Gedanken über Europa

von

Gerhard Gelbmann




Sich als Intellektueller Gedanken zu machen und diese öffentlich zu äußern, gehört zu den Freiheiten und Rechten, die gerade das Europa, das sich als Europäische Union (EU) entwickelt, in vollem Bewußtsein adoptiert hat und verteidigt. In Ausübung dieses Rechtes seien im folgenden einige Gedanken über einen anwendungsorientierten, mit politischem Gehalt versehenen, an der jüngeren Geschichte gemessenen Begriff "Europa" vorgebracht, die vielleicht aus aktuellem Anlaß und neu erwachtem politischen Interesse angeregt wurden, denen aber durchaus lange Befassung mit bestimmten Aspekten des Themas und vieles an vorausgehenden Überlegungen zugrunde liegt.

Es sei nicht verhehlt, daß diese Zeilen von jemandem geschrieben werden, der sich selbst sowohl als Europäer als auch als Demokrat sieht, der durch das Glück der Geburt Österreicher und damit Bürger eines Landes mit sozialer Wohlfahrt, mit Wohlstand, Bildungsangebot, funktionierender Verwaltung und sich immer wieder aufrichtender Rechtsstaatlichkeit ist, worunter er keineswegs bloß die Staatsbürgerschaft oder einen zweifelhaften Begriff der Heimat meint, und der sowohl im Ausland innerhalb als auch außerhalb der EU gelebt und gearbeitet hat, der Europa sowohl von einigen Punkten in Europa als auch von einigen Punkten auf anderen Kontinenten aus zu betrachten und bisweilen die Ansichten von Nicht-Europäern über Europa kennenzulernen die Gelegenheit hatte. Der Verfasser bekennt sich dezidiert zu Europa in seiner jüngeren Entwicklung, die insbesondere positiv seit dem Ende des Kalten Krieges und der Aufhebung des Eisernen Vorhanges zu sehen ist, und er neigt dazu, sich zusehends zuerst als Europäer, dann als Österreicher zu sehen, ohne damit etwas wie Exklusivität zu beanspruchen.



I. GEOGRAPHISCHES, POLITISCHES UND STRATEGISCHES


Das heutige Europa kann als Kontinent von vorerst mal rein geographischer Umgrenzung -- die im Westen bekanntlich durch den Antlantik, im Norden durch das Eismeer bzw. die arktische Region, im Osten vom Ural-Gebirge und Ural-Fluß, das Kaspische Meer, den Kaukasus bis hin zum Schwarzen Meer, im Süden durch Bosporus, Marmara-Meer und die Dardanellen, das Mittelmeer südlich von Zypern, Malta, ferner Italien sowie die Straße von Gibraltar verläuft -- nicht ohne die Europäische Union, wie sie sich v.a. in den letzten dreißig Jahren entwickelt hat, politisch, wirtschaftlich, strategisch begriffen werden. Es ist darüber hinaus nicht nur geographischer Kontinent, Erdteil und Landmasse, sondern eine Ansammlung von Staaten und Gesellschaften mit komplizierten Verflechtungen jeeigener Geschichte, Sprache, Kultur, es ist keine Einheit, doch ist die Heterogenität nicht jene eines strukturlosen Konglomerats, vielmehr gab und gibt es Kristallisationspunkte der Entwicklung, Zentren, wo Differenzen aufeinander treffen und zu einer Vielfalt versammeln, aus der Neues entsteht, gleichsam aus einem Umschlag der Quantität der Differenzen in die Qualität einer Struktur.

Die EU macht einen Kernteil Europas aus, umfaßt große Nationen wie Spanien, Frankreich, das Vereinigte Königreich der britischen Inseln, Polen, Deutschland, reiche kleine Nationen wie Luxemburg, alte Nationen wie Italien, ehemals kommunistische Länder wie Ungarn oder die Slowakei, ferner mit dem Fall des Sowjetimperiums wieder selbständig gewordene junge Baltenstaaten, ist zudem von einem Rand assoziierter Staaten umgeben, die mit der EU einen gemeinsamen Wirtschaftsraum teilen oder sich politisch der EU annähern, worunter reiche und westlich orientierte Nicht-EU-Staaten wie Norwegen oder die Schweiz fallen, aber auch seit jüngerer Zeit die Türkei oder die Ukraine als Staaten mit beachtlicher Größer zu finden sind. Die EU reicht von einem kalten Land der nordischen Union wie Finnland zum iberischen Staat Portugal oder der Insel Malta, und von einer alten Kolonialnation wie den Niederlanden zu einer der kulturellen Wiegen Europas, nämlich Griechenland. Sie überspannt dabei die Pyrenäen, die Alpen, den Apennin, die Gebirge der Adriaküste des Balkans und demnächst wohl auch die Karparten. Sie grenzt an die Ost- und Nordsee, ans nördliche Eismeer, an den Atlantik, ans Mittelmeer.

Die EU ist, was die Ballung von Machtmitteln, Bevölkerung, Industrien, Finanzkraft, aber auch Demokratiebewußtsein, Standards des Rechts und den Großteil der historischen Zentren anbelangt, in der Tat Kerneuropa. Ohne die EU wäre Europa nichts anderes als ein bloßer Kontinent, ein rein geographisches Gebilde, innerhalb dessen Grenzen unterschiedlichste staatliche Formen zu finden wären, die einander teilweise in Nachbarschaft und meist aus historischem Zufall und in historischen Verstrickungen verbunden sind. Ohne die EU wäre an Europa nichts spezifisch Anderes als etwa am Kontinent Asien oder Afrika, wenn man von ethnischen, sozialen und historischen Besonderheiten absieht; Europa kann schon länger nicht mehr ohne die EU vorgestellt werden.

Die EU ist in der Tat vielfach zu einem Identifikator mit dem Begriff Europa geworden. Wer von Europa spricht, meint oft die EU. Das ist aber ungenau gesprochen, und wenn man es wirklich so meint, dann ist es falsch. Europa ist nicht die EU, die EU ist nicht Europa. Dies verstanden zu haben, heißt, einen Begriff von Europa zu haben, der zukunftsträchtig ist. Wer diesen Unterschied nicht begriffen hat, der läuft Gefahr, außerhalb der EU vielfach und oft in Europa oder anderswo überhaupt so verstanden zu werden, als wolle er aus der EU ein Instrument machen, Europa zu unterjochen. Allerdings ist die EU eine conditio sine qua non für ein politisches Europa geworden, das mehr sein will als nur ein geographischer Kontinent.

Daß Europa nicht die EU und die EU nicht Europa ist, ist eine Einsicht, die auch vor diverser Polemik und Vereinnahmung schützt. Denn ein Land wie etwa Rumänien als nicht-europäisch zu titulieren, ist sträflich und polemisch, wiewohl es zulässig ist, gegen einen EU-Beitritt Rumäniens zu sein (was ihn allerdings, rein realpolitisch geurteilt, kaum verhindern wird). Zugleich eröffnet die Einsicht in den Unterschied zwischen den Begriffen "Europa" und "EU" neue Möglichkeiten, auf die später zurückzukommen ist. Es ist eine Einsicht, die in einer wichtigen Tradition steht; denn die Gründungsgeschichte der EU setzt diese Einsicht voraus. Ob die EU sich so weiterentwickelt, daß in der Tat einmal dieses Kerneuropa sich mehr oder weniger auf ganz Europa ausgedehnt hat, damit in der Tat eine Vereinheitlichung Europas beschritten ist, ist eine Spekulation und soll einem nicht den Begriffsgebrauch diktieren. Wenn auch die EU Kerneuropa darstellt und sich seit den Verträgen von Maastricht und der letzten großen Erweiterungswelle als solches auch in der Wahrnehmung der anderen Nationen und Staaten etabliert hat, so soll nicht vergessen werden, daß rein politisch, strategisch, wirtschaftlich und historisch noch eine Reihe anderer Faktoren in Europa eine wichtige Rolle spielen, welche die EU nicht ignorieren oder völlig kontrollieren kann, ohne daß dies bisher zu großen Konfrontationen geführt hätte:

Das wichtigste staatliche Gebilde Europas außerhalb der EU ist die Russische Föderation. Die Größe dieses Gebildes überragt rein von der Fläche her bei weitem alles, was die EU diesbezüglich zu bieten hat und auch sonst jeden anderen Staat der Erde, verdankt sich aber gleichzeitig großteils dem Umstand, daß Rußland nach wie vor der einzige wirklich bikontinentale Staat ist, den es auf unserem Planeten gibt (die Türkei oder Panama, eventuell Arabien, sind das nur sehr bedingt). Rußland ist nicht ganz europäisch, wenngleich ein Kernteil Rußlands westlich des Urals liegt und kulturell und historisch gewiß nicht asiatisch ist. Große Gebiete der Russischen Föderation sind jedoch eindeutig asiatisch, und das betrifft keineswegs nur den Fernen Osten oder Siberien. Die Weite Rußlands ist gänzlich uneuropäisch.

Dennoch, Rußland ist ein Teil Europas, war es schon immer. Es ist keineswegs eine rein geographische Angelegenheit -- so wie etwa irgendeine Ziegeninsel, um die Spanien mit Marokko gestritten hat, zu Europa gehört. Es ist auch keine (rein) territoriale Angelegenheit, denn die russische Geschichte ist von Peter dem Großen und Katharina über Kutusow, Stalin bis hin zu Gorbatschow oder Putin tief mit Europas Geschichte verwoben. Sowohl Kultur als auch Politik in Rußland haben sich oftmals europäisch orientiert, sahen in Europa wichtige Teile russischer Interessen. Die Phase der Sowjetunion ist aus der Ideologie eines Marx und Lenins entsprungen, die beide durch und durch europäisch geprägt waren, ja sogar lange außerhalb Rußlands im heutigen Kerneuropa lebten. Als Dschingis-Khans Horden diese Gebiete bis weit hinein in zentrale Teile Europas beherrschten, waren diese Gebiete mehr asiatisch denn russisch; doch ab dem Augenblick, ab dem sie unter russischem Einfluß gerieten, sind sie als europäisch anzusprechen. Würde man Rußland nicht zum Begriff Europas zählen, so müßte man sich Asien ohne Japan oder die USA ohne Oregon denken. Europa ist keine solche Absurdität, und der Begriff, den man sich von Europa gerade unter aktuellen Umständen machen sollte, muß der Realität angemessen sein. Rußland ist eine europäische Realität, weil es zu Europa gehört; gleichzeitig gehört es zu den Realitäten dieses Rußlands, daß es nicht zur EU gehört und kaum jemals gehören wird.

Rußland gehört mehr zu Europa als die Türkei, denn das alte Byzanz und heutige Istanbul ist zwar altes Europa wie sonst kaum eine Region, von Rom abgesehen, aber der Großteil der heutigen Türkei ist eindeutig Vorderer Orient bzw. Naher Osten und damit asiatisch. Auch wenn die Westküste der Türkei, das sogenannte Kleinasien, hellenisch kolonialisiert war, ist die heutige Türkei darum weder griechisch noch europäisch, da aus dem osmanischen Reich hervorgegangen, das wiederum den Persern nachfolgte -- beides vorderasiatische Kulturen, die nicht europäisch sind, wenngleich indoeuropäisch geprägt. Auch das hellenistische Reich Alexander der Großen war in diesem Sinne bikontinental wie das russische Zarenreich -- allerdings war das Reich der Makedonier von geringer Dauer, zerfiel in Diadochenreiche, von denen die Sowjetunion weniger und stabilere abgeschieden hat. Die britischen Kolonien in Afrika haben auch europäischen Einfluß auf einen anderen Kontinent gebracht, ähnlich wie der Hellenismus Europa erstmals nach Asien brachte, darum aber nicht diese Kulturen europäisierte. Im Gegenteil, kaum war die Kolonialzeit ausgestanden, wandte sich die Entwicklung dieser Länder afrikanischen bzw. asiatischen Themen und afrikanischen bzw. asiatischen Kulturentwicklungen zu.

In Rußland ist das insofern anders, als das slawische und Großslawische Element immer im Kontakt mit Europa stand, sich immer zu den großen europäischen Höfen und Machtzentren zählte, mit europäischer Politik, mit europäischen Nationen, mit europäischem Fortschritt verbunden war und blieb. Das slawische Element ist ebenso europäisch wie das germanische oder nordische, das iberische oder romanische; Rußland hat immer wieder die Führungsmacht in der slawischen Welt beansprucht, ähnlich hat ja Deutschland immer wieder die erste Stellung unter den deutschsprachigen Ländern innegehabt.

Daß dennoch brisant diskutiert wird, ob die Türkei zur EU gehören solle, ist eine andere Frage; es ist in erster Linie keine Frage nach Europa, sondern eine nach der Politik und Entwicklung der EU. Rußland ist aus strategischen Gründen dagegen, und manch europäische Staat ist diesbezüglich skeptisch; doch ehe das vorgeschlagen war, war schon von einem Beitritt Rußlands zur EU die Rede (so etwa von Seiten des italienischen Premiers Berlusconi), das sollte man nicht vergessen. Gerade weil die EU diese Diskussion über die Türkei führt, ist die EU von Europa zu unterscheiden. Für einen EU-Beitritt eines Landes wie die Türkei spricht vieles, doch vieles auch dagegen. Der Vertrag, der die Europäische Union begründete, legt fest, daß jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der EU zu werden (Art. 49 EUV), wie etwa bei Kroatien, Rumänien, Bulgarien eindeutig gegeben. Sollte also die Türkei als nicht-europäisch qualifiziert werden, wäre diesbezüglich der EUV zu ändern oder von allen diesbezüglichen Beitrittsdebatten abzusehen. Übrigens war der Beitrittswunsch der Türkei und der Vorschlag einiger, ihm nachzukommen, keineswegs der erste Fall eines nicht-europäischen Staates, über dessen EU-Beitritt spekuliert wurde. Israel war da schon vorher in der Diskussion, allerdings offenbar schneller vom Tapet; doch auch bei Israel könnte man Gründe finden, es zu Europa zu zählen, wenngleich gewiß nicht geographische.

Neben Rußland gibt es noch weitere Faktoren, die Europa wesentlich in seinem heutigen Begriff mitprägen, dennoch aber nicht gänzlich zum heutigen Europa-Begriff zu zählen sind und schon gar nicht zum Kerneuropa einer EU oder dem Machtbereich der EU zählen. Da ist einmal die andere, vielleicht einzige Supermacht zu nennen, die USA, oft auch Amerika genannt, als stünden die Vereinigten Staaten von Amerika für den ganzen Kontinent. In den Staaten spricht man ja, wenn man sich kontinental beziehen will, von den Americas. So versucht man in Amerika ein vergleichbares semantisches Problem zu lösen, daß die Wahrnehmung eines Staates als für einen ganzen Kontinent stehend auslöst.

Die USA sind nicht nur eine große Macht, wirtschaftlich eindeutig die größte Staatsmacht und die wirtschaftlich wichtigste Ballungsregion der Erde, die USA sind auch zunehmend zu einem der bedeutendsten wirtschaftlichen Konkurrenten der EU geworden. Historisch gesehen haben sich die USA unter dem Einfluß wichtiger europäischer Nationen zu dem entwickelt, was sie heute sind. Politisch haben Großbritannien und Frankreich an der Wiege gestanden, die eine Zeitlang heiß umkämpft war; als die USA um ihre Unabhängigkeit kämpften, war das auch eine Auseinandersetzung innerhalb Europas. Verfassung und Demokratie, Verwaltung und Gerichtswesen der USA verdanken sich v.a. diesen beiden europäischen Mächten. Doch die Bevölkerung selbst setzt sich bekanntermaßen in hohem Maße und zu einem mittlerweile abnehmenden Anteil aus europäischen Einwanderern zusammen, sodaß der Deutsche, Schottische, Italienische, Polnische, Skandinavische Einfluß in den USA bis heute zu spüren ist. Politisch hat das allerdings heute kaum mehr Gewicht. Es hatte bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg eine Verbundenheit der USA mit Europa bewirkt, die vielen heutigen EU Staaten das Schicksal Osteuropas ersparte. Die Freiheit Westeuropas war einer der wichtigsten Faktoren, die es im Kalten Krieg für die USA und für viele Europäer zu verteidigen galt.

