Christian Swertz

Globalisierung und Individualisierung als Bildungsziele

1. Begrenzte Vernunft

Die derzeitigen Tendenzen zur Globalisierung und Individualisierung werden aus Machtgründen und nicht aus vernünftigen Gründen durchgesetzt. Angesichts der nicht immer wünschenswerten Folgen von Globalisierung und Individualisierung ist es erforderlich, diesen Tendenzen etwas entgegenzusetzen. Vernünftige Kritik an diesen Tendenzen ist angesichts der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 2004) aber nicht unproblematisch, erscheint doch Vernunft immer schon durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse korrumpiert. Der Durchsetzung von Globalisierung und Individualisierung durch machtförmige Sozialbeziehungen können wir uns nun ebenso bewusst werden wie dem Umstand der Korrumption von Vernunft durch Macht. Eine vernünftige Reflexion von politischen und wirtschaftlichen Interessen und eine fundierte Kritik etwa des Marktförmigwerdens von Bildung oder Wissen führt jedoch nicht dazu, dass diese Tendenzen in irgend einer Form angefochten werden. Es gelingt an Macht Interessierten offenbar mühelos, Kritik in die Machtstrukturen zu integrieren und die Kritik dabei zum Zwecke des Machterhalts zu funktionalisieren (vgl. Campbell 2001). Vernünftige Kritik stabilisiert damit die herrschenden Verhältnisse und trägt nicht zu der intendierten Veränderung bei.

Dennoch wird häufig politische Aufklärung in der Absicht einer positiven Veränderung versucht. Ein aktuelles Beispiel für liefern Vertreter der Cultural Studies, die mit der expliziten Absicht auftreten, Machtverhältnisse zu verändern: „Cultural Studies sind daher eine kontextspezifische Theorie und Analyse, die sich damit beschäftigen, wie Kontexte als Strukturen von Macht und Herrschaft hergestellt, aufgelöst und neu gestaltet werden“ (Grossberg 2006, 26). Macht und Herrschaft sollen neu gestaltet werden, und die Methode, die Grossberg dazu neben einer spezifischen empirischen Methodik vorschlägt ist die Entwicklung von Theorien als Mittel der Vernunft, eine Position gegenüber von Macht und Herrschaft einzunehmen.


Der damit skizzierte Weg basiert auf einer Gegenüberstellung von Macht und Vernunft. Die Absicht von Grossberg ist es alöso, mit den Mitteln der Vernunft, d.h. insbesondere mittels wissenschaftlicher Theoriebildung, eine Position gegenüber von Macht einzunehmen, die Aufklärung ermöglicht. Das Problem der Korrumption von Vernunft durch Macht wird dabei jedoch nicht gelöst und die Frage, wie denn mittels theoretischer Arbeit eine neue Gestaltung von Macht und Herrschaft erreicht werden kann und wie die neue Gestaltung denn bestimmt werden kann nicht beantwortet. Auch der skeptische Weg bleibt verschlossen, da mit einer skeptischen Methode der Anspruch auf eine neue Gestaltung nicht eingelöst werden kann. Die Bedingung der Möglichkeit der Veränderung von Macht und Herrschaft durch Vernunft bei Grossberg bleibt unklar. Grossbergs Position lässt sich daher im Interesse einer Stabilisierung der Machtverhältnisse funktionalisieren.

Damit stellt sich die Aufgabe zum Zwecke der vernünftigen Kritik einen Ansatz zu verwenden, mit dem Funktionalisierung vermieden wird; eine Aufgabe, die vor allem die Bedingung der Möglichkeit von Reflexion zu klären hat. Auch dieser Weg geht von Differenzen aus. Wenn die Absicht dabei ist, Macht und Herrschaft in einer subversiven Strategie zu desavouieren und vorhandene Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Hoffnung auf Besseres zu unterlaufen, scheint es jedoch unmöglich, dies mit Mitteln der Vernunft, die ja möglicherweise auch nur eine Funktion des Macht- und Herrschaftssystems sind, zu tun. Das legt die Vermutung nahe, dass es wenig ausichtsreich ist, einen Weg der Macht- und Herrschaftskritik in der Absicht einer positiven Zweckbestimmung mit den Mitteln der Vernunft zu finden.

