Rahmen vollständig unmöglich geworden ist, so etwas wie Urchristentum lebenspraktisch umzusetzen. Das Werden des Christentums verdankt sich kontingenten historischen Bedingungen — Bedingungen, deren Reproduktion gegenwärtig weder wünschenswert noch möglich ist.[20]

 

Bei der Durchsicht von Nietzsches Vorlesungen lässt sich feststellen, dass der junge Professor während seiner Basler Lehrtätigkeit bei der griechischen Literatur ähnliche Probleme — "originale Litteratur" (GoA 18, 133f.), Kanonbildung, Diskontinuitäten, "Verhältnis von 'Literatur und Gesellschaft'"[21] oder, noch allgemeiner gefasst, von Kultur und Kontingenz — umtrieben. Overbeck seinerseits hatte sich mit formengeschichtlichen Ansätzen schon vor seiner Basler Zeit und damit vor seiner Begegnung mit Nietzsche getragen.[22] Auf unsere Fragestellung nach den Ursprüngen und ihrer kulturellen Normativität bezogen, besteht die auffälligste Differenz zwischen beider Konzepten in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, wie eingangs angeführt, in Nietzsches Willen, die Ursprünge in praktischer Absicht wiederzuerwecken, wozu Overbeck weder die Berufung verspürte, noch die Notwendigkeit erkannte.

Und gerade von einer solchen, praktischen Normativität der Ursprünge für die Regeneration der zeitgenössischen Kultur nimmt Nietzsche seit Mitte der siebziger Jahre Abstand. Menschliches, Allzumenschliches I (1878) macht aus der aufklärerischen Gesinnung seines Verfassers und dessen Emanzipation von den Ursprungsmythologien kein Geheimnis. Ursprungsmythologische und ursprungsrestaurative Tendenzen klingen hier, wenn überhaupt, nurmehr selten an. Allerdings neigt dieses Aphorismenbuch mit der Rückführung der nur vorgeblich grossen Ideen — namentlich der Metaphysik und der Religion — auf menschlich, allzumenschliche Entstehungsumstände zu einer stillschweigenden Umgehung der Frage, was denn nun Norm der Kritik sein soll. Menschliches, Allzumenschliches I verschreibt sich einer Psychologisierung der sogenannten Menschheitsfragen, um sie in ihrer ganzen Trivialität blosszustellen.

Das Interesse an den Ursprüngen hält gleichwohl in dieser Periode von Nietzsches Schaffen an. Die jetzt vorherrschende kulturreformatorische Argumentationsfigur ist jedoch nicht mehr der Rückgriff auf einen Idealzustand der Kultur in mehr oder minder grauer Vorzeit — "die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln" (MA I 24—KSA 2,45). Nun steht das Anfängliche — nicht mehr mit dem Ehrentitel "Ursprung", sondern dem bescheideneren Namen "Herkunft" bedacht — unter dem Joch einer Entlarvungsstrategie.

