Thomas Metzinger
Hirnforschung, Neurotechnologie,
Bewußtseinskultur
Medizin-ethische, anthropologische und sozialphilosophische Fragen der
Zukunft
In den letzten zehn Jahren haben wir mehr über die Struktur und die
Wirkungsweise des menschlichen Gehirns erfahren als in den dreihundert Jahren
davor. Es ist bereits jetzt abzusehen, daß der Wissenszuwachs in den
Neurowissenschaften sich auch in der Zukunft weiter mit großer Geschwindigkeit
fortsetzen wird. Wenn diese Annahme richtig ist, dann wird diese Entwicklung
eine ganze Reihe von Folgen für uns alle haben. Meine Prognose ist die folgende:
Unsere Handlungsmöglichkeiten bei der direkten Beeinflussung des menschlichen
Gehirns werden sich bald und in sehr vielfältige Bereiche hinein erweitern. In
vielen dieser Bereiche werden unsere moralischen Intuitionen versagen. Zumindest
diejenigen von uns, die sich nicht fest an metaphysische Hintergrundideologien
oder starre Wertsysteme gebunden haben, werden in vielen Situationen zugeben
müssen, daß sie selbst einfach nicht wissen, wie hier im konkreten
Einzelfall eine ethisch überzeugende Handlungsweise aussehen könnte. Aber auch
unser eigenes Bild von uns selbst - in dem viele der eben erwähnten Intuitionen
ihre Wurzeln haben - wird sich auf dramatische Weise verändern. Es entsteht
nämlich nicht nur eine ganze Palette von neuen Problemstellungen für die
angewandte Ethik, sondern auch eine neue, durch die Erkenntnisse der modernen
Hirnforschung erweiterte Anthropologie: Wir bewegen uns auf ein grundlegend
neues Verständnis dessen zu, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das
allgemeine Bild vom Menschen wiederum ist aber eine der wichtigsten Grundlagen
unserer Kultur. Seine Besonderheit besteht darin, daß es sehr subtil und doch
wirksam die Art und Weise beeinflußt, wie wir im Alltag miteinander umgehen und
uns selbst erleben. Deshalb wird die oben angedeutete Entwicklung auch
gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen und schließlich unser aller
Leben beeinflussen. Interessanterweise kann man die ersten Anzeichen der eben
angedeuteten Entwicklung bereits heute beobachten. Besonders deutlich zeigen sie
sich auf dem Gebiet der Medizin, nämlich in Zusammenhang mit der ethischen
Diskussion um Neurotransplantation und Neurotechnologie. Ich zitiere aus einem
Text des Büros für Technikfolgen Abschätzung beim Deutschen Bundestag
(TAB), welcher sich mit der Alltagsrelevanz der Neurowissenschaften
auseinandersetzt:
Der Erkenntnisgewinn über die biologische
Informationsvermittlung und -verarbeitung im Gehirn hat insbesondere
Auswirkungen auf die frühzeitige Behandlung und Beherrschung zahlreicher, bis
dato als "Schicksalsschläge" hingenommener Krankheiten. Man hofft, daß ein
besseres Verständnis der Pathogenese hilft, die Stagnation der medikamentösen
Therapie aufzubrechen. ... In der vergangenen Zeit hat die Übertragung
embryonaler Hirnzellen auf Alzheimerpatienten für großes öffentliches Aufsehen
gesorgt. In der Schlaganfallforschung werden im Lauf der kommenden 10 Jahre weit
darüber hinausgehende Ansätze zur Gehirntransplantation erwartet. Vorstellbar
ist, daß bestimmte "befallene" Hirnpartien ausgetauscht werden und/oder daß die
Regenerationsfähigkeit solcher von einem Schlaganfall betroffener Areale
verbessert wird, z.B. durch die Einpflanzung von gesunden, noch wachstumsfähigen
Hirnzellen. ...