Die These hier ist nun, dass ein solcher Weg möglich ist. Um die These zu diskutieren werden keine wissenschaftlichen Ergebnisse vorgestellt, schon weil Vernunft möglicherweise ebenfalls korrumpiert ist. Stattdessen wird versucht, an der angedeuteten Struktur mit rhetorischen Mitteln ein wenig unvernünftig vorbeizuschauen und so die Möglichkeit auch eines vernünftigen Weges plausibel machen, ohne ihn hier auch schon entwerfen zu können. Das Folgende ist also ein methodisches Experiment, mit dem experimentell erprobt werden soll, ob die methodische Verwendung von Rhetorik der gestellten Frage angemessen ist.

2. Ein Versuch

Die Strategien der Machtdurchsetzung sind recht einfach: Professorinnen und Professoren z.B., die zur bildungsbürgerlichen Mittelschicht gehören, werden schon durch die bekannten bürgerlichen Abstiegsängste daran gehindert, für ihre gelegentlich gerne präsentierten kritischen Überzeugungen die Festanstellung zu risikieren, und der Strategie der Forschungskontrolle durch Drittmittelvergabe und Veröffentlichungsstatistiken entzieht sich keiner durch die Begründung der Verweigerung des Stellens von Drittmittelanträgen mit der nur so zu bewahrenden Freiheit der Forschung.


Es ist dabei klar, dass Professorinnen und Professoren Mitglieder des Systems sind und insofern schon ungewusst eine Form von Kritik wählen, die die eigene materielle Existenz nicht betrifft – da kann ich mich nicht ausnehmen. Die beliebte - möglicherweise sogar ideologiekritische – Reflexion erscheint daher als zwar unterhaltsam, aber wenig fruchtbar. Es gilt mithin die Sache von den Füßen auf den Kopf zu stellen und die neoliberalen Tendenzen nicht abzulehnen, sondern sie beim Wort zu nehmen, d.h. Individualisierung und Globalisierung als Bildungsziele nicht zu kritisieren, sondern positiv zu bejahen.

Dazu ein Beispiel: Die derzeitigen Arbeitsmarktstrukturen führen eine an Leibeigenschaft erinnernde Struktur wieder ein: Der Fürst – oder Arbeitgeber – darf an Gehalt zahlen, was er möchte, darf verstoßen, wen er will, und verlangen was er möchte. Diese Macht- und Herrschaftinteressen gilt es im Interesse der Standortsicherung im internationalen Wettbewerb konsequent umzusetzen und weiterzuentwickeln. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Wiedereinführung des „ius primae noctis“ mit den Frauen der Leibeigenen bzw. Angestellten. Daraus würde ein kaum einholbarer Standortvorteil erwachsen, zumindest wenn die These der Genderforschung richtig ist, dass wir in einem Patriarchat leben. Das Recht auf die erste Nacht zu legitimieren würde z.B. dem Spiegel, der durch seine ausgezeichneten Reportagen über Prostituierte und Pornografie in der herrschenden Elite die Wahrnehmung des Leibes als Ware bereits sehr gut vorbereitet hat, sicher nicht besonders schwer fallen. Die dafür erforderliche Struktur ist ja im Verkauf der Seele, der mit dem Beruf der Journalisten verbunden ist, und die deswegen erforderlich ist, weil die Pressefreiheit für die Verleger und nicht für die Journalisten gilt, bereits etabliert: Wer Journalist ist, ist frei dazu, die Meinung des Verleger zu äußern. Das ist eine interessante Figur, die Assoziationen an die Bildungsgeschichte weckt: Auch nach christlicher Überzeugung ist der Mensch frei dazu einzusehen, dass er Geschöpf Gottes ist. Genau so ist der Journalist frei darin einzusehen, dass er ein Angestellter seines Verlegers ist – oder sich den Ausgestoßenen anzuschließen.

Wenn wir also in einem Partriarchat leben und das ius prima noctis eingeführt wird, dann resultiert daraus ein nachhaltig wirkender und kaum einzuholender Standortvorteil. Auf diesen wirtschaftlichen Vorteil können wir in den Zeiten der Gloablisierung nicht verzichten, die langfristige Sicherung der internationalen Konkurrenzfähigkeit erfordert diesen Schritt, zumal wir sonst im Kampf der Kulturen den islamischen Ländern mit dem dortigen Recht auf Polygamie schnell unterliegen werden.