Die Ursprünge kommen also unter neuen Gesichtspunkten in den Blick: Nicht mehr als normgebende Instanzen, als Orientierungsgrössen, an denen sich gegenwärtiges Handeln auszurichten hätte, sondern als die dubiosen Realgründe dessen, was gegenwärtig und zu Unrecht Geltung beansprucht: "Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im Verlauf der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom 'Ding an sich' und der 'Erscheinung' auf." (MA I 10—KSA 2,30) Dies impliziert nach wie vor, dass in der "Entstehung" ein Schlüssel für das Verständnis eines Phänomens liegt; nur handelt es sich nicht mehr um Ursprünge, die in irgendeiner Weise von höherer Dignität oder gar von einem supranaturalen Eingriff zeugen, wie dies die Gründungsgeschichten von Religionen meist suggerieren. Nicht allein der "Beginn", sondern ebenso der "Verlauf", die weitere Geschichte eines Dinges nach seinem Beginn bestimmen nach Nietzsches Diagnose sein Wesen. Was Menschliches, Allzumenschliches I anbietet, ist mitnichten eine säkularisierte Ursprungsmetaphysik, die aus den Anfängen das "Wesen" einer historischen Erscheinung (und alle Dinge sind historische Erscheinungen) ableiten will. Nietzsche schneidet überhaupt jede Möglichkeit zu einer metaphysischen Wesenseinsicht ab: "mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das 'Wesen der Welt an sich'; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine 'Ahnung' kann uns weitertragen" (ibd.). Das aufklärerische Vertrauen in die Reichweite wissenschaftlicher Erkenntnismethoden ist einerseits also nachgerade omnipotent geworden — Nietzsche negiert alles Über- und Widervernünftige —; andererseits wird ihnen aber keine metaphysische Einsicht in ein wie auch immer beschaffenes "Ding an sich" zugetraut, ganz einfach, weil ein solches "Ding an sich" oder "Wesen der Welt" jenseits aller menschlichen Erkenntnisfähigkeit liegt, falls es denn überhaupt irgendwo liegt (was Nietzsche zu bezweifeln nicht müde wird). Implizit gegen Schopenhauer, namentlich auch gegen dessen Aufwertung des Buddhismus und des asketischen Christentums zur Metaphysik fürs Volk, richtet sich Nietzsches Absage an "Religion, Kunst und Moral", hier mehr leisten zu können, als die Wissenschaft leistet, nämlich überhaupt etwas.[23] Vielmehr scheint ihre irdische und gar nicht wunderbare Bedingtheit Nietzsche zu beweisen, dass sie über dieses "Wesen der Welt" keine nur im Geringsten glaubwürdige Aussage zu machen im Stande sind. Freilich lässt die Kohärenz von Nietzsches Argument durchaus zu wünschen übrig: Auch wenn "Religion, Kunst und Moral" ganz und gar irdische Ursprünge haben und in ihren Verlauf nie eine höhere Macht eingegriffen hat, folgt daraus nicht, dass sie nicht trotzdem Wahrheiten lehren oder beinhalten könnten. Hier werden Genese und Geltung vermengt. Die "Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft" (so der Titel des besprochenen Aphorismus) wird nicht herbeigeführt durch den blossen Hinweis auf ihr historisches Gewordensein. Im Gegenteil drohen Nietzsches Wissenschaftseuphorie selber die metaphysischen Prämissen jener Disziplinen zu entgehen, denen er "mit voller Ruhe […] die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne", überlassen möchte, nämlich "der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe" (ibd.). Gleichwohl: Was Nietzsche an dieser Stelle formuliert, ist die Programmskizze seiner genealogischen Methode.

Dieses genealogische Programm ist alles andere andere als eine antiquarische Fingerübung, vielmehr "eine Schule des Verdachts" (MA I Vorrede 1—KSA 2,13), die die Legitimität bestehender Institutionen, insbesondere der Moral untergräbt. Genealogie erkundet die Ursprünge einer Sache, um deren gegenwärtige Gültigkeit zu hinterfragen und zu sabotieren.[24] Nietzsche betätigt sich in seinen späten Schriften jedoch nicht einfach als Zerstörer "unserer moralischen Vorurtheile" (GM Vorrede 2—KSA 5,248) — und alle Urteile der landläufigen Moral sind für ihn Vorurteile —, sondern will zugleich eine neue Moral aus der Taufe heben, die sich radikal von "sklavenmoralischen" Grundüberzeugungen abkehrt.

Im Genealogie-Projekt dient der Rekurs auf die "Ursprünge" grob gesagt dazu, die völlige Kontingenz dessen nachzuweisen, was wir gemeinhin für unverbrüchlich, für naturrechtlich abgesichert und ewiggültig halten. Die Ursprünge der Moral, die Nietzsche aufdecken will, gründen in Machtinteressen und Machtkonflikten. Aus den Ursprüngen ist in der Genealogie der Moral nicht mehr wie in Menschliches, Allzumenschliches I fugenlos abzuleiten, was den Charakter einer Sache ausmacht; vielmehr finden Verschiebungen und Überschreibungen statt, die die Ursprünge fast vollständig verschütten.