Man soll sich aber nicht irren -- die europäische Verbundenheit ist in den USA im Abnehmen begriffen. Am ehesten gelten noch die Bande nach Großbritannien als im Wachsen begriffen, doch sind das eher Verbindungen innerhalb der anglophonen Welt, die sich nicht zwangsläufig als europäische gerieren, was aber nicht heißen soll, daß die britischen Inseln nicht essentieller Teil Europas und der EU wären. Der Amerikaner versteht sich heute nicht als jemand, der von Europäern abstammt, egal welcher Hautfarbe, und auf Europa blickt der Durchschnittsamerikaner oft eher herablassend. Ein eigenes Nationalbewußtsein hat sich längst herausgebildet und bisweilen zu einem Nationalismus gesteigert, der mit der Entdeckung der eigenen Geschichtsschreibung ebenso einher geht wie mit dem aus der Stellung einer Supermacht geborene Bedürfnis, sich selbst Geschichte und dadurch Rang und Namen zu geben. Der Einfluß Amerikas in der Welt ist groß, und in Europa tritt er in besonderer Form konzentriert hervor. Damit ist nicht die Militärpräsenz gemeint, oder die Dominanz im Bündnis NATO, auch nicht die Distanz zum möglichen Konkurrenten der EU. Vielmehr ist Europa kulturell und wirtschaftlich Amerika am nächsten. Allerdings ist die einzelstaatliche Vielfalt und die Mulitiplizität des Machtspiels in Europa ein Faktor, der Amerika im Angesicht des Einigungsprozesses der EU verwirrt.

Die USA lieben es, die EU so zu behandeln, als wäre sie ein Superstaat, der dummer Weise von keinem Außenminister anderen Ländern gegenüber vertreten wird, und wo Provinz- und Regionalregierungen gewissermaßen die Dezentralisation per se darstellen, welche gleichzeitig Differenzen in kulturelle Dichte packt, die es in den USA maximal in New York, Chicago und San Francisco gibt. Daß solche Dichtheit in Europa vielfach nicht nur in kapitalen Ballungszentren existiert (man sehe in die Po-Ebene, in den Elsaß, nach Südspanien, in den Raum Slowakei-Westungarn), soll darüber nicht hinwegtäuschen, daß Europa auch leere Räume und Weiten umfaßt, die um nichts der amerikanischen Wildnis nachstehen (etwa in Nordeuropa oder Island, in Zentralspanien, in alpinen Gebieten, auch in Schottland oder Rumänien). Amerika ist von der Weite und Größe, von der Vereinheitlichung einer sich interkulturell gebenden Kultur her nicht als Modell für Europa geeignet, schon gar nicht für die EU, wiewohl die Idee, Vereinigte Staaten (von Europa) zu schaffen, attraktiv klingt (zumindest außerhalb der angloamerikanischen Breiten). Die Vorbildwirkung Amerikas verdankt sich gewiß der Vormachtstellung nach dem Zweiten Weltkrieg, den wirtschaftlichen Möglichkeiten, dem medialen Bild, das die USA in Europa Jahrzehnte hindurch erfolgreich von sich verbreiteten. Als Auswandererland ebenso wie als freie Demokratie, die jedem die Möglichkeit zum Glück verfassungsrechtlich garantiert, war Amerika nicht nur Schutzmacht für das westliche Europa, nicht nur Gegenpol zum Kommunismus der sowjetdiktatorischen Prägung, sondern die Triebkraft eines Liberalismus, der seine stärkste Ausprägung im Ökonomischen erfahren hat.

Daß Amerika zugleich als Land der Religionsfreiheiten auf das sekulare Europa -- das in Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien etc. Dome und Kathedralen voriger Jahrhunderte museal erhält -- äußerst bigott wirkt, wo im politischen Alltagsdiskurs das Böse eine rhetorische Rolle spielt, wirkt auf manche Europäer mittelalterlich, so als ob eine bestimmte Periode der Aufklärung und Kritik versäumt worden wäre. Was die Freizügigkeit angeht, so ist Europa mitunter Amerika überlegen. Doch diese kulturellen Unterschiede sollen die großen und auch für Rußland bestimmtenden Faktoren nicht überdecken: Amerika ist strategisch und militärisch an Europa interessiert, war es seit über hundert Jahren. Die Stationierung von Truppen auf Island oder in Deutschland sind nur ein Faktor dafür. Europa ist für Amerika bedeutsam, weil es immer noch eine Quelle Ziel für Auswanderung von gebildeten Menschen bietet und eine Bevölkerung, die einer für die USA freundlichen Stimmung in vielen Ländern positiv gegenüber steht, wenngleich nicht so sehr in Frankreich, Deutschland oder Österreich. Im strategisch-politischen Feld hat die USA mit dem letzten Irak-Krieg sich seine Bündnispartner situationsangepaßt gesucht, gemäß dem bekannten Pragmatismus. Werden vorhandene Bündnisstrukturen blockiert oder erweisen sie sich unvereinbar mit einem politischen Willen der USA, so sucht sich Amerika relativ rasch und diplomatisch nicht ungeschickt neue Partner für neue Aufgaben. Darin sind die USA erfolgreicher und effizienter als jeder europäische Staat, Rußland eingeschlossen.

Für Amerika haben sich allerdings auch die Gewichte verlagert: Das wichtigste Weltmeer ist nicht mehr der Atlantik; die transatlantische Bindung nimmt ökonomisch und strategisch an Bedeutung ab. Wirtschaftlich schaut Amerika zunehmend nach Westen, über den Pazifik, in die prosperierenden Regionen Asiens, hier vor allem nach China und Indien, um zugleich die strategischen Interessen auf der koreanischen Halbinsel aufrecht zu halten. Darum ist vermutlich für die Zukunft Amerikas der Konflikt um Nordkorea bedeutsamer als das teilweise unglückliche Engagement im Irak, in das viele europäische Länder wie Großbritannien, Polen oder Rumänien verwickelt sind. War der Irak-Krieg auch ökonomisch und da vor allem vom Erdöl motiviert, so galten für ihn doch auch sehr wirksame Argumente, die man auch im Nordkorea-Konflikt und im drohenden Iran-Konflikt findet: Massenvernichtungswaffen chemischer, biologischer und atomarer Art, die in solchen Ländern hergestellt werden könnten oder bereits vorhanden sind, empfindet Amerika als Bedrohung; mag auch die nachrichtendienstliche Information diesbezüglich mangelhaft gewesen sein, so zählt hier die Intention mehr, und die wurde nicht bloß angekündigt sondern auch verfolgt und in die Tat umgesetzt. Derartige Bedrohungsszenarien genügen Amerika für ein Involvement. Europa hat sich da niemals so deutlich geäußert und zu solch konzentriertem, konfligierenden Verhalten zusammengefunden. Diese militär-strategische Präsenz Amerikas von globalem Ausmaß soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die strategischen Entscheidungen in Amerika im Kern von ökonomischen Überlegungen langfristiger und strategischer Art flankiert und getragen sind.

Auch wenn in Deutschland und in Frankreich im Zuge der Kritik am Vorgehen der USA gegen den Irak Saddam Husseins von einem strategischen Fehler der USA gesprochen wurde, so soll einen das nicht täuschen über die Natur dieser Entscheidungsfindung, die in vielem diametral der europäischen entgegengesetzt ist. Amerika sichert sich seine Vormachtstellung, die auf der ökonomischen und technologischen Dominanz beruht. Da China und Indien hier regional und bald global an Bedeutung gewinnen, sind diese Regionen für die USA von höherem Interesse als es Europa selbst ist oder als diese Regionen für Europa zählen.

Der dritte Faktor, der für Europa historisch und politisch eine große Rolle spielt, ist zugleich der älteste und in der Summe seiner Wirkungen kultureller Art der langfristigste. Zugleich ist es ein Faktor, der unpopulär geworden ist, zur Zeit zu den schwächeren Einflüssen zu zählen scheint. Ich will diesen Faktor, der in seiner Gestaltung und Wirksamkeit deutlich diffuser als andere sind, den arabisch-islamischen-semitischen Faktor nennen, wobei damit nicht die religiöse Zugehörigkeit zum Islam oder einer anderen Religion dieser Region angesprochen sei. Geographisch ist damit das Gebiet gemeint, daß sich von den Maghreb-Staaten über Ägypten, die arabische Halbinsel, den Nahen Osten bis nach Afghanistan und an die Grenzen Indiens erstreckt. Die Kultur dieses Raumes hat Europa im Mittelalter schon lange vor den Auseinandersetzungen der Kreuzzüge beeinflußt, war der europäischen damals eindeutig überlegen; die maurische Hochkultur in Spanien etwa hat der Neuzeit die kritische Nahrung vorbereiten geholfen, indem verlorene Schriften des Aristoteles aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurden. Spanien war unter der Herrschaft Cordobas ein blühender Garten; die Requoncista und der Fall des Kulturzentrums Toledos haben Europa unermeßlich bereichert und das spanische Weltreich vorbereiten geholfen (das seinerzeit mit Österreich über Habsburg verbunden war). Bis zum heutigen Tag gibt es vielfache Verbindungen europäischer Länder mit diesem Großraum, der in sich sehr heterogen ist und jene Machtfülle längst verloren hat, die er in der Gestalt arabischer oder osmanischer Reichsbildungen hatte, durch welche er zur Bedrohung Europas wurde, welches damals mit der Christenheit selbst in eins gesetzt wurde. Diese Zeiten sind vorbei, aber dennoch bleibt dieser Kulturraum in der europäischen Nachbarschaft.

Sowohl was Migration als auch Sicherheitspolitik betrifft, kann sich Europa von der Sphäre des Islam nicht abkoppeln, indes ihr Einfluß auf die USA deutlich geringer ist. Der Reichtum an Erdöl und die politischen Unsicherheiten in vielen dieser Staaten, die enormes Bevölkerungswachstum mit zum Teil diktatorischen Regimes aufweisen, machen diese Gegenden für Europa auf Jahrzehnte hinaus bedeutsam und der genauen Beobachtung würdig. Vielfach wird von der EU aus mehr an Kooperation und Koexistenz in Richtung dieser Kulturräume versucht, als es die USA in jüngerer Zeit wollen oder können, wobei der islamistische Terrorismus keinen Schritt auf dem Wege einer solchen Koexistenz tut, was keineswegs bedeutet, der Glaube auf Grundlage des Korans als Islam sei per se unvereinbar mit europäischen Werten. Zugleich ist die Bedeutung dieses Kulturraums für das Eigeninteresse nicht nur für Europa, sondern auch für Rußland gegeben. Alleine daraus läßt sich übrigens das laute Nein Rußlands zu einem EU-Beitritt der Türkei gut verstehen.

Es ist schwer zu sagen, wie sich ein Großraum dieser Art entwickelt und welche Wirkungen das auf Europa hat. Die Geschichte, die Europa in diese Region involviert hat, war zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kolonialkrieg Frankreichs in Algerien eine unglückliche. Gleichzeitig zeigt die Einwanderung im südlichen Spanien, Frankreich, in Italien aus jenen Regionen, aber auch die jüngere Welle aus Bosnien und Ex-Yugoslawien in Österreich und Deutschland, daß eine Politisierung der kulturell-religiösen Differenzen für Europa verheerende Auswirkungen hat. Wenngleich man den Yugoslawien-Krieg nicht auf den Aspekt einer Kulturfriktion der geschilderten Art reduzieren darf und die Migrationen großteils ökonomisch erklären kann, so ist Europa seinem Begriff nach gerade durch die Konfrontation mit dem Fundamentalismus gefordert. Dieser Fundamentalismus findet sich allerdings keineswegs nur als Islamismus oder Zionismus, er schlägt Europa auch mit manchen Tendenzen in den USA hart entgegen, die übrigens selbst fundamentalistischen Ansichten sogar in höchsten politischen Kreisen anhängen. Diesbezüglich scheint die EU die politische Vermittlerrolle bisweilen übernehmen zu wollen, wobei sie allerdings oft in eigenen, inneren Interessensdifferenzen befangen und gelähmt bleibt. Die Zerteilung des arabischen Raumes als eine Frucht der Kolonialzeit entstammt dem europäischen Großmachtstreben vor allem Englands und Frankreichs. Gerade Irak und Syrien sind gute Beispiele dafür. So besehen sind die Kriege im Irak oder Nahen Osten post-europäische Kriege, bei denen es nicht um das zu gehen scheint, was die Amerikaner gerne als Grund für ihr angeblich idealistisches Engagement nennen: Demokratisierung.

So findet sich also Europa in vielfältigen äußeren Spannungsfeldern, zu denen innere älterer und neuerer Art hinzukommen. Die Rede ist nicht von Heterogenität oder Dissonanz, sondern von der Spannung, die eine Konzentration von Differenzen erzeugt, unter welchem Begriff ich die europäische Kultur ihrem Prozeß nach fassen will. Für Europa seiner Idee nach, die hier mit Paul Ambroise Valéry verstanden sei -- als Träger einer Kultur der geistigen Vielfalt, als Promotor der Aufklärung und neuzeitlichen Entdeckung der Welt, als Heimat der Wissenschaftlichkeit und einer Kultur des Geistes, die sich in der Vielfalt der Sprachen ebenso niederschlägt wie in den großen Namen, die alle Nationen und Kulturräume Europas hervorgebracht haben in einer Fülle, die wahrhaft historisch ist -- sind all diese Spannungen Grund genug, seine staatliche oder föderale Vereinigung nicht nur nicht praktisch unerstrebbar, sondern kaum erstrebenswert erscheinen zu lassen. Dies verstanden zu haben, formt einen Blick auf die Rolle der EU in diesem Europa zu einer eigenartigen Wahrnehmung, welche der Realisierung eines Begriffes von Europa bestimmte Grenzen setzt.

Die wesentliche Frage bleibt und ist daher, welches Europa man sehen und schaffen will, für welches Europa man eintritt, und inwiefern die Europäische Union dieses Europa wesentlich mitbestimmt oder gar vorwegnimmt. Meine Behauptung ist, daß die EU einen Begriff Europas v.a. aus inneren Gründen nur partiell repräsentieren kann, auch nicht das Erbe der Idee Europas angetreten hat, wohl aber bestimmte Aspekte der Idee Europas und damit die Realität eines Europas von historischem Grad an Einheitlichkeit zu verwirklichen im Begriffe steht, was teilweise auch mit den Kosten bestimmter Zerstörungen verbunden ist.



II. HISTORISCHES, ÖKONOMISCHES UND SOZIALES


Es bestehen keine Zweifel, daß die Europäische Union von ihrer Entstehungsgeschichte her ihre Motivation und Impetus mehrfach gewandelt hat. Ursprünglich, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stand neben dem Gedanken einer Kooperation und Versöhnung v.a. zwischen Frankreich und Deutschland im Hinblick auf die Kriege von 1870/71 bis 1945 unter Einbeziehung der Benelux-Staaten und Italiens sowie des britischen Reiches, das ja damals selbst seine imperiale Kolonialgröße verlor, die Beschränkung jener technisch-ökonomischen Grundlagen, die Hitler die Aufrüstung Deutschlands ermöglichte. Daß sich ein Kleinstaat wie Luxemburg dem sofort anschloß, liegt in der historischen Erfahrung, daß es etwa im Zweiten Weltkrieg den höchsten relativen Blutzoll eines Landes (ex aequo mit Polen) gemessen an der Gesamtzahl der Bevölkerung leistete; die Magignot-Linie Frankreichs gegen Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg bewirkte eine strategische Rolle der Beneluxstaaten, die sie zum Opfer der feigen Okkupationen Hitlers machten. Die Katastrophe von Dünkirchen zeigte diesen Ländern, daß sie von Großbritannien nicht gerettet werden konnten, zumal der Isolationismus und Pazifismus der angloamerikanischen Welt Hitler leichtes Spiel ließ. Es lag im klugen Interesse jener Staaten, die zwischen den Machtblöcken Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens lagen, einem friedvollen und friedenssichernden Ausgleich zuzustimmen, der den sozialen Wohlstand und den Wiederaufbau für alle sicherte.

