Virtualität. Aktuelle Orientierungspunkte

Hrachovec, Herbert (2002) Virtualität. Aktuelle Orientierungspunkte. Allgemeine Zeitschrift Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 27 (3). pp. 241-256.

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Abstract

Digitale Informationsverarbeitung bestimmt zusehends den Alltag und die wissenschaftliche Praxis. Zahlreiche Neologismen bezeichnen eine Überschneidung zwischen traditioneller Begrifflichkeit und technischen Konstrukten: elektronische Post, Webforum, Surfen. Der Terminus Virtualität ist in diesem Zusammenhang besonders prominent.

Er verweist einerseits auf den historisch wie systematisch eingeführten Themenkomplex potenziellen Seins, andererseits auf einen Sprachgebrauch von Ingenieuren. Die Erörterung von Prinzipien möglicher Entwicklung von Welt und Lebewesen gehört seit den Griechen zum philosophischen Geschäft; sie stößt auf Redensarten wie virtuelle Maschine oder virtueller Speicher. In der Optik bedeutet virtuelles Bild eine Projektion, die nicht auf der tatsächlich vorliegenden Bildwand wahrgenommen wird (wie etwa Dias), sondern dahinter, z.B. im Spiegel. Adaptiert an den informatischen Gebrauch meint virtuell die ersatzweise Erfüllung einer Aufgabe durch entsprechende Software. Virtuelle Speicher sind, im Unterschied zu RAM-Chips, Sektoren der Festplatte, welche Funktionen des Arbeitsspeichers übernehmen. Das Aufeinandertreffen der beiden Assoziationsfelder verursacht begriffliche Turbulenzen, in denen sich die Orientierungsschwierigkeit bemerkbar macht, denen eine an Computern und neuen Medien interessierte Philosophie ausgesetzt ist.

Die Schwierigkeit entsteht dadurch, daß die Begriffspaare "wahr/falsch" sowie "wirklich/möglich" schlecht dazu geeignet sind, das Phänomen funktionsäquivalenter Lösungen im Erkenntnisbereich zu fassen. Eine chirurgische Intervention, die auf der Basis digitaler Visualisierung von Ferne vorgenommen wird, ist eine tatsächliche Operation außerhalb der bekannten Umstände zur Beurteilung sinnlicher Wahrnehmung. Man spricht von "virtuellen Umgebungen", aber was heißt das genau? Der Ehrenvorsitzende eines Vereins ist nicht wirklich Vorsitzender, er trägt bloß den Titel. So verhält es sich mit "virtuellen Tätigkeiten" nicht. Andererseits verletzen sie wichtige Standards der epistemologischen Ur-Szene. Neuartige Fertigkeiten und Verrichtungen substituieren Abläufe, die bisher unersetzbar schienen. Darin liegt die Herausforderung der Informatik gegenüber der Philosophie. Ein "virtueller Freitag" ist, im Sprachgebrauch der Ingenieure, der Donnerstag einer Woche, deren Freitag auf einen Feiertag fällt. Die Funktion des letzten Tages in der Arbeitswoche ist je nach Umständen übertragbar.

Läßt sich das Muster auf performativ-kognitive Leistungen menschlicher Wesen anwenden? Die aktuellen philosophischen Verwendungen von Virtualität lassen sich behelfsmäßig drei Bereichen zuordnen. Aus der phänomenologischen Tradition speist sich das Interesse am Verhältnis lebensweltlicher(speziell leiblicher) Erfahrungen zu wissenschaftlich-technischen Abläufen sowie deren Rückwirkung auf das Weltverständnis der Gegenwart. Zweitens untersucht eine Reihe von Publikationen die Aneignung der digitalen Techniken unter kulturwissenschaftlichem Aspekt. Im ersten Fall steht der Terminus in einer Geschichte der Reflexion über Erfahrungswissen, im zweiten designiert er bisweilen nicht mehr, als digital oder computer-unterstützt. Dennoch entwickelt sich ein eigenes Genre, eine sozial-theoretisch fundierte Hermeneutik der kritischen Betrachtung der betreffenden Maschinen. Epistemologische und ontologische Beiträge machen einen weiteren Bereich aus. Sie zielen auf die Klärung des Begriffsfeldes unter systematischem Gesichtspunkt. Unter den rezensierten Büchern finden sich einige Sammelbände mit Beiträgen unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Zudem ist Virtualität in ihnen nur eines unter verschiedenen computer-induzierten Themen. Die Bände werden nicht in ganzer Breite vorgestellt; Artikel, die sich nicht auf Virtualität beziehen, bleiben unberücksichtigt.

Item Type: Article
Uncontrolled Keywords: Sybille Krämer, Ken Goldberg, Bernhard Waldenfels, Kathrin Hayles
Subjects: Philosophie > Philosophische Disziplinen > Medienphilosophie, Theorie der Virtualität, Cyberphilosophie
Philosophie > Philosophische Institutionen > Institut für Philosophie, Wien
Depositing User: sandra subito
Date Deposited: 06 Dec 2020 13:14
Last Modified: 06 Dec 2020 13:14
URI: http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/2479

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