Zusammengefasst lässt sich bei Nietzsche im Zeichen einer "antiromantische[n] Selbstbehandlung" (MA II Vorrede 2—KSA 2,371) die Abkehr von einer Normativität der Ursprünge beobachten. Im Spätwerk kommt die Differenz von Ursprung und Entsprungenem, das die Ursprünge mitunter fast gänzlich verleugnet, vermehrt in den Blick. Dieses Beharren auf der fundamentalen Differenz von Abkunft und Abkömmling wird nicht mehr begleitet von einem Plädoyer für die Reinstallation der Ursprünge, aber doch erneut von einer Denunziation des aus den Ursprüngen schliesslich Gewordenen. Diese Denunziation weist zunächst nur die Nichtidentität des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen und damit die Nicht-Notwendigkeit dieses Gegenwärtigen aus, impliziert aber ein Unrecht: Nietzsches Rekapitulation der Moralgeschichte scheint mitunter sagen zu wollen, das, was geworden ist, wäre besser gar nicht.

 

Was nun aber hat Nietzsches Genealogie-Projekt mit den gelehrten Abhandlungen seines Freundes Overbeck zu schaffen? Die Anteilnahme, die Nietzsche in seinen Briefen an der immer wieder verzögerten Niederschrift von Overbecks Anfängen der patristischen Literatur zeigt, reichen kaum hin, um enge systematische Beziehungen zu postulieren.[25] Und dennoch liefert uns die parallele Betrachtung von Nietzsches und Overbecks Schriften der ausgehenden siebziger und der achtziger Jahre starke Indizien dafür, dass die Gesprächsgemeinschaft der beiden weiterhin über den Austausch von Befindlichkeits- und Lageberichten, über unermüdliche Freundschaftsdienste (auf Overbecks Seite) und unermüdliches Lamentieren (auf Nietzsches Seite) hinausreichte. Die antiromantische Relativierung der Ursprungsnormativität rückt bei beiden zu einem wesentlichen Traktandum ihres Denkens auf. Overbeck beschritt, wie wir gesehen haben, diesen Weg insofern schon früher, als er in der Christlichkeit von 1873 zwar an den Ursprüngen die gegenwärtigen Erscheinungsformen der sogenannten christlichen Kultur mass, diese Ursprünge aber keineswegs als nach wie vor Lebensorientierung stiftende Instanzen verstanden haben wollte. Sein Konzept von "Urgeschichte" und "Urliteratur", das er ein knappes Jahrzehnt danach vorstellte, setzt die Relativierung der Ursprünge fort, indem es sie zunächst als opak begreift und die Abweichungen von ihnen, sobald die "Urgeschichte" der Geschichte, d.h. der "Welt" hat Platz machen müssen, als notwendig betrachtet. In der Schrift Über die Anfänge der patristischen Literatur — und das macht sie so interessant —, reicht eine rein formal anmutende Analyse der literarischen Gattungen dazu aus, die unüberbrückbare Kluft zwischen Abkunft und Abkömmlingen vor aller Augen zu führen.