Die ersten Schritte dazu waren einfach und eindeutig nicht gewinnorientiert, sondern friedenssichernd: Stahl und Kohle wurden als die für die Kriegsproduktion bestimmenden Rohstoffe angesehen, gefolgt von der neu entdeckten Nuklearindustrie -- und man kann sich fragen, ob damit richtig und in allen Punkten vorausschauend geurteilt war, zu einer Zeit, wo in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits die kybernetische Revolution (getragen von europäischen Exilanten und eingekauften Forschern) um sich zu greifen begann, welche die Daten- und Informationsverarbeitung sowie die Automatisation betraf und über die Atombombe hinausreichende komplexe Waffensysteme ermöglichte, die bis heute für die Vorherrschaft der USA in militärischen Belangen sorgen. Vielleicht liegt darin einer der Gründe, daß sich das westliche und zusammenschließende Europa von der Rüstungsentwicklung allmählich abkoppelte, die nicht bloß Atommächte, sondern die globale Stellung als Supermächte für die USA und die Sowjetunion ermöglichte. Andere Gründe sind selbstverständlich in der Überwindung der entsetzlichen Zerstörungen des Krieges zu suchen, welche Ressourcen banden und neuerliche Aufrüstung in Europa und v.a. ein ungebundenes Deutschland nicht angeraten erscheinen ließen; daß Deutschland geteilt wurde, war eine Folge der Polarisierung der Welt und der Strategie, es als Großmacht zu schwächen. Folgerichtig hat Deutschland, obwohl es wissenschaftlich längst dazu in der Lage war, niemals Atomwaffen entwickelt; die BRD beschränkte sich auf militärische Macht im Rahmen der NATO, die DDR im Rahmen des Warschauer Paktes.

Auch nach der Wende von 1989 waren lange Zeit Kampfeinsätze Deutscher Soldaten in Auslandsmissionen auch im Rahmen der UNO umstritten und kamen nicht in Frage, erst mit dem Neuen Jahrtausend änderte sich das. Westeuropa war froh, den USA Schutz und Führerschaft, oft auch die Kriege zu überlassen, wenngleich Frankreich und Großbritannien ihre eigenen Waffenarsenale anschafften und bis zur Suez-Krise, den Tschad-Einsätzen und dem Falkland-Krieg auch noch eigene Kriegspolitik offensiv verfolgten. Die USA stationierte nicht nur Truppen sondern auch Atomwaffen auf europäischem Boden, um der Bedrohung durch den Warschauer Pakt zu entgegnen, die seit den Krisen in der DDR und in Ungarn, aber auch in der Tschechoslowakei immer wieder real zu werden schien. Die Sowjetunion setzte entsprechende Gegenmaßnahmen, und die heutigen Erwachsenen Europas erlebten eine Jugend der Rüstungsspirale, die an potentiellen Schrecknissen mit kaum einer Periode zu vergleichen ist. Die Vorgängerorganisationen der Europäischen Union spielten keine wesentliche Rolle strategischer Art und ordneten sich der NATO und den USA in vielen Belangen unter. Die Idee einer Westeuropäischen Verteidigungsunion war lange Zeit nur ein Gedankenspiel, wurde erst in Ansätzen durch Deutsch-Französische Truppenkooperation und dann im Neuen Jahrtausend durch Bekenntnisse zur WEU geschaffen.

Zugleich hat die Spaltung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg in einerseits ein westliches, freies Europa, worunter auch neutrale Staaten wie die Schweiz, Schweden oder Österreich fallen, und in andererseits ein östliches und kommunistisches Europa, das eindeutig von der Sowjetunion dominiert wurde, den Kontinent in vielen Bezügen eindeutig und nachhaltig geschwächt. Die Spaltung Deutschlands, unter der bis heute das seit 1989 glorreich, weil unblutig wieder vereinigte Deutschland v.a. wirtschaftlich zu leiden hat, ist dafür äußerst signifikant. Ebenso die Regimebildung in Rumänien, die auch innerhalb Osteuropas eine eigene Stellung hatte und sogar Querverbindungen mit Frankreich pflegte, was aufzeigt, daß die Blöcke innerhalb Europas nicht jene Geschlossenheit aufwiesen, die sie in der globalen Dimension der Konfrontation des Kalten Krieges hatten. Allerdings darf man nicht übersehen, daß Europa an Beispielen der Blockfreien Staaten wie Yugoslawien oder auch am Beispiele Frankreichs, das sich der Dominanz der USA durch einer das amerikanische Containment konterkarrierenden Strategie zu entziehen versuchte, keineswegs immer glücklich unter der Vorherrschaft jener Supermacht war, die die Freiheit auf ihre Fahnen in einer Art geschrieben hatte, als hätte das zur Folge zu haben, daß alle anderen Fahnen im Namen derselben Freiheit zu schwingen oder zu streichen wären. Am wichtigsten für Europa in Bezug auf die USA war gewiß die Annäherung der USA an Großbritannien, zu welcher Winston Churchill in der Bedrängnis der ersten Kriegsjahre selbst eingeladen hatte. Die Einheit des Kontinents war jedenfalls endgültig verloren, nachdem es während des Krieges so aussah, als würden die Alliierten mit ihrem Partner, der Sowjetunion, sie nicht in Frage stellen. Ab Jalta war es damit vorbei.

Nach dem Ersten Weltkrieg war die Situation keineswegs dermaßen zerrissen gewesen, wenngleich die Verträge von Trianon und Locarno viele Ungerechtigkeiten schufen, etwa Ungarn zerteilten. Davor waren mitunter Reisefreiheit und wirtschaftliche Verflochtenheiten mitunter größer als sie es nach dem Zweiten Weltkrieg je sein würden. Wenn Europa jemals eine Chance auf eine Vereinigung hatte, so war es vor Rosa Luxemburgs bekanntem Ruf nach den Vereinigten Staaten von Europa. Es soll unter den Thronerben Habsburgs am Vorabend des Ersten Weltkrieges Überlegungen gegeben haben, eine europäische Föderation zu bewerkstelligen, was aber am Widerstand des Kaisers und der Deutschen Generalität scheiterte, welch letztere unter Ludendorff ja noch den unseligen Krieg über die Materialschlachten hinaus ins Desaster verlängerte. Doch mit Bismarck und davor mit Napoleon Bonaparte waren Ideen der Vereinigung von Europa oder Teilen Europas immer mit einem klaren Antagonismus gegen Rußland und mit militärischen Maßnahmen gegen viele Völker verbunden, die in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten.

Vielleicht mutet die Situation Österreichs da spezifisch an, mag in manchem aber auch für die Situation der europäischen Idee selbst stehen, wenn man sich zwar nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der für die neuerstandene Zweite Republik glimpflich abgelaufenen Zeit des Anschlußes an Nazi-Deutschland international öffnete, indem man sich den Organisationen wie der UNO, OECD, OSCE anschloß und diese mehr als tatkräftig förderte, zugleich aber geschickt zwischen den Kontrahenten zu lavieren wußte und ihnen Platformen auf dem Sofa einer sprichwörtlichen Gemütlichkeit offerierte. Wien war in jener Zeit, in der ich ab den Siebziger Jahren Kind und Heranwachsender war, eine Drehscheibe der Agenten und Geheimdienste, vergleichbar mit dem Spanien Francos oder dem heutigen Norwegen: Zwischen den jeweiligen Blöcken zu stehen, war ein Balanceakt besonderer Art. Andererseits hatte die Verstrickung europäischer Staaten in die postkoloniale Ordnung Afrikas und Asiens einen nicht zu vernachlässigenden Anteil am Bedeutungsverlust Europas. Belgien und Portugal, Frankreich und Großbritannien, die Niederlande und Spanien, auch Deutschland und Italien hatten nach und nach fast alle in den letzten 150 Jahren gesammelten Kolonien verloren, womit der europäische Einfluß in der Welt zurückging. Vor den Weltkriegen war ein Großteil des Planeten für Jahrhunderte von europäischen Zentren aus regiert worden, sei es von Rom, Venedig oder Madrid, später von Den Haag, Paris, London aus. Selbst vor Inbesitznahme arktischer Regionen schreckte man nicht zurück, Rußland dehnte sich nach Norden aus, dominierte das von Schweden an es verlorene Finland, nahm sich die Halbinsel Kola, Dänemark gewann die Faraöer-Inseln und Grönland, um bis zum heutigen Tage in jenen Regionen wesentlichen Einfluß auszuüben. Der Boxeraufstand in China setzte ein erstes Signal zur Beendigung des europäischen Imperialismus in China, die Schlacht von Tsu-Shi-Ma und die dadurch angetretene Vorherrschaft Japans im Fernen Osten, begünstigt durch die Erste Russische Revolution, setzten weitere Schritte in die Richtung eines allmählichen Bedeutungsverlustes eines Europas, dessen Strategie über alle staatlichen Unterschiede der Souveränität hinweg im Kolonialismus bestanden hatte, woran Österreich wenig Anteil hatte.

Der letzte diesbezügliche Verlust war vielleicht der Vietnam-Krieg, den Amerika von Frankreich erbte und gerne übernahm, getragen von der eigenen Politik, die einen Dominoeffekt der dem Kommunismus nach und nach anheim fallenden Staaten fürchtete, in Wirklichkeit aber die regionalen Konflikte und Gegebenheiten sträflich unterschätzte. Der Krieg wurde nicht durch die Fähigkeit, hohe Verluste zuzufügen gewonnen, sondern durch die unsägliche Fähigkeit, solche zu erleiden, ohne aufzugeben. Das Fanal des Vietnam-Krieges zeigte die Verletzlichkeit einer unter falschen Voraussetzungen umgesetzten Strategie. Zuvor schon hatte das von Napoleon III. eingesetzte Regime des mexikanischen Maximilian von Habsburg einem Juarez nachgeben müssen, waren die kolonialen Tendenzen gegen die USA zum Erliegen gekommen, das seinerseits die Philippinen von Spanien übernahm, Cuba eroberte, Alaska von Rußland kaufte, Tejas und Californien den Mexikanern abnahm, die Franzosen aus Louisianna warf, die Indianer ermorderte oder ghettoisierte, und darin eine koloniale Phase in den neuen Imperialismus der Nachkriegsordnung des Kalten Krieges überführte. Der Sklavenhandel wurde von Europäern erfunden, wurde im großen Stil bis zum Sezessionskrieg durchgeführt, um Amerika wesentlich afrikanisch zu prägen, indes in Südafrika die Rassentrennung in noch stärkerem Ausmaß als die amerikanische Segregation in ein burisches Apartheids-Regime mündete, das sogar jenen britischen Nachkommen mißbehagte, die ihrerseits noch Krieg gegen die Burenrepubliken geführt und gewonnen hatten. Alle diese Schauplätze der Geschichte schienen eine Zeitlang europäische gewesen zu sein, hatten aber gerade den Universalismus der europäischen Zivilisation verleugnet. Letztlich ist in all diesen Auseinandersetzung Europa gescheitert und zu verurteilen. Mit dem Vietnam-Krieg übernahm Amerika teilweise diese unheilschwangere Rolle, global bestimmte Anschauungen durchzusetzen, um ihrem Universalismus pragmatisch zum Durchbruch zu verhelfen; das ist ein Universalismus, zu dem Macht und Machterhalt eine Nation verpflichten, solange keine Mechanismen gefunden und gesichert sind, eine zivilisatorische Vorherrschaft auf anderen Wegen zu etablieren.

Doch der Kalte Krieg ist keineswegs die einzige globale Auseinandersetzung jener Zeit; die Nachwehen des europäischen Imperialismus sind durch den Kalten Krieg nur bisweilen verzögert und verdeckt worden, so wie der Erste Weltkrieg die letzte Bedeckung des Nationalismus in Zentral- und Osteuropa war. Die Wende Europas von der kolonialen Strategie der Expansion zur global agierenden Supermacht Amerika ist durch den Vietnam-Krieg mehr noch als durch den Korea-Krieg gekennzeichnet, wurde der Öffentlichkeit aber erst durch den ersten Krieg gegen den Irak (das ist der Zweite Golfkrieg, denn der Erste Golfkrieg fand zwischen Iran und Irak unter jeweilig unterstützender Beteiligung vieler anderer, auch europäischer Nationen statt) bewußt, den Präsident George Bush sen. an der Spitze einer globalen Allianz führte, die in ihrer Art doch etwas einzigartiges und jedenfalls völkerrechtlich durch die UNO legitimiert war. Der zweite Irak-Krieg unter seinem Sohn ist hingegen von einer Art, die jene Wende rückgängig machen möchte und Amerika an eine koloniale Strategie knüpft, die mit der Demokratisierung den eigenen Einfluß verbreiten möchte, aber auch wichtiger Ressourcen und geo-strategischer Positionen wegen ausgefochten wird. Übrig geblieben ist noch die post-koloniale Struktur des Commenwealth of Nations, welche bis heute intakt ist als ein loser Zusammenhang der an Großbritannien gebundenen anglophonen Welt.

Doch die anglophone Welt ist mit der europäischen nicht ident, wenngleich es große und über den Kontinent Europa hinausreichende Überlappungen und Gemeinsamkeiten gibt. Der Commonwealth hat eine überkontinentale Struktur, ohne die Ambitionen, die die EU trägt. Wenngleich Großbritannien sein indisches Imperium verlor, ist es europäische Großmacht geblieben. Frankreich hatte sein Mit-Siegen im Zweiten Weltkrieg, das ja selbst in Kollaborateure und Allierte unter de Gaulle gespalten war, dem Blutzoll der Kolonien zu verdanken -- und verlor diese mit dem Algerien-Krieg sukzessive, um sich auf eine europäische Rolle beschränkt zu finden. Viele Jahrzehnte hatte Amerika das Erbe der Kolonialzeit angetreten, um das es sich mit Rußland stritt. Die Machtfülle eines britischen Reiches, das auf allen Kontinenten vertreten war und globale Interessen verfolgte, scheint vielleicht auf militärischem Gebiet von den USA übertroffen, nicht aber auf politischem und zivilisatorischem. In vielem ist die USA Erbe des British Empire, ohne darum europäischer geworden zu sein.

Außereuropäische Nationen, die vom Zweiten Weltkrieg auch stark betroffen waren, zu den Verlierern zählten, den Weltkrieg über das europäische Maß des Ersten Weltkrieges hinaus in den pazifischen Raum trieben, haben in derselben Zeit einen ungeahnten Aufschwung genommen: Das beste Beispiel ist dafür Japan, aber auch Taiwan/Formosa wäre zu nennen, das vom heutigen China nach wie vor als Abspaltung gesehen wird und eigentlich ein Produkt der Revolutionen in China war. Mit dem Maoismus trat in Asien ein Faktor auf, mit dem Europa lange Zeit nicht umzugehen wußte, bis die Rede von der Roten Gefahr aus McCarthy's Amerika herüberdröhnte. China blieb eigentlich für die Europäer und den Westen überhaupt lange verschlossen und ermangelte bis zu seiner allmählichen Öffnung für wirtschaftliche Kooperationen eines Marco Polo des 20. Jahrhunderts. Südostasien hat einen Aufschwung genommen, der in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest nach den Jahren des sogenannten Wirtschaftswunders seinesgleichen sucht. Diese weiträumigen Voraussetzungen sind mit zu beachten, wenn man die wirtschaftliche und soziale Entwicklung verstehen will, die Europa in jüngerer Geschichte genommen hat. Desgleichen ist Augenmerk auf einen ganzen Kontinent zu richten, nämlich auf Südamerika, der sich offensichtlich auf einem Wege der vorsichtigen Stabilisierung befindet: Hier, und in seinem größeren Raum als Lateinamerika, ist der iberische Einfluß kulturell in relativ homogener Weise gegeben, ist zivilisatorisch vielfach die Einbidung von Indigenen und deren Rechten etwa in Mexiko (durch den Dialog mit den Zapatisten) und in Brasilien (durch Anerkennung der Rechte der Amazonasbewohner) gelungen, auch die lange Zeit Unruhe stiftenden Guerilla-Bewegungen (von Villa bis Che Guevara) sind durch fortschreitende Demokratisierungen friedlicher geworden.

