Eine Mini-Serie zu Grillparzers 200. Geburtstag. Erschienen in der Wiener Stadtzeitung FALTER und wiederabgedruckt in Grillparzer-Bilder 1991. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe Band 46 (hrsgg. von Monika und Michael Klein). Innsbruck 1993. S.49-58
"Wohlan ihr Herrn
Nehmt das Panier und tragt es allen vor;
Den edlen weißen Strich von Österreich;
Und wie er glänzend geht durchs rote Feld,
So will ich sehen Östreichs weiße Zeichen
Die Gasse ziehn durch blutgefärbte Leichen."
(König Ottokars Glück und Ende, v. 2743-2748)
Grillparzer staubt; nichts wird bewältigt, alles kostümiert. Man konnte schon zu seiner Zeit viel überzeugender und flotter schreiben. Strömungen, wie sie sich in der Literaturgeschichte durchsetzen, sind mitreißend. Grillparzers Dramen (die ''Ahnfrau'' ausgenommen) sind weder gehetzt, noch gesetzt. Sie klingen, wie wenn der Vater vom letzten Krieg erzählt, zu feierlich und zu banal. Den Zeichen folgen auf dem Fuß die Leichen. Er staubt nicht nur, er staubt auch ab.
Der Patriot, der das Kaiserhaus verherrlicht und ein unerträgliches Gedicht auf die dreitägigen Wehen der Mutter Franz Josephs verfaßt, ist einem dringenden Bedürfnis gerade recht gekommen. Österreich, das den Kampf um die Hegemonie in Deutschland verloren hatte, brauchte einen hauseigenen Klassiker. In diese Rolle wurde Grillparzer gesteckt. Durch eine eklatante Fehleinschätzung seiner Qualitäten wurde der Nachtfalter zum Wappentier gemacht. Das Gravitätische seiner Deklamationen sollte den österreichischen Charakter mit Beständigkeit und Würde auszeichnen.
Natürlich kam dabei das Gegenteil heraus. Die Lächerlichkeit des Nationalstolzes hat sich auf die Reputation des Nationaldichters geschlagen; sein Werk wurde zur Pflichtübung. Es liegt in einem sonderbaren Niemandslandsland: unmodern, aber nicht nostalgisch; von Zweifeln angekränkelt, aber hausbacken; ein Konglomerat aus Redefluß und Verdrießlichkeit. Ironiker bemerken, daß diese Charakteristika Grillparzer am Ende doch zum typischen Österreicher machen. Lähmende Feierlichkeit und bissige Zwischenbemerkungen. Das mag schon stimmen, reizvoller ist eine andere Betrachtungsweise.
Ich möchte in vier Folgen stichprobenartig dem Zauber seiner Montur begegnen - ihn anerkennen, ihm entgegenreden. Die jüngere Literaturkritik hat nachgewiesen, daß Grillparzer mindestens soviel mit Strindberg und Kafka, wie mit der Weimarer Klassik zu schaffen hat. Mir dagegen geht es weniger darum, in ihm das aufzufinden, was uns vertraut ist, sondern im Gegenteil zu fragen, was seine Staubschicht deckt.
Er war ein Dichter und Beamter, ein Hofrat, der in jungen Jahren am Theater reüssierte. In bitteren Sentenzen hat er selber den Verlust der Inspiration zwischen den Aktenbergen beklagt. Ein gutes Beispiel dafür, daß Kunst und Sicherheitsbedürfnis sich eben nicht vertragen. Ist das so sicher? Eine Perspektive auf Grillparzer eröffnet sich durch die Beobachtung, daß wir mit unseren Vorstellungen vom reinen, atemlos-aufgestachelten Künstler tief im romantischen Vorstellungskreis stecken. Für gewöhnlich dient die Sprache nicht der Anfeuerung, sondern als Kleister für die unterschiedlichsten Bedürfnisse.