Nietzsche seinerseits relativiert die Macht der Ursprünge zunächst in der Zweiten unzeitgemässen Betrachtung zu zwar regulativen, aber doch als fiktiv durchschauten Leitideen. Die in der Geburt der Tragödie noch als unbedingt normativ geltende Bewältigung des dionysischen Vitalitäts- und Leidens-Überschusses durch das apollinische Kunstwerk der aischyleischen Tragödie oder des "tragischen" Denkens der Vorsokratiker wird endgültig in Menschliches, Allzumenschliches I suspendiert durch eine Hermeneutik des Verdachts, die dem Rekurs auf normative, gar von göttlichen Erfahrungen geadelte Ursprünge hart zusetzt. Die Genealogie der Moral will Machtkonflikte in den Ursprüngen ergründen, um so das, was ungefragt gültig ist, zur Disposition zu stellen. Die psychologisierende Methode in Menschliches, Allzumenschliches I weicht einer machttheoretisch inspirierten Ursprungsforschung, die wiederum ein Bewusstsein nicht nur der Relativität des Abkünftigen, sondern auch der Abkünfte selbst erzeugt. Ursprünge sind immer — so eine Quintessenz von Nietzsches und Overbecks Ursprungsforschungen — relativ zu dem, was durch sie geworden ist. Es gibt für beide keine absoluten Ursprünge (mehr), aus denen schlechterdings alles abzuleiten wäre — insbesondere keine Normen für das, was für die Kultur der Gegenwart nottäte. Es ist aus den Ursprüngen, die numehr immer partikulare sind, keine Geltung zu folgern — weder für sie selbst, noch für das, was ihrem Schoss entsprungen ist.

Mochte es zunächst den Anschein haben, Overbeck habe als Nachzügler und Imitator Ideen Nietzsches rezipiert und für seine Schrebergarten-Zwecke umgemünzt, so erscheint er im Blick auf die suspendierte Normativität der Ursprünge vielmehr als der Vorreiter. Seine Ursprungsforschung namentlich in den Anfängen der patristischen Literatur eröffnet Perspektiven, die in Menschliches, Allzumenschliches I noch unterbelichtet blieben, jedoch in der Genealogie der Moral geradezu omnipräsent sind, nämlich den Einblick in die Diskontinuität von Ursprung und Verlauf einer geschichtlichen Erscheinung. Hatte Overbecks Christlichkeit, gleich wie Nietzsches Geburt der Tragödie, die Abweichung von den Ursprüngen noch als Verfall und Verrat beklagt, konstatieren die Anfänge der patristischen Literatur  letztlich einfach die unüberwindbare Differenz. Dieses tiefgreifende Anderssein der Ursprünge vom Entsprungenen ist selber wiederum ein Leitgedanke der Genealogie der Moral. Wer die Genese von Nietzsches genealogischer Methode genealogisch entschlüsseln will und auch sie als ein "Palimpsest" (vgl. NL 1887/88,11[302]—13,128) begreift, wird dabei wohl auf Spuren von Overbecks Ursprungsergründungen stossen. Zur Geschichte des genealogischen Projektes scheint, gar nicht nur am Rande, Overbecks "Paläontologie" (ApL 36) zu gehören. Aber selbst wenn wir Overbecks "Paläontologie" des Christentums der Ursprungsgeschichte der Genealogie zuschlagen, heisst das keinesfalls, dass sie deren Ursprung schlechthin wäre. Für die Genealogie gilt, genauso wie nach Nietzsche für die von ihm genealogisch de- und rekonstruierten Phänomene, dass sie ihre eigenen Ursprünge verbirgt, umdeutet, zurechtinterpretiert, überschreibt. Direkte Kausalitäten, nahtlose 'Abhängigkeiten' gibt es auch hier keine.

 

Genealogie bedeutet immer auch, Differenzen bewusst zu machen. Gerade die dürfen bei Overbeck und Nietzsche nicht übertüncht werden. Proportional zum Anwachsen von Nietzsches Anspruch auf allgemeines Gehörtwerden, der sich hinter dem rhetorischen Stereotyp, sich bloss an die Allerwenigsten zu richten, nur unzureichend verbirgt, schwindet Overbecks Wunsch, direkt auf die Geschicke des modernen Christentums oder gar der "Welt" Einfluss zu nehmen. Overbeck, der sich ohnehin nie als Kulturerneuerer in Szene zu setzen pflegte, aber doch mit der Christlichkeit auf eine neue Selbstbesinnung der Theologie und des Christentums drang, zog sich, wenigstens für die Öffentlichkeit, in die Arkana scheinbar rein fachwissenschaftlicher Betätigung zurück. Mit einer nicht irritierbaren Beharrlichkeit wies Overbeck auf die Unwiederholbarkeit der Ursprünge hin, aus denen sich keine zeitlose Substanz der Kultur extrahieren lasse. Denkbar abwegig wäre es ihm jedoch erschienen, selber Ursprung einer neu zu schaffenden Welt sein zu wollen.

