Silvia Stoller

Feministische Phänomenologie

Schon seit einiger Zeit gibt es eine beachtliche Anzahl von Arbeiten, die unter dem Label "Feministische Phänomenologie" laufen oder dieser Forschungsrichtung zugeordnet werden können. Dennoch scheint ungeklärt, worin ihr struktureller und methodischer Ansatz genau bestehen sollte. Auch die Beziehung zwischen Phänomenologie und feministischer Theorie selber bleibt klärungsbedürftig. Nun sind in der Zwischenzeit aber zwei neuere Sammelbände erschienen, die einen guten Einblick in diesen Forschungsansatz geben und dessen Aktualität dokumentieren (1, 2). Linda Fisher spielt in ihrem Aufsatz "Phänomenologie und Feminismus" (3) mehrere Möglichkeiten einer solchen Verbindung durch. Weitere systematische Analysen stehen noch aus, Gründe dafür gibt es einige. Einer liegt im relativ jungen Alter dieser Forschungsrichtung, ein zweiter in der Diversität der Ansätze, die es mittlerweile auf dem Gebiet der feministischen Phänomenologie gibt. Drittens ist die feministische Phänomenologie mehrheitlich in der feministischen Forschung ein Thema, nicht aber in der klassischen phänomenologischen Forschung, obwohl immer mehr und mehr PhilosophInnen sowohl in der feministischen Theorie als auch der Phänomenologie beheimatet sind. Viertens hinkt die europäische Tradition im Vergleich zum angloamerikanischen Raum auf diesem Gebiet hinterher.
Philosophiegeschichtlich betrachtet, ist die feministische Phänomenologie so alt wie Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (frz. 1949), Spuren finden sich in zentralen feministischen Ansätzen bis zur Gegenwart. Beauvoir mit der Tradition der Phänomenologie zu verbinden war über Jahrzehnte kein Thema der Beauvoir-Forschung. Lange stand sie im Schatten Jean-Paul Sartres, was auch bedeutete, dass ihr theoretisches Werk primär als "existentialistischer Feminismus" rezipiert wurde. Dieser Blick verdeckte jedoch dessen phänomenologische Wurzeln. Dies ist umso erstaunlicher, als sich Beauvoirs zweiter Hauptteil von Das andere Geschlecht, der für die feministische Rezeption besonders wichtig geworden ist, der "gelebten Erfahrung" (expérience vécue) widmet und Beauvoir auf die Bedeutung von Merleau-Pontys Theorie der gelebten Erfahrung in der Phänomenologie der Wahrnehmung ausdrücklich aufmerksam machte. Auch ihre Auffassung vom Körper als einer "Situation" verdankt sie neben Sartre der Phänomenologie Merleau-Pontys. An Beauvoir lässt sich also zeigen, dass die Berücksichtigung der phänomenologischen Wurzeln eines feministischen Werks nicht nur von historischem Interesse ist. Ihre Körpertheorie, die eine biologistische Interpretationen des Geschlechts zu widerlegen versucht, wird von phänomenologischen Erkenntnissen gestützt.

Mittlerweile hat die feministische Forschung jedoch den phänomenologischen Hintergrund Beauvoirs als wichtigen Beitrag anerkannt. So vertritt Debra Bergoffen (4) beispielsweise die These, dass Beauvoirs Philosophie eine "vergeschlechtlichte Phänomenologie" (gendered phenomenology) ist, d. h. eine Phänomenologie, in die die Perspektive der Geschlechtlichkeit eingebracht ist. Und Sara Heinämaa (5) argumentiert, dass Beauvoir in Das andere Geschlecht eine "phänomenologische Beschreibung der Bedeutungen der Geschlechterdifferenz" entwickelt.

Nimmt man Luce Irigarays differenz- bzw. alteritätstheoretischen Ansatz in den Blick, darf auch hier der phänomenologische Kontext nicht unberücksichtigt bleiben. In ihren Vorlesungen zur Ethik der sexuellen Differenz (frz. 1984) (6) findet sich eine kritische Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty und

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 Levinas, eine Auseinandersetzung, die in der feministischen Rezeption noch immer zu wenig Beachtung gefunden hat, sodass Tina Chanter (7) noch 1995 darauf hinweisen musste, dass das kulturelle und politische Klima, in dem Irigaray schreibt, "durchdrungen ist von einer intellektuellen Geschichte, die die Phänomenologie mit der Psychoanalyse und dem Poststrukturalismus zusammenbringt". Noch viel mehr gilt umgekehrt, dass innerhalb der Phänomenologie feministische Forschung nach wie vor zu wenig Berücksichtigung findet. So hat Sabine Gürtler (8) vor kurzem zu Recht bemerkt, dass Irigaray eine "in phänomenologischen Zusammenhängen bisher kaum gewürdigte[n] Autorin" ist. In ihrer Studie Elementare Ethik. Alterität, Generativität und Geschlechterverhältnis bei Emmanuel Lévinas (9) verbindet sich aber entlang der Frage nach der Alterität auf sehr produktive Weise ein phänomenologischer Ansatz (Levinas) mit einer feministischen Perspektive (Irigaray).