Südamerika kann als ein eigenständig gewordener Zweig und Konstellation auch europäischer Kulturen gesehen werden, die mit Portugal und Spanien einst die Welt unter sich aufgeteilt und die Phase des kolonialen Imperialismus eingeleitet hatten. Es scheint in Lateinamerika, nach den Regimen der Peronisten in Südamerika, der Großgrundbesitzer und Diktatoren in Brasilien, Mexiko, Peru, Chile, nach den Bürgerkriegen in Honduras und Nicaragua, eine Zeit der berechtigten Hoffnung für Lateinamerika angetreten zu sein. Es liegt im europäischen Interesse, diese Entwicklung zu stützen und zu fördern; wenn einst Simon Bolivar von einer Vereinheitlichung Südamerikas träumte und die Länder Kolumbien, Peru, Bolivien von der spanischen Kolonialherrschaft befreite, so ist heute ein solcher Kampf nicht mehr nötig, vielmehr ist die innere staatliche und zivilisatorische Entwicklung dieser Länder wichtig. Mit Demokratien und sozial friedlichen, stabilen Gesellschaften kann das heutige Europa stets gute Beziehungen pflegen, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. Die Lösung der drängenden Fragen der Verteilungsgerechtigkeit bleibt ein Anliegen der Menschheit, aus dessen Pflicht sich kein Kontinent befreien kann. Doch die Modelle des Aufschwunges können nicht einfach über kulturelle und kontinentale Grenzen hinweg transferiert werden.

Das Wirtschaftswunder in Deutschland und Österreich war auf nationale Produktivitätssteigerung und Verteilung des Wohlstandes im Modell der sozialen Marktwirtschaft gegründet, indes sich die Gewinnerländer des Fernen Ostens, aber auch mancher Schwellenländer aus der Verliererrolle durch eine beispiellose Ausnützung der Prinzipien des Freien Marktes zu globalen Exporteuren aufschwangen. Die ehemaligen Kolonien Afrikas, Asiens, Lateinamerikas wurden oft zu agrarindustriellen Zulieferern der westlichen, hochindustriellen Welt umfunktioniert, Commodities wie Kaffee, Kakao, Zucker, Bananen waren und sind vorherrschende Waren, neben Rohstoffen wie Erdöl oder Metallen. Europa war sich bei aller Konkurrenz schon damals in der Ausbeutung der Dritten Welt einig, woran sich bis heute weniger, als wünschenswert wäre, geändert hat. Damals schon begann eine den Merkantilismus und Kolonialismus bei weitem übertreffenden Form der Globalisierung. Hand in Hand ging damit die vielleicht in weiser Voraussicht geleitete Politik der USA, vorige Kriegsgegner in Bündnispartner zu verwandeln, zu denen auch Staaten wie Australien zählen, die sich vormals von Japan existentiell bedroht fanden, oder Mexiko, das nach Kriegen gegen die USA nun mit Kanada und den USA im NAFTA-Abkommen enger denn je verbunden ist.

Zugleich hat Westeuropa noch vor der Gründung der EU heutiger Art seiner Bevölkerung ein historisches Novum beschert, das in der Art einzigartig ist und am ehesten noch in Kanada zu finden ist als jenem amerikanischen Staat, der Europa am ehesten ähnelt: Die soziale Sicherheit für alle. Der Sozialstaat ist historisch zuerst in Skandinavien und der Schweiz schon lange vor den großen Kriegen erwacht, sodann in Deutschland, Großbritannien, den Beneluxstaaten, in Frankreich und nach und nach in allen heutigen EU-Mitgliedsstaaten mehr oder weniger etabliert. Wenn Österreich noch in der Zwischenkriegszeit wie Deutschland die Not der Depression und Verelendung kannte, so wurden diese europäischen Länder nach dem Krieg zu Regionen, die Arbeitskräfte aus Süd- und Südosteuropa anzogen, prosperierten und in wenigen Jahrzehnten die Kriegsschäden vergessen machten. Italien war das Land Europas, das in sich selbst den Nord-Süd-Konflikt spiegelte, den Europa ansonsten aus seinen entweder kommunistischen Verhauen oder industrialisierten Wohlstandsgebieten zu halten wußte.

Die wirtschaftliche Prosperität und der Sozialstaat waren und sind die wichtigsten Gründe für die europäischen Nationen, sich zur EU zusammenzuschließen oder ihr beizutreten, diese Entwicklung wurde mit der Prosperität des Nachkriegseuropas zusehends wichtig und weitete den Aspekt der reinen Friedenserhaltung um ökonomie-politische aus. Sozialstaat und freie Marktwirtschaft galten als Garanten für einen Frieden, den man sich nur durch wechselseitige und multi-laterale Annäherung der europäischen Nationen untereinander zu sichern wußte. Die Bündnissysteme der Entente und der Achsenmächte waren die treibenden Kräfte jener Tendenzen der Großen Kriege, die Europa so lange in einen hellen und weltoffenen Teil neben einem dunklen und geschlossenen Teil spaltete. Die Bürger Europas, die nur und immer noch als Bürger einzelner Staaten existieren, stimmten vermutlich aus diesen Gründen immer wieder für die Entwicklungen, die das Projekt der EU nahm. Das hier unterstellte Motiv ist jedenfalls dem einzelnen Bürger insofern bewußt, als jeder besser und gesichert leben möchte.

Allerdings gibt es eine Latenz bezüglich der Bewußtheit des sozialstaatlichen Motivs; die EU hat sich längst zu einer neo-liberalen Wirtschaftsgemeinschaft gewandelt, wo die Freizügigkeiten für Kapital und Handel nicht immer mit dem Sozialstaat korrespondieren und koordiniert sind, schon gar nicht aber Rücksicht auf die global dadurch verursachten Verzerrungen von Märkten und Chancen nehmen. Prosperität kann auch nur wenigen nützen und auf dem Rücken jener ausgetragen werden, die vom Sozialstaat kaum profitieren, um trotzdem das Bruttonationalprodukt und das statistische nationale Wirtschaftswachstum zu steigern. Durch Gastarbeiter und vielfältige soziale und demographische Änderungen war der Aufschwung in einer für die nationalstaatlich und staatsbürgerschaftlich gebundene Bevölkerung leicht zu sichern. Erst langsam kamen Gedanken der Integration und des Abbaues gewisser Vorstellungen von Souveränität auf. Europa gab sich Institutionen, die hauptsächlich an die EU gebunden waren und daher nur für bestimmte Staaten Gültigkeit entfalteten. Allerdings ist mit dem Europarat ein institutionelles Instrument geschaffen worden, das weit über die EU in Europas Staatenwelt hinausstrahlt, wozu auch die jüngere OSCE gerechnet werden muß. Europäischer Gerichtshof und Internationaler Strafgerichtshof sind weitere Zeugnisse einer institutionellen Entwicklung Europas, die universelle Bedeutung haben und einen Weg der Entwicklung anzeigen, die in den Zeiten der Globalisierung wegweisend sind. Denn wenn die nationalen Institutionen nicht mehr greifen und durch neo-liberale Deregulierung Regeln und Grenzen im internationalen Verkehr abgebaut werden, entstehen ordnungspolitische Defizite, die nur multi-national und in weiträumiger, kontinentaler Weise zu lösen sind. An solchen Versuchen mangelt es nach wie vor, und viele neuere Entwicklungen schreien nach überregionaler, globaler Institutionalisierung von Wohlfahrts- und Sozialpolitik.

Hat die Europäische Gemeinschaft zu Beginn ihres Entstehens den Frieden zu sichern gewußt, um sich erst danach auf die Wirtschaft als wichtigsten Faktor ihrer Existenz zu fokussieren, so ist mittlerweile die innere Friedenssicherung aus dem Blick gerückt. Mit zwischenstaatlichen Konflikten militärischer Art ist innerhalb der EU nicht zu rechnen (wohl aber mit politischen und von der Brisanz der Spionage getragenen). Der innere Frieden in einem Land und unter der Bevölkerung wird aber v.a. dann gesichert, wenn Elend und Unzufriedenheit mit gerechten Maßnahmen nachhaltig ausgeräumt werden. Der Sozialstaat mit seiner verteilenden und ausgleichenden Funktionalität hat genau dafür zu sorgen gewußt. Die Kosten, die er aufwirft, wurden und werden früher über die Gemeinschaft aufgebracht, in einem Bewußtsein und stillschweigenden Übereinkommen der Solidarität. Das Anwachsen der wirtschaftlichen Verflechtung innerhalb Europas und v.a. der Staaten der EWG und der EFTA zum EWR war konsensfähig und weithin akzeptiert, weil die Solidarität und der wirtschaftliche Gewinn eine sozial annehmbare, um Gerechtigkeit bemühte Verteilung in Aussicht stellten. Ein jeder schien zu gewinnen, darum gab es anfangs nur wenige Zweifler an der Sinnhaftigkeit dieses Geschäfts. Der aufkommende Ruf nach Deregulierung und Rückzug des Staates, nach Privatisierung von Staatsvermögen und Abbau staatlicher Subventionen paßte zu dieser Form, das europäische Geschäft zu betreiben.

Der Glaube an den Egoismus als Triebkraft allen zivilisatorischen Geschehens, das auf wirtschaftliches Handeln reduziert wurde, hatte längst Einzug in der westlichen industrialisierten Welt gehalten. Auch hier war und ist Amerika ein Vorreiter. Nunmehr hat der Verlust der Solidarität in der Gesellschaft, wo sich Arbeitnehmer in Gewerkschaften und die Bürger in Parteien zusammenschließen, die dem Staat und den Arbeitgebern Rechte und Freiheiten abtrotzen, nicht nur den Sozialstaat zu bedrohen begonnen, der heute streckenweise kaum finanzierbar ist. Der Verlust der Solidarität zwischen den Menschen rüttelt an den Fundamenten der republikanisch und repräsentativ verstandenen, institutionalisierten Demokratie selbst, die nur bestehen kann, solange die Menschen sich zusammenschließen zu Interessensgemeinschaften, solange also das Individuum eines gewissen Altruismus fähig ist, um sich sozial zu verwirklichen. Bürokratien und Administrationen wuchsen bisweilen an Intensität und Fülle, obgleich unter Liberalität auch die Befreiung des Bürgers vom Überhandnehmen des Staates zu verstehen wäre. Doch die technologischen Entwicklungen und die Verfeinerung der systematischen Aufgaben des Staates trugen zu jenen Machtverschiebungen bei, die den Neo-Liberalismus konterkarrieren: Auch wenn der Staat in manchem schwächer geworden ist, so gibt es allmählich nachfolgende Systeme übergreifender Organisation, die des Einzelnen Freiheiten beschränken und bestimmen. Große Wirtschaftszusammenschlüsse von Unternehmungen und Konzernen, undurchschaubare Verflechtungen von Kapitalien, aber auch Interessensvertretungen von Industrie, Handel, Bauern zeigen ein institutionelles Wachstum an Dichte, das einem Liberalen zu denken geben müßte. Die Antwort der liberalen Parteien Europas, die ohnehin neben den Konservativen und Sozialisten bzw. Sozialdemokraten klein schienen, war eine zwiefache Rede von Sozialliberalismus und Wirtschaftsliberalismus, die eigentlich Unvereinbares meinen.

Denn wenn ein Einzelner über Anlagen von Finanzkapital seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, oder einige wenige über Finanzkapitalien großer Teile des im Volk vorhandenen Vermögens verfügen können, zugleich aber die Arbeitskraft vieler deutlich stärker besteuert oder gar von einigen wenigen durch Aufkäufe von Staatseigentum für sich kapitalisiert werden kann, dann wird das soziale Ungleichgewicht zu groß, beeinträchtigt die Chancengleichheiten ebenso sehr wie die Umverteilung, nimmt sogar den Staat und Fiskus in den Dienst einer neo-liberalen Sache, indem Steuergesetzgebung und Wirtschaftspolitik der Akkumulation von Finanzmitteln für rein private und kollektivisierte private Interessen unterworfen werden. Die Investition in Realgüter geht verhältnismäßig zurück, indes die Geld- und Vermögensanlagen steigen. Diese Tendenzen sind vielfach kritisiert worden und in allen industrialisierten Ländern zu finden, auch und besonders in Europa. Der Sozialstaat wirkt wie ein blökendes Schaf gegenüber dem Wolf des Neo-Liberalismus und seiner reißerischen Anbiederung. Mit der Schwächung des Staates geht die Schwächung des Sozialstaates einher -- so jedenfalls die Schlußfolgerung, die die alternativen und grünen, ökologischen und oppositionellen Kritiker der neo-liberalen Ordnung ziehen.

Somit hat Europa in sozialer und ökonomischer Hinsicht längst einen Wandel begonnen, der es zu amerikanisieren droht in einem Verständnis, das den USA einen sozial kaum abgefederten Kapitalismus des brutalen Wettbewerbs zuschreibt. Statistisch gesehen leben ja 17% der Bevölkerung in den USA in einer Armut, die mit der Dritten Welt vergleichbar ist, obwohl gleichzeitig riesige Vermögenswerte in diesem Lande vorhanden sind -- allerdings nur in einiger weniger Hände. Großindustrielle und Superreiche haben mitunter Vermögen in ihrer Gewalt, die den Staatshaushalt mancher Staaten Europas übertrifft! Hilfreich ist da auch nicht, daß die neuen Beitrittsländer zur EU und manch osteuropäische postkommunistische Staat vielfach gar nicht mehr die soziale Marktwirtschaft oder ähnliche Systeme der Besteuerung einführen, wie es die Kern- und Gründungsländer der EU haben, vielmehr ihr Staatswesen zu einer kapitalistischen Maschine umgestalten, um durch dumping von Preisen und Abgaben und durch fortschreitende Entsolidarisierung Marktanteile zu erobern. Diese Entwicklung ist gefährlich, gefährdet die Solidarität der Mitgliedsstaaten der EU, führt zu sozial und politisch unerwünschten Wirkungen und steht der zivilisatorischen Entwicklung der Institutionenlandschaft, die der Menschheit und Humanität zu dienen hat, entgegen.