Ganz anders Nietzsche, dessen genealogisches Projekt auf die Enterbung all jener Mächte und Institutionen abzielte, die vom Menschen Anerkennung und Unterwerfung fordern. Der eigentliche Zweck der Übung war es aber, sich selbst als Ursprung einer neuen Ordnung, einer neuen Kultur zu investieren, zum Gesetzgeber einer neuen Zeit zu werden. Gesetzt, Nietzsche wäre dieses Unterfangen gelungen, dürfte es ihm dabei ergangen sein wie nach eigener Diagnose jedem anderen Ursprung: Er wurde und wird missverstanden, umgeschrieben und verunstaltet. Darin liegt vielleicht die Tragik dessen, was Ursprung ist oder sein will. Die Ursprünge haben ein beträchtliches Selbsterledigungspotential.

 

 

Siglen

 

 

AC =                                Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 165-254.

ApL =                              Franz Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur [1882], Basel (1954).

ChT1 =                             Franz Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Friedensschrift, Leipzig 1873 (auch in: OWN, Bd. 1).

ChT2 =                             Franz Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 2. um eine Einleitung und ein Nachwort vermehrte Auflage, Leipzig 1903 (auch in: OWN, Bd. 1).

EhB =                              Franz Overbeck, Über Entstehung und Recht einer rein historischen Betrach­tung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie, Basel 1871 (auch in: OWN, Bd. 1).

GD =                                Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 55-161.

GM =                               Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], in: KSA, Bd. 5, S. 245-412.

GoA =                             Nietzsche's Werke, Leipzig 1894-1906 [Grossoktav-Ausgabe; beigezogen für Nietzsches Philologica].

GT =                                Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872], in: KSA, Bd. 1, S. 9-156.

JGB =                               Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], in: KSA, Bd. 5, S. 9-243.

KSA =                             Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 2 1988.

KSB =                              Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 2 1986.

MA I-II =                        Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 2 Bde [1878/86] = KSA, Bd. 2.

NL =                                Nachlass Friedrich Nietzsches, zitiert nach KSA mit Jahr-, Heft- und Fragmentangabe.

OWN =                           Franz Overbeck, Werke und Nachlass, hrsg. von Ekkehard W. Stegemann u. a., Stutt­gart / Weimar 1994ff.

St =                                  Franz Overbeck, Studien zur Geschichte der alten Kirche. Erstes Heft, Schloss-Chemnitz 1875 (auch in: OWN, Bd. 2).

UB II =                            Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: KSA, Bd. 1, S. 243-334.

VM =                               Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Anhang: Vermischte Meinun­gen und Sprüche [1879], in: MA II.

 

 

 

Dr. Andreas Urs Sommer

Universität Greifswald, Institut für Philosophie

Baderstr. 6-7

174787 Greifswald



[1] Zu Overbecks Entwicklung bis zu seiner Begegnung mit Nietzsche vgl. Niklaus Peter, Im Schatten der Modernität. Franz Overbecks Weg zur "Christlich­keit unserer heutigen Theologie", Stuttgart / Weimar 1992, S. 42-118; zu seiner Basler Antrittsvorlesung Andreas Urs Sommer, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur "Waffengenossenschaft" von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, Berlin 1997, S. 29-43; neuerdings auch Martin Arndt, Die Basler Syntroglodyten Overbeck und Nietzsche. Eine Freundschaft im Dissens, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Jg. 53 (2001), Heft 3, S. 193-226.

[2] Siehe Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", (Kap. 1-12), Stuttgart / Weimar 1992.