Bleiben wir noch bei diesem Bild: Neoliberale Interessen – obwohl das so negativ besetzt ist; sagen wir also besser: die Kräfte des Marktes, Kraft ist so schön, man denke nur an all die muskulösen echten Männer, die wir allenthalben vorgeführt bekommen, und Markt weckt positive mittelalterliche Assoziationen an den Marktplatz, die ja bezüglich der Herrschaftsstrukturen auch gar nicht in die falsche Richtung gehen – also die Kräfte des Marktes werden ja in ähnlicher Form heute schon in Bildungssystemen genutzt, wie Ingrid Lohmann so schön gezeigt hat: Die kapitalistische Strategie ist es, so Ingrid Lohmann, Teams zu bilden und ihnen zu sagen: „Hier ist Euer Marktsegment, das ist Eure Welt, da müßt ihr Euch bewähren. Wie ihr das macht ist egal, aber seid profitabel. Die Sicherheit Eurer Arbeitsplätze liegt in Euren Händen“ (Lohmann 2002: 93).

Das kann man direkt in eine didaktisches Methode umsetzen: Die konstruktivistische Didaktik schlägt dazu aufgabenorientiertes selbstgesteuertes Lernen vor. Was wir also machen sollten ist, den Lernenden zu sagen: „Hier ist Eure Aufgabe, das ist Eure Welt, da müsst ihr Euch bewähren. Löst Sie wie ihr wollt, aber lernt etwas dabei. Der Erfolg eurer Bildung liegt in Euren Händen“. Das unterwandert jede Kritik – oder wollen sie etwa autoritäres, fremdgesteuertes Lernen? Nebenbei eine perfekte Argumentation, um uns die lästige Verantwortung für die Bildung der Lernenden vom Hals zu schaffen.

Die Beispiele machen sichtbar, wie gut die neoliberalen Machtstrukturen funktionieren. Und diese Machtstrukturen funktionieren sehr subtil, was sich z.B. an der Funktion der OpenSource-Bewegung für die Stabilisierung des Softwaremarktes zeigt. OpenSource ist schon längst zum Spieball von den so schön genannten global Playern wie IBM oder Sun geworden. Eine interessante Frage wäre an dieser Stelle aus pädagogischer Sicht, worin eigentlich das Spiel dieser globalen Spieler besteht und welchen Spielregeln es folgt – und wer sagen kann, wann das Spiel zu Ende ist, welches die Stoppregel ist, denn Spielen kann man ein Spiel nur, das auch endet. Aber vielleicht wollen wir lieber gar nicht wissen, wie dieses Spiel endet – das Ende dieses Spiels ist viel zu Angstbesetzt, so dass wie auch einen hohen Einsatz und einen hohen Verlust dafür riskieren, weiter mitspielen zu dürfen; und Spielverderber wollen wir ja schon mal gar nicht sein.

Hier drängt sich eine Analogie zur der Open Source-Bewegung nahestehenden OpenContent-Bewegung auf: Im Rahmen der Debatte um den öffentlichen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen wurde unlängst der Vorschlag unterbreitet, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlicher dazu verpflichtet werden, zunächst den Hochschulen die Verwertungsoption von Schriften anzubieten. Die Umsetzung wird nicht über das Urheberrecht erfolgen, sondern per Arbeitsvertrag, was in der Wirtschaft längst üblich ist. Dieser Vorschlag legt die Assoziation nahe, dass hier der öffentliche Zugang zu mit öffentlichen Mitteln hervorgebrachten Wissen gesichert wird. Der Effekt wird aber ein anderer sein, wie ein Beispiel aus dem E-Learning-Sektor zeigt: Bundesdeutschen Länder behalten sich die Rechte an geförderter Lernsoftware, die z.B. an den Universitäten Nürnberg bzw. Hamburg entwickelt wurde, vor. Keineswegs in der Absicht, öffentliche Güter vor privaten Interessen von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern zu schützen, sondern um die Ergebnisse im Zuge von Tauschgeschäften oder gegen Geld zur Verfügung zu stellen.