Sprechen hat in den meisten Fällen bürokratische Funktion. Wie und wann etwas gesagt wird, bestimmt, wie die verschiedensten Materien sachgerecht zu behandeln sind. Die Meldung einer Presseagentur verlangt andere Reaktionen, als ein Wutanfall. Irrtum! werfen die Literaten seit Karl Kraus ein, die Aufgabe der Kunst besteht gerade darin, die Ungeheuerlichkeit der Welt ins aufgebrachte Wort zu bringen. Das ist des Hofdichters Sache nicht. Die erste Bürgerpflicht seiner Sprache ist Abwiegelung. Daher kommt das Gefühl, daß Grillparzer, bevor er loslegt, erst einmal seine Wertsachen versteckt.
Die Abneigung gegen eine solche Zurückhaltung ist revisionsbedürftig. Amtsdeutsch ist wegen seiner Indirektheit verschrien; es erzeugt eine Zwischenwelt, durch die die Wirklichkeit abgepuffert wird. Gott sei Dank, muß man auch sagen, ein Refugium für alle, die der Explosivkraft der Worte mißtrauen. Das sind nicht nur die Zensurbehörden, sondern auch die weniger Wortgewaltigen und die Wissenschaftlerinnen. Grillparzers Staats-Schauspiele trägt ein so verstandenes Amtsdeutsch. Er sucht in seinen Windungen nicht Unterschlupf, sondern Abkühlung.
"Zudem gibts Lagen wo ein Schritt voraus
Und einer rückwärts gleicherweis verderblich.
Da hält man sich denn ruhig und erwartet
Bis frei der Weg, den Gott dem Rechten ebnet."
(Ein Bruderzwist in Habsburg, v. 1175-1178)
Grillparzer brodelt; ein alter Grantscherben, der nicht weiß, was er eigentlich will. "Nachdem man sterben sich gesehen | Mit seiner eignen Leiche gehen." Er ist kurz über 40 und betrachtet sich als Greis, 1838 zieht er sich, 34 Jahre vor seinem Tod, nach dem Premierendebakel von "Weh dem, der lügt!" aus der Theaterwelt zurück. Dichter sollen an Schwindsucht sterben, zu hohen Ehren aufsteigen oder in der Wüste verschwinden, aber bitte nicht ständig lamentieren.
Zeit seines Lebens hat Grillparzer mit dem Problem gekämpft, daß er in seine Zeit nicht paßt. Dem aufgeklärten Regime Josef II. hängt er nach, gegen die Repression Metternichs. Er protestiert angesichts der Zensur, aber das ist eine matte Sache, denn erstens ist er sowieso zu vorsichtig und zweitens hat er Angst, daß in der neuen Zeit der Pöbel die Oberhand gewinnt. Also singt er doch ein Ruhmlied auf die Habsburger, allerdings bleibt es in der Schreibtischlade, versalzen mit mißmutigem Spott. Über seine Untergebenen schreibt er ins Tagebuch: "Ich habe sie mir feindseliger, ich habe sie mir unwissender, unbrauchbarer gedacht. Aber es ginge besser, wenn sie schlimmer wären." Alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse.
Wir sind auf Siegertypen eingestellt, selbst die Lieblingsverlierer, Woody Allen oder Samuel Beckett, müssen Erfolg nachweisen. Dazu gehört, die rechte Frau am rechten Ort zu sein, die Gunst der Stunde zu erkennen. Nichts ist so schön, als wenn der Weltgeist auf seiner Höhenfahrt einmal bei uns zu Hause einkehrt. Die krankhafte Begeisterung, wenn Österreichs Skiläuferinnen im Weltcup führen, dokumentiert, wie schlimm das elementare Bedürfnis nach einem Platz an der Sonne der Geschichte in diesem Land frustriert wurde. Die Erklärung für den Stolz auf die "Heimat großer Söhne" liegt in der sozio-politischen Konfiguration mehrerer vergangener Jahrhunderte.