An Gegenvorschlägen fehlt es nicht, also an Ideen, das disharmonische und dysfunktionale, einseitig ausgelenkte und zu Extremen neigende Wirtschaftssystem wieder in Einklang mit den sozialen, ökologischen und Versorgungsbedürfnissen der Menschen zu bringen. Europa kann zu deren Verwirklichung beitragen, auch ohne Amerika, ähnlich wie manch europäische Staat mit Vorreitern wie Österreich in der ökologischen Politik der Reduktion von schädlichen Emissionen, beim Wandel der Energieerzeugung und -verbrauch, beim Aufbau von ökologischen Steuersystemen alleine wichtige Schritte setzte. Die Entwicklung der ökologischen Technologien ist heute ein Wachstumsmotor, schafft Arbeitsplätze, wird weltweit nachgeahmt. Wenn der flexibelste Produktionsfaktor Kaptital, für den Regulierungen abgebaut wurden, weltweit stets nach lukrativsten Investitionen und besten Renditen sucht, so wie Wasser weltweit immer dem Gefälle zu fließt, dann muß man, wie beim Wasser, das Gefälle nützen, um daraus für die Menschen und die Gesellschaft Energien und Werte zu gewinnen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß ein Privatanleger in Norditalien, in Ostnorwegen oder auf Mallorca entscheiden kann, ob er sein Erspartes in einen Fonds in England, in Lebensversicherungen aus Südafrika oder in eine Goldmine Australiens steckt. Doch ist aus dem Fluß der Mittel und dem lebendigen Strömen der Kaufkräfte selbst ein gesellschaftlicher Nutzen zu ziehen, der bislang brach liegt; indem man dies ungenutzt läßt, wird schädlichen Auswüchsen Tür und Tor geöffnet, wie diverse Finanzkrisen, etwa in Südostasien vor einigen Jahren, zeigen.

Wo die größten Gewinne winken, wo das Kapital am produktivsten arbeitet, dort wird weiteres Geld zur Investition attrahiert. Das ist ein marktwirtschaftliches Gesetz, das ausschalten zu wollen einer der Fehler des Kommunismus war, vergleichbar mit dem Versuch, die Naturgesetze der Gravitation durch eine soziale Bewegung abschaffen zu wollen. Intelligenter ist es, die Gravitation zu nützen, damit Energie aus einem Hammerwerk, durch ein Kraftwerk zur Erzeugung von Elektrizität oder Wasser für Bewässerungsprojekte trockener Landstriche gewonnen werden kann. Der technologische Fortschritt der letzten Jahrhunderte hat im Falle der Naturgesetze vieles entwickelt, um sie für die Menschheit dienlich zu machen. Warum sollte uns nicht ähnliches gelingen im Falle jener Gesetzlichkeiten, die das Verhalten von Kapitalwerten, von Kapitalströmen, den Emanationen einer globalen Wirtschaft, betreffen? Das Marktverhalten und die Wirtschaftlichkeit der Produktion als auch Reproduktion sind Gegebenheiten des menschlichen Lebens, sind Ausdruck sozialer Gesetzmäßigkeiten, die nicht in sich schlecht sind. Marx hat in seiner Beschreibung des Mehrwertgesetzes etwas Wichtiges und Richtiges gesagt; alleine es nur als Ausbeutung und Exploitation hinzustellen, war falsch. Der Mehrwert ist auch ein Wert, und das durch die Mehrarbeit geschaffene Kapital ist nichts per se schlechtes, muß allerdings sinnvoll eingesetzt und verteilt werden. Was vonnöten tut in Anbetracht der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital war, sie zu Gunsten einer gerechten Verteilung vorsichtig und wohlüberlegt zu regulieren, damit die Arbeitskraft nicht ausgebeutet wird, sich regenerieren kann, der Gesellschaft insgesamt ebenso wie das aus ihr gewonnene Gut zur Verfügung steht, ohne die Marktwirtschaft diesbezüglich abzuschaffen. Der Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft haben dieses Problem vorzüglich gelöst, besser als es der Kommunismus je konnte,doch der Rahmen, innerhalb diese Regelung nun zu leisten ist, ist zu klein geworden, muß über-national werden. Die EU kann einen solchen Rahmen bereitstellen, versagt aber nach wie vor in dieser Aufgabe.

Die Flexibilität des Kapitals unreguliert, ungenützt und ohne lenkende Maßnahmen werken zu lassen, birgt und bringt Gefahren, genau so wie unreguliertes Aufstauen von Wassern, plötzliche, uneingedämmte Hochwasser und unvorhergesehene Niederschläge Gefahren wie Überschwemmungen, Flutkatastrophen, Zerstörungen bringen, indes auch das Ausbleiben von Niederschlägen Schlimmes wie Dürren und Trockenheit, Durst und Hungertod heißt. Die Freiheit für die Kapitalflüsse zu beschränken, ist kein Ausweg, weil dann zu befürchten steht, daß bestimmte Regionen von notwendigen Investitionen abgeschnitten werden oder nur mehr über dunkle, kriminelle Kanäle versorgt werden können. Man kann die Naturgesetze des Wirtschaftslebens nicht einfach abschaffen; eine Prohibition der Kapitalströme würde die Kriminalität global wachsen lassen und noch mehr in die Hände der Mafia und des organisierten Verbrechens spielen. Völlig unreguliert, ohne Dammbauten und Planung, der Versorgung mit dem Produktionsmittel "Kapital" zu vertrauen, ist unklug. Daher gilt es, Instrumente und Methoden zu entwickeln und zu implementieren, die die größten Kapitalgefälle für die Menschheit insgesamt und den Gesellschaften, die von ihnen negativ betroffen sind, dienlich machen. Die unsichtbaren Hände, die die Wirtschaft lenken, müssen sichtlich sauber sein und bleiben.

Diesbezüglich gibt es Vorschläge, die zu diskutieren sind, etwa die bekannte Rede von einer Tobin-Steuer, die an den Kapitalmärkten und Börsen einen kleinen Teil des wertmäßigen Umsatzes zweckgebunden einbehält und etwa der Entwicklungshilfe oder bestimmten Projekten, die die UNO auswählen könnte, zugute kommen läßt, beschränkt auf zivile und friedliche Nutzung, etwa im Bildungsbereich, um nachhaltig zu fördern und zu bessern. Eine EU-weite Tobin-Steuer könnte den Sozialausgaben der EU zugute kommen, etwa eine europäische Grundsicherung schaffen. Jeder Groschen, jeder Cent der so investiert wird, rentiert sich tausendfach mehr als jede Kapitalanlage, die ihn speist. Es ist irrig, zu meinen, das könnte die EU nicht alleine beschließen; die unterschiedlichen Umsatzsteuern innerhalb der EU sind auch von kleineren, nämlich nationalen Wirtschaftsräumen beschlossen worden, ohne daß sie zu deren Abkoppelung geführt hätten. Ein sog. Alleingang Europas wäre kein unerträglich großes Risiko, vielmehr ein Anreiz für andere, ähnliches zu entwickeln. Ein europäisches Pendant zu einer Tobin-Steuer könnte die Abhängigkeit Europas von ausländischen Energieressourcen reduzieren helfen, indem das lukrierte Geld in die Forschung an neuen Energieproduktionsformen wie etwa der Kernfusion investiert wird. Daran anschließen könnte sich ein Handel mit Know-How, auch ein internationales Drängen auf ähnliche Besteuerungen von außereuropäischen Kapitalmärkten und Börsen.

Die Angst, daß eine solche Umsatzsteuer auf Börsenumsätze, die direkt am Kapitalmarkt eingehoben wird und daher nicht einzelnen Kunden und Auftraggebern, ja nicht einmal einzelnen Geschäften zugeordnet kann, daß also eine solche Tobin-Steuer europäische Kapitalmärkte extrem benachteiligt, ist nur äußerst bedingt berechtigt. Wenn sich die Steuer im Promillebereich der Umsätze hält, wird ihre Geringfügigkeit keineswegs diese Märkte merklich belasten, dennoch aber erkleckliche Summen erbringen. Weitere fiskalische und finanzielle Maßnahmen kann man sich auch in Bezug auf bestimmte Gruppen von Investitionen und Kapitalgeschäften überlegen, etwa was Termingeschäfte, Devisenhandel, Zinszertifikate, Spekulation mit Lebensversicherungen, Energiepreisen, Rüstungsinvestitionen oder Hedge-Funds angeht. Überall dort, wo die Kapitalzirkulation extrem schnell ist, hohe Kapitalflüsse bewirkt, das gesellschaftliche Zusammenleben oder gar Krieg und Frieden offenkundig beeinflussen, muß man sich Lenkungsmechanismen zum Wohle der Allgemeinheit überlegen. Tut man dies nicht, so wird der sich an den Börsen manifestierende Egoismus nur noch weiter die Gesellschaften aushöhlen, den Staat zum Rückzug bringen, einseitige Vermögenswerte aufhäufen und diese in die Hände weniger legen, die alleine schon am Horten der Kaufkraft verdienen.

Diese Vorschläge halte ich, auch wenn sie im Detail noch ausgearbeitet sind und kritisch durchleuchtet werden müssen, für richtungsweisend. Daß sie noch kaum umgesetzt werden, liegt nicht am Weltmarkt oder dem anonymen Widerstand der Börsen, sondern an den politischen Verflechtungen, am Lobbyismus, an bestimmten Interessenskonstellationen, wie sie sich in den derzeitigen Herrschaftsstrukturen verfestigen, getragen von den politischen Parteien und Interessen. Es ist anzuraten, diese Ideen in den politischen Prozeß und in das Werben um Stimmen einzubringen; die europäische Öffentlichkeit braucht einen intelleginten Diskurs über supranationale Regulierung der Kapitalmärkte. Einer sozialdemokratischen Fraktion stünde in keinem europäischen Parlament das Eintreten für eine Tobin-Steuer schlecht an! Doch auch manche Unternehmerpartei täte gut daran, sich diesbezüglich zu bedenken, denn als Unternehmer sind ihre Wähler nicht so sehr Investoren auf den Kapitalmärkten als auf Investitionen in leistbare neue und nachhaltige Technologien angewiesene. Wenn das Gemeinwesen auch diesbezüglich leistbarer geworden ist, werden sich auch die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Unternehmer verbessern. Es ist eine Frage der Erhaltung der Infrastrukturen für ein gesundes Finanzwesen, ob wir es weiterhin möglichst abgabenfrei und in seiner Flexibilität und Volatilität ungenutzt lassen wollen, oder ob wir dafür sorgen, daß es seinen Beitrag zu einer Nachhaltigkeit leistet, die allen zugute kommt und unser Gesellschaftssystem erhalten hilft. Dieses ist sowohl im inneren als auch von außen durch soziale Ungerechtigkeit bedroht.

Die festgefahrenen Strukturen der politischen Landschaft, der nationalstaatlichen Aufteilung Europas, behindern den Fortschritt eines Europas, das sich neuen Aufgaben und Problemen stellt, das die Herausforderung des 21. Jahrhunderts meistern will und kann. Europa wird langfristig durch eine ökologische Politik und Wirtschaft, die mit hohen Energiepreisen umzugehen gelernt hat und die Finanzkraft auch für das Gemeinwohl nützt, Vorteile gewinnen und stärker werden. Einkommen, Wohlstand und soziale Sicherheit lassen sich in einer Welt, die globale Konkurrenz und enorme Lohn- und Preisgefälle kennt, nicht mit den alten Methoden sichern. Wenn die Abschottung der Märkte nicht mehr funktioniert, muß man auf neuen Märkten bestehen. Die Politik hat es da schon immer in der Hand gehabt, das Entstehen und die Form neuer Märkte zu beeinflussen. Die sogenannten Rahmenbedingungen sind selbst nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen.

Europa ist nach wie vor davon geprägt, daß wirtschaftliche und soziale Fragen auf die Politik, auf Tagespolitik als auch auf die Programme der politischen Parteien, Einfluß nehmen. Wenn in Staaten wie den USA mitunter die beiden Großparteien kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind, so gibt es doch in vielen europäischen Ländern parteipolitische Gegensätze deutlicher Art, wenngleich sie in Ländern wie Italien in den letzten Jahren diversen, kaum nachvollziehbaren Umschwüngen unterworfen waren, die dennoch eine gewisse Clique an regierenden Personen in einem steten Reigen populistisch an der Macht hielt. Es scheint sich in dieser Hinsicht ein Charakteristikum Europas auszudrücken, nämlich Differenzen zu konzentrieren, mitunter die Gegensätze zu verschärfen, um sie gleichzeitig unter ein lösendes System zu bringen. Dadurch werden Vielfalt und Identifikationsmechanismen erzeugt, die letztlich die Gesellschaft bereichern. Gefährlich wird dieses Spiel nur, wenn einzelne Parteien oder die Parteien überhaupt zu dominant werden und das gesellschaftliche Leben, Berufswahl und Lebensvorstellungen zu stark beeinflussen.

Die Schemata, unter denen dann Politik gemacht wird, sind oft personenabhängig und von einer gewissen Kontanz: Konservative vertreten Unternehmertum, Sozialdemokraten die Arbeitnehmenden, Liberale eine bestimmte Stärke des Bürgertums gegenüber dem Staat, Grüne ökologische aber auch sozialistische Anliegen, Linke und Kommunisten sind deutlicher sozialistisch akzentuiert, diverse nationalistische Gruppierungen und Splittergruppen treten für Autonomien und Privilegien ihrer jeweiligen Klientel ein, Freiheitliche und Populisten nützen vorhandene Spannungen, Anschauungen, Polarisationen aus, um Stimmen zu gewinnen. Das Spiel dieser politischen Kräfte ist weitgehend durch ökonomische und soziale Bedingungen abgesteckt, wird mitunter um neue Grenzpunkte erweitert, etwa als mit dem Auftauchen der Grünen in Deutschland auf einmal Fragen des Umweltschutzes, des nachhaltigen Wirtschaftens, der Lebensqualität zu politisch bestimmenden Themen wurden. In dieser Hinsicht ähneln sich die europäischen Länder, sind alle, soweit sie zur EU gehören, demokratische Staaten mit parlamentarischem System, die sich zu Wertegemeinschaften bekennen. Auch viele der Staaten, die nicht zur EU gehören, teilen dieses System oder ähneln ihm sehr. Das sind schätzenswerte Rahmenbedingungen, innerhalb denen gewisse Veränderungen stattfinden müssen. Diese allerdings zu diskutieren, könnte den Bereich des in den vorhandenen Rahmen Passenden überschreiten. Dahinter steckt ein großes politisches Problem, das sich nicht lösen läßt, indem einzelne Parteien programmatische Forderungen erheben. Es muß vielmehr zu europäischen Ideen werden, was parteipolitisch nicht durchsetzbar ist und den wechselseitigen Blockaden zum Opfer fällt.

Umso wichtiger ist es da zu begreifen, welche Entwicklung die EU und damit Europa zu nehmen längst im Begriffe ist: Es herrscht das Diktat des Ökonomismus vor, welcher alle gesellschaftlichen Güter und Werte, Ziele und Maßnahmen hauptsächlich oder gar ausschließlich nach rein wirtschaftlichen Kriterien beurteilt, bemißt und bewertet. Die Gesellschaften Europas als auch der westlichen und industrialisierten Welt einschließlich Rußlands, Australiens, Japans und neuerdings auch Südkoreas, Chinas, Indiens haben sich stillschweigend auf ein pragmatisches Minimum geeinigt, welches zum gemeinsamen Maßstab die pekuniäre Bewertung erhebt. Dieser Konsens wurde nicht durch demokratische Abstimmung errungen oder durch Kriege direkt erzwungen, er hat sich vielmehr ergeben aus einer Vielzahl an Faktoren, die sich wechselseitig dahingehend stützten und bestärkten. Die Politik der Souveränität einzelner Staaten hat sich weitgehend dem Druck der Wirtschaftlichkeit unterworfen, die allem Handeln unterlegt wird. Das hat weitgehende Auswirkungen auf Kunst, Kultur, Wissenschaft, auf zu fördernde Lebensbereiche wie Familie, Wohnen, Alter, Pensionen, Krankheitsversorgung und Gesundheitssysteme. Sukzessive weitet sich dieser Ökonomismus aus, gibt ein Modell vor, das in oft kaum wiederzuerkennender Weise den Alltag prägt. Es geht dabei nicht um die omnipotente Zirkulation des Geldes oder die Attrahierung von Kapital, sondern um den endgültigen Verlust jener Differenzen, die aus Inkommensurabilitäten entsprangen, zugunsten einer Vereinheitlichung des Wertbegriffs. Die Politik der EU ist davon ebenso bestimmt wie jene der USA, was die Spannungen zwischen beiden verstärkt, weil die Menschen, die von dieser Politik betroffen sind, sie oft dem jeweils anderen Politikbereich zuschreiben. Europa hat sich diesbezüglich einem Diktat des Marktes und der Vermarktbarkeit unterworfen, der meines Erachtens eigentlich dem europäischen Wesen, das aus Vielfalt geboren ist, widerspricht. Damit geht ein ungeheurer gesellschaftlicher Wandel einher, der noch nicht mit jener Vermassung endet, die Canetti und Ortega y Gasset kritisierten oder A. Huxley und G. Orwell mit fiktionalen Utopien teilweise vorwegnahmen.