Eine interessante Strategie. Um auf die konsequente Durchsetzung von Globalisierung und Individualisierung zurückzukommen ist z.B. von Studierenden zu verlangen, dass sie ihre mit Hilfe öffentlicher Mittel eines Landes erworbenen Kompetenzen auch nur in den Ländern zur Verfügung stellen dürfen, in denen sie die Ausbildung genossen haben, und dass sie Strafgebühren entrichten müssen, wenn Sie in anderen Ländern arbeiten. Eine Strategie, die übrigens die Frage der Studiengebühren schlicht erübrigen würde, weil der ROI (return of investment) präzise beziffert werden könnte.

Zurück zum Open Content und den Veröffentlichungen, an denen die Universitäten sich die Rechte sichern. Diese Veröffentlichungen werden sicher nicht von den Bibliotheken frei zur Verfügung gestellt werden; vielmehr werden die Universitäten (bzw. die finanzierenden Behörden) das pay-per-view– Geschäft lieber selber machen, als die damit zu erreichenden Gewinne den Verlagen zu überlassen. Das verträgt sich gut mit dem publish-or-parish Prinzip: Ein Wissenschaftler, der nichts veröffentlicht, ist schon nach gegenwärtigen Rankings wenig wert, aber wenn die Bibliotheken das nicht nur nach Ruhm und Ehre, sondern in Umsatzrenditen vorrechnen können, wird die Sache erheblich an Fahrt gewinnen: Dann geht es nicht nur um den Impact-Factor, sondern um Geld.

Um wieder auf die Analogie zum Jounalismus zurückzukommen: Das Recht zur Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten sollte konsequenterweise an die Hochschule gehen, d.h. der Rektor entscheidet, was veröffentlicht wird und was nicht. Das kommt uns heute noch komisch vor – aber sehen sie sich einmal an, was eigentlich Drittmittelprojekte bedeuten: Erforscht werden kann ohnehin nur das, wofür auch Geld zur Verfügung gestellt wird. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind wir schon seit längerem frei darin einzusehen, dass wir das erforschen dürfen, was der Wissensmarkt von uns erwartet. Und da hilft es auch nicht, wenn peer-review-Gutachten aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft erstellt werden, die dann auch nur einsehen dürfen, dass sie lediglich die Mittel zu vergeben haben, über deren Verteilung längst entschieden worden ist.

Nun könnte das hier den Schluss nahelegen, dass wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Opfer der herrschenden Klasse sind, dadurch erst recht zur kritischen Reflexion aufgerufen sind und über solche Strukturen Aufklären sollten. Schauen wir uns das einmal in der Analogie zu der religösen Figur an, die uns als frei darin sieht, einzusehen, das wir Geschöpfe Gottes sind: Ebenso wie die Priester – ich folge hier Baudrillard (1991) – die Macht über uns gewinnen, indem Sie das Verhältnis zu den Toten kontrollieren, und ebenso - immer noch Baudrillard - wie die Kapitalisten Macht über uns gewinnen, indem sie unser Verhältnis zu unserer Arbeit kontrollieren – und jetzt verlasse ich Baudrillard – kontrollieren wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Verhältnis der Menschen zur Wahrheit. Wäre ja auch noch schöner, wenn einfach jeder daher kommen könnte und behaupten könnte, er wissen schon, was richtig ist! Ohne kritische Reflexion womöglich! Und ohne jede Theorie! Oder klassifizierte Begriffe! So geht das nicht. Wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler legen fest, was Wahrheit ist. Wir kontrollieren also den Zugang zur Wahrheit, und wir benutzen unter anderem Informations- und Bildungssysteme, um diesen Wahrheitsanspruch durchzusetzen.

Aus dieser Sicht teile ich die These von Ingrid Lohmann, dass eine Entkoppelung von Bildung und Wissenschaft stattfindet, nicht. Vielmehr koppelt diese Struktur der Machtausübung Bildung und Wissenschaft nachhaltig aneinander. Und das ist ein wirklich nachhaltiger Prozess. Denn, und auch hier teile ich die Einschätzung von Ingrid Lohmann nicht, es ist keineswegs so, dass die technologischen und infrastrukturellen Voraussetzungen sich ebensogut wie für die Kräfte des Marktes dazu nutzen lassen, dass das Comenianische Paralleluniversium in unsere Galaxis verpflanzt wird. Computertechnologie forciert durch die schnelle Übertragung von Daten im Raum und die miserable Übertragung von Daten in der Zeit neolibarale Tendenzen, und zwar unabhängig davon, wie wir sie einsetzen. Und dass das in Politik und Wirtschaft klar ist ist auch das einzige, womit ich mir erklären kann, dass von Politikern und Wirtschaftsvertretern so vehement der Einsatz von Computertechnologie im Bildungsbereich gefordert wird. Denn pädagogische Gründe für den Einsatz, gar bildungstheoretische Legtimationen, spielen bei dieser Forderung überhaupt keine Rolle (obwohl es sie gibt), und nicht einmal die noch relativ systemnahen Effizienzvorteile von Lernprozessen konnten ja nachgewiesen werden. Nein, die Absicht ist eine andere: Es geht darum, die soziale Akzeptanz des Mediums Computertechnologie herzustellen, um so die Herrschaftsmechanismen zu sichern. Und zwar auf eine Weise, mit der die Performance der Herrschaft auch dann sichergestellt wird, wenn die Strukturen offen gelegt werden, weil auch die Offenlegung die Strukturen benutzt, die für die Ausübung von Herrschaft verwendet werden.

