EUTHANASIA

 

DISSERTATION

 

zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie

an der

Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

 

 

 

 

 

eingereicht von

 

Robert Hammer

 

 

 

Wien, Dezember 1997


 

 

 

 

 

 

 

 

EUTHANASIA

 

 

Eine philosophische Untersuchung

der

Euthanasieproblematik

unter besonderer Berücksichtigung

der

Singerschen Ethik

und der

existenzial-ontologischen Analyse Heideggers


 

Einleitung............................................................................................ 6

I. KAPITEL: Die Ethik Peter Singers............................................................... 7

1. Abschnitt: Das Ethikverständnis Singers...................................................... 7

2. Abschnitt: Die leitenden Prinzipien der Singerschen Ethik................................ 13

§ 1 Interesse..................................................................................... 13

§ 2 Der Utilitarismus........................................................................... 14

§ 3 Das Ideal der Gleichheit; Prinzipien...................................................... 15

§ 4 Zweck und Mittel........................................................................... 16

Demokratie - ziviler Ungehorsam.......................................................... 18

§ 5 Wert des Lebens und das Personalitätskriterium....................................... 18

§ 6 Evaluierungskriterien...................................................................... 20

3. Abschnitt: Die Verfügbarkeit des menschlichen Lebens................................... 21

§ 1 Der menschliche Fötus.................................................................... 21

§ 2 Das menschliche Neugeborene........................................................... 22

§ 3 Euthanasieformen.......................................................................... 22

a) Die freiwillige Euthanasie (voluntary euthanasia)..................................... 22

b) Die unfreiwillige Euthanasie (involuntary euthanasia)............................... 25

c) Die nichtfreiwillige Euthanasie (nonvoluntary euthanasia).......................... 26

d) Aktive und passive Euthanasie.......................................................... 27

§ 4 Das Argument der schiefen Bahn........................................................ 29

4. Abschnitt: Die Rezeption der Singerschen Ethik............................................ 29

§ 1 Die hermeneutische Rezeptionsproblematik............................................. 30

§ 2 Die öffentliche und akademische Rezeption der Singerschen Ethik.................. 32

5. Abschnitt: Änderungen zwischen den beiden Originalausgaben.......................... 35

II. KAPITEL: Allgemeine Kritik der Singerschen Ethik......................................... 36

§ 1 Der Universalitätsbegriff Singers........................................................... 36

§ 2 Interesse als grundlegendes Kriterium der ethischen Entscheidung..................... 38

a) Das individuelle Interesse................................................................... 40

b) Die kollektiven Interessen.................................................................. 41

c) Der quantitative Interessensaspekt......................................................... 46

d) Der qualitative Aspekt von Interesse...................................................... 50

e) Interesse als fundamentales ethisches Prinzip............................................ 52

§ 3 Personalität als ethisches Kriterium......................................................... 55

a) Die Grenze zwischen Tier und Mensch................................................... 55

b) Personalität des Homo Sapiens............................................................ 58

Potentialität................................................................................... 63

c) Der Personenbegriff Kants................................................................. 67

d) Kritik des Personalitätskriteriums......................................................... 69

III. KAPITEL: Euthanasie........................................................................... 74

1. Abschnitt: Allgemeine Exposition............................................................ 74

§ 1 Geschichtliche Entwicklung des Euthanasiebegriffs................................... 74

§ 2 Die kontemporäre Situation............................................................... 81

§ 3 Der Suizid................................................................................... 82

a) Die Einstellung zum Suizid im europäischen Denken................................ 83

b) Der Suizid aus psychologischer Sicht.................................................. 87

c) Der Selbstmord bei Kant................................................................. 89

d) Das japanische Suizidverständnis...................................................... 93

§ 4 Der Tod in der europäischen Geschichte,............................................... 99

§ 5 Die Todesthematik in der europäischen Philosophie,................................ 118

a) Metaphysische Todesmodelle.......................................................... 119

b) Das neue Denken........................................................................ 128

c) Der natürliche Tod...................................................................... 134

d) Euthanasie und Freitod................................................................. 136

2. Abschnitt: Euthanasie als partikuläres ethisches Problem................................ 138

§ 1 Analyse der Euthanasieproblematik.................................................... 138

§ 2 Das absolute Tötungstabu als Paralogismus........................................... 140

Die Frage der Moral in ethischen Grenzsituationen.................................... 150

§ 3 Kritik des Singerschen Euthanasiebegriffs............................................ 153

a) Freiwillige Euthanasie.................................................................. 154

b) Unfreiwillige Euthanasie............................................................... 164

c) Nichtfreiwillige Euthanasie............................................................ 165

§ 4 Gefahren von Euthanasie für Sozietät und Individuum.............................. 175

§ 5 Solidarität.................................................................................. 178

§ 6 Der Sinn von Existenz und Euthanasie................................................. 181

a) Die Todeskonzeption Heideggers..................................................... 181

b) Dasein und Personalität................................................................ 188

c) Der Sinn von Tod - der Wert von Euthanasie........................................ 189

d) Conclusio................................................................................ 190

IV. KAPITEL: Warum Euthanasie? - Resümee................................................. 191

Literaturverzeichnis............................................................................ 201

Lebenslauf......................................................................................... 203


 

“Es ist überall nichts in der Welt, ja über­haupt auch außerderselben zu denken mög­lich, was oh­ne Einschränkung für gut könnte gehalten wer­den, als allein ein guter Wille.”

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sit­ten,  BA 1,2

 

 

Einleitung

 

Euthanasie zeigt sich als zeitgenössisches Problem, welches aufgrund des fort­schrei­tenden tech­nologischen Potentials der modernen Medizin akut wurde, die dem Menschen einer­seits sein Sterben zu verwehren vermag, andererseits aber in der palliativen Medizin keine be­frie­digenden Resul­tate zei­tigt, wodurch diese Entwicklung eine Tendenz zur Inhumani­tät auf­weist. Weltweit wird Euthanasie von Ärzten illegal betrieben und der Ruf nach Le­ga­lisierung von Euthanasie wurde immer lauter. Die Lösungsversuche reichen von Straf­frei­heit bei Ein­haltung bestimmter formaler Prozeduren wie in den Niederlanden bis zum Ver­such, Eu­tha­nasie generell zu legalisieren wie im Rights of the Terminally Ill Act des Nord­ter­ri­to­riums Australiens.

In dieser Arbeit wird versucht, die philosophischen Aspekte der Euthanasieproblematik auf­zuzeigen und auf ihre ethische Relevanz zu untersuchen. Als Ausgangspunkt dient die Ethik Peter Singers, welche mit ihren radikalen Positionen im deutschsprachigen Raum Auf­sehen er­regte und Proteste hervorrief. Es werden Bezüge zur historischen Entwicklung diverser To­des­bilder hergestellt und die Einstellungen zum Suizid in Europa und der japa­nischen Tra­di­tion als euthanasierelevante Phänomene aufgezeigt. Besonders berück­sichtigt wurden phi­lo­so­phische Lehren vom Tod, da Euthanasie als Form des Freitodes nicht ohne Be­zug auf eine all­gemeine Thanatologie adäquat untersucht werden kann und der Tod in der Philoso­phie einen besonderen Stellenwert einnimmt. Berücksichtigt wurden aber auch Un­ter­suchungs­er­geb­nisse der Psychothanatologie und der modernen Sterbeforschung. Als tiefer­liegende Be­grün­dungs­struktur wurde die existenzial-ontologische Analyse Heideg­gers herangezogen.

 

Untersucht wurde, ob Euthanasie ethisch begründbar ist.

Gesucht wurden relevante Krite­rien.

Gestellt wurde die Frage nach dem Sinn von Leid und Tod.


I. KAPITEL: Die Ethik Peter Singers[i]

 

Der australische Philosoph Peter Singer veröffentlichte 1979 seine Arbeit Practical Ethics und erhob den Anspruch, damit Ethik auf eine neue Basis gestellt zu haben. 1984 erfolgte eine deutsche Übersetzung. Diese Veröffentlichung erregte Aufsehen und führte zur soge­nannten Singer-Affäre, da Singer Tabu-Themen wie Euthanasie, Abtreibung, Infantizid, etc., aufgriff und vorbehaltslos nach Kriterien seine Ethik diskutierte.

Die nachfolgende Darstellung der Lehre Singers erfolgte nach der Maxime, das Wesent­li­che dieser Lehre zu erfassen und die hermeneutische Authentizität dieses Werkes zu be­wahren.

 

 

1. Abschnitt: Das Ethikverständnis Singers

 

 

Singer reflektiert zwei Ansätze zur Begründung ethischen Handelns:

 

Die Deontologie - ein System nach Regeln - löst ethische Konflikte durch das Finden von neuen und komplizierteren Regeln. Dies führt zu einer hierarchischen Normenstruktur und zu nackten Formalismen, welche zwar mit den verschiedenen ethischen Theorien kompa­ti­bel sind, jedoch keine Leitung für die Lebensführung bieten.

 

Der Konsequentialismus beginnt bei den Zielen und nicht bei der Anwendung von Regeln. Die Handlungen (actions) werden dann adäquat modifiziert. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in der Praxisnähe. Einem Konsequentialisten kann niemals Realitätsmangel oder ein rigides  Anhaften an lebensfremden Idealen vorgeworfen werden. Die bekannteste konse­quen­tiali­sti­sche Theorie ist der Utilitarismus.

 

Was Ethik im Verständnis Singers nicht ist:

 

          -           ein Normensystem, das auf Sexualmoral restringiert ist.

          -           ein ideales Normensystem, welches in der theoretischen Grundlage edel, in

                                    der prak­tischen Anwendung aber unbrauchbar ist.

          -           nicht auf Religion beschränkt.

          -           relativistisch und subjektiv.

 

Die übliche Differenzierung zwischen Personen, welche an moralische Grundlagen glau­ben und danach leben und Personen, die keine solchen Grundsätze vertreten (has no such belief)  und deshalb ihren Handlungen keine Restriktionen auferlegen, vermischt zwei Po­sitionen:

 

                                    A)                                                                        B)

                        Personen, welche                                           Personen, welche keine

                 an moralische Grundsätze                                    moralischen Grundsätze

                 glauben und danach leben.                                 vertreten und ohne jegliche

                                                                                                 Restriktionen leben.

 

                a) sind subjektiv überzeugt,                                a) leben nach irgendwelchen

              daß sie nach richtigen Normen                                     ethischen Normen.

                                 leben.

 

                b) sind subjektiv überzeugt,                                   b) leben nach überhaupt

              daß sie nach richtigen Normen                                   keiner ethischen Norm.

                   leben, diese sind jedoch

                          falsch (Irrtum)

 

Die Rechtfertigung des eigenen, normativen Verhaltens mit Eigeninteresse stellt keinen hin­reichenden Grund für ethisches Handeln dar. Handlungen aus Eigeninteresse müssen eine brei­te, ethische Basis haben. Ethik muß unter dem Aspekt der Universalität betrachtet wer­den, worin schon Moses und das Christentum mit Philosophen wie Kant, Hare, Hut­che­son, Hume, Adam Smith, Jeremy Bentham, J.J.C. Smart, John Rawls, Jean-Paul Sartre und Jürgen Haber­mas übereinstimmen. Ethik fordert von uns, das Ich und Du zu tran­s­zendieren und zu einem uni­versalen Gesetz zu gelangen, zu einer Beurteilbarkeit nach Kri­terien der Universalität, zum Stand­punkt eines unparteiischen, d.h. idealen Beobachters. Die Proble­matik besteht darin, daß kein Versuch einer allgemein akzeptierten, ethischen Theo­rie jemals gelungen ist.

 

Der universale Aspekt von Ethik ist für Singer ein überzeugender Grund, die utilitaristi­sche Po­si­tion einzunehmen.

 

Ethische Sichtweisen sind das Ergebnis des sozialen Lebens und haben die Funktion, Werte zu fördern, welche allen Mitgliedern der Gesellschaft gemein sind.[ii] Ethisches Ur­tei­len för­dert diese Werte, indem es durch Lob und Tadel Handlungen mit guter oder böser Tendenz regu­liert. Gewissen zu haben (conscientiousness; RA: Pflichttreue) ist ein beson­ders nütz­li­ches Motiv aus Sicht der Gemeinschaft, da Menschen mit Gewissen die Werte ihrer Ge­sell­schaft akzeptieren und aus Pflicht handeln, obwohl sie weder eine großzügige (gene­rous), noch mitfühlende (sympathetic) Disposition aufweisen.

Selbstzweck einer moralisch richtigen Handlung, d.h. die moralisch richtige Handlung wird um ihrer selbst willen gesetzt, wird als Motiv des richtigen Handelns propagiert, da Men­schen mit anderen Handlungsmotiven, wie etwa Eigeninteresse, nur aus egoistischen Moti­ven han­deln. Gewissen (zu haben) ist deshalb ein Lückenbüßer, um Menschen zu ge­sell­schaft­lichen Wer­ten zu motivieren, auch wenn sie selbst keine natürlichen (natural) Tu­genden wie Groß­zü­gigkeit, Mitgefühl, Ehrlichkeit, etc. besitzen. Gewissen wird deshalb als intrin­sischer Wert pro­pagiert.