Dass die Phänomenologie auch in zeitgenössischen Ansätzen des poststrukturalistischen Feminismus Eingang gefunden hat, lässt sich an Judith Butler zeigen. Zwar muten bei der Autorin des Unbehagens der Geschlechter (Frankfurt 1991) prima vista wohlmeinende Bezüge zur Phänomenologie eher unwahrscheinlich an, doch finden sich in ihren frühen Studien der achtziger Jahre neben kritischen auch sympathetische Bemerkungen zur Phänomenologie. So liest sie in ihrem Aufsatz "Performative Acts and Gender Constitution" (10) die Intentionalität als performative Konstruktion. Und in ihrem Merleau-Ponty kritisch gegenüberstehenden Aufsatz "Geschlechtsideologie und phänomenologische Beschreibung" (11) wird sogar ein "phänomenologischer Feminismus" in Aussicht gestellt, und zwar unter den Bedingungen, dass die phänomenologischen Analysen geschlechtsspezifisch und geschichtlich gefasst sind. Biografische Hinweise, beispielsweise dass Butlers Lehrer an der Yale University in den frühen achtziger Jahren der Phänomenologe Maurice Natanson gewesen ist oder dass Merleau-Pontys Spätwerk für ihre Überlegungen in Körper von Gewicht (Berlin 1995) wichtig gewesen ist, entkräften zusätzlich das Bild der Unvereinbarkeit von Butlers poststrukturalistischem Ansatz und der Phänomenologie.

Die vermeintliche Unvereinbarkeit von Phänomenologie und Poststrukturalismus verdankt sich zu einem Teil gewiss der poststrukturalistischen Kritik an der Phänomenologie und hier wiederum einer oftmals vereinfachenden Lektüre. Die an die Phänomenologie gerichteten Vorwürfe der Ungeschichtlichkeit oder der Präsenzmetaphysik lassen sich durch den Hinweis auf die Möglichkeiten einer genetischen (z. B. Merleau-Ponty) oder differenziellen Phänomenologie (z. B. Waldenfels) entkräften. Nicht selten wird auch übersehen, dass poststrukturalistische TheoretikerInnen selber einem phänomenologischen Hintergrund erwachsen sind, der nicht durch ein einfaches "post" verabschiedet werden kann. Anstelle von Phänomenologie und Poststrukturalismus gegeneinander auszuspielen, wäre eher daran zu denken, den kritischen Gewinn beider Ansätze als das zu nehmen, was er ist. Das gilt selbstverständlich sowohl für die Phänomenologie im Allgemeinen wie auch für die feministische Phänomenologie im Besonderen.

Was aber ist feministische Phänomenologie? Feministische Phänomenologie ist feministische Philosophie, die sich die phänomenologische Tradition zunutze macht, um mit deren Hilfe zur Klärung zentraler Fragen im Kontext der feministischen Philosophie beizutragen. Herta Nagl-Docekal hat gerade kürzlich darauf aufmerksam gemacht, dass hier in der Zwischenzeit Rückgriffe auf "Klassiker" aller Perioden erfolgen (12) – einschließlich der Phänomenologie. Während aber die "Klassiker" der Philosophie in einer frühen Phase der feministischen Philosophie großteils Objekte der feministischen Kritik bildeten (Stichwort: Sexismus- und Androzentrismuskritik), wurde die philosophische Tradition zunehmend auch zum Mittel bzw. Subjekt der feministischen Philosophie. Im positiven Rückgriff auf die 

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Tradition erhofft man sich nun neue Anregungen – und das gilt auch für die feministische Phänomenologie.

Die Tradition wird herangezogen, um zentrale Fragestellungen, die sich aus dem feministischen Kontext ergeben, zu beantworten. Ein typisches Beispiel dafür ist der Aufsatz von Carol Bigwood mit dem Titel "Renaturalizing the Body (With a Little Help from Merleau-Ponty)" (13). Demnach wird Merleau-Ponty "zu Hilfe" genommen, um bestimmte Aporien – in diesem Fall Aporien, die sich aus einem radikalen konstruktivistischen Standpunkt ergeben – aufzuzeigen. Vom veränderten Umgang mit der philosophischen Tradition zeugt auch die Reihe "Re-Reading the Canon" in der amerikanischen Pennsylvania State University Press. Die seit 1994 erscheinenden Bände widmen sich jeweils einem Klassiker der philosophischen Tradition und tragen alle den Titel: "Feminist Interpretations of ...", also zum Beispiel Feminist Interpretations of Maurice Merleau-Ponty usw. Die Herausgeberin der Reihe, Nancy Tuana, betont, dass jeder Band Aufsätze versammelt, die die ganze Bandbreite des Denkens eines Philosophen abdeckt, und dass er eine Diversität von Ansätzen repräsentiert, die nun von der feministischen Kritik genutzt werden: "now being used by feminist critics".