Unterstellen wir nun einmal, diese ganze Angelegenheit ist absichtlich herbeigeführt, und damit, anders als meine Anfangsbehauptung, doch vernünftig. Wenn wir also annehmen, die Struktur basiert auf vernünftiger Steuerung, dann lässt sich daraus der Schluss ziehen: Wenn wir als Menschheit dazu in der Lage sind derartig weitreichende vernünftige, absichtsvolle Steuerung unserer selbst vorzunehmen – dann brauchen wir uns doch wirklich keine Sorgen über den Untergang des Abendlandes zu machen. Wenn das absichtlich gemacht wird, dann ist die Steuerung so raffiniert, dass selbst das Benennen solcher Steuerungen wie hier in diesem Beitrag die Wirkung nicht unterläuft, sondern gleich wieder zum Teil der Wirkung wird. Und in der Tat spricht nichts gegen folgende Vermutung: Das duale Rundfunksystem und die ubiquitäre Verbreitung von Computertechnolgie stellen Kontrollstrukturen zur Verfügung, die uns eine große Sorge nehmen: Dass die Rückführung der Investitionen in die soziale Arbeit und die damit verbundene verringerte Kontrolle der Dummen – nennen wir sie ruhig einmal so – in eine unsere bürgerliche Existenz bedrohende Revolution umschlägt. Duales Rundfunksystem und Computertechnologie leisten dies effektiver und zu geringeren Kosten: Das System funktioniert so gut, dass es die Rezipientinnen und die Rezipienten dazu bringt, für ihre eigene Kontrolle zu bezahlen. Das ist effektives OutSourcing und spiegelt das Reflexiv werden der Moderne.

Meine These, dass Kritik am herrschenden System immer schon zu einem stabilisierendem Bestandteil des Systems geworden ist, dass also durch Kritik, wie sie z.B. die Cultural Studies entfalten, keine Subversivität erreicht wird, sondern das System stabilisiert wird, erscheint bisher plausibel. Ich schlage daher statt Kritik eine positive Bejahung der Kräfte des Marktes vor – was nebenbei auch zu einem besseren Lebensgefühl verhilft: Wer möchte sich schon die Aufgabe aufbürden, mit dem notorischen Gefühl zu leben, alles sei falsch, was man tut, es erfolge im falschen Bewusstsein, aber das wissen wir ja immerhin, und wir tun es lediglich, weil wir ja nicht anders können, obwohl wir ja gerne würden, wenn wir nur könnten, aber wir können ja nicht, weil wir da kritisch sind und also doch wieder Zweifel haben, ob das Wollen nicht dann doch auch irgendwie wieder falsch ist. Das macht, kurz gesagt, einfach keinen Spaß. Wieviel angenehmer ist es da, Positiv vorzugehen: Persönliche Erfolge durch ordentliche Umsatzrenditen oder – ein anderes Wort für denselben Sachverhalt - hohe Drittmittelquoten, die damit verbundene Anerkennung und das Einkommen sind da doch angenehmer.

Es gilt also, Individualisierung und Globalisierung als Bildungsziele zu forcieren und aktiv durchzusetzen. Wie also können wir dazu beitragen, Individualisierung und Globalisierung als Bildungsziele zu verankern? Das naheliegende ist: Spielen wir einfach mit. Veröffentlichen wir fleißig unter der Creative Commons-Lizenz, entwickeln wir eine Didaktik des Online-Lernens (nicht ohne das Hörergeld wieder einzuführen!), entwickeln wir Open-Archives-Infrastrukturen; und wir brauchen uns keine Sorge zu machen: Das stabilisiert das System, und wir können uns dabei sogar noch für kritisch halten, weil auch das der reflexiv gewordenen Machtstruktur entspricht.