Die Gründe für diese Entwicklung liegen, soweit es das politische Moment des wirtschaftlichen und sozialen Handelns in einem gemeinsamen System betrifft, im Kern wohl an jenen Abkommen zu Freihandel und Liberalisierung, die über rein bilaterale Zollunionen und Abkommen hinaus globale Bedeutung erlangt haben. Die Geburt des Neo-Liberalismus dieser Art fällt mit den bekannten Abkommen des GATT und der WTO zusammen, in welchen der Glaube an die ökonomische Liberalisierung als ein Allheilmittel inkarniert ist. Zollabbau, Beseitigung von Protektionismus und staatlichen Hürden bei Einfuhr und Ausfuhr von Gütern und Waren, Deregulierung und Vereinheitlichung der gesetzlichen Maßstäbe und Standards, Öffnung der Märkte auch für Arbeitnehmer, Schaffung von Gerichten zur Klärung von Streitfällen, Abstimmungen der Rahmenbedingungen für internationale Wirtschaftspolitik, Gipfeltreffen der G5 bis G8, harte monetaristische Regeln für die Vergabe von Krediten, Vorschreiben der Wirtschafts- und Sozialpolitik für Schuldnerländer -- das sind die Schritte und Maßnahmen, die hier zu nennen wären. Sie wurden nicht ohne Idealismus, aber noch mehr vom egomanischen Glaubens beseelt gesetzt, es gäbe automatisch und wie von unsichtbarer Hand herbeigeführte Selbstregulation, wenn man sie nur walten ließe. Ja, eine Selbstregulation gibt es, so wie ein wildgewordener Strom sich in einem neuen Bachbett selbst reguliert, so wie eine Lawine sich am Talschluß beruhigt. Doch diese Selbstregulation kümmert sich nicht um ihre Kosten und ihre Opfer; sie ist als selbstgesteuerter, sich selbst überlassener Prozeß nicht in unserem Interesse.

Die unsichtbare Hand, von der A. Smith gesprochen hat, mag den Markt lenken, allerdings tut sie dies auch durch den Diebstahl und die ungestraften, weil unstrafbaren Handlungen, zu denen sie gerade wegen ihrer Unsichtbarkeit fähig ist, denn wenn sie unsichtbar ist, dann kann sie machen, was sie will. Wollen wir das? In der sozialen Marktwirtschaft, die eine ökosoziale Marktwirtschaft werden muß, haben wir das eigentlich nie gewollt. Warum schreckt man vor einem Schritt in derselben Richtung zurück, in die man bisher gegangen ist, auf eine sich auftauende Brücke über den Abgrund zu? Statt dessen stehen wir taumelnd an dessen Seite und warten, bis wir hineinstürzen. Eine unsichtbare Hand wird die abgrundtief Stürzenden nicht auffangen; man wird nicht einmal wissen, wie man sie ergreifen soll, wenn sie sich überhaupt zur Hilfe anbietet. Die Polemik, die die Finanzinvestoren mit ganze Landstriche abgrasende Heuschreckenschwärme vergleicht, mag eine überzogene Metapher sein, aber nicht deshalb, weil der ungezügelte neo-liberale Kapitalismus nichts mit jenen Naturkatastrophen gemein hätte, sondern weil die Heuschreckenschwärme wenigstens sichtbar sind.

Die Erfolge, die man sich vom Abbau der Handelsschranken, vom weltweiten Freihandel, von GATT und WTO versprochen hatte, traten auf der Ebene der Makroökonomie und der volkswirtschaftlichen Gewinne für einige Länder und Investoren großteils ein, allerdings auf Kosten der sozialen Verteilung. Gewinner waren und sind die multinationalen Konzerne, indes Kleinunternehmer, Bauern, Arbeitnehmer in den meisten Ländern großteils zu den Verlierern zählen. Die treibenden Gründe für diese Entwicklung waren meines Erachtens eine aus politischer Naivität stammende Unterwerfung unter die Freizügigkeit des Kapitals und die Öffnung der Kapitalmärkte, einfach weil sie die sofortige und unbeschränkte Erfüllung aller Konsumwünsche versprach. Die Anonymität der Geldanlagen, die weltweit für den modernen Investor durch institutionelle Anleger einsetzbar sind, die Spekulanten und Renditejäger, treiben das System weltweit an, denn die Investitionen strömen frei und ungehindert in jene Börsen und Märkte, wo die größten Gewinne zu erzielen sind. Gewinnmaximierung wird von den sozialen Kosten entkoppelt; an der Gewinnmaximierung alleine ist deshalb Schlechtes, weil die sozialen Kosten sich mit ihr vervielfältigen; das wirtschaftliche Handeln müßte auch die Kosten minimieren wollen, doch wenn die sozialen und ökologischen Kosten nicht in Geld bewertet und nicht ins eigene Wirtschaften einberechnet werden, dann ist deren Minimierung auf einmal keine ökonomische Aufgabe mehr.

Dazu kommt, daß ein Teil dieser Spekulationsgewinne gering besteuert wird, also eine ungleiche Konkurrenz zu anderen Anlageformen darstellen. Wenn die Gewinnerwartung bei einer Aktienspekulation höher ist als bei einer Investition in einen heimischen Kleinbetrieb oder in eine Ausbildung, dann werden die Finanzströme eine gewisse Richtung aufweisen, die dem sozialen Gefüge schadet. Da aber Staats- und Sozialwesen auch nach Investitionen in Bereichen verlangen, welche geringere oder keine finanziell bewertbare und sich in Geld ausdrückende Gewinnerwartungen abwerfen, wird es zusehends schwieriger, dafür aufzukommen. Das Problem besteht darin, daß die Gemeinkosten für bestimmte Infrastrukturen nicht allen zur Last fallen, die davon profitieren, und das Vorhandensein solcher Infrastrukturen wird von manchen egoistisch ausgenützt, ohne daß die Bereitschaft zu Gegenleistungen vorhanden wäre. Die totale Deregulierung des Wirtschaftens und der Ökonomismus führen zu Verzerrungen und Verwerfungen der sozialen Welt, damit zu Betroffenheiten, die man nicht erahnte, zugleich zu neuen Erscheinungen der Ausbeutung, welche besonders jene betreffen, die sich am freien Spiel des Kapitalmarktes nicht beteiligen wollen oder können. Das Gespenst, das neuerdings in Europa umgeht, hat andere Weltteile längst heimgesucht. Der Konsens, der wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand mit Lebensqualität und nachhaltiger sozialer Sicherheit verband, ist zwar erwünscht, aber in der Praxis längst geopfert. Sind das für Europa wünschenswerte Zustände, ist das eine Zukunft? NEIN, mitnichten!

Die Angst, an sozialer Sicherheit zu verlieren -- und das heißt wohl automatisch, an langfristiger Sicherung einer erträglichen, wenn nicht gar guten Lebensqualität zu verlieren -- bringt Skepsis gegenüber allen Projekten von überstaatlichem, multilateralem und v.a. wirtschaftsorientiertem Ausmaß mit sich, die sich vor allem gegen die herrschende Politik richtet. Diese herrschende Politik in Europa hat oft und oft unter dem Deckmantel der Vereinugung und Gemeinsamkeit der EU den reinen Wirtschaftsinteressen gedient und auch jene Länder Europas betroffen, die gar nicht Mitglieder der EU sind. Der Trend des Neo-Liberalismus und der wirtschaftlichen Globalisierung geht viel weiter, da ihn Amerika und andere Industrienationen durch die übergroße Konkurrenz und freien Handel nur verstärken; er betrifft alle Länder der Welt, insbesondere die ganz armen der sog. Dritten Welt, also Regionen ungeheuren Ausmaßes an Fläche und Bevölkerung, und damit gerade Staaten, die nicht wirklich für diese Entwicklung waren oder an ihr nur partiell teilnehmen können, oder aber trotz ihrer idealistischen Zustimmung zu den genannten Abkommen von GATT und WTO nunmehr zu Opfern der dadurch ausgelösten Tendenzen werden. Das dadurch angeheizte Konfliktpotential bedroht den Frieden und die Sicherheit, ist einer der Faktoren für den jüngeren Terrorismus, verursacht Massen an Hungertoten und Verelendeten, die wir von den reich gedeckten Tischen unseres Wohlstandes durch Regulierungen und Gesetze, durch Grenzen und Militär, fern halten.

Die Skepsis in Europa und v.a. in Staaten der EU wie Österreich oder Deutschland war diesbezüglich gering, solange man als Einzelner die Gewinne einstrich, auf der positiven Seite stand: Im täglichen Einkauf, im Einzelhandel wurde mit dem Beitritt zu einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft manches billiger, zudem stieg die Zahl der Produkte, ja die Produktpaletten selbst wurden mehr. Man freute sich des Lebens, verglich die Situation mit der jüngeren Vergangenheit, lebte im Kaufrausch, sah sich in einer Art neuen Kolonialismus wirtschaftlich über die Grenzen hinaus nach Osteuropa tätig, holte sich billige Arbeitskräfte aus Staaten wie der Slowakei oder Polen, Ungarn, Ukraine, um einfach das alte Spiel weiterzuspielen, das Bruttonationalprodukt und das Wirtschaftswachstum ebenso zu steigern wie die Zahl der Werktätigen und Beschäftigten und das eigene Einkommen. Dann allerdings schlugen die Kosten zu Buche, die der Zusammenschluß der EU und deren Erweiterung mit sich führten, zugleich schuf die gesteigerte Produktivität Überkapazitäten, indes das Lohngefälle für die Abwanderung von Betrieben sorgte. Auf einmal waren die Regierungen der EU-Staaten aufgrund von EU-internen Abkommen die Stabilität der neuen Gemeinwährung EURO betreffend gezwungen, die Staatsausgaben zu reformieren. Die schon seit den Siebziger Jahren ersichtliche demographische Entwicklung erzwang Reformen des Pensionswesens. Die Arbeitslosigkeit in vielen Bereichen stieg, zugleich nahmen und nehmen atypische Beschäftigungsverhältnisse mit geringerer Entlohnung und anderen schlechteren Bedingungen zu. Die soziale Entwicklung in Europa hat sich bereits von der wirtschaftlichen entkoppelt -- denn die Börsen stiegen, gerade in Wien war dies in den letzten zwei Jahren der Fall, die Gewinne aus Kapitalvermögen und Anlagevermögen waren und sind unbedroht hoch, zugleich steuerlich weniger belastet wie Unternehmen, Löhne und Gehälter, wobei die Belastung für die Arbeitskräfte am höchsten ist. Die politische Wirkung ließ nicht auf sich warten, besteht unter anderem in einer Stagnation der Binnennachfrage, sie bestand und besteht in der oben erwähnten Skepsis, die sich mehrfach auszudrücken wußte.

Da ist einmal jener Aspekt der Skepsis zu nennen, der sich unter Begriffen wie Kritik an der Globalisierung, unter Vereinigungen wie ATTAC, unter den Protestbewegungen gegen die Gipfeltreffen der Reichen und Mächtigen formierte, wie man sie jüngst in Schottland sah. Die wichtigsten Punkte dieser Kritik wurden schon erwähnt: Der neue Wohlstand, der durch eine deregulierte Wirtschaft entsteht, verteile sich mitunter nur auf jene, die darin als Unternehmer oder Anleger tätig sind, wobei die Anlageformen sogar Instrumente zur Absicherung gegen Risken anbieten, indes die Arbeitskräfte oft zu schlechten Bedingungen eingestellt werden oder überhaupt zu Kleinunternehmern werden müssen, die für ihr Risiko wenig oder keine leistbare Absicherung finden. Die Geschäfte der Banken und Versicherer blühen, unabhängig vom Gang der Börsenkurse, weil sie an fixen Gebühren, berechenbaren Tarifen und Spesen verdienen, also die Unwägbarkeiten des Marktes, dessen Öffnung und Promotion sie betrieben haben, auf die Kunden abwälzen. Zugleich steige die Verschuldung, die Zahl der Konkurse, die Zahl der in die Verarmung und unter das Existenzminimum Getriebenen. Auch in Staaten wie Österreich besitzen einige wenige Prozent der Bevölkerung mehr als 80% des gesamten Nationalvermögens. Zudem hat die erwähnte Privatisierung und der Rückzug des Staates manches an Gemeinvermögen veräußert, was jetzt von der Bevölkerung teurer und schlechter serviciert als je zuvor eingekauft werden muß, was weitere Finanzmittel aus der Schicht der Konsumenten in die Hände einzelner Unternehmer schaufelt (für letzteres ist Großbritannien ein schlechtes Beispiel, wo der Thatcherism bereits Vorreiter der Entwicklung war). Die Verteilung von unten nach oben nimmt zu, der soziale Wohlfahrtsstaat hat also eine seiner wesentlichen Funktionen verabsäumt, nämlich für die gerechte Verteilung zu sorgen. Es nimmt Wunder, daß die Bevölkerung in manchen Staaten Europas unter solchen Vorzeichen immer noch Unternehmer- und konservative Regierungen wählt, wie etwa in Dänemark, Österreich, Italien oder bis vor etwas mehr als einem Jahr in Spanien, neuerdings vielleicht wieder in Deutschland, das gerade von Arbeitslosigkeit besonders getroffen ist. Doch hat in Deutschland die rote Regierung Schröder nicht gerade dem Neo-Liberalismus gedient, die EU-Osterweiterung bis nach Bulgarien, Rumänien, der Türkei betrieben? Kein Wunder, daß die Unglaubwürdigkeit der rot-grünen Regierung diese zur Vertrauensfrage und Neuwahlen treibt!

Ein anderer, damit verwandter Aspekt der Skepsis rührt von rein ökonomischen Fakten her, die ihrerseits vielfältige Ursachen in der technologischen Entwicklung, in der Dynamik der Märkte, in der Politik im Sinne des Neo-Liberalismus, aber auch in gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Emanzipation der Frauen, der Einwanderung, der Überalterung haben. Der Rationalisierungsdruck in der Wirtschaft wird von Maßnahmen begleitet, die ihn in immer größeren Kreisen der Gesellschaft wie ein Virus um sich greifen lassen. Es gibt keinen Lebensbereich in den Gesellschaften der EU-Staaten mehr, der von den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte unbetroffen ist. Insgesamt wird einfach das Bewußtsein der Gesellschaft in allen Schichten und Bereichen monetarisiert -- Börsenkurse gehören zu allen Nachrichten und Medien, tägliche Bewegungen dieser Kurse erhalten mehr mediale Aufmerksamkeit als so manches Unglück oder die Entwicklung des Wetters, geschweige denn von wichtigen politischen Entscheidungen. Die geschilderten Tendenzen zeigen uns, daß mit der Liberalisierung vieler Bereiche der Wirtschaft und mit der Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens die EU in einer Art verändert wurde, die es vorher in Europa nicht gab. Ganze Lebensplanungen richten sich auf einmal nach ökonomischen Kriterien -- Pensionszeiten werden bereits im Schulalter zu lukrieren versucht, Jugendliche werden durch Werbung und familiäre Einflüsse schon früh zu modernen Anlageformen in Aktien oder Investmentfonds animiert, der Konsumzwang gehört bereits zur sogenannten guten Kinderstube. Der schnelle Gewinn aus arbeitslosem Einkommen winkt und verführt.