[3] Dazu Andreas Urs Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und "Hoher Politik". Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde, in: Nietzscheforschung. Ein Jahrbuch, Bd. 4, Berlin 1998, S. 169-194.

[4] Vgl. Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart / Weimar 1995.

[5] Vgl. z. B. Friedrich Wilhelm Graf, Theolog und Antitheolog. Die Neuentdeckung Franz Overbecks, in: Evangelische Kommentare. Monatsschrift zum Zeitgeschehen in Kirche und Gesellschaft, Jg. 27 (1994), S. 678-681.

[6] Der vorliegende Aufsatz setzt damit die Erörterungen in meinem Nietzsches und Overbecks Anfängen gewidmeten Buch Der Geist der Historie und das Ende des Christentums (Anm. 1) fort — eine Fortsetzung, die Miguel Skirl (in: Nietzsche-Studien, Bd. 27 [1998], S. 576-580) zurecht angemahnt hat.

[7] Vgl. Franz Overbeck, Selbstbekenntnisse. Mit einer Einleitung von Jacob Taubes, Frankfurt am Main 1966, sowie die kritische Neuedition von Overbecks Notaten in OWN 7/1.

[8] Erschienen in: Historische Zeitschrift, Bd. 48 (1882), S. 417-472, hier zitiert (ApL) nach der orthographisch modernisierten Buchausgabe: Franz Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur, Basel (1954). Eine kritische Neuausgabe wird demnächst in OWN 3 zu finden sein.

[9] Vgl.  Carl Albrecht Bernoulli in der Einleitung zu: Titus Klemens von Alexandria, Die Teppiche (Stromateis). Deutscher Text nach der Übersetzung von Franz Overbeck. Im Auftrage der Franz Overbeck-Stiftung in Basel hrsg. und eingeleitet von Carl Albrecht Bernoulli und Ludwig Früchtel, Basel 1936, S. 60, und vor allem Martin Tetz, Über Formengeschichte in der Kirchengeschichte, in: Theologi­sche Zeitschrift, Jg. 17 (1961), S. 413-431, S. 425f. Kritisch liess sich dazu Arnold Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik des Christentums, Göttingen 1975, S. 74, Anm. 234, vernehmen. Zum Problem Sommer, Der Geist der Historie, S. 93f.

[10] Barbara von Reibnitz in der Einleitung zu OWN 4, S. XIII.

[11] So ist für ihn wie für Nietzsche das neuzeitliche Christentum ein antikes Relikt: "Nehme ich einem Thier das Gehirn erst aus, so ist es keine Kunst zu behaupten, dass es keines hat. So auch hier mit Christenthum und Alterthum. Das Christenthum gehört zum Alterthum, in ihm lebt sich das Alterthum aus, und nur ein ganz willkürlicher Schnitt durch das Alterthum gestattet das Christenthum als ein Ding zu betrachten, mit dem das Alterthum nichts zu thun hat." ("Christenthum und Alterthum. Allgemeines"; OWN 4,159).

[12] Von Overbeck zitiert nach Jakob Philipp Fallmerayer, Gesammelte Werke, Bd. 3: Kritische Versuche, hrsg. von G. M. Thomas, Leipzig 1861, S. 486f. Es handelt sich um den Ausschnitt aus einer Rezension zu Johannes Joseph Ignaz von Döllingers  Heidenthum und Judenthum (1858). Overbecks Exzerpt ist wohl in den siebziger oder achtziger Jahren entstanden.

[13] Nach Bruno Bauer, Kritik der Evangelien und Geschichte ihres Ursprungs, Bd. 1, Berlin 2 1851, S. XVI.

[14] Der späte Nietzsche hingegen verschrieb sich der These, das Christentum trage am Untergang der antiken Welt allein die Schuld; vgl. Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsche: "Der Antichrist". Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000.

[15] Siehe dazu die rezeptionsgeschichtlichen Hinweise von Ekkehard W. Stegemann in seiner Einleitung zur Neuausgabe der Studien zur Geschichte der alten Kirche (OWN 2,11-13).