1670 erscheint in Amsterdam Spinozas "Theologisch-politischer Traktat", der schon im Vorwort proklamiert, der rechte Staat sei jener, der jedem erlaubt, zu denken, was er will und zu sagen, was er denkt. 150 Jahre später ist davon in der Habsburgermonarchie, nach kurzem josefinischem Zwischenspiel, noch immer nichts zu merken. Ein Trauma für politisch empfindliche Untertanen. Die Franzosen haben ihre Revolution, die deutschen Romantiker stellen ihr reklamebewußt Fichte und Goethe als ebenbürtige Leistungen an die Seite - und was haben wir? Monarchische Rindviecher. "Und ruhig, auf Trottel den Ersten | Wie Butter, folgt Trottel der Zweite."
Dieser Rückstand ist Grillparzers Position. Die Entwicklung der Neuzeit hat Europa in ein englisch-französisches Zentrum und Peripherien zerteilt. Die dort Zurückgebliebenen kämpfen mit der Paradoxie, ihre moderne Identität nur über externe Mächte zugesprochen zu erhalten und sie darum per definitionem zu verfehlen. Politische Befreiung und literarische Größe sind Grillparzer vor Augen geschwebt, ohne daß er in der Lage gewesen wäre, die Wunschbilder umzusetzen, bei uns in Bagdad. Mittlerweile hat sich allerdings herumgesprochen, daß die Erfolgsgeschichten der Zentralmächte nicht ohne schwerwiegende Defizite auskommen. Die Defensive, in welche sie die Randgebiete drängen, besitzt eine eigene Berechtigung.
Zum Beispiel muß Mißtrauen gegen revolutionäre Umstürze nicht gleichbedeutend mit reaktionärer Unfähigkeit sein. Unter Umständen bewahrt es eine langsamere Entwicklung und deutet auch noch darauf hin, daß die Erfolgsgeneration vorwiegend aus Ausbeutern besteht. Schön anzusehen ist das Nachhängen freilich nicht. Raunzen ist eine Entsorgung von Idealismus. "Denn in Deutschland weht derSturm | - Sturm, man weiß, ist Wind." In einer Hinsicht ist diese Abschätzung einfach Angst vor Veränderung. Aber was bleibt jemandem, der in eine historische Flaute geboren wird, schon über? Es steht uns schlecht an, in beflissenem Nachziehverfahren die Ideale des Fortschritts zu übernehmen und nach dieser Aktualisierung die Nase über Grillparzer zu rümpfen, der sich nicht besser zu helfen wußte, als mit dem Rückzugsgefecht des enttäuschten Archivdirektors.
Nicht bloß, daß er damit den status quo unangetastet läßt, er hat ihn in Ermangelung besserer Lösungen bekräftigt. Aus dem Triumph der Umstände über den Dichter gewinnt der Dichter seinen Ruhm. "Triumph des status quo" aber ist ein Widerspruch und eine Wahrheit, an die die Durchschlagskraft der Sieger nicht heranreicht. Sie meinen, wie die Dinge stehen sei kein Grund zur Freude, Jubel dagegen sei nur dort berechtigt, wo ein lange unterdrücktes Prinzip zum Durchbruch kommt. - Vorsicht, hier spricht die Gegenpartei. Brodeln heißt, etwas verzögern oder untergründig kochen.
Grillparzers geduckte Kunst widerspricht dem Hölderlin - Kleist - Artaud - Paradigma in den meisten Punkten. Nicht darin, daß es um Befreiung geht; nur ist sie nicht kontextfrei aus vorbildlichen Entwicklungen zu übernehmen. Der Mut, den eigenen Bedingungen zu folgen, erzeugt Schrullen. Aber nicht selten haben Personen die Partie aufgehalten und sie damit weitergebracht.
"Siehst du, sie sind schon heiter und vergnügt
Und stiften Ehen für die Zukunft schon.
Sie sind die Großen, haben zum Versöhnungsfest
Ein Opfer sich geschlachtet aus den Kleinen
Und reichen sich die annoch blut'ge Hand."