Die geschilderte Skepsis führt zu Desinteresse, das sich kürzlich erst wieder manifestierte: Als die Verfassung der EU nach langen Diskussionen des unter führenden Politikern aller EU-Staaten gebildeten Konvents zur Abstimmung kam, war dem eine lange Periode des breiten Desinteresses in allen oder fast allen Städten und Regionen, Schichten und Familien Europas vorangegangen. Die Bürger der EU interessierten sich für die zukünftige eigene Verfassung nicht, die ihnen über nationalstaatliche Entscheidungsmechanismen vorgesetzt werden sollte.

Dann kamen die bekannten negativen Ergebnisse der Referenden in Frankreich und den Niederlanden, in Volksentscheiden direkter Art, obwohl offenbar die Mehrheit der Wählenden oder zumindest der EU-Bürger wenig über den Inhalt der Verfassung wußten. Dieses Paradox erklärt sich nicht aus rationalen Entscheidungen, sondern aus Desinteresse und Skepsis. Die dadurch ausgelöste Krise erlaubt viele Interpretationen, doch die vordergründigste wird kaum erwähnt: Skepsis, nämlich Skepsis gegenüber den einen selbst betreffenden Auswirkungen gegenüber, Skepsis vor den unbekannten und unabschätzbaren Folgen, Skepsis der institutionellen und gesellschaftlichen, der europäischen und globalen Revelanz einer solchen erwarteten, gar abverlangten Zustimmung, einer solchen Neuordnung gegenüber. Ich glaube, daß das Desinteresse für die hohe Politik einer EU-Reform und das konkrete NEIN für die Verfassung einfach aus dem Empfinden stammen, daß der einzelne Bürger längst von der Entwicklung überrollt ist und seine mögliche Stimmabgabe für gänzlich irrelevant empfindet. Er sagt nicht NEIN zu konkreten Wahlmöglichkeiten, er sagt NEIN dazu, daß seine konkrete Stimme keine Auswirkungen mehr hat. Er sagt NEIN aus Furcht, daß die Verfassung der EU ihn noch mehr entmündigt. Er sagt NEIN, weil er sieht, daß er alleine darin noch halbwegs demokratisch bleiben kann, indem er NEIN sagt. War und ist er schon im Nationalstaat nur eine Randfigur der Großparteien, ein demütiger, braver Bürger und Steuerzahler, so sieht er sich im europäischen Überbau kaum vertreten. Da vertraut man lieber dem bekannten Übel, anstatt unbekannte und womöglich noch größere heraufzubeschwören. Paradox ist, daß es die Intention der Verfassung war, den Bürger und die Demokratie in der EU zu stärken. Darum löst das Ergebnis dieser Referenden Betroffenheit aus, auch bei mir.

Globalisierung, internationale Abkommen, Wirtschaftsliberalismus und die Entwicklung der EU mit Osterweiterung und Verfassungsgebung treffen auf Menschen in dem aufgeklärten, gebildeten, reichen, friedlichen Europa, die diesen Entwicklungen gegenüber zunehmend hilflos sind, sich zwar als Betroffene, aber nicht als Mitentscheidende sehen, die glauben, daß es leere Rhetorik ist, daß sie mitgestalten können, daß es eine fortschreitende Demokratisierung gäbe. Denn selbst wenn sie für eine EU-Verfassung gestimmt hätten und damit die EU um einige wichtige Punkte demokratischer gemacht, das EU-Parlament gestärkt hätten, wären sie in wirtschaftlichen und sozialen Belangen immer noch unbeherrschbaren Kräften gegenübergestanden, die viele von ihnen mit Angst erfüllen und zu ständigen Änderungen ihres Lebens zwingen. Wozu für Demokratie sein, wenn die Demokratie eigentlich nichts mehr zu sagen hat? Wozu, wenn die wesentlichen Entscheidungsmöglichkeiten der Deregulierung und dem Markt geopfert wurden? Das NEIN war nicht logisch, weil es aus genauer Kenntnis der Vorschläge entstammte, sondern weil es sich gegen das ständige Bevorschlagtwerden zur Wehr setzte. Die Politikerklasse, die als Jetsetter von Gipfel zu Gipfel eilt, pro Reise und Person Tausende an Euros verjubelt und in großen Photosessions vor schönen Gebäuden die Augen treu zum Bürger telivisionär aufschlägt, diese Politikerklasse hat sich längst abgekoppelt von den eigenen Wählern und Steuerzahlern. Was im Nationalstaat schon schlimme Ausformungen annehmen kann, wirkt auf dem glatten Parkett der EU-Politik in Brüssel, Straßburg, Den Haag, in Paris, London, Berlin, Rom, Maastricht, im Fernsehen noch viel abschreckender. Die Bürgerferne ist es weniger als die Politikferne; der erste Ausdruck (Bürgerferne) tut so, als wäre die Politik das Zentrum, nach dem sich die Menschen zu richten hätten, der letztere (Politikferne) stellt die Sache richtig: Die Politik hat sich nach den Menschen zu richten, darin besteht und atmet der lebendige Geist der Demokratie. Weil sie das weiß, hat sie das Wort von der "Bürgernähe" erfunden, doch die Bürger sind ihr nicht nahe, und die Bürger fragen sich, ob sie der Politik überhaupt noch am Herzen liegen.

Der Neo-Liberalismus hat für den Einzelnen nicht unbedingt die Freiheiten erweitert oder die Freiheitsgrade erhöht, oder wenn, so in geringerem Ausmaß als für die Kollektive und beinahe feudalen Zusammenschlüsse, zu denen die Wirtschaft in Konzeren und Kooperationen fähig ist; auch wenn das Warenangebot größer geworden ist, so ist die Frage, wie man als Einzelperson seine Kaufkraft erhält, ungleich wichtiger. Es ist richtig, daß in Österreich seit dem EU-Beitritt die Regale vor Joghurt-Sorten nur so strotzen -- doch diese Angebotsvielfalt kann man nur dann genießen, wenn die Nachfrage sich ebenso ausfalten kann. Das ist das eigentliche Paradox des Zusammengehens von propagierter Demokratisierung und wirtschaftlichem Liberalismus: Daß die Freiheit für die Kollektive auf Kosten der Freiheit des Individuums geht, wenn man hier unter Freiheit die Freiheit für tragbare Entscheidungen und von Zwängen versteht. Rein theoretisch ist natürlich der Bürger frei für den Konsum und die Reisen, doch praktisch fragt es sich, ob er sich davon nicht vorher mehr und besseres leisten konnte als jetzt.

Das Element, das fehlt, ist ein sozialpolitisches, das sich auf die EU und Europa ausweitet, ein Element, das bislang, wenn überhaupt, dem Nationalstaat zur Stützung von dessen Souveränität vorbehalten bleibt. Was die Wirtschaft in eine Richtung bringt, muß die Sozialpolitik ausgleichen. Gewinnorientiertes Denken schadet sich selbst, wenn es nach Ausgleich und Gerechtigkeit strebt. Die Sicherung von Standards als Sache der Gerechtigkeit kann keinem Markt überlassen werden. Beide Momente gehören zusammen. Dieser Mangel an europäischer Politik ist der tiefere, der eigentliche Grund für die geschilderte Skepsis, die in ihrer auch von mir bedauerten Wirkung das hochsinnige Projekt einer europäischen Integration in eine Krise gestürzt hat. Macht hat nach wie vor, wer die Sozialpolitik bestimmen kann, denn da sind die meisten Wählerstimmen zu holen -- und es sind großteils die nationalen Regierungen, die diese Macht nicht aus den Händen geben wollen. Zugleich schreit die Wirtschaft Zeter und Mordio, wenn von europäischer Sozialpolitik die Rede ist -- aus Angst vor neuen Kosten, aber auch, weil für die Unternehmer- und Anleger-Wirtschaft der jetzige Zustand am besten ist. Die Instrumentalisierung der Nöte und Bedürfnisse war immer schon nationalstaatliche wie auch wirtschaftliche Politik, die diesmal freilich die europäische Idee selbst zu zerstören droht. Übertrüge man der EU als staatsübergreifenden Institution manches an sozialpolitischen Aufgaben, so würde die Machtfülle mancher Großmächte Europas schwinden und sich nicht mehr gegen die gemeinsame Sache wenden; zugleich würde man endlich daran gehen, die multinationalen Konzerne zu bändigen, die ohne Schranken und nunmehr auch über die Grenzen hinweg agieren, in einer Flexibilität, die sich immer mehr der des Finanzkapitals anpaßt und mit der kein Arbeitnehmer Europas, so flexibel und gut ausgebildet auch immer, langfristig mithalten kann. Vieles am jetzigen Konflikt zwischen Frankreich und England muß auf diesem Hintergrund gedeutet werden.

Wenn früher die Sicherung des geschaffenen und über die Zeiten geretteten Wohlstandes über die Solidarität geschah, welche sowohl im Querschnitt der jetzigen Generation als auch im Längsschnitt über Generationen hinweg galt, so wird jetzt der Wohlstand durch Maßnahmen der Anlagewahl geschickt abgesichert. Die staatliche Politik in manchen Bereichen und manchen Staaten geht ganz dezidiert in diese Richtung. Nicht nur, daß Staatsvermögen und in Staatsbesitz befindliche Betriebe veräußert werden, auch die Gesundheitssysteme und Wohlfahrt, die Pensionssicherung und die Schulbildung der Kinder werden in private Hände gelegt. Daß damit die Reichen bevorzugt werden, liegt auf der Hand. Die Folge dieser Entwicklungen ist, daß das Know-How und die finanziellen Ressourcen einiger weniger zur Erlangung und Weitergabe von Reichtum hinreichen, auf Kosten vieler.

Das Finanzkapital sucht sich seine sicheren Häfen selbst, indes die verrottenden Werften den Ansässigen und von den Arbeitsplätzen Abhängigen bleiben. Die Kosten für die Arbeitslosigkeit breiter Massen und für die Aufwände des Staates werden solidarisiert und über die Gesellschaft verteilt; die Gewinne, die aus der Dynamik gezogen werden, hingegen nicht. Das ist die aberwitzige Gerechtigkeit, die der Neo-Liberalismus kennt. Wenn eine Form des Liberalismus noch nach Freiheit und Eigenverantwortung rief, nach Selbstbestimmung und den Grundfreiheiten in Äußerung und Religionsausübung, in Berufs- und Partnerwahl, so hat es diese Neuform einer Freiheitsideologie geschafft, die Bedeutung dieser Grundfragen gegen die Meßbarkeit in Geld einzutauschen. In Wahrheit haben sich die Kinder unserer Zeit die Freiheit der richtigen Wahl abkaufen lassen.

Wenn Aktienkurse zu Steigerungen animiert werden, indem ein großer Konzern Personal abbaut und Arbeitnehmer auf die Straße setzt, so sind die Gewinner dieser Maßnahme jene, die rechtzeitig in das betreffende Wertpapier investierten, nicht die Gesellschaft, und auch nicht unbedingt die Konsumenten. Die Gesellschaft mag ein weniges an Steuern von den Spekulationsgewinnen lukrieren, muß aber dafür ein vieles aufbringen, um die Beschäftigungslosen zu erhalten, die Schulsysteme nach den wandelbaren Bedürfnissen der Wirtschaft umzugestalten, den Staat in den Rachen der Geldmacherei zu werfen. Die Gesellschaft muß ständig dem Staat die Mitteln geben, die sie im Namen der Freiheit auf den richtigen Kurs trimmen kann, sprich: auf den Neo-Liberalismus hin konditioniert. Für die Zuwendungen an Arbeitslose und Sicherung eines Existenzminimums ist die ganze Gesellschaft über den Fiskus zuständig, sodaß die Kosten der Maßnahme alle mittragen müssen, indes jene wenigen Gewinner der Entwicklung ihr Vermögen egozentrisch verprassen oder gar ins steuerschonende Ausland verschieben. Das ist eine überaus geschickte Form der Rationalisierung, die der Produktivität der Gewinnsteigerungen für einige wenige Privilegierte nützt, die Gesellschaft aber zur Geisel nimmt und gleichzeit jene Reservearmee an Arbeitslosen schafft, von der Karl Marx spricht und deren Vorhandensein natürlich den Rationalisierungsdruck steigert, weil er die Löhne nach unten drückt. Das ist nur ein Beispiel dafür, welche Auswirkung die Verzerrung und Auflösung der Solidarisierung hat; eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, darum ziehen die Banken und die Geschäftemacher aus dem Finanzsektor nur zu gerne an einem Strang. Genau jene sind es, die gegen politische Vorschläge von der Existenzsicherung durch ein Grundeinkommen polemisieren -- ein solches würde ja die Triebkraft der Angst lähmen, welche die Kleinanleger treibt, ihr sauer Erspartes in einen Pensionsfond einzuzahlen. Für den Kleinen ist die Zukunftssicherung dem Zufall überantwortet worden, indes die Großen ihre Zukunft durch vielfältige Streuung mit Gewißheit zu sichern wissen.

Hier von einem Auseinanderfallen der Gesellschaft zu sprechen, ist bloß eine Metapher, die den wesentlichen Mechanismus verkennt, der dahinter steht: Dem Egoismus wird der volle Spielraum gelassen, zu Lasten des Gemeinschaftssinnes. Das höhlt letztlich jede Gemeinschaft aus, sodaß es nicht Wunder nimmt, wenn die Gesellschaft die Aufgaben, die dem Staat aufgebürdet wurden, nicht mehr finanzieren will oder kann. Der Abbau des Sozialstaates ist eine weitere Folge, womit sich Europa wieder einen Schritt weiter auf dem Weg zur Amerikanisierung begibt, wo der freie Wettbewerb eine Ungezügeltheit und Brutalität erreicht hat, welche Ungerechtigkeiten schafft und Existenzen vernichtet, gegen die gerade die Solidarität des Sozialstaates antreten können soll. Europa und insbesondere die EU hat sich leider diesem Trend in den letzten Jahren nicht verschlossen. Und da fragt man noch, warum die Bürger und Wähler skeptisch sind?



III. ABSTRAKTES, KONKRETES UND PRAKTISCHES


Angesichts der jüngst aufgebrochenen, lang verdeckten Krise Europas, die nicht nur eine Frage der EU ist, muß sich Politik in einem Spiel zwischen den Polen des Abstrakten und des Konkreten abspielen. Nur Forderungen auf den Tisch zu legen oder bloß Tagespolitik zu betreiben, wäre zu wenig. Europa ist in einem Wandel begriffen, den es zuvor nie gab. Der Prozeß der europäischen Integration muß in seiner derzeitigen Gestalt der EU als unabgeschlossen und kontinulierliche Dynamik verstanden werden. Die Verfassung der EU hätte an diesem Faktum nichts geändert, sie hätte bloß das Faktum anders umrahmt, die Dynamik in gewisse Bahnen zu lenken versucht. Das ist jetzt gescheitert, aber die Aufgabe bleibt bestehen.

Die Prinzipien, unter denen sich Europa entwickelt, stehen großteils fest: Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung, Marktwirtschaft (im Unterschied zur kommunistischen Planwirtschaft), Fortführung des Zivilisationsprojektes der Aufklärung, an deren Spitze Europa für lange Jahrhunderte fast ohne Unterbrechung führend gestanden hat. Die EU hat diese Prinzipien explizit oder implizit akzeptiert und zu den eigenen gemacht. Diese Prinzipien sind unaufgebbar. Die Prosperität Europas kann nicht wie jene Asiens ohne Demokratie vonstatten gehen, dazu sprechen zu viele Ereignisse der Geschichte, die Revolutionen der Stände, Bauern, Arbeiter, der Wünsche der Bürger dagegen. Ähnlich wird auch eine große Wandlung geschehen, welche die Privilegien der Einkommen aus Vermögen und Zinsen beschneidet.