[16] Zum Thema Ekkehard W. Stegemann, Ende der Zeit — Zeit des Endes. Overbeck und die Apoka­lyptik, in: Rudolf Brändle / Ekkehard W. Stegemann (Hrsg.), Franz Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München 1988, S. 167-181, und kritisch hierzu Niklaus Peter, Unerledigte Anfragen und befragte Erledigungen. Eine erste Rezeption und Diskussion dreier Beiträge, a. a. O., S. 196-207, v. a. S. 204-206.

[17] Siehe Hubert Cancik / Hildegard Cancik-Lindemaier, Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland, Stuttgart / Weimar 1999, S. 63f. im Anschluss an Stegemann, Ende der Zeit — Zeit des Endes, S. 168.

[18] Vgl. Sommer, Der Geist der Historie, S. 32 und passim.

[19] Wenn Overbeck z. B. in der Christlichkeit unserer heutigen Theologie moderne Ansprüche auf Christlichkeit an den Ursprüngen misst, tut er gar nichts anderes, als jenen Massstab anzuwenden, den die christliche Theologie mit ihren Ansprüchen selber gewählt hat.

[20] Hermann-Peter Eberlein, Theologie als Scheitern? Franz Overbecks Geschichte mit der Geschichte, Essen 1989, S. 120, stellt das unter die Präambel des Scheiterns: "Der historisch-formengeschichtliche Ansatz entwickelt eine Eigendynamik, welche Overbeck hindert, diesen Text [sc. das Johannesevangelium] (anders als etwa Platons Symposium) auf seinen Gehalt, jene mehr oder weniger universale Form der Weltbewältigung zu befragen, die deren Verfasser, wie die bereits recht literarische Form des Evangeliums beweist, mit seiner Hilfe zum Ausdruck bringen wollte." Tatsächlich ist für Overbeck ein solcher "Gehalt" deswegen unerheblich geworden, weil wir die kerygmatischen und lebensweltlichen Voraussetzungen des Evangelisten nicht mehr teilen können, oder jedenfalls Overbeck sie nicht mehr teilt.

[21] Hubert Cancik / Hildegard Cancik-Lindemaier, Philolog und Kultfigur, S. 126f.

[22] Siehe die ausgezeichneten Analysen bei Johann-Christoph Emmelius, Tendenzkritik und Formengeschichte. Der Beitrag Franz Overbecks zur Auslegung der Apostelgeschichte im 19. Jahrhundert, Göttingen 1975, der auch die Vorlesungen eingehend berücksichtigt.

[23] Zum Problem der Schopenhauer-Rezeption siehe ausser den massgeblichen Arbeiten von Georges Goedert (z. B. Nietzsche der Überwinder Schopenhauers und des Mitleids, Amsterdam / Würzburg 1988) auch meinen Aufsatz über Overbecks Verteidigung des Philosophen Schopenhauer gegen dessen theologisierende Inanspruchnahme durch Philosophieprofessoren: Andreas Urs Sommer, Weltentsagung, Skepsis und Modernitätskritik. Arthur Schopenhauer und Franz Overbeck, in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 107/1 (2000), S. 192-206.

[24] Vgl. Andreas Urs Sommer Vom Nutzen und Nachteil kritischer Quellenforschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 29 (2000), S. 302-316.

[25] Nietzsche, in Overbecks Projekte eingeweiht, wünscht dem Basler Freund schon am 14. November 1879, "dass im Winter Deine Abhandlung über die Entstehung der christlichen Litteratur fertig werden möge" (KSB 5,463; vgl. auch die Briefe vom 8. Juli 1881—KSB 6,101, und vom 29. Januar 1882—KSB 6,163). Aber im Unterschied zu anderen Schriften Overbecks ist uns kein briefliches Urteil Nietzsches über ApL überliefert; auch im Nachlass findet sich kein direkter Hinweis auf diese Schrift.