Theoretisch ist es denkbar, daß das Gehirn mittels Mikrochip
bestimmte Informationen (z.B. die Rechenfähigkeit) direkt aufnehmen lernt bzw.
daß Datenbanken ohne den Umweg über den Computer direkt ins Gehirn abgerufen
werden können. Die Entwicklung sogenannter intelligenter Prothesen (von
Minielektroden über Mikrochips bis hin zu ganzen Organtransplantaten) stellt
eine weiter Möglichkeit dar, mit Hilfe der Informationstechnologie bei
Funktionsstörungen des Nervensystems Abhilfe zu schaffen. Dabei sollen
sensorische oder motorische Defizite von z.B. querschnittsgelähmten oder tauben
Menschen technisch ersetzt werden. Auch könnte durch eingepflanzte Elektroden
das Gehirn derart stimuliert werden, daß bei Schmerzen die Ausschüttung
körpereigener Substanzen zur Beruhigung und Gemütsaufhellung (Opioide) ausgelöst
wird. Hier ergeben sich völlig neue Anwendungsfelder beispielsweise für die
Anästhesie, die Schmerztherapie und die Behandlung depressiver Zustände. Unter
Umständen wäre eine künstlich erzeugte Ausschüttung solcher Körperstoffen auch
zur Behandlung Drogensüchtiger einsetzbar. (TAB 1995: 14-5)
Das Unangenehme an den vielen neuen Fragen ist unter anderem das Tempo
mit dem sie sich uns aufdrängen. Die Eigendynamik des naturwissenschaftlichen
Erkenntnisfortschritts und die kapitalistische Verwertungslogik, die dazu führt,
daß die Ergebnisse dieses Wissenszuwachses mit großer Effizienz und
Geschwindigkeit technologisch umgesetzt und weltweit vermarktet werden, lassen
uns nicht viel Zeit zum Nachdenken. In anderen Worten: Wir befinden uns bereits
jetzt im Zugzwang. In dieser Situation ist es wichtig, daß die nun notwendig
gewordene öffentliche Diskussion um die Ethik der Neurotechnologie mit maximaler
Rationalität geführt wird. An dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung der
praktischen Philosophie - und zwar nicht, weil Philosophen und Philosophinnen
heilige Männer und Frauen wären, die ein spezifisches moralisches Expertenwissen
und möglicherweise sogar einen mehr oder weniger direkten Draht zu höheren
Wahrheiten besitzen. Die gegenwärtige Entwicklung benötigt vielmehr deshalb
einen philosophischen Kommentar, weil sie zunächst in Form einer
"begriffswissenschaftlichen Begleitung" die Veränderungen in unserem Welt- und
Selbstbild widerspiegeln muß. Dieser erste Aspekt bildet gewissermaßen die
theoretische Ebene des Unternehmens. In praktischer Hinsicht jedoch muß die
Philosophie auch direkt in die Debatte eingreifen, etwa, um sie rational zu
strukturieren, um in kritischer Absicht bestimmte Zielsetzungen zu hinterfragen,
aber auch um zum Beispiel als "Vermittler zwischen innovativen medizinischen
Technologien und populärer Skepsis zu wirken" (Birnbacher 1995: 181). Der
philosophische Kommentar zur rasanten Entwicklung in den Neurowissenschaften muß
also auf vielen Ebenen gleichzeitig entwickelt werden.
Die erste, die theoretische Ebene wird heute zum großen Teil durch das
besetzt, was man "Philosophie des Geistes" nennt. Typische Fragestellungen sind
hier die folgenden: Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Was ist
überhaupt eine Handlung, was meinen wir eigentlich, wenn wir von der
"Autonomie des Subjekts" oder "abwärtsgerichteter Kausalität" sprechen? Wie ist
es denkbar, daß in einem menschlichen Nervensystem nicht nur Bewußtsein, sondern
auch eine subjektive Innenperspektive entsteht? Was ist überhaupt
bewußtes Erleben, was genau bedeutet es, daß geistige Zustände subjektive
Zustände sind? Ich habe mich in anderen Veröffentlichungen ausführlich mit
diesem Bereich beschäftigt (vgl. z.B. Metzinger 1993, 1995, 1996) und will ihn
deshalb hier vollständig übergehen.
Die zweite Ebene ist die der "praktischen Philosophie", der Moralphilosophie.