 

Die Auffassung, daß eine Handlung nur dann einen moralischen Wert hat, wenn sie um ih­rer selbst willen getan wird, ist in unserer Auffassung von Ethik so eingebettet, daß Er­wä­gun­gen aus Eigeninteresse (self-interest) eine Handlung ihres moralischen Wertes be­rau­ben. Nach Singer ist dieser Ethikbegriff, der den moralischen Wert nur im Selbstzweck ei­ner Handlung ohne weiterführendes Motiv sieht, irreführend.  Aus der Perspektive der Ge­sell­schaft wün­schens­wert, stellt er einen “Vertrauenstrick” dar: Das Hinterfragen der Nor­men unterbleibt (A 211). Daß diese Sicht von Ethik nicht zu rechtfertigen ist, geht schon daraus hervor, daß Ethik nicht rational begründet werden kann. Die rationale Be­gründung ethischer Normen kann über Kant bis zu den Stoikern zurückverfolgt werden. Auf diese Weise kann aber auch z.B. Egois­mus rational universalisiert werden.  Als Beispiel führt Singer den nicht-universalisier­baren Im­pe­rativ “Laß jeden tun, was in mei­nem Interesse liegt!” an und wandelt ihn in den Impe­rativ eines universalisierbaren Egois­mus “Laß jeden tun, was ein seinem eigenen Interesse liegt!” um. Jeder rational Denkende kann so die rein egoistische Aktivität eines anderen  als ra­tional gerechtfertigt akzeptieren. Das moderne Geschäftsleben ist eine solcher­art akzeptable Basis.

 

Die Universalität ethischer Urteile muß aber ein höheres Gewicht als die Universalität ra­tio­naler Urteile haben. Der eigene Vorteil einer Handlung kann als rationale Begründung schlüs­sige Gültigkeit besitzen, kann aber niemals eine ethische Begründung darstellen. Zwi­schen Ver­nunft und Ethik kann kein verbindendes Glied hergestellt werden. Das größte  Hindernis ist die Natur der praktischen Vernunft. Die Argumentationen Humes und Thomas Nagls zei­gen unüberwindbare Hindernisse in der Kompatibilität von rationalen und ethi­schen Hand­lungen auf. Bei Hume dient die Vernunft lediglich  zur Wahl der Mit­tel: Die Zwecke wer­den durch unser Wollen und unsere Wünsche festgelegt. Bei den Ar­gumenten Thomas Nagls, Al­truis­mus durch Überwindung der individuellen Schranken in den Lang­zeitinteressen zu fin­den, wird gerade die individuelle Singularität in der Dif­fe­renz zum ande­ren aufgezeigt.

 

Die Antagonismen zwischen ethischen Handlungen und Eigeninteresse wirft die Frage nach dem Motiv moralischen Handelns auf: Warum soll man moralisch handeln?

Philosophen haben diese Frage als logisch falsch und irreführend zurückgewiesen.  Sie aber als bedeutungslos zu verwerfen, kann die Schwierigkeit im ethischen Schlußfolgern eben­falls nicht lösen. Durch das Verwerfen dieser Frage wird die Universalisierbarkeit ethischer Urteile un­möglich. Die Frage “Warum soll ich rational sein?” ist logisch nicht schlüs­sig, da die Be­ant­wortung Rationalität voraussetzt und dadurch einen Zirkelschluß dar­stellt. Analog dazu wür­de die Frage “Warum soll ich moralisch handeln?” bei Inter­pre­tation des Modal­verbs “soll” als moralisches Sollen nach den moralischen Gründen für das Moralisch-Sein fragen. Dies ist absurd. Nachdem entschieden worden ist, daß eine Hand­lung eine morali­sche Ver­pflich­tung darstellt, ist keine weitere moralische Frage zu stellen.[iii] Eine begrün­dende Mo­ti­vie­rung von ethischem Handeln mit Eigeninteresse wür­de ihren  eigenen Zweck (aim) nicht ver­nichten.

Platon läßt Sokrates argumentieren, daß Tugend die verschiedenen Elemente der eigenen Per­sönlichkeit zur Harmonie führe, was eine notwendige Bedingung für das eigene, emo­tio­nale Glück (happiness) sei. Viele Philosophen sind dieser Argumentation gefolgt.

 

Zwei Theorien vertreten die These, daß ethisches Handeln und Eigeninteresse zusam­men­fal­len:

 

1.  Wir alle haben wohlwollende und mitfühlende Inklination, welche uns um das Wohl des anderen sorgen lassen.

2.  Wir haben ein natürliches Gewissen, welches Schuldgefühle in uns wachruft, wenn wir etwas Falsche tun.

 

Die mögliche Argumentation wäre, daß Wohlwollen und Mitgefühl notwendige Be­din­gun­gen für Freundes- und Liebesbeziehungen sind und daß genuine Akzeptanz ethischer Nor­men ein of­fenes und ehrliches Leben ermöglicht, wodurch Schuldgefühle wegfallen. Dies ermöglicht emotionales Glück. Psychologische Untersuchungen weisen auf einen solchen Ansatz hin, auf­grund der Komplexität der menschlichen Natur sind aber Gene­rali­sie­run­gen, um glücklich zu werden, zweifelhaft. Emotionales Glück kann nicht als Grundlage ei­ner ethischen Moti­va­tion herangezogen werden, da die meisten sowieso dieses Ziel verfol­gen.[iv] Die Fragen ei­ner ethi­schen Weltanschauung (ethical point of view) als uni­versale Sicht ist je­doch mit der Pro­ble­matik des emotionalen Glücks verknüpft.

Die meisten Menschen, welche über ihr Leben nachdenken, wollen eine Bedeutung in ih­rem Le­ben sehen.[v] Religion läßt eine Bedeutung unseres Lebens nur als Bedeutung für den Schö­pfer­gott zu, eine atheistische Weltsicht nur eine evolutionäre Erklärung, daß die Ent­wick­lung von Präferenzen zu Sinn und Bedeutung der eigenen Existenz führen können. Der Mensch als Gemeinschaftswesen könne kaum emotionales Glück finden, wenn er seine ei­ge­ne Lust zum Selbstzweck erheben und seinen Mitmenschen und seiner Umwelt nur Gleich­gül­tigkeit entgegenbringen würde. Die Lust (pleasures; RA: Vergnügungen) würde bald leer und uninteressant werden. Wir finden Erfüllung und emotionales Glück, indem wir eine Be­deu­tung für unser Leben jenseits unserer eigenen Lust suchen.

 

Das Paradoxon des Hedonismus besagt, daß diejenigen, welche sich das eigene, emotio­nale Glück als Ziel setzen, oft in ihrem Streben scheitern, während andere bei der Verfol­gung an­de­rer Ziele ihr (emotionales) Glück finden. Evolutionär gesprochen könnten wir sagen, daß emo­tionales Glück funktional eine innere Belohnung für unsere Erfolge dar­stellt. Unser ei­ge­nes Glücklich-Sein ist deshalb nur ein Nebenprodukt, eine innere Be­loh­nung für unsere Er­fol­ge.

Dies ist die Differenz des Lebens eines normalen Menschen zum Leben eines Psycho­pathen: Der Psychopath kann in seinem verantwortungslosen, ungebundenen Leben zwar glück­lich sein, aber keine Bedeutung darin finden, weil er wegen der Lust des Augenblicks intro­ver­tiert in sich hinein und nicht nach außen, auf langfristige und weitreichende Ziele, sieht.

Um Bedeutung in  unserem Leben zu finden, müssen wir auch das Leben des klugen Ego­isten transzendieren, welcher zwar im Gegensatz zum Psychopathen Langzeitpläne ver­folgt, aber nur mit seinen eigenen Interessen beschäftigt ist. So arbeiten die erfolgreichen Ego­isten auch noch nach Erreichung ihres Zieles weiter - weil sie nicht glücklich sind; wie z.B. Men­schen, die sich in ihrem Geschäft abrackern, sich immer vorsagend, daß sie dies nur so lange ma­chen würden, bis sie genug Geld für ein bequemes Leben hätten und die dann noch lange, nach­dem sie ihr Ziel erreicht haben, weiterarbeiten.

 

Hier beginnt Ethik eine Rolle im sinnvollen Leben zu spielen. Die ethische Weltan­schau­ung ist eine Methode, unsere egozentrische “Innenschau” zu transzendieren und zur mög­lichst all­ge­meingültigen Betrachtungsweise einer universalen Sicht zu gelangen.[vi]

Für Singer kann uns Rationalität, welche das Wissen um uns selbst (self-awareness; RA: Selbst­­bewußtsein) und die Reflexion über die Natur und das essentielle Sein (point) unse­rer ei­genen Existenz beinhaltet, die Enge unserer eigenen Existenz transzendieren lassen, wo­bei dies nicht ein notwendiger Prozeß ist.[vii] Briefmarkensammeln mag manchem einen Le­bens­sinn geben. Dies ist nicht irrational, aber andere wachsen aus diesem Stadium hin­aus, wer­den sich ihrer Stellung in der Welt bewußt und denken über ihre Absichten nach. Für diese Men­schen offeriert eine ethische Weltsicht Bedeutung und Sinn im Leben, aus welcher man nie hinauswachsen kann.

 

 

2. Abschnitt: Die leitenden Prinzipien der Singerschen Ethik

 

§ 1 Interesse

 

Interesse ist für Singer die Basis ethischen Denkens.  Interesse - bei einer weiten Defi­ni­tion: “et­was, alles, was Menschen begehren” - wird im Substrat als Wunsch, Begierde (de­sire) de­finiert. Dieser Begriff kann nicht nur auf menschliche Interessen restringiert ver­wendet werden. Auch Tiere können Interessen haben. Die Fähigkeit, sich zu freuen und zu lei­den, ist die notwendige Bedingung von Interesse. Empfindungsfähigkeit (sentience) stellt die Grenze zur unbelebten Natur dar. Dinge ohne Empfindungsfähigkeit können kei­ne Interes­sen haben. Es wäre Unsinn, einem Stein Interessen zuzuschreiben. Interesse ist In­ter­esse - gleichgültig, ob es sich um menschliche oder nichtmenschlich-tierische, oder um Interessen selbstbewußter oder nicht-selbstbewußter Tiere handelt.[viii] Die wichtigsten mensch­lichen In­teressen, wie Schmerz­vermeidung, persönliche Entwicklung, Befriedigung der grundlegen­den Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft, persönliche Beziehungen zu unterhalten,  die Freiheit, seine ei­genen Projekte zu verfolgen, etc., sind allen Menschen ge­meinsam. Interes­sen in diesen Be­rei­chen dürfen nicht aufgrund von Rasse, Intelligenz, Geschlecht, etc., miß­achtet werden. Schmerz- und Leidminimierung sind von derart fun­damentaler Bedeutung, daß sie auch als In­teressenssphäre anderer Speziesformen gelten kön­nen. Im ethischen Den­ken werden die In­teressen aller, die durch eine Entscheidung bzw. Handlung betroffen wer­den, in Betracht ge­zo­gen und nicht nur die eigenen. Dies er­fordert, die Interessen aller Be­troffenen ab­zu­wägen, um eine Interessensmaximierung aller zu erreichen.

 

 

§ 2 Der Utilitarismus

 

Singer steht in der empiristischen Tradition und gibt dem konsequentialistischen Ansatz von Ethik den Vorzug. Die von ihm geforderte Universalität des ethischen Denkens wird für ihn durch das utilitaristische Denken repräsentiert.

Verschiedene ethische Ideale, wie individuelle Rechte, die Heiligkeit (sanctity) des Le­bens, Gerechtigkeit, Reinheit, etc., hätten zwar universale Gültigkeit, seien aber in ver­schiedenen Be­reichen mit dem Utilitarismus inkompatibel. Die utilitaristische Position ist nur eine Mi­ni­malbasis, eine erste Basis, die wir erreichen, wenn wir unsere auf Eigeninter­esse basie­ren­den Ent­scheidungen universalisieren.[ix] Um nicht-utilitaristische Moralregeln oder Ide­ale zu ak­zep­tieren, müßten jedoch noch gute Gründe angeführt werden, damit sie akzep­tiert werden könnten.

Im klassischen Utilitarismus, wie bei Bentham definiert und von anderen Philosophen wie J.St. Mill und Henry Sidgwick weiterentwickelt, werden Handlungen nach ihrer Tendenz, Lust (pleasure) und emotionales Glück zu maximieren bzw. Schmerz und emotionales Un­glück zu minimieren, beurteilt.

Singer bevorzugt den Präferenzutilitarismus. Nach einer anderen Notion wird er als öko­no­mi­scher Utilitarismus bezeichnet. In diesem werden als Entscheidungskriterien nicht Lust und Schmerz, sondern die Präferenzen eines Wesens herangezogen, welches durch eine Hand­­lung oder deren Konsequenzen betroffen wird.

Im methodischen Verfahren machen wir im ersten, plausiblen Zug eine “Bestands­auf­nah­me” der Interessen einer Person, wägen sie ab (balance) und ziehen sämtliche relevante Fak­ten in Be­tracht (reflection), die eine Person präferiert. Nach dem Präferenzutilitarismus ist eine Hand­lung falsch, wenn sie gegen die Präferenzen eines Lebewesens verstößt, es sei denn, die­se Präferenz wird durch andere Präferenzen aufgehoben (outweighed).

Nicht im klassischen, sondern im Präferenzutilitarismus ist die Universalisierbarkeit un­se­rer In­ter­essen gegeben.

 

 

§ 3 Das Ideal der Gleichheit; Prinzipien

 

Das Prinzip der Gleichheit kann nicht auf faktische Gleichheit[x] basiert werden.

 

Das erste Prinzip, welches Singer als das grundlegende Prinzip der Gleichheit formuliert, ist das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung[xi] (the principle of equal consi­dera­tion of interests, A 19; RA 32: das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen). In die­sem Prin­zip werden Interessen unparteiisch - wie auf einer Waage - abgewogen.

Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung ist ein grundlegendes, moralisches Prin­­zip, welches eine Form von Gleichheit herstellt, die alle Menschen umfaßt, trotz aller Unter­schie­de, welche unter ihnen existieren. Dieses Prinzip kann nicht auf die Spezies Mensch ein­ge­schränkt werden. Es erstreckt sich als gesundes, moralisches Gleichheits­prin­zip auf die Be­zie­hung zu anderen Speziesformen, die (nichtmenschlichen) Tiere, wobei die Empfin­dungs­fähigkeit die Grenze zur leblosen Welt  der Gegenstände bildet. Schmerz und Leid sind allen Le­be­wesen gemeinsam und deshalb ist das Prinzip der Gleichheit in betreff auf das Zufügen von Schmerzen ziemlich eindeutig.