(Die Jüdin von Toledo, v. 1921-1925)
Grillparzer kippt; es ist ihm nicht gelungen, das Kaiserhaus zu feiern, ohne es dabei gleichzeitig zu kompromittieren. Nach einer läppischen Gewohnheit verleihen wir für regimekritische Bemerkungen Gutpunkte. Dabei wird übersehen, daß die wahrheitsgetreue Nachbildung der Untertanen schon alle Materialien enthält, auf die ein Aufstand zurückgreifen kann. Der Zusammenhang zwischen Grillparzers Lobpreis der Monarchie und der feinen Nase, mit der sie diesen Braten roch, wäre Stoff für eine Komödie.
Rudolf von Habsburg in "König Ottokars Glück und Ende" ist wirklich eine Seele von einem Mann - aber das Stück handelt vom Leben Ottokars und provoziert auch noch den lauten Unmut der böhmischen Kronländer. Bancbanus in "Ein treuer Diener seines Herrn" ist ein Muster an Pflichterfüllung - praktisch ein Muster ohne Wert. Die Interpreten haben sich abgemüht, am alten Mann, der seine Tochter-Gattin der Rettung von Gesetz und Ordnung opfert, sympathische Züge zu entdecken. Ein pikiertes Befremden ist nicht zu übersehen. Soviel Unterwerfung tut den Herrschenden nicht gut.
Die Strategie Kleists zur verzweifelten Verherrlichung der Weltordnung besteht darin, daß nach dem Gemetzel ein zauberhafter Kurfürst, Kaiser oder Gott den Knoten löst. Er ist durch nichts in den vorangegangenen Ereignissen verankert. Grillparzer ist einen bitteren Schritt näher an den Tatsachen, seine Kaiser sind Doppelwesen, Mensch und Gott, miserabel und umkleidet mit der unermeßlichen Würde ihres Amtes.
Darum kann noch so viel gepriesen werden, das beleuchtet immer zugleich die Unzulänglichkeit. König Andreas hat Bancbanus für die Zeit seiner Abwesenheit die Herrschaftsgewalt übertragen. Kaum ist er fort, geht alles drunter und drüber. Mit knapper Not verhindert Bancbanus den unwiderruflichen Bürgerkrieg. Eine Prozession von Missetätern, die er anführt, zieht dem König entgegen, als er rächend zurückkehrt. Sie unterwerfen sich dem königlichen Willen. Wer ist an dem Schlamassel schuld? Die Gattin und der Schwager des Herrschers; das hätte er doch wohl voraussehen können.
Schärfer wird das Motiv in der "Jüdin von Toledo" durchgespielt. Dort ist König "Alfons der Gute" der ärgste Sünder. Sein Liebesabenteuer mit Rahel ist eine pflichtvergessene Affäre, erst als seine Räte die Jüdin umbringen lassen, kommt er zur Vernunft. Die Schuldzuschreibungen und Selbstbeschuldigungen schlagen Purzelbäume. Erst nimmt die Königin und der Rat Aufstellung, um ihre Strafe zu empfangen. Der König befindet: "Kein Unterschied, denn Alle seid ihr schuldig." Darauf der Sprecher der Granden mit starker Stimme: "Und ihr nicht auch?". Ja freilich, beim König liegt der Ursprung des Rechts und auch der Übertretung.
Man kann Grillparzer also mildernde Umstände zugestehen, dennoch sind seine mahnenden Fürstenspiegel tief veraltet. Er bastelt an der Frage, wie die ehedem vertraute Ordnung von Natur und Staatswesen am Besten gegen die Zerrissenheit der neuen Zeit zu bewahren sei. In diesem Jahrhundert war die österreichische Antwort der Ständestaat. Ein solcher Konservativismus tut weh. Solidarität verbietet die Rechthaberei des Klassenkampfes, denn wir haben alle Dreck am Stecken.
Das klingt nicht sehr erhebend! - Eben. Grillparzer hat zwei Varianten des Sich-Beklagens zusammengezogen, das Raunzen und die Selbstbezichtigung. In seinem System dient das der Bekräftigung einer Gerechtigkeit, hinter deren Anspruch alle Menschen zurückbleiben. "Vor dem Gesetz" wird Kafka sagen und dazu dieselbe Demütigung eingesessener Amtsträger inszenieren. Es herrscht schon soviel Gleichheit, daß alle die Auswirkungen derselben Misere verspüren, doch auch noch soviel Unterschied, daß es sie auf wohlverteilten Plätzen der gesellschaftlichen Rangleiter trifft.