Typische Fragen wären hier: Welchen erkenntnistheoretischen Status besitzen
Aussagen über moralische Normen wie etwa: "Was Du nicht willst, das man Dir tu',
das füg' auch keinem andern zu!" ? Sind normative Sätze Behauptungssätze,
mit denen wir das Bestehen von Sachverhalten behaupten? Besitzen solche Sätze
einen kognitiven Charakter, beschreiben wir mit ihnen die Welt,
formulieren wir Erkenntnisse oder geben wir Informationen weiter? Oder
gibt es im Grunde überhaupt keine normative Ethik, weil - wie die
Non-Kognitivisten unter den Moralphilosophen sagen würden - es gar keine
objektiven moralischen Sachverhalte gibt, die den Gegenstand solcher Aussagen
bilden könnten? Können normative Aussagen überhaupt wahr oder falsch sein?
Können sie begründet werden? Antworten auf die Frage, ob und auf welche
Weise ethische Normen überhaupt begründet werden können, führen dann in das
weite Feld der "Metaethik". Die Metaethik ist sozusagen die Wissenschaftstheorie
der Ethik, sie besteht aus Sätzen über andere Sätze, sie ist eine Theorie über
andere Theorien (zur Einführung vgl. Kutschera 1982: 41ff).
Wenn es dagegen nicht darum geht, Urteile über Arten von ethischen
Urteilen zu begründen, sondern Urteile über konkrete Handlungen,
dann erst spricht man von Ethik im eigentlichen Sinn. Diese Ebene ist es, die
man normative Ethik nennt. Der Übergang von der Ebene der Metaethik zur
normativen Ethik ist kein leichter - hier wird es die fundamentalsten
Meinungsverschiedenheiten geben. Zur angewandten Ethik wird die normative Ethik
schließlich, wenn sie sich zusätzlich auf einen ganz bestimmten
Anwendungskontext konzentriert. Ein solcher Anwendungskontext entsteht immer aus
einer speziellen Klasse von Handlungen. Solche Klassen bestehen zum Beispiel aus
medizinischen Handlungen ("angewandte Medizinethik"), aus Handlungen, mit denen
absichtlich und direkt in das zentrale Nervensystem eines Menschen eingegriffen
wird ("angewandte Neuroethik") oder aus Handlungen, bei denen Menschen durch
solche Eingriffe gezielt ihr eigenes bewußtes Erleben oder das anderer Personen
verändern wollen ("angewandte Bewußtseinsethik").
Unser Zusammenhang wird zunächst durch die neuromedizinischen Ethik
gebildet. Hier kann man in einem letzten Schritt noch einmal Fragen der
innerwissenschaftlichen Ethik und Fragen der angewandten Ethik beim
konkreten medizinischen Einsatz neuer Technologien unterscheiden. Worum es hier
geht, ist also die parallele Beurteilung sowohl von forschendem Handeln
als auch von therapeutischem Handeln. Erst auf einer allgemeineren Ebene
entsteht dann das, was ich soeben provisorisch als "Neuroethik" und
"Bewußtseinsethik bezeichnet habe. Schließlich geht es am Ende jedoch immer auch
um Wissenschaftspolitk und um Gesundheitspolitik, weil es mindestens zwei
weitere thematische Bereiche gibt, in denen ein philosophischer Kommentar zur
Klärung der Debatte hilfreich sein kann: Die Sozialphilosophie und die
Anthropologie. Denn wir sind immer auch mit einer Reihe von sehr allgemeinen
Fragen konfrontiert, die zum Beispiel die kulturelle Einbettung des
medizintechnologischen Fortschritts betreffen (Technikfolgenabschätzung)
und vor allem aber auch die Konsequenzen unseres gewandelten Bildes von uns
selbst ("Anthropologiefolgenabschätzung"). Im folgenden werde ich diese
thematischen Bereiche kurz durchgehen. Aus Platzgründen werde ich mich hier
allerdings auf eine stichwortartige Liste von eher thesenartigen
Einzelüberlegungen beschränken müssen.
Vorschläge zur Entwicklung
einerinnerwissenschaftlichen Ethik für die medizinische
Neurotechnologie
- Die in den relevanten Disziplinen arbeitenden Wissenschaftler haben
grundsätzlich das Recht, ein weiteres Festhalten am Ideal maximaler Denk- und
Forschungsfreiheit zu fordern. Im Gegenzug sollten sie zu einer freiwilligen
ethischen Selbstbindung der medizinisch orientierten Bereiche in den
Neurowissenschaften und der Informatik bereit sein.