 

Das zweite Gleichheitsprinzip ist das Prinzip des sinkenden Grenznutzens (the principle of declining marginal utility, A 22). Es handelt sich hier eigentlich um ein ökonomisches Prin­zip, mit welchem ausgedrückt wird, daß in einer bestimmten Situation eine geringe Menge wich­tiger ist, als eine große. So ist für jemanden, der mit 200 Gramm Reis pro Tag aus­kom­men muß, eine zusätzliche Menge von 50 Gramm viel, während dies für jemanden mit einem Kilo­gramm pro Tag eine unbedeutende Menge darstellt.

Singer sieht in der instrumentalen Anwendung dieser beiden Prinzipien die Möglichkeit einer egalitären Verteilung der Güter. Gleichheit als grundlegendes, ethisches Prinzip wird auf die­se Weise eher erreicht, als die derzeit proponierte Chancengleichheit. Das Prinzip der Chan­cen­gleichheit (principle of opportunity; A 34) entspricht zwar der gängigen Auf­fas­sung, wird aber von Singer als unzureichend abgelehnt. Individuelle Differenzen und Un­ter­schiede in Ge­schlecht, Gene, Intelligenz, Mangel an Gelegenheit, verhindern das Er­reichen des Ideals der Gleichheit als ethisches Regulativ.

 

Das Prinzip der umgekehrten Diskriminierung (reverse discrimination; in B: affirmative ac­tion) stellt einen Verfahrensmodus zur Beseitigung sozialer Ungleichheit dar. Es wird be­son­ders in Bildung und Anstellungsverhältnissen angewendet.

So werden z.B. 16% der Studienplätze an einer Universität für schwarze Studenten re­ser­viert, auch wenn sie den Bestimmungen eines Numerus clausus nicht entsprechen. Für Sin­ger ent­spricht dieses Prinzip einem gesunden Gleichheitsprinzip und geht - richtig an­ge­­wen­det - mit dem Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung konform.

 

 

§ 4 Zweck und Mittel

 

Die Problematik der Zweck-Mittel-Relevanz kann nicht durch die simplifizierende Formel “Der Zweck heiligt die Mittel” erfaßt werden. Die richtige Frage ist nicht, ob der Zweck je­­mals das Mittel rechtfertigen kann, sondern welche Mittel durch welchen Zweck gerecht­fer­tigt werden. Singer meint im besonderen, ob die Zwecke, die er in den Practical Ethics ver­tritt, die  gleichwertige Interessensabwägung - unter Mißachtung der Kriterien wie Ras­se, Ge­schlecht oder Spezies -, liberale Abtreibungsgesetze, freiwillige Euthanasie (volun­tary eu­t­ha­na­sia) und die Reduktion der absoluten Armut, Mittel rechtfertigen, welche den ge­­wünschten Zweck (aim) zustande bringen.

 

Ethisches Urteilen darf nicht auf eine “innere Stimme” als Gewissen zurückgehen. Diese “Stim­me” ist eher das Ergebnis von Erziehung und Ausbildung als die Quelle einer ge­nuinen, ethischen Einsicht. Ethische Probleme müssen durch Reflexion gelöst werden, was in unserer Ver­antwortung als rationale Wesen (rational agent) liegt. Diese Differenz zwi­schen Ethik und Gesetz (Ethik d Gesetz) bedeutet aber nicht, daß das (juristische) Gesetz kein moralisches Gewicht hat. Trotz der sozialen Natur des Menschen ist es nötig, sich vor Angriffen unserer Mit­menschen zu schützen und dies geschieht besser durch ein eta­bliertes und allseits be­kan­ntes Gesetz, welches durch einen mit Autorität und ent­spre­chen­den Voll­zugs­vollmachten aus­ge­statteten Richter interpretiert wird, als durch irgend­welche Schutz­ge­sellschaften (vigilante organi­zations). Etablierte Entscheidungsverfahren sind notwen­dig, um Strei­tig­keiten ökono­misch und schnell zu lösen, da ansonst die strei­tenden Par­teien zur Ge­walt grei­fen. In diesem Sinne sind Gesetze und entsprechende Ent­schei­dungs­verfahren eine gute Sa­che.

 

Zwei Gründe sprechen für eine Unterordnung unter das Gesetz:

 

          1)  Durch das eigene Beispiel verhilft man dem Gesetz zu Respekt. Das Brechen des Ge­setzes gibt anderen ein schlechtes Beispiel und führt in extremen Fällen zu Bürger­krieg.

          2)  Wenn ein Gesetz effektiv sein soll, muß eine Maschinerie da sein, um Gesetzes­bre­­cher zu entdecken und zu bestrafen. Die Erhaltung dieser Maschinerie verursacht Ko­sten, wel­che von der Gemeinschaft getragen werden müssen.

 

 

 

 

Demokratie - ziviler Ungehorsam

 

In einem demokratischen System, in dem durch das Majoritätsprinzip die bestmögliche Basis für eine friedliche Ordnung der Gesellschaft in einem egalitären Zeitalter wie dem unseren ge­geben ist und in welchem Gesetze durch legale Verfahren abgeändert werden können, ist die Anwendung illegaler Mittel im Prinzip ungerechtfertigt. Das in der Demo­kratie ver­wirk­lich­te Majoritätsprinzip hat zwar substantielles Gewicht, die Mehrheit hat je­doch nicht immer recht. Eine Minderheit soll versuchen, bei einem moralischen Unrecht einen Umschwung der Ma­jo­ri­tätsmeinung mit legalen Mitteln  zu erreichen; sollte dies nicht ge­lingen, ist der zivile Un­gehorsam ein zwar illegales, aber demokratisch legitimes Mit­tel. In extremen Fäl­len, wie z.B. einem Bösen in der Größenordnung eines Genozid in Nazi-Stil ist jedes Mittel, auch Ge­walt, gerechtfertigt, und zwar auch dann, wenn die Mehr­heit dieses Böse billigt.

Ein konsequentialistischer Pazifist hat stichhaltige Gründe gegen Gewalt anzuführen, wie daß die Anwendung von Gewalt zu einem Gewöhnungseffekt führt. Wenn ein Mord verübt wur­de, wird der Widerstand zur Begehung neuer Morde geringer.  Der Verlauf der Ge­schichte spricht gegen die Anwendung von Gewalt. Sie kann nicht leicht gerechtfertigt wer­den, wenn sie gegen Gegenstände, noch weniger, wenn sie gegen empfindungsfähige We­sen gerichtet ist; oder die Gewalt gegen einen Diktator im Gegensatz zur unter­schieds­losen Gewalt gegen die allgemeine Öffentlichkeit. Man muß aber bei der Anwendung von Ge­walt differenzieren, ob es sich um eine generell vertretbare, oder um eine generell ver­dam­mens­werte Form von Ge­walt, wie die terroristische, handelt.

 

 

§ 5 Wert des Lebens und das Personalitätskriterium

 

Singer differenziert zwischen drei Formen des Lebens und proponiert eine hierarchische Wer­te­struktur:

 

          1)  Lebewesen ohne jegliches Bewußtsein - wie z.B. das von Unkraut, welches kei­nen in­trin­sischen Wert besitzt.

 

          2)  Lebewesen mit Bewußtsein, welche Lust und Schmerz empfinden können: Die mei­sten Tiere fallen in diese Kategorie, aber auch Menschen mit einer geistigen Behinde­rung und Neu­geborene. Das Kriterium für die Beurteilung des Werts dieser Lebensform ist die Fä­hig­keit, Lust und Schmerz zu empfinden. Wenn ein Lebewesen in der Zukunft Lust em­p­finden kann, wäre es falsch, dieses Lebewesen zu töten. Das gleiche Argument in be­zug auf Schmerz zeigt in die entgegengesetzte Richtung. Nur dann, wenn ein Lebe­wesen mehr Lust als Schmerz erfährt, kann dies als Argument gegen das Töten eines solchen Le­bewesens an­ge­führt werden.

 

          3)  Lebewesen mit Selbstbewußtsein, welche sich als Individuen (distinctive entity) mit Vergangenheit und Zukunft wissen. Singer greift mit diesem Kriterium auf John Loc­kes De­finition der Person zurück. Locke charakterisiert eine Person als denkendes, in­tel­li­gentes We­sen mit Identitätsbewußtsein, sowie zeitlichem und örtlichem Orien­tierungs­ver­mögen. Das Le­ben einer Person hat einen höheren Rang als das Leben anderer Lebe­we­sen, weil eine Per­son als selbstbewußtes Wesen aufgrund ihres Wissens um die Zukunft mehr leiden oder glück­licher sein kann als andere Lebewesen. Dieses Argument ist mit dem Prinzip der gleich­wer­tigen Interessensabwägung kompatibel.

 

Singer schließt sich dem Argument Tooleys an, daß nur Personen ein Recht auf Leben ha­ben.

Daß das Leben einer Person einen höheren Wert darstellt, als das Leben eines lediglich emp­­findungsfähigen Wesens, läßt sich durch vier mögliche Argumente darlegen:

 

          1)  Im Argument des klassischen Utilitarismus, daß selbstbewußte Wesen die Fähig­keit haben, ihren eigenen Tod zu fürchten und daß das Töten solcher Wesen negative Aus­wir­kun­gen auf die anderen hat.

          2)  Die präferenzutilitaristische Haltung, daß der Wunsch einer Person zu leben ge­gen ih­ren Tod abzuwiegen ist.

          3)  Die Theorie des Rechts, die nur demjenigen ein Recht einräumt, der auch den Wunsch dazu entwickeln kann. Dies bedeutet in bezug auf den Wert des Leben, daß nur der­je­nige ein Recht auf Leben hat, der die Fähigkeit besitzt, das Andauern seiner Existenz zu wün­schen.

          4)  Der Respekt vor der Autonomie bzw. der autonomen Entscheidung eines rational han­delnden Wesens (rational agent).

 

Die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch ist jedoch keine hinreichende Bedingung, um das Per­sonalitätskriterium zu erfüllen. Geistig Behinderte der Spezies Mensch erfüllen dieses Krite­rium nicht, während es bei verschiedene Tierarten sehr wohl zutreffen kann. Grenzen zwi­schen Mensch und Tier, die man glaubte, gefunden zu haben, erwiesen sich immer wie­der als falsch - wie die Verwendung bzw. Erzeugung von Werkzeugen oder die Ver­wen­dung von Sprache. Es wurden Tiere gefunden, die Werkzeuge verwendeten oder er­zeug­ten. Es gibt aber Hin­weise, daß Wale und Delphine eigene, komplexe Sprache haben. Schimpan­sen und Go­rillas haben die Zeichensprache der Taubstummen gelernt. Beobach­tungen von Jane Goo­dall lassen vermuten, daß Schimpansen nicht nur mit einem Gegen­warts­bewußt­sein, son­dern auch mit einem zeitlichen Orientierungsvermögen (in Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft) aus­gestattet sind. Das Leben dieser Tierarten fällt, da sie das Perso­na­litätskriterium er­füllen, in den Be­reich des speziell zu schützenden Lebens.

 

 

§ 6 Evaluierungskriterien

 

Bei Lebewesen mit Schmerz- und Lustempfindungsfähigkeit ist die zukünftige Lust das Kri­te­rium für den Wert des Lebens. Lust (pleasure) macht das Leben lebenswert. Es ist gut, den Be­trag der Lust (= Summe) in der Welt zu erhöhen. Es ist schlecht, ein angeneh­mes Leben (pleasant life) vorzeitig zu beenden. Diesem Ziel nähern sich zwei Betrach­tungs­arten auf ver­schiedene Weise:

 

In der Totalansicht (total view) wird die gesamte Summe - der absolute Betrag - von Lust als Eva­luierungskriterium herangezogen, wobei es gleichgültig ist, ob man den Betrag der Lust be­reits existierender Lebewesen erhöht oder die Anzahl der Lebewesen.

                                   

In der Vorausgesetzten-Existenz-Ansicht (prior existence view) werden nur Lebewesen zur Lust­maximierung in Betracht gezogen, welche bereits vor dem Zeitpunkt der Entscheidung exi­stierten oder wenigstens unabhängig von der Entscheidung lebten.

 

 

3. Abschnitt: Die Verfügbarkeit des menschlichen Lebens

 

§ 1 Der menschliche Fötus

 

Der menschliche Fötus hat keinen größeren Wert als der Fötus eines nichtmenschlich-tie­r­ischen Lebewesens. Da ein Fötus nicht das Personalitätskriterium erfüllt, hat er auch kein Recht auf Leben. Es ist unwahrscheinlich, daß ein Fötus von weniger als 18 Wochen über­haupt etwas fühlen kann, da das Nervensystem noch nicht vollständig entwickelt ist. Die­ses Leben hat keinen intrinsischen Wert. In der Zeit von 18 Wochen bis zur Geburt mag ein Fötus zwar Bewußtsein haben, besitzt aber kein Selbstbewußtsein. Eine Abtreibung in die­sem Sta­dium beendet zwar ein Leben von einigem intrinsischen Wert und soll nicht leicht­fertig durch­geführt werden, aber sie kann kaum verdammt werden, auch wenn sie zu einem sehr spä­ten Schwangerschaftsstadium aus trivialen Gründen durch­geführt wird. Das ent­scheidende Kriterium für die Abtreibung ist das Prinzip der Schmerz­ver­meidung. Aus den potentiellen Ent­wicklungsfähigkeiten eines menschlichen Fötus, wel­che die eines tie­rischen weit über­stei­gen, kann nicht geschlossen werden, daß er ein hö­heres Recht auf Le­ben hat.