Konkrete Antworten scheinen allerdings schwerer zu fallen als die abstrakten, denn letztere lehnen sich gerne an rhetorische Phrasen an, indes erstere Taten zu bestimmten Zeiten verlangen. Nun, seit den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, seit Luxemburg den Vorsitz in der EU an Großbritannien turnusgemäß abgegeben hat, liegt der Ball bei Tony Blair, dem britischen Premier. Blair hat nun Vorschläge gemacht, Forderungen gestellt, die in Konfrontation einerseits mit bestimmten Vorstellungen von Einzelstaaten, andererseits mit dem status quo des Regelwerkes der EU stehen. Dies ist auf Gegenvorschläge und politische Äußerungen gestoßen, die die eigentliche Krise ausmachen, da sie allesamt in sich unvereinbar erscheinen, daher nicht alle zusammen umgesetzt werden können. Allein das wäre noch keine konkrete Krise zu nennen, da dies der Geist der Politik schlechthin ist. Daß ein Konsens aber unmöglich erscheint, ist erschreckend.

Die Terroranschläge in London vom 7. Juli 2005 sollen uns von der Findung und Etablierung eines Konsenses und der Überwindung der letzten Auseinandersetzungen und Differenzen in der EU nicht abhalten. Die Anschläge auf Einrichtungen in London waren Anschläge auf Europa und ein zivilisiertes Zusammenleben. Sie kamen wahrscheinlich von Gruppierungen des Islamismus und anderer Radikaler, deren Ziele über die reine Feindschaft und Aggression hinaus nicht wirklich rational und durchschaubar sind; sie dürften in der Ausübung blinden Hasses auf den Westen und die anglosächsische Welt bzw. deren Verbündete bestehen, was zur Eskalation beiträgt und den sog. "Krieg gegen den Terror" verlängert. Eine Verlängerung dieses Krieges gegen den Terror in der vorherrschenden Form liegt nicht im Interesse Europas; wer den Nutzen aus der Eskalation zieht, ist eine eminent bedeutsame politische und soziale, aber auch strategische Frage, auf die es offenbar in Europa andere Antworten gibt als in den USA. Wer auch immer dahinter steht, man sollte bisher unangedachte Möglichkeiten nicht außer Acht lassen, u.a. die Frage nach der Wahl des Terrorismus als politisches Mittel seitens gewisser Regime im Fernen oder auch Nahen Osten. Es steht zu hoffen, daß der Terror nicht dazu führt, daß die Aufmerksamkeit sich auf eine Rhetorik des Krieges anstatt auf kluge und verantwortliche Politik richtet. Wenn es Ziel der Anschläge war, eine Reform der EU zu verhindern, Tony Blair von seinen Vorschlägen abzubringen, so ist es jetzt an der Zeit, durch Standhaftigkeit und Festigkeit das Gegenteil zu beweisen, und zwar über die Beschlüsse des Gipfels in Schottland hinaus. Der Rest ist den ermittelnden Behörden zu überlassen, die in internationaler Kooperation die Schuldigen und Drahtzieher fassen wird, mit breiter europäischer und internationaler Unterstützung, welcher sich nicht nur Spanien oder Deutschland, Österreich oder Rußland, sondern auch die USA und China angeschlossen haben.

Nun, Blair schlug vor, die Subventionierung der Agrarkultur und Agrarindustrie stark zu kürzen und die frei werdenden Mitteln in die Förderung von Innovation, Wissenschaft und Bildung zu stecken. Er stellte außerdem in Aussicht, den seinerseits von Thatcher ausgehandelten Rabatt für den Beitrag der Briten zum EU-Budget zu kürzen, allerdings nur im Tausch gegen bestimmtes Entgegenkommen. Damit hat er nicht nur Verhandlungsbereitschaft innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen signalisiert, er hat vielmehr einen Wandel der EU vorgeschlagen, der für sich genommen gar nicht so schlecht wäre. Zugleich hat er Bedingungen des Wandels vorzugeben versucht.

Dagegen spricht der französische Präsident Jacques Chirac, der sich als Konservativer vor die Bauern Frankreichs stellen muß, die u.a. von den Subventionen der EU profitieren. Die Forderung, daß die Briten endlich volle Beiträge wie auch die anderen Nettozahler unter den EU-Staaten leisten sollen, wird auch hier erhoben, was sicherlich der Fairness entspräche, indes sich Länder wie die Niederlande, die pro Kopf die größten Nettozahler sind, oder Schweden gegen ein Anwachsen des EU-Budgets aussprechen, ihre Beiträge reduziert oder gedeckelt sehen wollen, die neu beigetretenen Mitgliedsstaaten aber naturgemäß fürchten, von den Einsparungen insofern betroffen zu sein, als ihnen zugesagte Förderungen versagt werden. In Österreich wie Deutschland gibt es diesbezüglich ähnliche Stimmen, wie sie andere Nettozahler äußern. Länder hingegen wie Spanien oder Griechenland, die offenbar den seinerzeitigen Stabilitätspakt zur Sicherung der Gemeinschaftswährung untergruben, aber auch Italien lassen von sich hören, daß sie neue Erweiterungen nicht mittragen wollen. Die Briten selbst waren ohnehin immer skeptisch zur EU-Osterweiterung, welche maßgeblich von Deutschland betrieben wurde, und Deutschland unterstellt vielleicht zu Recht den Briten, daß sie die Union verflachen und aushöhlen wollen, um eine reine Freihandelszone einzurichten: Der Vorschlag, die Türkei solle der EU beitreten, bekam Unterstützung von Seiten der USA (die gar kein Mitgliedsstaat der EU sind), und von deren engstem Verbündeten, den Briten, woran sich seltsamer Weise die Deutschen schlossen, indes Österreich und Frankreich sich skeptisch verhielten. Daß Rumänien und Bulgarien für spätestens 2008 ein Beitritt zur EU in Aussicht gestellt wurde, war den Briten auch recht, weil er weiter zur Verdünnung der EU-Suppe beiträgt.

So hat sich also eine verfahrende Situation ergeben, die nicht die Lösung durch Erfüllung aller konkreten Forderungen und Ankündigungen bringen kann. Die andere Alternative, daß sich die EU auflöse, wäre aber dennoch die schrecklichere. So bleibt nur zu hoffen, daß unter Wahrung der abstrakten Prinzipien und des Bekenntnisses zur europäischen Integration konkrete Kompromisse geschlossen werden, für die nun mögliche Vorschläge angerissen seien:

Diese Vorschläge enthalten ein Zukunftsprojekt, das in der Fortführung des schon Begonnenen besteht. Wenn sie auch nicht alle realisiert werden mögen oder gar keiner davon realisiert wird, so markieren sie doch die Richtung, in der die Entwicklung gehen sollte. Dahinter steht ein großer Idealismus, der nicht mit Naivität zu verwechseln ist. Es ist der Idealismus eines Denkers, der sich mehr und mehr als Europäer versteht, auch und gerade als geborener Österreicher, der seine nationale Zugehörigkeit begrüßt. Daher sind die Gedanken, die hier geäußert werden, Ausdruck einer Form der Teilnahme am Diskussionsprozeß, die in multiplizierter Weise von Intellektuellen äußerst notwendig und wichtig ist. Es genügt nicht, ab und an als Österreicher an einem Forum Alpbach teilzunehmen, einzelne Wortmeldungen abzugeben, sich hie und da in einer Debatte im Fernsehen vertreten zu lassen. Man muß hier Stellung beziehen, und die Stellung, die viele Intellektuelle bisher bezogen haben, war als eine des skeptischen Schweigens und der Ignoranz einfach zu flach und zu minder. Wer sich vor einem neo-liberalen Europa fürchtet, wer Kultur, Kunst, Philosophie, Humanwissenschaften, sog. Orchideenfächer, Geisteswissenschaften, marktfreie Grundlagenforschung, Vielfalt der Medien u.a.m. bedroht sieht, der muß daran mitarbeiten, daß sich Europa und die europäischen Länder anders, besser, nachhaltiger, erträglicher entwickeln. Als Intellektueller hat man die Aufgabe, sich eine Meinung zu bilden und durch die eigene, argumentierte Meinung zur Bildung und Information anderer beizutragen.

Die Gefahren, die auf dem skizzierten Weg eines Zukunftsprojektes drohen, sind allerdings nicht zu unterschätzen. Konkret seien da einige Fragen aufgeworfen:

  1. Hat Großbritannien mit seiner Eigensinnigkeit auch ehrliche Vorschläge gemacht -- oder fährt es einen Kurs, der die EU spalten, aufreiben, zersplittern soll, in Verfolgung des alten Zieles der Schaffung einer Freihandelszone?
  2. Liegt Frankreich an seinen Bauern wirklich so viel, daß es das europäische Projekt gefährdet, was im übrigen auch nicht hilft, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, da die Förderung der Landwirtschaft vielfach gerade die Großbetriebe stützt und nicht Arbeitsplätze bringt?
  3. Kann Österreich einer Kürzung der Agrarmittel, die es von der EU erhält, zustimmen, wenn seine Topographie es zwingt, nationale Mittel für den Ausfall von Förderungen einzusetzen, wenn von einer entsprechenden Kürzung Bergbauern und kleine Betriebe betroffen sind? Ist es da nicht klug und ratsam, eine Umgestaltung dieser Subventionen mit deren Kürzung anzustreben? Was ist aus den Reformvorschlägen des seinerzeitigen Kommissars Franz Fischler geworden, der die Agrar-Subventionen in der Tierhaltung an fixe Flächengrößen pro Tier binden wollte, um die Tierfabrikation in Massenställen und die zum BSE-Skandal führenden Entwicklungen zu verhindern? Wenn in der Tat nur 5% der Förderungen im Agrarbereich bei den kleinen Bauern landen, so muß man sich fragen, welche Betriebe eigentlich die restlichen Anteile kassieren und ob dort nicht einzusparen ist.
  4. Wie ist die Verkehrsproblematik zu sehen, die Österreich als Transitland besonders trifft -- werden solche Themen, die nur einzelne Mitgliedsstaaten angeht, plötzlich EU-weit gar nicht mehr behandelt?
  5. Wird es Minderheitenrechte für Mitgliedsstaaten der EU geben, oder werden nur mehr die Majoritäten regieren, die jetzt schon vieles blockieren? Wird gerade in Hinsicht auf den Verfassungskonvent nun etwas Neues auf die Beine gestellt, daß die Form der Kooperation innerhalb der EU, die Institutionen der EU selbst reguliert und fixiert?

Auch an konkreten Vorschlägen für Österreichs Politik und der Politik der kleineren Staaten ist einiges vorzubringen, das keineswegs kontraproduktiv sein oder große Staaten gegeneinander ausspielen soll:

Nicht zuletzt sei darauf aufmerksam gemacht, daß der Verfasser dieser Gedanken Europäer ist, aus Gründen seines Werdegangs, nicht wegen eines Aufdrucks in seinem Paß, aus Überzeugung und nicht wegen des Zufalls der Geburt. Europa wird von ihm als ein Modell dafür verstanden, wie die Zivilisation nach und in der Phase der sog. Globalisierung aussehen und gelingen gehen kann, wo die Schäden und Opfer der Veränderungen gering gehalten werden, wo seit sechs Jahrzehnten Friede herrscht, der nur im unseligen Yugoslawienkrieg und dessen Nachfolgekonflikten durchbrochen wurde, aufgrund der europäischen Schwäche, die es zu beseitigen gilt. Als Bürger eines neutralen Landes begrüßt er ein demokratisches und soziales Europa des Wohlstandes der breiten Masse, eines Kontinents, der sich an ein erneuerndes und demokratisiertes, rechtsstaatliches Rußland ebenso annähern wird wie an einen sich zivilisierenden Nahen Osten, ohne die gute und für beide lebenswichtige transatlantische Bindung an die USA zu verlieren. Dies zieht kein Plädoyer für das Ende der NATO nach sich; die NATO befindet sich selbst im Wandel, hat mit der Partnership for Peace den Kalten Krieg beenden geholfen. Die transatlantische Bindung wird sich nicht lösen, allerdings werden die nächsten Jahre zeigen, ob sie sich festigen kann und ob sie noch ausbaufähig ist. Dies hängt auch von den USA und deren Präsidialpolitik ab. Gefragt werden muß, inwiefern nach China und Indien zu sehen ist, welche Entwicklungen dort zu fördern wären, ob eine Ausweitung mancher Faktoren des europäischen Projekts nicht auch für diese Länder zu deren eigenen Vorteil nützlich, der Menschheit aber dienlich wäre. Die EU muß da nach Wegen der Kooperation suchen, die nicht in der Anbindung an sie gegen andere Bindungen bestehen kann, sondern den Weg weitergeht, der die Globalisierung zivilisiert, d.h. deren soziale und ökologische Begleiteffekte mit im Auge hat, um sie möglichst schonend und verträglich zu machen.

Die Paarung von politischer Naivität mit Abgebrühtheit zur Machtpolitik, welche das Schicksal der Welt und Europas im Kalten Krieg den Ideologien überließ, muß überwunden werden. Die weltweite Friedenssicherung kann nur durch zivilisatorische, nicht durch militärische Maßnahmen und Entwicklungen erfolgen; daher muß Europa im Sinne des Kyoto-Abkommens und der ökologischen Politik für eine Wirtschafts- und Energiepolitik eintreten, die der Menschheit insgesamt ohne Ansehung der Nationalität und Staatsbürgerschaft zugute kommt. Denn die Zeit des Nationalstaates, der in Europa mit dem Frankreich Richelieus und Rousseaus, mit der Französischen Revolution, mit dem code civil begonnen, der mit der britischen Rechtsordnung sich verbreitet hat, der sich in hunderterlei Gestalt in Staatsgebilden zu etablieren suchte, ist mit der europäischen Intergration, dem Projekt, auf dessen Wege die Union Europas als EU ein wichtiger Meilenstein ist, mit der bevorstehenden Umgestaltung der UNO und mit den jüngeren Alleingängen der USA, mit der neueren Einbindung Rußlands in die globale Verantwortlichkeit an seinem historischen Ende, ohne daß die nationalen und regionalen Eigenheiten der Sprache und Bevölkerung, der Kulturen und Differenzen aufgegeben werden müssen.

Die EU ist auf dem Wege, Strukturen und Institutionen zu entwickeln, die diesen Zivilisationsschritt ermöglichen. Dieser Weg ist bislang einzigartig und noch kaum nachgeahmt, wird noch in Sackgassen und über schwierige Hürden führen, wird des Schlagens von Brücken bedürfen, mitunter auch der Umkehr und Neuorientierung. Doch wir hinterlassen jetzt bereits Wegweiser und Markierungen für jene, die uns aus den Ländern Afrikas, der arabischen Welt, aus Asien oder Polynesien, aus Lateinamerika folgen. Auch wenn die EU nicht alle Staaten aufnehmen kann, die gerne mit dabei wären, so verbietet sie niemanden, einen ähnlichen Versuch zu wagen und unsere Ideen und Erfindungen zu kopieren. Gerade der Ukraine, Rußland, der Türkei und anderen Staaten, die in der assoziativen Nachbarschaft zur EU stehen, kann man nur raten, daß sie sich ihrerseits zu parallen Entwicklungen von Zusammenschlüssen und Kooperationen finden, ähnlich wie etwa die EFTA längere Zeit neben der EWG/EG bestand und rudimentär noch besteht. Die Debatten des EU-Parlaments, die Dokumente der EU, die politischen Entscheidungen auf diesem Wege sind großteils öffentlich zugänglich, in einer historisch einmaligen Transparenz. Wer davon Gebrauch machen und davon lernen will, ist herzlich eingeladen, sie zu studieren und zu benützen. Ein dem Zivilisationsprojekt Europa gewidmeter Weg wird sich der Menschheit genauso wenig verschließen können wie sich die Menscheit ihm verweigern wird.---



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