- Entsprechend dem Grundprinzip der Minimierung subjektiven Leidens sollten
neben der Grundlagenforschung solche Forschungsaktivitäten Vorrang haben, die
direkt dazu beitragen, daß psychisches und körperliches Leiden von Menschen
gemildert wird.
- Eine Forschungsethik für die medizinische Neurotechnologie darf jedoch
nicht nur eine Ethik für Menschen sein: Objekte ethischer Überlegungen
müssen auch solche empfindungsfähigen Wesen sein, die nicht denken können und
sich selbst keine moralischen Verpflichtungen uns Menschen gegenüber
auferlegen können. Das zentrale Kriterium ist hier nicht Rationalität, sondern
Leidensfähigkeit.
- Die betroffenen Wissenschaftler sollten sich deshalb verpflichten, auch
das Leiden von Versuchstieren immer weiter zu minimieren. Dies muß durch eine
ständige, aktive und staatlich kontrollierte Optimierung der Haltungs- und
Versuchsbedingungen für solche Tiere geschehen, sowie durch den vermehrten
Einsatz von Computersimulationen und internationalen Datenbanken. Bei der
Operation von Versuchstieren muß dieselbe Sorgfalt herrschen wie bei
menschlichen Patienten. Diese Strategie der aktiven und fortschreitenden
Minimierung des Leidens von Versuchstieren erfordert eigene Forschungsprojekte
und eigene Budgets. Erforderlich ist deshalb eine institutionalisierte
Form der Suche nach Alternativen von vergleichbarer Wirksamkeit.
- Die Grundprinzipien der Verminderung subjektiven Leidens und des
Neminem laedere (das auch die "objektiven" Interessen
empfindungsfähiger Wesen beinhaltet) bedeuten auch, daß die relevanten
wissenschaftlichen Institutionen kein Geld aus Militärbudgets annehmen dürfen.
Jede militärische Umsetzung der Neurotechnologie muß von Anfang an
verhindert werden.
- Deshalb muß unter ethischen Gesichtspunkten von allen beteiligten
Wissenschaftlern verlangt werden, sich nach Kräften aktiv dafür
einzusetzen, daß sie nicht indirekt von ihren Auftrag- oder Geldgebern
getäuscht werden und daß in der Zukunft jede militärische Nutzung der von
ihnen erarbeiteten Forschungsergebnisse unterbleibt. In allen Zweifelsfällen
liegt die ethische Verantwortung auf seiten der Wissenschaftler.
- Als Experten sollten sich deshalb alle in den fraglichen Gebieten der
Informatik und Hirnforschung arbeitenden Wissenschaftler verpflichten, die
Öffentlichkeit und die Vertreter der demokratischen Institutionen im
Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten regelmäßig und so früh wie möglich
über potentielle Gefahren oder bevorstehenden Mißbrauch der von ihnen
erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu informieren. Die Transparenz
der Forschung liegt selbst im moralischen Verantwortungsbereich der Experten.
Angewandte Ethik für die medizinische
Neurotechnologie
- Das menschliche Nervensystem oder Teile desselben dürfen nicht zur
Erzielung finanzieller Gewinne verwendet werden. Transplantationen von
menschlichem Nervenzellgewebe dürfen nur dem unmittelbaren therapeutischen
Nutzen des Empfängers dienen. Konkret kann das zum Beispiel auf der
"Explantationsseite" bedeuten, finanzielle Entschädigungen für Frauen
auszuschließen, die nach einem Schwangerschaftsabbruch der Verwendung fetalen
Hirngewebes für die Neurotransplantation bei Morbus Parkinson
zustimmen.
- Der Zugang zu kostspieligen und technologisch aufwendigen
Gesundheitsleistungen muß sozial gerecht verteilt werden. Das bedeutet, daß
Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit entwickelt und kritisch diskutiert
werden müssen. Stella Reiter-Theil hat in diesem Zusammenhang drei Fragen
formuliert, die die konkrete Hintergrundproblematik verdeutlichen:
- Wie soll der vermutlich wachsende Bedarf an fetalem Gewebe
aus Schwangerschaftsabbrüchen beantwortet werden, wenn - voraussichtlich -
nicht ausreichend "Material" zur Verfügung steht?