Aus utilitaristischer Sicht besteht ein besonderer Schutz des Lebens nur für eine faktisch-exi­stierende, nicht für eine potentielle (werdende) Person. Diese Betrachtungsweise trifft sowohl für den klassischen Utilitarismus zu, der die Furcht des Einzelnen vor dem Getötet-Werden in Betracht zieht, als auch auf den Präferenzutilitarismus, welcher das Gewicht auf die Wünsche (desires) der Personen legt. Auch Tooleys Verbindung des Rechts auf Leben mit der Fähigkeit, sich ein Weiterleben wünschen zu können, und das Prinzip des Respekts vor der Autonomie treffen nur auf Lebewesen zu, welche zu dem betreffenden Zeitpunkt mit Identitäts- und Zeitbewußtsein ausgestattet sind, aber nicht auf solche, welche in die­sem Moment diese Bewußtseinsformen nicht aufweisen und niemals vorher die Fähig­keit hatten, sich selbst auf diese Weise zu sehen. Dies Kriterien treffen nicht nur auf tie­ri­sche, sondern auch auf menschliche Föten zu.

 

 

§ 2 Das menschliche Neugeborene

 

Das Personalitätskriterium ist auch auf neugeborene Menschen anzuwenden. Ein Baby im Al­ter von einer Woche ist kein rationales und selbstbewußtes Wesen. Es gibt viele Tiere, de­ren Ra­tionalität, Selbstbewußtsein, Wahrnehmungsvermögen (awareness), Empfin­dungs­fä­hig­keit, usw. einem menschlichen Baby weit überlegen sind. Die logische Konse­quenz der Argu­men­tation in bezug auf Föten führt zum Schluß, daß das Leben eines Neu­ge­borenen nicht als das Leben einer Person anzusehen ist. Das Leben eines Neugeborenen hat weniger Wert als das Le­ben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen. Aus evolutio­närer Sicht ist der instinktiv-emotionale Schutz für Kinder verständlich, das Tö­ten eines Er­wachsenen ist jedoch schwerwiegender.

Bei einer legislativen Regelung - im Sinne Singers - soll das (legalistische) Recht auf Le­ben einem Baby unmittelbar nach der Geburt abgesprochen werden. Singer schlägt einen Zeit­raum von ca. einem Monat vor, obwohl das Kind noch auf Jahre hinaus nicht das Per­so­nali­täts­kriterium erfüllt. Es besteht keine intrinsische Differenz zwischen dem Infantizid und der Ab­treibung, welche die Tötung eines Fötus darstellt.

 

 

§ 3 Euthanasieformen

 

Singer definiert Euthanasie nach dem Wörterbuch als “sanfter und leichter Tod”. Dieser Be­griff werde aber jetzt für das Töten derer verwendet, welche unheilbar krank seien und große Schmer­zen hätten bzw. Ungemach (distress) erleiden. Zweck ist, Leiden zu ver­mei­den. (A 127)

 

Singer unterscheidet drei Arten der Euthanasie:

 

a) Die freiwillige Euthanasie (voluntary euthanasia)

 

liegt vor, wenn eine Person den Wunsch äußert, daß man sie töte.

 

Als Beispiel führt Singer den Zygmaniak-Fall an: George Zygmaniak wurde bei einem Mo­tor­radunfall verletzt und war seit dieser Zeit vom Nacken abwärts gelähmt. Er hatte be­trächt­liche Schmerzen und sagte sowohl zum Arzt als auch zu seinem Bruder, daß er nicht mehr le­ben wollte. Lester, sein Bruder, erfuhr, daß die Chancen Georges auf Heilung gleich Null waren. Er schmuggelte eine Schußwaffe ins Spital, fragte seinen Bruder, ob er noch immer ster­ben wolle. Als dieser seine Zustimmung gab, schoß er ihn in die Schläfe.

Nach Singer zeigt dieses Beispiel, daß legale Prozeduren zur Durchführung von Euthana­sie geschaffen werden müssen. So wurde bei diesem Fallbeispiel eine medizinische Dia­gnose nur in einer informellen Art eingeholt; es fand keine sorgfältige Feststellung einer ratio­na­len Begründung des Todes­wunsches Georges vor unabhängigen Zeugen statt. Der Tod wur­de nicht durch einen Arzt herbeigeführt - eine Injektion wäre viel besser gewesen. Singer bil­ligte je­doch die Vorgangs­weise Lesters, da keine andere Möglichkeit zur Verfü­gung stand.

                                               

Rechtfertigung: Die freiwillige Euthanasie hat mit der nichtfreiwilligen Euthanasie eine ge­mein­same Basis. Es wird getötet, um Leiden zu beenden. Die Differenz liegt darin, daß bei der freiwilligen Euthanasie eine Person getötet wird, d.h. ein rationales und selbst­be­wuß­tes We­sen.

Wenn ein Individuum, d.h. ein Wesen, welches das Personalitätskriterium nicht erfüllt, an ei­ner schmerzhaften und unheilbaren Krankheit leidet, ist Euthanasie gerechtfertigt.

 

Eine Untersuchung der vier Gründe, welche dem Leben einer Person einen besonderen Wert zu­ordnen, zeigt, daß Euthanasie auch bei einer Person zu rechtfertigen ist.

                                   

          a)  Die Ablehnung des klassischen Utilitarismus fällt weg, da Euthanasie nur bei Per­so­nen durchgeführt wird, die ihren eigenen Tod genuin wünschen und dadurch keine Ten­denz zu einer generellen Furcht oder Unsicherheit anzunehmen ist. Wer nicht getötet wer­den will, gibt keine Zustimmung. Tatsächlich spricht diese Position für eine freiwillige Eu­thana­sie, weil niemand Angst haben muß, daß der eigene Tod unnötigerweise hin­aus­ge­zo­gen wird und qualvoll ist.

          b)  Der Präferenzutilitarismus spricht ebenfalls für und nicht gegen eine freiwillige Eu­thanasie. Wie der Wunsch weiterzuleben gegen das Töten zählt, ist der Wunsch zu ster­ben ein Grund für das Töten.

          c)  Das Recht auf Leben ist kein kontraindikatives Argument, weil jeder auf ein Recht ver­zichten kann. Mit dem Wunsch, sein Leben durch den Arzt beenden zu lassen, ver­zichtet man auf sein Recht auf Leben.

          d)  Der prinzipielle Respekt vor der Autonomie eines rational handelnden Wesens (ra­tional agent) soll nicht nur gewährleisten, daß jeder sein eigenes Leben führen kann, son­dern eben­so zur Akzeptanz, daß der rational Agierende in bestimmten Fällen den Tod wäh­len kann - und ihm dabei zu helfen.

 

Das Besondere an selbstbewußten Wesen, den Personen, ist, daß sie um ihre Existenz in Raum und Zeit wissen. Unter normalen Umständen wird das Andauern dieser Existenz sehn­süchtig gewünscht. Wenn allerdings diese voraussehbare Existenz mehr gefürchtet als ge­wünscht wird, kann der Tod mehr als das Leben gewünscht werden. Die Gründe für das Le­ben werden zu Gründen für den Tod umgekehrt. Deshalb sind die Gründe für die frei­wil­lige Eu­tha­nasie stärker als für die nichtfreiwillige.

 

Einwände gegen Euthanasie können nicht auf grundlegende, ethische Prinzipien zu­rück­ge­führt werden, sondern lediglich auf die Verfahrensmodalität der Legalisierung.

Zurückgreifend auf Vorschläge von Gesellschaften für Euthanasie in Großbritannien pro­po­niert Singer folgendes Verfahren zur Legalisierung von Euthanasie:

 

          1.  Zwei Ärzte müssen eine unheilbare Krankheit diagnostizieren, welche ernstliche Qua­len oder den Verlust der rationalen Fähigkeit verursacht.

          2.  Mindestens 30 Tage vor dem geplanten Akt der Euthanasie muß ein schriftliches An­suchen in Anwesenheit von zwei unabhängigen Zeugen unterzeichnet werden.

 

Die Euthanasie muß durch einen Arzt durchgeführt werden.

 

Argumente pro und kontra Euthanasie:

         Durch dieses Verfahren wird die Gefahr von Mißbrauch (Mord) und Fehldiagnose re­duziert.

         Durch legalisierte Euthanasie können ein paar Menschen den Tod finden, obwohl sie viel­leicht später geheilt worden wären. Im Gegensatz dazu wird viel Leid und Schmerz ver­mieden. Dies ist kein Argument gegen Euthanasie, da der große Betrag von ver­mie­de­nem Leid aufgerechnet gegen ein paar Tote mehr wiegt.

         Das Argument von Kübler-Ross, daß bei richtiger Pflege niemand Euthanasie ver­langt, mag vielleicht richtig sein; aber nur wenige erhalten realiter eine solche Pflege.

         Schmerz ist nicht das einzige Problem im Sterbensprozeß, sondern auch andere Krank­heitszustände, wie Fragilität der Knochen, langsames Verhungern bei Krebs, Schwie­rig­keiten bei der Atmung, die Unfähigkeit, Harn oder Stuhl zu kontrollieren, usw.

         Legalisierung von Euthanasie gibt dem Individuum Freiheit und Autonomie in dem Aus­maß, daß es über sein eigenes Ende, seinen Tod, bestimmen kann. Gegen eine pater­na­li­stische Argumentation kann eingewendet werden, daß freiwillige Euthanasie für eine gute Sa­che steht. Freiwillige Euthanasie wird nur dann durchgeführt, wenn eine Person an einer un­heil­baren und schmerzvollen Krankheit leidet oder sich sonst in einem qualvollen Zu­stand be­findet. In diesem Fall kann man nicht sagen, daß es irrational sei, schnell ster­ben zu wol­len.

 

Entscheidungsrationalität, d.h. die rationale Begründung der Entscheidung, Respekt für die Prä­ferenzen oder die Autonomie sind die Stärken einer Argumentation für freiwillige Eu­tha­nasie.

 

 

b) Die unfreiwillige Euthanasie (involuntary euthanasia)

 

Eine Person hat die Fähigkeit, zu ihrem eigenen Tod zuzustimmen, gibt aber ihre Zustim­mung nicht, weil sie

                                    a) nicht gefragt wird oder

                                    b) sie gefragt wird und weiterleben will.

 

Für diese Art der Euthanasie ist nur das Motiv, Schmerzen zu verhindern, gültig.

 

Argumente gegen eine Rechtfertigung: Die Übereinstimmung mit der freiwilligen Eutha­nasie be­steht darin, daß jemand getötet werden soll, der zu seinem Tod zustimmen kann, die Dif­fe­renz, daß die Opfer nicht zustimmen.

Alle vier Gründe gegen das Töten selbstbewußter Wesen sind anwendbar, wenn eine Per­son nicht die Wahl trifft, sich töten zu lassen. Es lassen sich utilitaristische Erwägungen vor­stel­len, eine Person mit dem Willen zum Weiterleben zu töten, wenn die betreffende Per­son nicht weiß, welche Qualen sie in der Zukunft erleiden wird. Dieser Fall ist aber eine Fik­tion. Wenn eine Person leben will, ist dies der beste Beweis, daß dieses Leben le­bens­wert ist.

 

Wenn im realen Leben kein gerechtfertigter Fall unfreiwilliger Euthanasie gefunden wer­den kann, ist es das beste, diese Form der Euthanasie absolut zu verbieten.

 

Euthanasie ist nur dann gerechtfertigt, wenn

          1.  die Fähigkeit der Zustimmung zum eigenen Tode (= getötet werden) fehlt, weil kein Ver­ständnis für den Unterschied zwischen der Existenz und Nicht-Existenz vorliegt;

          2.  das Wahlverständnis zwischen dem Andauern des eigenen Lebens und dem Tod vor­liegt und eine gut informierte, freiwillige und gesetzte Wahl zu sterben getroffen wird.[xii]

 

c) Die nichtfreiwillige Euthanasie (nonvoluntary euthanasia)

 

liegt vor, wenn der Mensch nicht den Unterschied eines Wählens zwischen Leben und Tod versteht.

 

Beispiel: Louis Repouille hatte einen unheilbar schwachsinnigen Sohn, der seit Geburt bett­lä­ge­rig und seit fünf Jahren blind war. Repouille sagte: Er war die ganze Zeit wie tot. Er konnte nicht gehen, nicht sprechen, er konnte nichts tun. Schließlich tötete Repouille sei­nen Sohn mit Chloroform.

 

Rechtfertigung: Ein besonderer Schutz von Leben ist nur aufgrund der Perso­na­li­täts­kri­te­rien, wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein zu gewährleisten.

 

Die nichtfreiwillige Euthanasie trifft zu bei

 

          a)  Wesen, die nie die Fähigkeit hatten, eine Wahl zwischen Leben und Tod zu tref­fen, d.h. sie hatten nie die Unterscheidungsfähigkeit. Daraus folgt, daß nicht nur behin­derte, son­dern auch gesunde Kinder getötet werden können. Gegen das Töten gesunder Kin­der spricht nicht das vermutete Recht auf Leben, sondern der negative Effekt auf die Eltern. Die Qual be­hinderter Kinder, deren Leben aufgrund des Leidens nicht wert ist, ge­lebt zu wer­den, ist eher ein Argument für das Töten. Singer führt als Beispiel Spina bifida an. Sowohl die Total­ansicht, als auch die Vorausgesetzte-Existenz-Ansicht liefern die schlüs­sigen Argu­mente, es sei denn, daß extrinsische Gründe, wie die Gefühle der Eltern, da­gegen sprechen. Das Töten be­reits geborener Kinder ist oft einer Abtreibung vor­zu­zie­hen. So kann Hämo­philie nicht durch Amniozentese zuverlässig festgestellt werden. Infan­ti­zid ist hier vorzuzie­hen, da eine Erkrankung nach der Geburt mit absoluter Sicherheit dia­gno­stiziert werden kann und auf die­se Weise durch Verschieben des Zeitpunktes der Ent­schei­dung über Leben und Tod viele Ab­treibungen unnötig werden.

          b)  Personen, welche diese Fähigkeit hatten, sie aber aufgrund eines Unfalls, einer Krank­heit oder aufgrund des Alters verloren, ohne ihre Einstellung zu Euthanasie zu äu­ßern, wie z.B. bei einem Unfallopfer, dessen Gehirn unheilbar geschädigt wurde und sich in einem komatösen Zustand befindet. Ein solches Leben ist nicht selbstbewußt und hat nur einen in­trin­sischen Wert, insofern es mehr Lust als Schmerz erfährt. Es ist schwierig ein­zu­sehen (to see the point), daß ein derart miserables Leben erhalten werden soll.