Der Ständestaat gehört mittlerweile der Vergangenheit an; aber nicht wirklich. Weiß Gott, von woher die Ungerechtigkeit in die Welt kommt, vom Klima, vom Kapital, vom Krieg. Dazwischen verhauen wir nach wie vor die wichtigsten Dinge und hören Wojtech Jaruzelski sagen "Das Wort 'Verzeihung' kann nichtssagend wirken. Ich finde jedoch kein anderes." Beamtenethos, das unbestechlich die Akten sichtet und korrekt bleibt, auch wenn kein Herrscher es befiehlt, ist ein faires Angebot. Die interimistische Verwaltung am Rande der Verzweiflung. Kaiser Rudolf II. ist ein solcher Funktionär: "Doch ward mir Fleiß und noch ein andres: Ehrfurcht."
Roland Barthes hat die Geste hervorgehoben, mit der Franz Schubert sich dem Wahnsinn verweigert und der Trauer zukehrt, die in allen steckt. Grillparzers Helden sind Sachwalter des Katzenjammers. Ein Leben in Schande ist ihnen nicht unmöglich. Besser, an der Seele Schaden zu nehmen, als die Mitwelt oder sich selbst über die Klinge springen zu lassen. Recht birgt den Keim zur Korruption, Gnade liefert uns der göttlichen Barmherzigkeit aus; eine schöne Bescherung.
"So habe denn was trotzend du gewollt:
Den Tod. Ich aber scheide jetzt von dir;
Auf immerdar. Es ist das letztemal
In alle Ewigkeit das letztemal
Daß ich zu dir nun rede mein Gemahl."
(Medea, v. 2333-2337)
Grillparzer schmerzt; zeitlebens hat er sich unter Strapazen arrangiert, nur seine männliche Egozentrik ist ungebrochen geblieben. Frauen gegenüber ist der gesamte verkorkste Triebhaushalt des hyper-sensiblen Biedermaier-Beamten manifest. Seine Geliebten sind die überstandenen Revolutionen und die schönen Wilden. Ungeniert mutet er ihnen seine Eigenheiten zu. Das setzt sich in Szenen um, die gestern erdacht sein könnten.
Etwa die folgende Beziehungskiste. Ottokar hat seine Alte fortgeschickt und sich an ihrer Stelle eine rassige Ungarin geholt. Nur leider ist er ihr zu fad und fahrig, sie läßt sich mit dem Nihilisten aus der Nachbarschaft auf ein Verhältnis ein. Zu allem Überdruß geht in der Firma alles schief. Ottokar wankt tröstungsbedürftig nach Hause. Kunigunde reagiert eiskalt: Schleich dich, ich brauche keinen Waschlappen als Mann; und fort ist sie. Was bleibt ihm über, als mit einer Verzweiflungstat ihre Achtung zurückzugewinnen?
Er läßt sie rufen und fragt lauernd, ob sie ihm zutraut, das Kompromißangebot seines Chefs auszuschlagen. - Das traust du dich nie! "So lang Ihr Euch nicht von der Schmach gereinigt, | Betretet nicht als Gatte mein Gemach." Also reißt Ottokar das Dokument entzwei. "Nun erst willkomm ich Euch!" sagt Kunigunde. Aber der Psychoterror ist damit nicht zu Ende. Jetzt hat der Mann, der sich soeben das eigene Grab geschaufelt hat, wieder Oberwasser. "Ich sehe Blut an deinen weißen Fingern, | Zukünftiges Blut! Ich sag: berühr mich nicht." Die beiden lassen einander nichts nach. Ottokar übernachtet auf der Couch eines alten Geschäftsfreundes.