- Mit welchen Maßnahmen soll gesellschaftlicher Druck auf
Frauen in der Situation des Schwangerschaftsabbruchs verhindert werden, der
sie dazu veranlassen könnte, ambivalent oder entgegen eigener Vorbehalte
einer Transplantation zuzustimmen?
- Auf welchem Wege soll die Verteilung des knappen Gutes
"fetales Hirngewebe" vor sich gehen und welche Kriterien der
Verteilungsgerechtigkeit werden hier angelegt? (Reiter-Theil 1995:
178)
Reiter-Theil weist ebenfalls darauf hin, daß möglicherweise mit der
Erweiterung des Anwendungsspektrums für solche Eingriffe zu rechnen ist. Dies
könnte mit einer weiteren Verschärfung der "Marktsituation" und mit einer
Erhöhung des gesellschaftlich-emotionalen Drucks auf die schwangere Frau
einhergehen. Es ist anzunehmen, daß diese Problematik sich auch durch eine
weiter fortschreitende Globalisierung der fraglichen "Märkte" verkomplizieren
könnte.
- Die Patienten haben ein Recht, vor den spezifischen Interessen des
Medizinbetriebs und der Medizinindustrie geschützt zu werden. Was die
praktische Umsetzung neurotechnologischer Methoden im medizinischen Alltag
angeht, sollte deshalb das Prinzip der Patientenautonomie maximiert
werden.
- Patientenautonomie heißt (unter anderem) das folgende: Auch und in
erster Linie der Patient hat zu entscheiden, wie groß sein Leidensdruck
wirklich ist, welche Risiken er einzugehen bereit ist und wann die ultima
ratio der Neurotechnologie zum Einsatz kommen soll. Was Schadensvermeidung
(die richtige Interpretation des Nonmalefizienzprinzips) und was eine
wirkliche Hilfeleistung (die richtige Interpretation des Benefizienzprinzips)
in seinem eigenen Fall ist, entscheidet also immer auch der Patient selbst.
Der Patient hat deshalb auch Anspruch auf Erhalt sämtlicher medizinischen
Informationen, die über ihn gesammelt worden sind. Wie weit er diesen Anspruch
einlösen will, sollte ihm selbst überlassen bleiben.
- Die Realisierung von Patientenautonomie könnte auch - dies ist ein
Vorschlag - die Einführung von Patientenanwälten beinhalten.
Patientenanwälte sind Fachleute, die nicht die Interessen der Forschung und
des Medizinbetriebs vertreten, sondern eigens dazu geschult worden sind, dem
Patienten bei seiner Entscheidungsfindung behilflich zu sein.
- Der Einsatz neurotechnologischer Verfahren wird in vielen Fällen mit einer
psychosozialen Langzeitbetreuung, zumindest mit dem Angebot einer
solchen Nachbehandlung einhergehen müssen. Dies betrifft nötigenfalls - z.B.
bei der Verwendung fetalen Hirngewebes - nicht nur den Patienten selbst,
sondern auch die Frauen, die eine Schwangerschaft abgebrochen haben.
- Grundsätzlich sind auch nur begrenzt einwilligungsfähige Patienten so weit
wie möglich in das Einwilligungsverfahren mit einzubeziehen. "Informed
consent" ist eine Zielvorstellung, die in jedem Einzelfall so weit wie
eben möglich approximiert werden muß. Das Ausmaß der Information und seine
wechselseitige Steuerung durch Arzt und Patient ist deshalb selbst Gegenstand
ethischer Überlegungen.
- Nach dem jeweiligen Erkenntnisstand als riskant oder
wissenschaftlich unabgesichert zu beurteilende neurotechnologische Eingriffe
an nicht einwilligungsfähigen Patienten sind weder unter dem
Benefizienzprinzip noch zu Forschungszwecken erlaubt.
- Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß viele bahnbrechende
Erfolge der medizinischen Forschung in der Vergangenheit eben nur durch genau
solche riskanten therapeutischen und medizintechnischen Experimente erzielt
werden konnten. Patienten, die aus diesem Grund und nach reiflicher Überlegung
und Beratung bereit sind, durch die Erhöhung ihres persönlichen Risikos das
potentielle Leiden zukünftiger Patienten zu mildern, sollten das Recht
besitzen, dies auch zu tun. Noch einwilligungsfähige Patienten sollten deshalb
das Recht besitzen, für den Fall ihrer eigenen zukünftigen
Einwilligungsunfähigkeit auch riskanten Operationen in Form einer
schriftlichen Vorabverfügung zuzustimmen.