 

Ein Argument kann gegen diese Form der Euthanasie angeführt werden: Daß jemand da­durch beunruhigt werden könnte, daß er selbst in diese Lage kommen könnte. Dieses Ar­gu­ment könnte entkräftet werden, daß Personen, welche auf keinen Fall eine nicht­freiwil­lige Eu­tha­nasie wünschen, ihre Verweigerung registrieren lassen. Wenn ein solches Ver­fahren der­artige Ängste nicht beseitigen könnte, wäre nichtfreiwillige Euthanasie nur bei denen ge­rechtfertigt, welche niemals die Differenz zwischen Leben und Tod erkennen konnten.

 

 

d) Aktive und passive Euthanasie

 

Singer verwendet für seine Ausführungen Säuglinge mit Spina bifida und Down‘s Syn­drom als Exempel.

Durch die medizinische Entwicklung wurde es möglich, Säuglinge überleben zu lassen, die an­sonst gestorben wären. Durch einen Vorschlag John Lorbers wurden nur mehr die Säug­lin­ge behandelt, bei denen die Spina bifida gering ausgeprägt war. Diese Form der selek­ti­ven Behandlung fand breite Akzeptanz. Die anderen Säugling wurden nicht aktiv be­han­delt, ob­wohl Schmerz und Ungemach so weit wie möglich vermindert wurden. So wurden bei Auf­treten von Infektionen keine Antibiotika verabreicht. Da das Überleben der Säug­ling nicht ge­wünscht wurde, sind auch Behandlungen unterblieben, die dem medi­zinischen Wis­sens­stand ent­sprechend den Tod verhindern hätte können. Singer hinterfragt die Rich­tig­keit die­ses Ver­fahrens und warum es falsch sei, solche Säuglinge in einem Akt der ak­ti­ven Eutha­nasie zu töten. Die Ursache für diese Form von Moralität liegt in einer deon­to­lo­gischen Ethik, welche die Emphase auf die Befolgung von Regeln legt, ohne sich um die Folgen zu kümmert. Diese ethi­sche Auffassung führt zu einer Unterscheidung zwischen aktivem Tun und passivem Unterlassen, weshalb aktive Euthanasie verboten ist, obwohl sie üble Folgen nach sich zieht, wie z.B. bei mongoloiden Kindern, welche noch Jahre lei­den bevor sie ster­ben. Als Vertreter einer konsequentialistischen Ethik ist für Singer das ent­scheidende Kri­te­rium die Folge einer Handlung, während die moralische Regel sekun­däre Bedeutung hat. Bei diesem Ansatz hat die Differenz zwischen aktivem Töten und pas­sivem Sterbenlassen keine moralische Signi­fi­kanz und die negativen Auswirkungen einer deon­tologischen Ethik werden vermieden.

Da auf Speziezismus beruhende Begründungen nicht als moralische Grundlage für einen be­sonderen Stellenwert von Leben herangezogen werden können und man jedes ver­wun­dete oder kranke Tier tötet, bedeutet das apodiktische Verbot der aktiven Euthanasie eine Schle­ch­ter­stel­lung des Menschen, welche auf einen falschen Respekt vor der Heilig­keit des Lebens zu­rück­zuführen ist. Aktive Euthanasie ist ein Akt von Humanität.

Durch aktive Euthanasie werden Menschen getötet, deren Leben unerträglich  und deshalb nicht wert ist, gelebt zu werden. Ihr Elend wird nicht unnötig verlängert. Die verbreitete Ak­zeptanz von Abtreibung und passiver Euthanasie hat bereits die Schwächen der tradi­tio­nel­len Ethik aufgezeigt. Eine gesunde, wenn auch in den Begrenzungen nicht so klar defi­nier­ten Ethik mag auf lange Dauer eine festere Basis gegen das ungerechtfertigte Töten bie­ten. (A 157)

 

 

§ 4 Das Argument der schiefen Bahn

(The Slippery Slope Argument)

 

Die Opposition gegen aktive Euthanasie entspringt dem Argument, daß legalisierte Eutha­na­sie ein gefährliches Instrument des Staates oder skrupelloser Individuen sein könnte, um un­schuldiges Leben zu vernichten. Generell werden die Nazi-Verbrechen als Argu­men­ta­ti­ons­basis herangezogen. Dem ist entgegenzuhalten, daß Euthanasie in unserer Zeit einer le­bens­würdigen, d.h. lebenswerten Existenz dient, während die Nazi-Grausamkeiten eine ras­sisti­sche Haltung gegen “Untermenschen” repräsentierten. Daß den Nazis bewußt war, daß die End­lösung (the so-called ‘euthanasia‘ programme) nicht ethisch zu begründen war, geht da­r­aus hervor, daß diese Verbrechen geheim gehalten wurden. Der beste Schutz ge­gen einen Miß­brauch der echten (genuinen) Euthanasie ist ein funktionierendes, demokra­tisches Sy­stem. Mit der Legalisierung wäre Euthanasie einem ärztlichen Kontroll­mecha­nis­mus un­ter­worfen, wo­gegen sie dzt. von Ärzten in Eigeninitiative geheim durchgeführt wird. Das Ar­gument, daß durch eine tolerante Haltung gegen das Töten einer bestimmten Kategorie von Menschen zu einem generellen Zusammenbruch jeglicher Restriktionen führt, wird durch die Geschichte wider­legt. Wie historische Beispiele zeigen,  wurde Eu­tha­nasie praktiziert, ohne daß die all­ge­meinen Hemmschwellen gegenüber dem Töten von Menschen gefallen wären.

 

 

 

4. Abschnitt: Die Rezeption der Singerschen Ethik

 

Wie aus der obigen Darstellung hervorgeht, hat Singer Normen, die als selbstverständlich und nichthinterfragbar galten, angegriffen. Die im deutschen Sprachraum resultierende, hef­tige Reaktion läßt sich weitgehend auf die in der deutschen Übersetzung verwendete Be­grifflichkeit zurückführen.

 

§ 1 Die hermeneutische Rezeptionsproblematik

 

Auf die Schwierigkeit der Wahrung einer hermeneutischen Authentizität bei Über­setzun­gen hat schon Gadamer hingewiesen. Er zeigt auf, daß das Angewiesensein auf eine Über­set­zung einer Selbstentmündigung des Lesers gleichkommt[xiii] und daß eine Übersetzung wie jede Aus­legung eine Überhellung darstellt. Bei Grenzfällen, in denen im Original et­was wirklich un­klar ist, befindet sich der Übersetzer sich in einer Zwangslage. Er muß klar sa­gen, wie er ver­steht.[xiv]

“Jede Übersetzung, die ihre Aufgabe ernst nimmt, ist klarer und flacher als das Original. Auch wenn sie eine meisterhafte Nachbildung ist, muß ihr etwas von den Obertönen feh­len, die im Original mitschwingen.”[xv]

 

Bei der Übersetzung der Practical Ethics wurde der semantische Inhalt des Textes - auch wenn es sich um eine korrekte, den Dolmetscherregeln konforme Übersetzung handelt - nicht nur in den “Obertönen” verfremdet, sodaß eine Fehlrezeption begünstigt wurde.

 

Zur Belegung dieser These mögen einige Beispiele dienen:

 

          a) “What‘s wrong with killing” (A 72) stellt eine wertneutrale Frage zweckfreier Neu­gier dar. In der Übersetzung wird daraus die bewertende Frage “Weshalb ist töten ver­werf­lich?” (RA 101), wobei durch das “verwerflich” schon eine moralische Indikation ge­ge­ben ist. In der Übersetzung von 1994 wird dieser Satz auf die rechtliche Ebene trans­fe­riert und lautet: “Weshalb ist Töten unrecht?”

 

          b) Der Euthanasiebegriff ist durch die jüngere deutsch-österreichische Geschichte psy­chisch derart negativ belastet, daß die ursprüngliche Bedeutung der antik-griechischen Gei­stig­keit, die darin einen guten, ehrenvollen, zumindest nicht schändlichen Tod, einen Tod in Er­füllung des Lebens, der schnell und ohne Schmerzen eintritt[xvi], im deutschen Sprach­raum völ­lig verloren ging. Obwohl aus dem Kontext der deutschen Ausgabe (RA 174ff) die Uni­vo­zi­tät des Singer­schen Ansatzes hervorging, wurde dies bei vielen Kriti­kern nicht zur Kenntnis ge­nommen.

 

          c) Der Lebensunwertbegriff eines Menschen in der nationalsozialistischen Ära indi­zier­te, daß der Betreffende nicht den Kriterien der damaligen Herrenmenschen entsprach, d.h. für die da­ma­lige Gesellschaft ohne Nutzen war. Singer zeigte die Tendenz der Nazi-In­ten­tio­nen auf[xvii] und proponiert im Gegensatz dazu aktive Euthanasie, wenn sich das Le­ben für den Betroffenen - aus der Binnenperspektive - als lebensunwert er­weist. Er ver­trat dabei nicht nur die Position der freiwilligen, sondern auch die der nicht­frei­wil­ligen Eu­tha­nasie.[xviii] Für ihn stand nicht der gesellschaftliche Wert des Individuums im Vor­der­grund. Den Vertretern des Standpunkts der Heiligkeit des Lebens warf er vor, daß sie bei kon­si­stenter Beweisfüh­rung genötigt wären, jede Form des Lebens zu verlängern, gleich­gül­tig wie hoffnungslos und schmerzhaft diese Existenz sei. Dieser Standpunkt sei für einen hu­manen Menschen zu grausam, um ihn zu unterstützen. (B 346)

Auf die Schwierigkeit der Übersetzung im Kontext zur Heiligkeit des Lebens verweist Ro­land Wittmann.[xix]

 

          d) Das Slippery Slope Argument Singers wurde als sprachliche Metapher verwendet, um das Abgleiten des “guten Todes” in den Völkermord darzustellen. So wie man bei ei­nem schlüpfrigen Hang ausgleiten und hinunterstürzen kann, könnte ein geregeltes Eu­tha­nasie­ver­fahren in Völkermord enden.[xx] In der ersten deutschen Ausgabe wurde dieser Aus­druck mit “schiefer Bahn” übersetzt: “Wäre die Euthanasie der erste Schritt, der uns auf eine schiefe Bahn bringt?” (RA 210) Dem natürlichen Sprachempfinden assoziiert sich die­ser Ausdruck so­fort mit der Notion des Kriminellen, Verbrecherischen. Der obige Satz produ­ziert bei sol­chen, die nicht das gesamte Werk gelesen haben, eine psychisch negative Beset­zung und rückt die Singersche Euthanasie in die Nähe des Verbrechens. In der zwei­ten deut­schen Aus­gabe wur­de diese Diktion beibehalten (RB 272), aber auf “schiefe Ebene” abge­än­dert (RB 108), wel­ches sprachlich neutraler klingt.

 

 

§ 2 Die öffentliche und akademische Rezeption der Singerschen Ethik

 

Die ethische Position Singers, wie er sie in seiner Schrift Praktische Ethik vertritt, hat im deu­tschen Sprachraum erbitterte Kontroversen ausgelöst. Vorträge an Universitäten oder Sym­posien, zu denen Singer eingeladen wurde, mußten aufgrund öffentlichen Drucks ab­ge­sagt werden. Lehrveranstaltungen zu diesem Thema konnten auf­grund massiver Stör­ak­tio­nen nicht abgehalten werden. Ursache der Proteste waren Singers Thesen zur Eutha­na­sie, im be­sonderen wurde seine Position zur Früheuthanasie und nicht- bzw. unfrei­wil­ligen Eutha­nasie angegriffen. Man versuchte, Singer an der Darlegung seiner Argumente zu hindern, bei einem Vor­trag in Zürich wurde Singer sogar körperlich malträtiert (B 357, An­hang). Univer­sitäts­pro­fessoren, die Lehrveranstaltungen zur Euthanasiethematik an­setz­ten oder Einladungen an Singer aussprachen, wurden diffamiert und angegriffen. Nur ein ein­ziger Vortrag Singers konnte aufgrund des Geschicks von Prof. Meggle in Saarbrücken statt­fin­den.[xxi]

In der Folge berichtete die “Zeit” in einem Artikel[xxii] über die Ereignisse und setzte mit ei­ner Artikelreihe zur Euthanasiethematik fort, was dazu führte, daß auch die “Zeit”  Ziel der Pro­testaktionen wurde.

Die deutschsprachigen Fernsehsender berichteten über diese Vorfälle und Singer nahm an TV-Diskussionsrunden teil, wodurch er Gelegenheit hatte, seine Thesen nicht nur einem aka­demisch gebildeten Publikum, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit vorzutragen.

Die Initiatoren hatten mit ihren Aktionen einen gegenteiligen Effekt zu dem beabsichtigten er­zielt.