In gewisser Hinsicht kann man also sagen, dass die feministische Phänomenologie in ihrer gegenwärtigen Ausprägung auch das Resultat einer bestimmten Entwicklung innerhalb der feministischen Theorie ist, die durch eine veränderte Haltung der feministischen Theorie gegenüber der philosophischen Tradition charakterisiert ist. Davon, dass sie ihre Kritik an sexistischen und androzentristischen Tendenzen innerhalb der Philosophie zurückstellen würde, kann aber keine Rede sein.

Jedoch ist hinsichtlich einer solchen Bündnispolitik auch Kritik geübt worden. So hat Cornelia Klinger die lange Tradition der "Ehen" zwischen der feministischen Theorie und verschiedenen Theorieströmungen (Marxismus, Kritische Theorie, Psychoanalyse oder Postmoderne etc.) kritisch hinterfragt (14). Dabei stellte sie eine Hierarchisierung zu Ungunsten der feministischen Theorie fest und kam zum Schluss, der Feminismus werde in solchen "Ehen" von Seiten der "Großtheorie" zum bloßen Anwendungsfall degradiert, der Status einer eigenständigen Theorie werde ihm damit abgesprochen. Wie steht es in dieser Hinsicht mit der feministischen Phänomenologie? Klar ist: Sollte es sich zeigen, dass die Phänomenologie feministische Fragestellungen und Themen lediglich als Anwendungsfall benützt, dann ist der feministische Teil einer solchen Verbindung so viel wert wie eine Alibifrau im öffentlichen männlich dominierten Raum. Auch wenn der in Klingers Artikel zum Ausdruck kommende tendenzielle Pessimismus in Bezug auf bisherige Koalitionen nicht geteilt werden muss, so bleibt eine Analyse der "Herrschaftsverhältnisse" zwischen Phänomenologie und feministischer Philosophie ein berechtigtes Anliegen. Weil aber viele TheoretikerInnen heute eine fundierte Ausbildung sowohl in der klassischen traditionellen Philosophie als auch in feministischer Philosophie erfahren, kann der genannten Gefahr sicher sinnvoll entgegengearbeitet werden.

Meiner Meinung nach liegt der wesentliche Gewinn einer feministischen Phänomenologie in einem bilateralen Verhältnis der gegenseitigen Kritik und Korrektur zwischen feministischer und phänomenologischer Philosophie. Im günstigsten Fall trägt ein solcher Forschungsansatz nicht nur zum theoretischen Binnendiskurs der feministischen Philosophie bei, sondern auch zur Weiterentwicklung der Philosophie allgemein.

In der Forschungsliteratur werden mitunter die Bezeichnungen "feministische Phänomenologie" und "phänomenologischer Feminismus" synonym gebraucht, was nicht selten zu Irritationen führt. Unter "feministischer Phänomenologie" verstehe ich – in einem ersten Versuch – eine Phänomenologie, die durch eine feministische Per-

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spektive geprägt ist. In diesem Sinne spricht man beispielsweise auch von einem feministischen Poststrukturalismus und einer feministischen Diskurstheorie. Als "phänomenologischen Feminismus" kann man dagegen feministische Ansätze bezeichnen, die sich einer phänomenologischen Methode bedienen oder durch phänomenologische Erkenntnisse ergänzt werden. (Das Wort "Feminismus" steht hierbei für eine Hilfskonstruktion und bezeichnet nicht die politische Bewegung des Feminismus, sondern – wie auch in der angloamerikanischen Forschung gang und gäbe – die feministische Theorie.) Allerdings ist die Frage, ob man eigentlich Phänomenologie mit feministischen Mitteln oder Feminismus bzw. feministische Theorie mit phänomenologischen Mitteln betreibt, mitunter schwer zu beantworten, weil es fließende Übergänge gibt und die konkrete Ausrichtung nicht zuletzt vom Selbstverständnis der jeweiligen WissenschaftlerInnen abhängt.