Patriarchalische Verhältnisse bedeuten nicht unbedingt, daß Männer kommandieren. Sie bestimmen einen Rahmen, in dem die Schwächen beider Geschlechter zum gesellschaftlichen Vorteil des einen wirken. Die Frauen als Katalysatoren der ernüchternden Selbsterkenntnis ihres Geliebten, so zeigen es Grillparzers knieweiche und bockige Helden. Jason ist nicht Manns genug, zu seiner Frau zu stehen; Bancbanus opfert seine einem Lüstling; Alfons der Gute kann Rahel nicht vor den Würdenträgern seines Reiches schützen. Der traurige Überrest Mann ist dennoch besser dran.
"Sind es aber gute, wohlwollende, etwa gar Personen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, so gerate ich in einen Zustand der Abspannung, der sich nur durch die Willkürlichkeit der Bewegung vom Schlafe unterscheidet." Das sagt Grillparzer in der "Selbstbiographie" vom Verhältnis zu adeligen Gönnern, aber es gilt ebenso für Frauen. Und während er den Grafen gegenüber immer irgendwie gezwungen ist, den Umstand zu vertuschen, hat er ihn den Geliebten gegenüber ausgespielt. Entweder kaum erreichbar und Stimulus für die Phantasie, oder Hausfrau und damit sexuell außer obligo. Aus dieser Klemme hilft keine Haupt- und Staatsaktion.
"Wir glühten, aber ach, wir schmolzen nicht." Die Liebe ist ein temperiertes Feuer. Der Wahnsinn liegt nicht in der Selbstpreisgabe, sondern im Versuch, sich mit der Störung lebendig zu erhalten. Einmal hat Grillparzer die Zusammenhänge in ihrer ganzen Breite auseinandergelegt. Es ist neben Kleists "Käthchen von Heilbronn" und "Penthesileia" das großartigste deutschsprachige Geschlechter-Drama des 19. Jahrhunderts geworden, "Libussa", die Geschichte der Ehe mit einer idealisierten Frau.
Sie ist Königstochter, der Mann ein Bauer. Nur in Verletzung der Grenze zwischen Mythologie und Alltagsbedürfnis treffen Libussa und Primislaus überhaupt aufeinander. Die Begegnung mit dem anderen Geschlecht bringt der Frau die Herrschaft über das Reich, dem Mann ungestillte Sehnsucht. Was solche Episoden normalerweise bewirken, wird genau auf den Kopf gestellt. Aber wir sind erst im 2. Akt. Das Matriarchat der wohlmeinenden Fürstin ist nur eine Zwischenstation im Geschichtsverlauf, den letztlich doch die freigesetzte maskuline Energie bestimmt.
Primislaus kommt aufgeputzt wie ein junges Mädchen zu seiner Herrin, deren Gemahl er werden soll. Sie spricht in Rätseln, er spricht in Rätseln, beide können von ihrem Stolz nicht lassen. Die Machtübergabe, die Grillparzer nach der Logik des Dramas bewerkstelligen muß, ist ihm psychologisch unzugänglich; es gibt keinen guten Grund zur Unterwerfung der Frau durch den Mann. Aber so ist es nun einmal: "Indem sie Primislaus Hand ergreift und halb das Knie beugt, das Volk aber kniet, fällt der Vorhang" des 4.Akts.
Damit sind alle Requisiten beisammen, die Grillparzer benötigt, um Visionen zu produzieren. Ein Fürst, den die göttliche Ordnung überfordert; ein Mann, der kurzsichtig dem Fortschritt nachjagt; die Frau als Opfer, die dem Wohlergehen der Bürger die Weihe tiefer Einblicke in das Verlorene gewährt. Libussa spricht sterbend Grillparzers Vermächtnis. Es spitzt sich auf einen zum Weinen lächerlichen Satz zu. "Der Mensch ist gut, er hat nur viel zu schaffen." Die Triebfeder eines Lebens zeigt sich schlagartig unverhüllt. Dann ist gleich wieder von Demut als oberster Gottheit die Rede; Grillparzer scherzt.