In englischsprachigen Ländern sind die Auffassungen Singers nicht mehr ungewöhnlich[xxiii]. Die schwerwiegenden Angriffe auf Singer in Deutschland führten in England zu Besorgnis und die “Aristotelian Society of Great Britain” drückte in einer Deklaration vom 16.9.1989 ihre Sorge über die akademische Freiheit, die Freiheit der Rede in bezug auf  die rationale Dis­kussion wichtiger ethischer Belange aus[xxiv].

Singer drückt im Anhang der zweiten Ausgabe der Practical Ethics aufgrund seiner Er­fah­rungen starke Bedenken für die Entwicklung des rationalen Diskurses um neue ethische The­men in Deutschland und Österreich aus (B 353). Er stellt Bezüge zwischen dem Fana­tismus, der in der Euthanasiediskussion aufgetreten ist und der Mentalität derer her, die den Natio­nal­sozialismus ermöglichte. (B 354f).

 

Die Kritiken können in folgende Kategorien eingeteilt werden:

1)  Distanz zur Position Singers, jedoch Betonung der Redefreiheit.

2)  Kategorische Ablehnung, teilweise sehr emotional geführt, oft mit persönlichen An­grif­fen in einer pejorativen Diktion gegen die Person Singers und absolutem Nicht­verstehen der Singerschen Intentionen verbunden.

3)  Aufgreifen der Argument Singers und reflexive Auseinandersetzung mit seinen The­men.

 

Folgende Aussagen werden als Argumente gegen die Singersche Ethik vorgebracht:

           Das menschliche Leben darf nicht verfügbar sein, menschliches Leben ist nicht le­bens­un­wert.[xxv]

           Personalität ist ein defizientes Kriterium für einen besonderen Schutz des Lebens.[xxvi]

           Die Singerschen Thesen haben Affinität zur Nazi-Ideologie.[xxvii]

           Die Argumente Singers ermöglichen eine Philosophie nach Gesichtspunkten der Ren­tabilität und der Konkurrenzfähigkeit. Die Gesunden halten ihren Lebensstandard auf Kosten der Kranken, Alten und Behinderten.[xxviii]

           Die Singersche Philosophie verfolgt das Ideal einer leidensfreien Gesellschaft und sucht einen neuen Menschen.[xxix]

           Tabus haben die Funktion eines sozialen Schutzprinzips und dürfen nicht gebro­chen wer­den. Eine neue, negative Entwicklung in Richtung Euthanasie kann durch das Hinter­fra­gen eingeleitet werden.[xxx]

           Das Mitleidsargument ist nur Vorwand. Diese Philosophie ist sozio-technokratisch und inhuman.[xxxi]

           Interessen, Präferenzen, Glück können nicht nach objektiven Kriterien verglichen wer­den bzw. sind generell inkommensurabel.[xxxii]

 

 

5. Abschnitt: Änderungen zwischen den beiden Originalausgaben[xxxiii]

 

Singer sah keine Notwendigkeit, seine Position zu den diversen Themen zwischen den bei­den Aus­gaben zu modifizieren. In Diskussionen mit Freunden und Kollegen wurde er in seiner Über­zeugung, daß die konsequentialistische Methode der ethischen Problemlösung richtig sei (fun­da­mentally sound), nur bestärkt.

 

Zwei Modifikationen in bezug auf die Form des Konsequentialismus sind jedoch ein­ge­tre­ten:

 

          1.  Singer verwendet die Differenzierung Hares‘, der zwischen zwei verschiedenen Ebe­nen der moralischen Argumentation (moral reasoning): der intuitiven und der refle­xi­ven, kri­tischen Ebene.

          2.  Die Kombination von Totalansicht und Vorausgesetzte-Existenz-Ansicht, wobei je­ne von ihm für lediglich empfindungsfähige, diese für selbstbewußte Lebewesen ver­suchs­wei­se vorgeschlagen wurden, hält er nicht mehr aufrecht. Er sei zur Schlußfolgerung ge­langt, daß der auf Präferenzen basierende Utilitarismus eine hin­reichend scharfe Tren­nungs­linie zwi­schen diesen beiden Lebensformen ziehe und damit eine Version des Uti­li­ta­rismus für alle empfindungsfähigen Wesen genüge.

 

Singer paraphrasierte in der zweiten Ausgabe verschiedene Passagen, ohne semantische Än­derungen vorzunehmen. Die verwendeten Exempel wurden modifiziert und aktualisiert. Neue Kapitel bezüglich Flüchtlings- und Umweltproblematik, sowie Erweiterungen wur­den  zu den  bestehenden Kapiteln hinzugefügt, wie A Concluding Note: Equality and Disa­bility (B 51ff), The Status of the Embryo in the Laboratory (B 156ff),  Making Use of the Fetus (B 163ff), etc.

 

 

II. KAPITEL: Allgemeine Kritik der Singerschen Ethik

 

Wie aus der Darstellung der Singerschen Ethik hervorgeht, kann man gegen Singer nicht den Vorwurf erheben, daß er aufgrund seiner ethischen Position ein unmo­ra­lischer Mensch sei. Die Vorwürfe, die seine Lehre in die Nähe der national­sozialistischen Ideo­logie rük­ken, sind völlig unhaltbar und weitgehend auf ein Nichtverstehen der Singer­schen Inten­tionen zurück­zuführen. Singer versucht mit diesem Buch, eine neue Ethik zu be­grün­den und durch eine utilitaristische Orientierung die ethischen Probleme unserer Zeit zu lö­sen.

Die Problematik, die in unserer Behandlung der Tiere, der Euthanasie, den Umwelt­pro­ble­men, in der Abtreibung, im Umgang mit fötalem Gewebe liegt, kann - nach Singer - durch die tra­di­tionellen Ethiken nicht gelöst werden.

Die emotionalen Ausbrüche, die nach der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe Prakt­i­sche Ethik erfolgten, stellen keine angemessene Reaktion auf eine philosophische Arbeit dar. Diese Reaktionen sind weitgehend auf ein Unverständnis und auf die Unkenntnis der philo­sophischen Tradition zurückzuführen, aus der heraus Singer argumentiert. Es gilt je­doch, metaethisch zu untersuchen, ob diese Ethik eine aktualisierbare Basis für mensch­li­ches Han­deln in moralischer Hinsicht bietet oder ob sie - genauso wie andere Ethiken - einen defizien­ten Modus existentialen Theoretisierens darstellt - mit anderen Worten: Ist es Singer gelun­gen, eine neue Ethik zu introduzieren?

 

§ 1 Der Universalitätsbegriff Singers

 

Die Frage, warum man moralisch handeln soll, wird von Singer damit beantwortet, daß wir nichts über die letzten moralischen Motive sagen können. Ob wir aus ethischen Über­le­gun­gen, Eigeninteresse, Etikette oder Ästhetik handeln, ist nur auf Meinung gegründet bzw. auf eine zufällige Wahl (arbitrary choice) zurückzuführen. Für Singer ist die Univer­sali­sierbar­keit ethischen Urteilens ein unterscheidendes Kennzeichen von Ethik. Ethik ver­langt von uns, daß wir von einer persönlichen, egozentrischen Weltsicht zur Weltsicht ei­nes un­partei­ischen Be­trachters schreiten, welcher einen universalen Standpunkt einnimmt (B 317). Sin­ger versucht mit diesem Universalitätsbegriff eine Basis zu schaffen, die eine appli­zierbare Grundlage all­ge­meingültiger, ethischer Normen zu Verfügung stellt. Alle Menschen sollen dadurch ver­pflich­tet werden, diese Prinzipien anzuwenden. Das Gleich­heitsprinzip stellt den Garant der Universalisierbarkeit für alle Personen dar. In dieser Be­grifflichkeit liegt jedoch nicht die Uni­versalisierbarkeit der Regeln als quasi subsi­stie­rende Struktur mensch­lichen Denkens, wel­ches versucht, die Applizierbarkeit auf norma­tives Verhalten im fak­tischen Be­reich - in Richtung “Sache” - zu fixieren. Dieser Univer­sa­li­täts­begriff kennt keine objek­tive, unver­än­der­liche Grenzbestimmung. Allgemein­gül­tigen Re­geln, wie “Lüge nie!”, schreibt Singer zwar das Prädikat “ethisch” zu, bezeichnet solche Normen aber als “großartige Ur­teile” (sweeping judgements). Der Kontext weist auf eine leicht pejo­rative Be­deutung[xxxiv]. In den Practical Ethics kommt die pragmatische Ein­stel­lung Singers noch stärker zum Vor­schein. Die Sicht aus der Perspektive des Universums wird als hehrer Standpunkt (lofty standpoint) bezeichnet. In deren dünnen Luft (rarified air) könne man zu einer Rede­weise hinweggetragen werden wie Kant, der in Hin­sicht auf die moralische Sicht­weise von einer unvermeidlichen De­mü­ti­gung aller spre­che, wenn man seine eigene, be­schränkte Natur mit dieser vergliche.

Singer spricht sich expressis verbis gegen eine solche Betrachtungsweise aus (B 334). Seine Uni­versalität beschränkt sich auf Unparteilichkeit und Transzendenz des egozen­trier­ten Hori­zonts, d.h. Interessen und Haltungen können nicht mehr Gewicht haben, nur weil sie die ei­ge­nen sind.[xxxv] Einen ethischen Standpunkt (Sichtweise) zu vertreten heißt, den möglichst objek­tivsten Standpunkt einzunehmen und sich damit zu identifizieren. Das ist der “Stand­punkt des Universums”, wie er von Sidgwick genannt wird (B 334).

Diese begriffliche Extension bietet hohe Flexibilität in Hinsicht auf veränderte Sachlagen und ermöglicht die Modifizierung von Regeln, falls erforderlich. So kann z.B. die Regel der Hei­lig­keit des Lebens obsolet sein, wenn sich aus einer atheistischen Weltsicht nach utili­ta­ri­sti­schen Prinzipien bei einer Analyse der Lebensumstände als Resultat lediglich Leid ergibt. Eu­thanasie kann ohne Verstoß gegen das Universalisierbarkeitspostulat prak­tiziert wer­den. Diese Konzeption läßt einer konsequentialistischen Ethik nicht nur Raum für not­wen­dige Ent­scheidungen und Handlungen bei äquivoken Normen, sondern ermög­licht auch die erfor­der­li­chen Abänderungen bei eindeutig falschen Regelungen. Deonto­lo­gische Re­striktionen, die keine Lösungen für neuartige Probleme im ethischen Bereich bie­ten und nur durch das von Singer angegriffene Erweitern und Schaffen neuer Regel­sy­steme bewältigt werden kön­nen, er­geben sich aus diesem Ansatz nicht. Ethische Prob­leme können system­immanent ohne Qua­li­tätsänderung oder strukturellen Veränderungen ge­löst werden.

Der Interpretation Jantzens[xxxvi], daß Singers Standpunkt des Universums eine Reduktion auf rei­ne Rationalität darstellt und durch einen Verzicht auf Gefühle verbiete, Glück und Leid als so­zial vermittelte Formen menschlichen Seins zu begreifen, kann nicht beigepflichtet wer­den, da Singer mit seinem Universalitätsbegriff lediglich versucht, seinen ethischen Thesen Allge­mein­gültigkeit zu verleihen, ohne die von ihm geforderte Flexibilität ethi­scher Begrün­dungs­modi aufgeben zu müssen. In dieser Argumentationsstruktur liegt je­doch auch die Schwä­che des Singerschen Lösungsansatzes: Durch den Verzicht auf jeg­li­che, absolute Grenz­be­stim­mung wird die Akzeptanz moralischer Normen in den inter­sub­jek­tiven Konsens ver­legt. Wie Singer selbst im Abschnitt zur Demokratie feststellt, ist es keines­wegs sicher, daß die Majo­ri­tät - im politischen Bereich - immer die richtige Ent­scheidung trifft (B 300). Es ist nicht schlüs­sig, daß eine intersubjektiv gefundene Lö­sung zu einem moralischen Pro­blem im­mer zu einer objektiv verifizierbaren, eindeutigen Rich­tigkeit des Lösungsansatzes führt. Durch das Fehlen jeglicher Grenzbestimmung kommt das in die Singersche Ethik, was er selbst für den ethischen Bereich striktest ab­lehnt (B 6f): Sie wird subjektiv, d.h. die Ent­schei­dung wird in das kollektive Subjekt (der Personen) verlegt, und dadurch rela­tivi­stisch, da das strenge Kri­terium für eine objektiv richtige In­teressensabwägung fehlt.

 

 

 

 

§ 2 Interesse als grundlegendes Kriterium der ethischen Entscheidung

 

Interesse ist der archimedische Punkt der Singerschen Ethik und wird von Singer als Basis für eine ethisch-orientierten Lebensweise proponiert. Singer versucht außerdem, Interesse als allgemeingültiges Entscheidungskriterium zur Lösung ethischer Probleme zu intro­du­zie­ren und auf ein quasi wissenschaftliches Niveau zu stellen, d.h. damit eine neue Ethik zu ent­wickeln. Aufgrund der konsequentialistischen Orientierung wird Interesse in dieser Arbeit nicht als abstraktes Prinzip thematisiert und als solches einer philosophischen Un­ter­suchung unterzogen, sondern es wird versucht, anhand konkreter Probleme eine prak­ti­sche Philoso­phie zu entwickeln, deren Mängel durch fortlaufende Korrekturen beseitigt werden. Singer glaubt, auf diese Weise die negativen Konsequenzen einer deon­to­logischen Ethik zu vermei­den. In­ter­esse nimmt dabei einen Stellenwert ein, der dem des kate­gorische Imperativ in der Ethik Kants gleichkommt. Durch die Reduktion des Interes­sens­begriffs auf Freudens- und Leidens­fähigkeit (B 57) wird das Tertium comparationis der Interessen aller Lebewesen po­stuliert. Singer verwendet damit eine Argumen­tations­basis, die der utilitaristischen Tra­dition ent­spricht. Luststreben und Schmerzvermeidung kön­nen berech­tigterweise als fun­da­mentale In­te­ressen aller Lebewesen betrachtet werden, wenn auch eine qualitative Dif­ferenz zwischen dem Bewußtsein personaler und dem Be­wußt­sein nichtpersonaler Lebewesen besteht. Das In­teres­senskriterium wird auf ver­schiedene Sphä­ren des Lebens ausgedehnt. Singer reflek­tiert in diesem Horizont die Pro­bleme des Ras­sismus, Flücht­lingsprobleme, kon­fligierende Interessen werdender Müttern und Föten, etc.