Dazu noch einmal ein Beispiel: In der Informationswissenschaft ist Expertenwissen ein notorisches Problem. Solange es in den Köpfen der Expertinnen und Experten steckt, ist zum einen die Struktur der Leibeigenschaft gefährdet, weil die Expertinnen und Experten mittels dieses Restes an Subjektivität Macht gewinnen könnten, zum anderen ist es einer guten Informationswissenschaftlerin oder einem guten Informationswissenschaftler natürlich schon persönlich unangenehm, mit einer Form von Wissen konfrontiert zu sein, die nicht einmal erschlossen oder recherchiert und erst recht nicht katalogisiert werden kann. Wie lässt sich hier also Macht zwischenschieben und eine Kontrolle über das Expertenwissen herstellen? Das Mittel der Wahl ist natürlich die Computertechnologie, indem z.B. mit Data-Mining - Methoden der E-Mail-Verkehr eines Unternehmens analysiert wird. Auf der Grundlage von damit gewonnen Informationen kann schon ein wesentliches Plus an Expertenwissen abgebildet werden. Das hat den Vorteil, dass die Macht von den bisherigen Pseudoexperten, die sich ja mit Wissen nicht richtig auskennen, an die wirklichen Wissensexperten, nämlich an uns als Informationswissenschaftlerinnen und Informationswissenschaftler, also die Informationsprofis (und die Bildungsprofis) übergeht.

Informationswissenschaft kann damit die Pädagogik mit einem effektiven Beitrag bei der Durchsetzung von Globalisierung und Individualisierung als Bildungsziel unterstützen. Machtausübung wird so zur Schlüsselqualifikation, und wir sollten in Schulen und Universitäten vor allem Techniken zur Machtausübung vermitteln. Das werden wir aber natürlich nicht tun. Sonst würden wir ja die eigene Autoritätsposition gefährden – es sei denn, die erzielbare Rendite rechtfertigt das Risiko. Hier wird Bildung zur Selbstbildung, weil nur diese sich wirklich auszahlt. Anderen wirklich zur Bildung zu verhelfen würde nur die eigenen Gewinnchancen schmälern.

Damit aber hebt sich aber das Thema meines Vortrags auf. Globalisierung und Individualisierung können überhaupt nicht als Bildungsziele verfolgt werden, ohne den Kern von Globalisierung und Individualisierung, die persönliche Bereicherung, zu unterlaufen. Die Vermutung, dass Aufklärung immer schon von Macht und Herrschaft korrumpiert ist, ist nicht haltbar. Auch die radikale Verfolgung des Weges der Macht kann die Lücken nicht schließen. Das legt die Vermutung nahe, dass es möglich ist, mit den Mitteln der Vernunft den Weg der Kritik zu gehen.

Und damit bin ich bei der eingangs angekündigten Frage: Wird hier tatsächlich sichtbar, dass eine aktive und positive Bejahung der etablierten Machtstrukturen diese eher unterläuft als die kritische Auseinandersetzung? Mir scheint dieser Weg als Praxis mindestens genauso ausichtsreich wie der erste, auch wenn damit keine Aufhebung des implizierte Widerspruchs in eine Synthese versprochen ist, sondern nur das Wissen können des Wissens des Widerspruchs angezeigt ist – Erlösungsversprechen können eben vernünftig nicht eingelöst werden.

Literatur

Baudrillard, J. (1991): Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes&Seitz.

Klein, Naomi (2001): No Logo! 4. Aufl., München: Riemann.

Grossberg, L. (2006): Der Cross Road Blues der Cultural Studies. In: Hepp, A.; Winter, R. (Hg.): Kultur – Medien – Macht. 3. überarb. Aufl., Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 23-40

Horkheimer, M., Adorno, T.W. (2004): Die Dialektik der Aufklärung. 15. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Lohmann, Ingrid (2002): After Neoliberalism. In: Lohmann, I.; Rilling, R.: Die verkaufte Bildung. Oppladen: Leske+Budrick, S. 89-107.