Ein deutlich sichtbarer Schwerpunkt der feministischen Phänomenologie hat sich um den noch immer höchst aktuellen feministischen Körperdiskurs herum entwickelt. Theoriedefizite in Bezug auf die Körperbestimmung können hier durch eine Phänomenologie der Leiblichkeit sinnvoll ausgeglichen werden. Die Phänomenologie als eine Philosophie der Erfahrung erlaubt außerdem die Thematisierung der Geschlechtlichkeit als geschlechtliche Erfahrung, ohne dass diese rein kulturalistisch oder naturalistisch verkürzt werden müsste. Mit Levinas und einer Phänomenologie der ethischen Erfahrung wird beispielsweise eine feministische Ethik vorangetrieben, die als Gegengewicht zu den gängigen Ethikentwürfen einer Ethik der Gerechtigkeit vs. Ethik des guten Lebens fungieren kann. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Methodenfrage. Von wo aus sprechen wir, wenn wir zum Beispiel über die Geschlechterdifferenz sprechen? Ist ein neutraler Blick aus der Sicht eines/einer Dritten überhaupt möglich? Dies wirft Licht auf die leibliche Verankerung des Wissens, die eine Theorie der Geschlechterdifferenz mit einschließt. Das sind nur einige Beispiele.

Zu guter Letzt ist darauf hinzuweisen, dass bei der feministischen Phänomenologie die feministische Hermeneutik nicht weit ist. Schon bei Heidegger haben wir es mit einer "hermeneutischen Phänomenologie" zu tun, und Gadamers Hermeneutik steht bekanntlich in einem Naheverhältnis zu Heidegger. Dass speziell auch Ricœur für eine feministische Aneignung geeignet wäre, ergibt sich nicht zuletzt aus seinen neueren Arbeiten zur Hermeneutik des Anderen. Im Unterschied zur feministischen Phänomenologie beginnt allerdings die feministische Hermeneutik erst allmählich an Boden zu gewinnen, doch zeichnen sich auch hier viel versprechende Forschungen ab.

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Literatur zum Thema (die Zahlen beziehen sich auf die Angaben im Text): 

Sammelbände:

(1) Stoller, S./Vetter, H. (Hrsg.): Phänomenologie und Geschlechterdifferenz, 1997; WUV-Universitätsverlag, Wien. (Beiträge zu philosophischen Fragen der Geschlechterdifferenz sowohl von feministischer als auch phänomenologischer Seite.)
(2) Fisher, L./Embree, L. (Hrsg.): Feminist Phenomenology, 2000; Kluwer, Dordrecht. (Beiträge vor allem aus dem angloamerikanischen Raum, teils interdisziplinär.)

Weitere:

(3) Fisher, L.: Phänomenologie und Feminismus, in: (1), 20–46.
(4) Bergoffen, D.: The Philosophy of Simone de Beauvoir. Gendered Phenomenologies, Ero-

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tic Generosities, 1997; State University of New York Press, New York.
(5) Heinämaa, S.: Was ist eine Frau? Butler und Beauvoir über die Grundlagen der Geschlechterdifferenz, in: Die Philosophin 20 (1999), 62–83.
(6) Irigaray, L.: Ethik der sexuellen Differenz, 1991; Suhrkamp, Frankfurt/Main.
(7) Chanter, T.: Ethics of Eros. Irigaray’s Rewriting of the Philosophers, 1995; Routledge, New York.
(8) Gürtler, S.: Gipfel und Abgrund – Die Kritik von Luce Irigaray an Emmanuel Lévinas‘ Verständnis der Geschlechterdifferenz, in: (1), 106–131.
(9) Gürtler, S.: Elementare Ethik. Alterität, Generativität und Geschlechterverhältnis bei Emmanuel Lévinas, 2001; Fink, München.
(10) Butler, J.: Performative Acts and Gender Construction: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Yale Studies 172 (1988), 519–532.
(11) Butler, J.: Geschlechtsideologie und phänomenologische Beschreibung – Eine feministische Kritik an Merleau-Pontys "Phänomenologie der Wahrnehmung", in: (1), 85–100.
(12) Nagl-Docekal, H.: Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven; Fischer, Frankfurt/Main, 2000.
(13) Bigwood, C.: Renaturalizing the Body (With a Little Help from Merleau-Ponty), in: Hypatia 6/3 (1991), 54–73.
(14) Klinger, C.: Liberalismus – Marxismus – Postmoderne. Der Feminismus und seine glücklichen oder unglücklichen "Ehen", in: Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, hg. von E. Kreisky und B. Sauer; Opladen, Wiesbaden, 1998, 177–193.

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Erschienen in: Information Philosophie 2 (Mai 2001), 44–49. 
(Zusätzlich online erschienen unter: http://www.informationphilosophie.de unter „Archiv - Geschichte der Philosophie“).

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