Die Singersche Konzeption, Interesse als fundamentales ethisches Prinzip zu verwenden, wird auch von anderen Philosophen geteilt. Helga Kuhse[xxxvii] geht von der Voraussetzung aus, daß In­teressen die Bausteine der Moral sind und daß ein Wesen moralische Achtung ver­dient, wenn es Interessen hat.

 

“Wenn auch die Fähigkeit, Freude und Schmerz zu empfinden, nicht die einzige Eigenschaft ist, aufgrund de­ren menschliche (und andere) Wesen Interessen haben und Achtung verdienen, so ist die Fähigkeit, Bewuß­t­seinszustände zu erfahren, doch immer die Voraussetzung für alle anderen moralisch bedeu­tungsvollen Werte, wie die Befriedigung von Präferenzen und Wünschen, selbstbestimmtes Handeln, das Streben nach morali­schen Zielen, Idealen und so weiter. Das bedeutet, daß Interessen, und nicht das Lebens als solches, moralisch bedeutungsvoll ist.”

 

Auch hier werden die individuellen Präferenzen wie bei Singer betont.

 

Zu hinterfragen ist, ob Interesse als grundlegendes, ethisches Prinzip die hinreichende Be­din­gung für die theoretische Begründung einer praktikablen, allen Belangen der existen­ti­el­len Le­bens­problematik genügenden Ethik darstellt.

 

Eine Untersuchung der formalen Relevanzstruktur von Interesse ergibt eine vierfach rezi­prok konfligierende Korrelation:

 

                                                1. das individuelle Interesse (die Interessen der einzelnen Individuen)

                                                2. kollektive Interessen (die Interessen der Gemeinschaft)

                                                3. Qualität der Interessen

                                                4. Quantität der Interessen

 

Das von Singer postulierte Verfahren einer objektiven Interessensabwägung ist aufgrund der Subjektivität eines personalen Individuums ein aussichtsloses Unterfangen, da sowohl Ob­jekt als auch Wertschätzung der verschiedenen Interessen differieren. Das Auffinden allge­mein­gül­tiger Beurteilungskriterien, welche die adäquate Applikation des Interessens­prinzips in der objek­tiven Realität existentiellen Seins möglich machen, darf mit Berech­ti­gung als un­über­brück­barer Hiatus personalen Reflexionsvermögens angesehen werden.

 

In der Folge werden kasuistische Fallbeispiele angeführt, welche die Problematik einer auf Interesse fundierten Ethik - und damit auch der Singerschen Ethik -  aufzeigen.

 

a) Das individuelle Interesse

 

Selbstverwirklichung ist das höchste Interesse personaler Individuen. In der Realisierung die­ses Ziels wandeln sich die verschiedenen partikulären Interessen, weshalb intraindivi­du­elle In­ter­essenskonflikte als wesentlicher Bestandteil selbstbewußten Lebens angesehen wer­den kön­nen. Das Individuum sieht sich oft in ausweglosen Situationen und kein noch so ausge­feil­tes Prinzip kann aufgrund der Komplexität personaler Existenz Abhilfe schaf­fen.

Eine Kollision verschiedener Interessen tritt im Zusammentreffen mit anderen Individuen auf.

 

Anhand eines einfachen Beispiels läßt sich zeigen, daß eine durch entgegengesetzte Inter­es­sen entstandene Konfliktsituation im individuellen Bereich nicht durch die Anwendung des Prin­zips der gleichwertigen Interessensabwägung zu lösen ist:

Eine Person mit rheumatischen Beschwerden hat sofort Schmerzen, wenn sie dem gering­sten Luft­zug ausgesetzt ist. An ihrem Arbeitsplatz muß sie mit einer ca. 50jährigen Frau zu­sam­men­arbeiten, welche aufgrund des Menopausen-Syndroms Wallungen hat. Diese muß auch zu Win­terszeiten die Fenster öffnen, um ihre Hitzeempfindungen und die damit ver­bundene Übel­keit in den Griff zu bekommen, was aber zu einer Abkühlung der Zim­mer­tem­peratur und zu Luft­zug führt.

Der Konflikt läßt sich nicht durch eine Interessensabwägung lösen, da beide Parteien ver­gleich­bare, körperliche Beschwerden aufweisen und die Bevorzugung der Interessen einer Partei zu körperlichem Unwohlbefinden der anderen Partei führt.

 

Interessen können der Art nach gleich, den individuellen Interessen aber diametral ent­ge­gen­gesetzt sein, wie die Konkurrenz im wirtschaftlichen Bereich:

Z.B. bewerben sich zwei völlig gleich qualifizierte Manager um eine leitende Position in ei­nem kaufmännischen Betrieb.

Bei beiden ist das Interesse, die Stellung zu erhalten, gleich zu bewerten. Zusätzliche Kri­te­rien, wie z.B. daß der eine Manager verheiratet ist und eine Familie zu ernähren hat, wäh­rend der andere ledig ist und daher keine zusätzlichen sozialen Lasten zu tragen hat, führen be­reits über das bewerbungsrelevante Interessenskriterium hinaus. Bei An­wen­dung zu­sätzli­cher In­ter­essens­kriterien kommt das Gerechtigkeitskalkül ins Spiel: Ist eine der­ar­tige Be­rück­sich­ti­gung anderer Interessen gerecht?

 

Wie aus diesen alltäglichen Beispielen ersichtlich ist, führen die diametral entgegen­gesetz­ten Interessen in Antinomien.

 

b) Die kollektiven Interessen

 

Die Komplexität der Möglichkeit von Interessenskonflikten steigt bei Kollektivinteressen, d.h. bei Interessenskonflikten zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. zwischen ver­­schiedenen Gruppen, exponential an. Singer thematisiert diese Art von Interessenskonflikt im 9. Kapitel der zweiten Ausgabe[xxxviii] anhand der Flüchtlingsproblematik. Seiner sozialen Ein­stel­lung entsprechend ergreift er die Partei der Flüchtlinge.

In der Parabel eines Bunkers, in dem sich nach einem Atomkrieg die Insassen einem luxu­riösen Leben hingeben, während diejenigen, die draußen geblieben sind, durch eine lebens­gefährliche, radioaktive Strahlung bedroht werden, stellt Singer den kontemporären Kon­flikt zwi­schen den Interessen der Wohlfahrtsstaaten und den Interessen der Flüchtlinge aus den Ent­wick­lungsländern dar. Das Problem stellt sich als Frage, ob Flüchtlinge über­haupt auf­ge­nom­men werden sollen und in welchem Ausmaß, oder ob man Flüchtlingen gene­rell die Auf­nah­me verweigern soll.

Die allgemeine Einstellung, Flüchtlingsaufnahme als Gnadenakt aufzufassen, weist Singer ge­nauso zurück[xxxix] wie die Position des Amerikaners Michael Walzer, daß eine Gemein­schaft das Recht habe, sich nach außen abzugrenzen und nur ethnisch Nahestehende das Recht hät­ten, aufgenommen zu werden (B 253). Diese orthodoxen Meinungen seien sehr vage und be­ruhten nicht auf einer argumentativen Begründung (B 255). Ein Konse­quen­tialist würde die Flücht­lingspolitik gemäß dem Prinzip der gleichwertigen Interessens­ab­wä­gung auf die Inter­essen aller Beteiligten ausrichten, weshalb die Interessen Priorität hät­ten, welche viru­lenter (more pressing) wären oder eine fundamentalere Bedeutung hätten.

Deshalb wären die Interessen der Flüchtlinge zu präferieren, wobei Singer in Parteinahme für die Flüchtlinge sehr emotiv durchsetzte Argumente verwendet.

In der Schilderung der Lage, in welcher sich Flüchtlinge befinden, rekurriert Singer auf einen Bericht eines Beobachters aus einem Flüchtlingslager an der thailändisch-kambod­scha­nischen Grenze, dessen Impressionen die triste Situation der Flüchtlinge sehr an­schau­lich und für den Leser bedrückend wiedergeben. Singer folgert, daß Flüchtlinge im Ein­wan­de­rungsland für einen ökonomischen Aufschwung und eine kosmopolitische Atmo­s­phäre sorgten. Flüchtlinge sei­en bessere Staatsbürger, weil sie nicht wie reguläre Einwan­derer in ihr Heimatland zu­rückkehren könnten. Durch ihr Überleben auf der Flucht hätten sie Aus­dauer und Initiative be­wiesen und wären eine Bereicherung für ihr neues Heimat­land (B 257). Negative Aus­wirkungen, wie grö­ßere berufliche Konkurrenz, Verschärfung der Si­tuation auf dem Woh­nungsmarkt und das da­mit verbundene Ansteigen der Auslän­der­feind­lichkeit, negative Aus­wirkungen auf na­tionale Öko­nomie und Ökologie, werden dimi­nu­tiv dargestellt. Der Lebens­stil der Bürger von Wohl­fahrts­staaten wird mit Ver­schmut­zung der Umwelt durch Motor­sport, Schifahren und Weg­werfen von Müll charak­te­risiert und wird in Gegensatz zu den In­teressen der Flüchtlinge ge­setzt, wodurch der Ein­druck entsteht, daß diese dadurch benach­teiligt würden. Singer folgert, daß ein derartiges Ver­halten empörend sei und gegen das Prin­zip der gleichwertigen Interes­sensabwägung ver­stoße. Er hält die Ex­position dieses Verhal­tens für ausreichend, um die Haltlosigkeit ei­ner solchen Position auf­zuzeigen, sodaß er keine wei­tere Kritik hinzufügt (B 260). In der Ent­wicklung des Argu­ments wird auf der einen Seite der Eindruck eines Wohl­stands­bür­gers erzeugt, der hem­mungslos dem Luxus frönt, und da­durch mit seinen un­be­rech­tig­ten Interessen den Flücht­lingen die Befriedigung berechtigter In­ter­essen verwehrt. Das Argu­ment ist rein emotiv auf­gebaut und liefert keine hinreichende Be­grün­dung.

Ziel der Argumentation Singers ist es, die Verdoppelung der Flüchtlings­auf­nahme­quote in Australien zu be­gründen.

Bei der Entwicklung des Arguments gelangt Singer bei konsistenter Beweisführung zu dem Punkt, an dem als Folge eine infinite Verdoppelung eintritt. Da dies zu einer allge­mei­nen Ver­armung führen würde, wendet er sich gegen diese Konsequenz (B 261). Der Punkt eines Auf­nahmestops für Flüchtlinge wäre erreicht, wenn die ansteigende Einwan­derung einen ir­re­pa­rablen Schaden zufügen würde oder wenn die gegenseitige Toleranz wegen an­stei­gender Aus­länderfeindlichkeit zusammenbrechen und damit eine Gefahr für den Frieden und die Si­cher­heit der bereits ansässigen Bevölkerung (Flüchtlinge und Ein­woh­ner) darstellen würde.

 

Die Frage im Kontext mit der Singerschen Argumentation lautet nicht, ob die Wohl­stands­staaten Flüchtlingshilfe leisten sollten, sondern ob das Prinzip der gleichwertigen Interes­sens­abwägung zu­ver­läs­sige Entscheidungen im Sinne einer ethischen Lebensein­stel­lung er­mög­lichen kann.

 

Die Problematik zeigt sich schon im vorhergehenden Kapitel, Rich and Poor, wo Singer den individuellen Beitrag zur Entwicklungshilfe mangels eines zuverlässigen Entschei­dungs­kri­teriums in Anlehnung an den mittelalterlichen Zehnt mit 10% ansetzt. Analog da­zu kann  ge­gen Singer argumentiert werden, daß die Verdoppelung der Flüchtlings­auf­nahme­quote ein willkürliches Festsetzen des Wertes ohne entsprechende, sachliche Grund­lage darstellt. Bei einer konsequenten und konsistenten An­wendung des Prinzips der gleich­wertigen Interes­sensabwägung aus Sicht eines unpar­teiischen Beobachters könnten Men­schen bzw. Flücht­linge aus Entwicklungsländern mit Recht den Anspruch erheben, Zugang zu den Ressourcen der Wohlfahrtsstaaten zu erhalten, und zwar so lange, bis der all­gemeine Reichtum das glei­che Niveau hat. Es gibt aus dieser universalen Sicht keine logische Begründung, warum ein Teil der Weltbevölkerung wohl­habend das Le­ben ge­nie­ßen soll, während der andere Teil der Weltbevölkerung ein Leben in Armut fristet. Flücht­linge können in Berufung auf das Prinzip der gleichwertigen Inte­ressensabwägung mit Recht fordern, immer von einem Land aufge­nommen werden, und zwar so lange, bis der Be­sitz zwischen Neuankömmlingen und den Ansässigen völlig nivelliert ist. Wenn es zu Un­ruhen und Ausländerfeindlichkeit kommt, weil die ansässigen Einwohner nicht teilen und sich dem verschärften Konkurrenzkampf stellen wollen, so ist dieses unsoziale Verhal­ten auf Egoismus und Geiz zurückzuführen, was bekanntlicherweise nicht die besten men­schlichen Eigenschaften sind und deshalb wohl schwerlich auf die unbestechliche Waag­schale berech­tigter Interessen gelegt werden können.