Stichworte für den gesamtgesellschaftlichen Umgang
mit den Resultaten der wissenschaftlichen Arbeit in den Neurowissenschaften und
in der Informatik
- Die Öffentlichkeit wird zu einer breit angelegten, differenzierten und
sich über den üblichen Rahmen der demokratischen Institutionen hinaus
erstreckenden Diskussion aufgefordert. Das gilt in einem ersten Schritt für
den Bereich der Neurotechnologie, in dem bereits jetzt Handlungsbedarf
besteht.
- Die Gegenstände einer solchen ethischen Diskussion sollten zunächst nur
die neuen Handlungsmöglichkeiten im einzelnen sein - zum Beispiel der
medizinische Einsatz neurotechnologischer Verfahren. Dabei geht es nicht nur
um deren Begrenzung, sondern vor allem auch um ihre rationale Nutzung. Das
grundlegende ethische Ziel ist dementsprechend ein Gewinn von Freiheiten für
das Individuum, mit denen es sich gleichzeitig neu entstehenden Gefahren -
etwa erweiterten Manipulationsmöglichkeiten - erfolgreich widersetzen kann.
- Die sozialethische Dimension der Problematik darf nicht ausgeblendet
werden. Die gesamtgesellschaftliche Diskussion sollte sich darum auch ganz
allgemein mit der ethischen Problematik befassen, die sich aus dem
Synergismus zwischen Neurowissenschaften und Informatik ergibt. Dabei muß ein
besonderes Augenmerk auf die technologische und kulturelle Umsetzung der neuen
Erkenntnisse und die sich beschleunigende Eigendynamik dieser
Entwicklung gerichtet werden. Dies betrifft dann nicht mehr nur die
medizin-ethischen Implikationen des technologischen Zugriffs auf das
menschliche Gehirn, sondern auch zum Beispiel so weit voneinander entfernte
Bereiche wie den Umgang mit neuen elektronischen Medien ("erweiterten medialen
Umwelten"), die Drogenpolitik oder die Pädagogik.
Was bedeutet dies an
konkreten Beispielen? Gegenwärtig erleben wir die Anfänge einer enormen
Erweiterung unserer medialen Umwelt: durch das Kabelfernsehen, durch
interaktive Unterhaltungselektronik wie Cyberspace-Spiele, durch die
weltweite Kommunikation über das Internet oder die Überschwemmung mit
Information aus dem WorldWideWeb. Es ist nicht klar, ob diese
Einbettung in künstliche Informationsströme nicht selbst wieder im Sinne einer
"Rückkonfiguration" auf unser zentrales Nervensystem zurückwirkt und
dieses schädigt. Es könnte zum Beispiel sein, daß sich die Struktur unsere
Sinneswahrnehmung dauerhaft verändert, etwa durch die Art und Weise wie in
diesen medialen Umwelten Bilder und andere visuelle Informationen dargeboten
werden. Möglicherweise zapfen die neuen Medien dem menschlichen Gehirn ständig
eine höhere Aufmerksamkeitsleistung ab, als dieses Organ auf Dauer zu geben in
der Lage ist. Das könnte zu einer permanenten Verkürzung der
Aufmerksamkeitsspanne, zu Konzentrationsstörungen und zu Beeinträchtigungen
kognitiver Fähigkeiten führen. Ein zweites Beispiel: die Psychopharmakologie.
Es wird als Resultat neurowissenschaftlicher Forschung viele neue Medikamente
geben, die geistige Funktionen durch immer genauere Veränderung
zerebraler Funktionen modulieren oder wiederherstellen. Das könnte uns
etwa ermöglichen, psychiatrische Erkrankungen oder die normale senile Demenz
positiv zu beeinflussen. Es wird aber immer auch eine illegale
Psychopharmakologie geben, mit einer illegalen Industrie, die einen illegalen
Markt mit immer neueren synthetischen Drogen (z.B. vom Phenäthylamin-Typ)
bedient. Deshalb könnte sich auch die Drogenproblematik in Zukunft auf bisher
ungeahnte Weise verschärfen und ausdehnen. In der Pädagogik - ein letztes
Beispiel - setzen sich bereits neue, computergestützte Formen des Lernens
durch. Kinder werden immer häufiger vor dem Computer lernen, etwa von einer
CD-ROM. Auch dies birgt nicht nur neue Chancen, sondern auch Risiken in sich.
Wie neueste Forschungen in der Robotik und der Künstlichen Intelligenz zeigen,
ist menschliche Intelligenz zu einem überwiegenden Teil "Körperintelligenz":
Wir sind leibliche Wesen, die über eine prärationale Intelligenz
verfügen und unsere Beziehung zur Welt zum großen Teil durch körperliche
Handlungen aufbauen. Niemand weiß, wozu es führen wird, wenn junge Menschen
sich in den entscheidenden Phasen ihrer Entwicklung immer öfter in
künstlichen anstatt in natürlichen Umgebungen bewegen, wenn die
Mensch-Mensch-Interaktion in der Schule immer weiter durch eine
"entkörperlichte" Mensch-Maschine-Kommunikation ersetzt wird.
- Aus den Neuro- und Kognitionswissenschaften sowie der Informatik ergibt
sich zwangsläufig auch ein völlig neues Bild vom Menschen und eine neue
Theorie darüber, was geistige Vorgänge überhaupt sind. Es ist bereits
jetzt deutlich abzusehen, daß diese neue Anthropologie und die mit ihr
einhergehende neue Theorie des Geistes fast allen traditionellen Bildern vom
Menschen und seinem inneren Leben dramatisch widersprechen wird. Meine These
ist: Das allgemeine Bild vom Menschen wird sich im kommenden Jahrhundert durch
die Fortschritte der Neuro-, Informations- und Kognitionswissenschaften
tiefgreifender verändern als durch jede andere wissenschaftliche Revolution
der Vergangenheit. Ein Beispiel: Nehmen wir an, die neuronalen und
funktionalen Korrelate der wesentlichen Merkmale des Bewußtseins sind einmal
erforscht. Dann wird dies von vielen dahingehend interpretiert werden, daß die
Annahme, es könnte - zum Beispiel nach dem physischen Tod - bewußtes Erleben
auch in der Abwesenheit dieser körperlichen Basis geben, nur noch als grob
irrational beurteilt werden kann. Wenn bewußtes Erleben einmal auf der
begrifflichen Ebene neurokomputationaler Theorien einer reduktiven Erklärung
zugänglich werden sollte, dann würde der klassische Begriff der "Seele"
endgültig zu einem leeren Begriff: Noch an diesem klassischen Begriff
orientierte Theorien werden dann genauso irrational erscheinen wie die
Theorie, daß die Sonne sich in Wirklichkeit doch um die Erde dreht. Das würde
zum Beispiel bedeuten, daß überhaupt nicht mehr klar ist, was wir überhaupt
meinen könnten, wenn wir von "psychosozialen Langzeitfolgen",
"psychosomatischer Medizin", "Psychotherapie" oder auch mit
Hilfe so beliebter Leerformeln wie der vom "Menschen in seiner
leib-seelischen Ganzheit" sprechen. Die gegenwärtig neu entstehende
Anthropologie muß ebenfalls zum Gegenstand breit angelegter
Diskussionen gemacht werden. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß die
wichtigen neuen Beiträge zu unserem Bild vom Menschen in einigen Aspekten -
zumindest aus der Perspektive klassischer Anthropologien - und besonders im
subjektiven Empfinden vieler Menschen eine Demütigung und eine
Kränkung darstellen. Auch auf diese Entwicklung muß die
Öffentlichkeit so bald wie möglich in Gestalt einer rationalen und alle
Betroffenen einschließenden Diskussion vorbereitet werden.
- Eine Theorie über das menschliche Gehirn wird früher oder später immer
auch eine Theorie über das menschliche Bewußtsein sein, über das, was wir
gerne als unsere Subjektivität zu bezeichnen pflegen. Auch die
medizinischen Neuro- und Informationstechnologien der Zukunft werden in vielen
Fällen Bewußtseinstechnologien sein. Was wir derzeit erleben, ist allem
Anschein nach erst der Anfang einer umwälzenden Entwicklung: Menschliches
Bewußtsein wird in immer größerem Ausmaß technisch verfügbar, subjektives
Erleben kann immer genauer beeinflußt und deshalb auch effektiver manipuliert
werden. Deshalb wird es für uns alle um so notwendiger, sich - über den
medizinisch-psychiatrischen Gesundheitsbegriff hinausgehend - Gedanken darüber
zu machen, welche Bewußtseinszustände überhaupt interessante oder
wünschenswerte Bewußtseinszustände sind. Wir brauchen deshalb nicht nur
einen Neuroethik, sondern auch eine Bewußtseinsethik.
- Neben einer kritischen Abwägung der Risiken und Chancen des Fortschritts
auf dem Gebiet der Neurotechnologie ist es darum von zentraler Bedeutung, sich
auch mit der kulturellen Umsetzung der neuen, von den
Neurowissenschaften und der Informatik gelieferten Erkenntnisse selbst zu
beschäftigen.
Bewußtseinskultur
Was wir brauchen - auch dies ist meine These - ist eine neue
Bewußtseinskultur. Diese Bewußtseinskultur muß auf
gesamtgesellschaftlicher Ebene eine vernünftige und produktive Umsetzung der
neuen Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten leisten, die sich in der Zukunft
mit steigender Geschwindigkeit aus der Forschungstätigkeit in den genannten
Bereichen ergeben werden. Zu Anfang habe ich gesagt, daß wir uns bereits jetzt
im Zugzwang befinden. Es ist aus diesem Grund wichtig, daß die nun notwendig
gewordene ethische Debatte rechtzeitig und auf transparente Weise geführt wird,
bevor uns die gesellschaftlichen Folgen der von uns selbst entwickelten
Bewußtseinstechnologien überrollen.
Eine kleine historische Schlußbemerkung: Bewußtseinskultur ist ein altes
philosophisches Projekt. Schon Cicero hat die Philosophie als cultura
animi bezeichnet, als Pflege der Seele - und in diesem Sinne mache ich an
dieser Stelle bloß Werbung für einen sehr alten und etwas aus der Mode
gekommenen Begriff von Philosophie. Die Liebe zur Weisheit als Pflege der Seele,
dies ist, so denke ich, ein klassisches Motiv, das uns vielleicht bei den ersten
Schritten in unserer gegenwärtigen Situation weiterhelfen könnte. Allerdings muß
man zugeben, daß sich die Ausgangsbedingungen für dieses altehrwürdige Projekt
einer Bewußtseinskultur seit Ciceros Zeiten ein wenig verändert haben.
Deshalb benötigt die klassische Figur eine Neuinterpretation im Lichte unserer
neuen empirischen Erkenntnisse über die neurobiologischen Grundlagen psychischer
Prozesse. Die Frage lautet deshalb: Was könnte Bewußtseinskultur - in
medizinethischer, in forschungspolitischer und in soziokultureller Perspektive -
heute heißen?
Birnbacher, Dieter (1995), "Identität der Persönlichkeit und Identität der
Person: Philosophische Fragen im Zusammenhang mit der Transplantation von
Hirngewebe", in: Zentralblatt für Neurochirurgie 56, S. 180-185.
Metzinger, Thomas (1993), Subjekt und Selbstmodell, Paderborn.
Metzinger, Thomas (1995)(Hg.), Bewußtsein - Beiträge aus der
Gegenwartsphilosophie, Paderborn.
Metzinger, Thomas (1996), "Niemand sein", in: Krämer, S. (Hg.),
Bewußtsein - Philosophische Positionen, Frankfurt.
Reiter-Theil, Stella (1995), "Offene Fragen an die Neurotransplantation.
Versuch einer unvoreingenommenen ethischen Analyse", in: Zentralblatt für
Neurochirurgie 56, S. 173-179.
Büro für Technikfolgen Abschätzung beim Deutschen Bundestag ,(1995),
"Biologische Informationssystem im Menschen": Erste Überlegungen des TAB zu
einer thematischen Umsetzung im "Forum", in: Machbarkeitsstudie zu einem
"Forum für Wissenschaft und Technik", Bonn.
Von Kutschera, Franz (1982), Grundlagen der Ethik, Berlin.