Vor dieser logischen Konsequenz einer konsistenten Aus­legung des Prinzips der gleich­wer­tigen Interessensabwägung schreckt Singer zurück. Durch die negativen Kon­sequenzen - worunter hier nicht moralisch negative Konsequenzen zu verstehen sind - schwingt auf­grund der konsequentialistischen Orientierung das Pendel zu­gun­sten der Interessen der an­sässigen Bevölkerung zurück. Durch die Ver­anke­rung dieses Grund­satzes im Prinzip der gleich­werti­gen Interessensabwägung wird mora­lisches Ver­halten nie­mals g­e­nötigt, Unan­genehmes auf sich zu nehmen. Man könnte deshalb das Prin­zip der gleich­wertigen Inter­es­sensabwägung eher als “Prinzip der Be­quemlichkeit”, denn ein ethi­sches Prinzip be­zeich­nen.

Bei dem obigen Flüchtlingsbeispiel zeigt sich eine weitere Defizienz dieses Prinzips: Es kann keine Hilfestellung bei der Selektion geben, welche Flüchtlinge aufgenommen wer­den. Das Interesse jedes Flüchtlings, aufgenommen zu werden, muß nach dem Gleich­heits­prinzip mit der gleichen Priorität behandelt werden. Um zu einer Wertigkeit zu gelangen, müssen zu­sätzliche Kriterien herangezogen werden, wie Alter, Fähigkeiten, etc. Durch das Verwenden zusätzlicher Parameter wird das grundlegende Kriterium - Aufnahme in ein Land - verwäs­sert und die zusätzlichen Kriterien unterliegen dem persönlichen, d.h. sub­jektiven Ermessen.

 

Ein weiteres, fiktives Beispiel, welches sich aber im Laufe der menschlichen Geschichte sehr oft in ähnlichen Konstellationen abgespielt haben mag, veranschauliche die Defizienz des Prin­zips der gleichwertigen Interessensabwägung:

In einem Krieg wird bei Rückzugsgefechten eine Kompanie mit dem Befehl zurück­gelas­sen, den Feind um jeden Preis aufzuhalten und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Nehmen wir an, es handelt sich um eine notwendige, aus militärischer Sicht richtige Maß­nahme, um den Rückzug einer Division zu retten, welche ansonst vielleicht völlig auf­gerieben würde. Dieser Be­fehl bedeutet für jeden Angehörigen der eingesetzten Kom­panie den si­cheren Tod.

Bei einer Abwägung der Interessen liegen die individuellen Interessen (zu überleben) der Kom­panieangehörigen auf der einen, das Interesse der Division (als Organisationseinheit wei­ter­zubestehen) auf der anderen Waagschale. Während die Kompanieangehörigen kon­kret ihr Leben verlieren, d.h. den höchsten Preis zahlen, den ein Mensch zahlen kann und sich da­mit in einer existentiellen Grenzsituation befinden, steht für die Division ein quasi ide­eller Wert auf dem Spiel. Die Militärs würden argumentieren, daß durch den Verlust der Division die gesamte Front zusammenbrechen würde, daß der Krieg durch diese Nie­derlage zu­­gun­sten des Feindes entschieden würde, etc.

Die ethisch relevante Frage bei diesem Exempel lautet, ob die Gemeinschaft von einer kleine­ren Gruppe den Einsatz des höchsten Gutes, das Leben, fordern kann oder nicht. Das Prin­zip der gleichwertigen Interessensabwertung kann hier nicht helfen, da auf der einen, kleine­ren Seite, der höchste Wert auf dem Spiel steht, während auf der anderen Seite, der grö­ßeren Gemeinschaft ein abstrakter Wert, wie z.B. der Fortbestand des Staates, einge­setzt wird.

 

Der Konflikt kollektiver Interessen mit der Unentscheidbarkeit durch das Prinzip der gleich­wertigen Interessensabwägung wird in einem tatsächlichen, sehr aktuellen Beispiel sehr an­schaulich doku­mentiert:

Heuersdorf ist ein kleiner Ort in Deutschland, der auf einem Braunkohlenflöz steht. Durch den Abbau dieses Flözes ist die Braunkohlenindustrie für vier Jahre ausgelastet und die Be­schäf­tigung tausender Arbeiter gesichert. Um den Flöz abbauen zu können, ist es no­t­wen­dig, Heuers­dorf abzureißen. Die Einwohner wehren sich, da dies den Verlust ihrer Heimat be­deu­tet und die angebotenen Entschädigungen als unzureichend angesehen wer­den.[xl]

Die Interessen beider Parteien sind als gleichwertig anzusehen und das Problem ist deshalb  nach Kriterien des Prinzips der gleichwertigen Interessens­abwä­gung nicht lösbar.

 

 

 

c) Der quantitative Interessensaspekt

 

Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung gilt bei Singer als der Garant für eine adä­quate Beurteilung diverser - auch divergierender - Interessen, wodurch das Prinzip der Gleich­heit zum Zuge kommt und eine soziale Gerechtigkeit, aber auch eine Gerechtigkeit zwi­schen den verschiedenen Speziesformen erreicht werden soll. Singer verwendet die Me­ta­pher einer Waage,  welche die Interessen unparteiisch wiegt:

 

“The principle of equal consideration of interests acts like a pair of scales, weighing interests impartially. True scales favour the side where the interest is stronger or where several interests combine to outweigh a smaller number of similar interests; but they take no account of whose interests they are weighing.” (B 22)

 

Durch die Diktion “true scales” wird die Notion hineingelegt, daß das unparteiische In-Be­tracht-Ziehen der verschiedenen Interessen den Stellenwert einer erkenntnistheoretischen Wahr­heit besitzt. Es wird der Eindruck hervorgerufen, als ob Interessen quantifizierbar seien und deshalb ihre variablen Größen nach einer unbestechlich richtigen Methode auf ein kom­men­surables Niveau gebracht werden könnten. Singer wurde wegen dieser Posi­tion ange­griffen[xli].

Der Ansatz Singers, Interesse zu quantifizieren, um analog der naturwissenschaftliche Me­thode, welche in der Zahl eine zuverlässige Basis zur Deskription und Evaluierung der ver­schie­denen Phänomene gefunden hat, die einzelnen Interessen miteinander vergleichen zu kön­nen, ist vom strukturellen Ansatz her richtig. Nur durch eine simplifizierende Reduk­tion auf quantitative Aspekte ist eine objektive Bewertung der einzelnen Interessen aus Sicht ei­nes un­parteiischen Beobachters möglich. Die Komplexität des realen Lebens läßt je­doch eine solche simplifizierende Nivellierung nicht zu.

 

Als Argument für das Prinzip des sinkenden Grenznutzens verwendet Singer das Beispiel, daß zusätzliche 50 Gramm Reis bei einer Tagesration von 200 Gramm einen essentiellen Zuwachs bedeutet, während dies für jemanden mit einem Kilo Reis ein nur unbedeutender Zuwachs wäre (B 24). Dies ist aus ökonomischer Sicht richtig. Nehmen wir aber an, daß jemand mit einem Kilogramm Reis Tagesration in Notzeiten Anspruch auf zusätzlich er­hältli­che 50 Gramm erhebt und dies damit begründet, daß er doppelt so viel wiege, wie ein ande­rer mit nur 200 Gramm Tagesration. Er habe aufgrund seines höheren Körper­gewichts einen höheren Nah­rungsbedarf als der andere. Das Prinzip der gleichwertigen Interes­sensabwä­gung kann hier keine Hilfestellung geben, da jeder für sich einen Anspruch auf zusätzliche 50 Gramm erheben kann. Das Prinzip des sinkenden Grenznutzens orien­tiert sich nach dem objektiven Gewicht des Reises und kann das Kriterium eines höheren Nah­rungsbedarfes aufgrund hö­heren Körpergewichts nicht erfassen. Medizinisch läßt sich aber ein solcherart höherer Nah­rungsbedarf sicherlich begründen.

 

Im Beispiel des Erdbebenopfers (B 25) wird der Verlust eines Zehen (Opfer A; hat ein Bein verloren und ist in Gefahr zusätzlich einen Zehen zu verlieren) gegen den Verlust ei­nes Beins (Opfer B; verliert nur dieses Bein) abgewogen. Jeder wird Singer aus Sicht des unbeteiligten Dritten beipflichten, daß der Verlust eines Beins schwerwiegender ist als der Ver­lust eines Zehen, aber der Betroffene beurteilt seine eigene Lage immer anders. So könnte A, der den Zehen verliert, diesen Verlust als existentielle Bedrohung ansehen und darüber den Verstand ver­lieren, was zu einer Psychose führen könnte. Ist dann der Verlust eines Beins noch im­mer schwer­wiegender als der Verlust eines Zehen? A könnte als Argu­ment anführen, daß er sowieso schon ein Bein verloren habe und deshalb nicht noch zu­sätzlich einen Zehen verlie­ren wolle. Es sei nur gerecht, daß B ebenfalls ein Bein verliere. Wenn sein Zehe gerettet würde, wären beide gleich benachteiligt, während der Schaden bei ihm größer wäre, wenn er auch noch einen Zehen des verbliebenen Beins verliere.

 

Diese Argumente zeigen, daß ökonomische Kriterien bei einer Beurteilung ethischer Sach­la­gen nicht die subjektive Sicht und die damit verbundene Begründung außer kraft setzen kön­nen. Subjektive Argumente haben jedoch ihre Berechtigung, da sie Indikatoren für In­ter­es­sen sind. Öko­nomische Axiome oder Sichtweisen führen im ethischen Bereich aber immer nur zu instru­mentalen Werten und können keine absolute, d.h. intrinsische Werte ver­mitteln. Anhand der beiden vorigen, ursprünglich von Singer verwendeten Beispiele lassen sich bei den entsprechenden Modifikationen paradoxe Resultate erzeugen, welche die Defizienz des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung auch in quantitative Hinsicht aufzeigen.

 

Jürgen Stenzel[xlii] übt am Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung Kritik, weil es da­bei um den quantitativen Vergleich von Interessen und nicht um Gleichberechtigung von Le­be­wesen gehe. Es gehe Singer nicht um das Wohl des Einzelnen, sondern um die Quan­tität des Gesamtleids und der Gesamtlust. Stenzel[xliii] bezieht sich dabei auf das Beispiel mit den Erd­be­ben­opfern. Aufgrund der quantitativen Orientierung der Ethik könne man, um das Le­ben von vier Personen zu retten, einen gesunden Menschen töten.

 

“Es kommt für Singer, wie aus diesem Beispiel ersichtlich, nicht auf das Wohl des einzelnen an, sondern es ist stets wichtig, die Quantität des Gesamtleidens und die Gesamtlust zu errechnen, unparteiisch, d.h. unab­hängig von persönlichen Einzelinteressen. Das Leiden des einzelnen spielt gerade dann keine Rolle, wenn da­durch eine größere Summe von Leiden bei anderen reduziert werden kann. Wir haben es demnach mit ei­ner auf das Wohl der größten Zahl ausgerichteten Ethik zu tun.

Wenden wir vor diesem Hintergrund das Prinzip der gleichen Interessenerwägung auf einen anderen Fall an und denken uns folgende Situation: Ein Arzt hat vier todkranke Patienten. Jedem von ihnen fehlt ein lebens­wichtiges Organ, jedem ein anderes, und ohne ein neues Organ müßten alle vier in Kürze sterben. Nun wird ein Un­fallopfer eingeliefert, ein Mann, der infolge zerquetschten Gehirns beim Stande des medizinischen Wis­sens eigent­lich keine Überlebenschance hat; er wird, aller Erfahrung nach, in spätestens zwei Wochen sterben. Der Arzt könnte dessen Organe jenen vier Patienten einpflanzen und sie so am Leben erhalten. Er hätte einen Men­schen geopfert, um vier am Leben zu erhalten, statt fünf Toten also (denn dieser eine wäre ja ohnehin ge­storben), haben wir vier Überlebende. - Singers Theorie zufolge müßte diese Handlung des Arztes ethisch un­bedenklich sein, denn nach dem Prinzip der gleichen Interessenerwägung muß das Überlebensin­teresse von vier Menschen mo­ralisch höher zu bewerten sein als das eines Menschen, noch dazu eines hirn­verletzten.

Wer in dieser Argumentation noch keine Absurdität entdecken kann, der modifiziere das Beispiel: Wenn es mo­ra­lisch vertretbar sein soll, einen Menschen zu opfern, um vier am Leben zu erhalten, dann wäre dies auch dann noch moralisch gutzuheißen, wenn dieser eine gar kein hirngeschädigtes Unfallopfer ist, sondern ein x-be­lie­biger, gesunder Mensch. Vier Lebendige sind immer mehr als ein Toter, also könnte der Arzt auch ir­gend­einen geeigneten Menschen von der Straße aufgreifen lassen und ihn für das Leben der vier hin­schlach­ten!? Mit Singers Morallehre wäre dies nicht nur vereinbar, es müßte vernünftig und also dem verantwortlich handelnden Arzt eine Pflicht sein.

Die Absurdität liegt hier in jenem die ganze Theorie Singers durchziehenden quantitativen Argument, das mit dem Prinzip der gleichen Interessenerwägung aufs engste verschränkt ist und dieses zu einem ökonomi­sti­schen Prinzip macht.”[xliv]

 

Stenzel folgert, daß man die praktische Ethik Singers mit dem Verdikt Pseudoethik etiket­tie­ren könne.

Stenzel kann jedoch bei seiner Schlußfolgerung, daß Singer den persönlichen Einzel­inter­es­sen bzw. dem individuellen Leid gegenüber gleichgültig sei und nur in abstrakten Sum­men­begriffen denke, nicht beigepflichtet werden. Singers Versuch, Interessen quanti­tativ zu er­fassen, ist m.E. als methodischer Ansatz zu wer­ten. Was er in der Kasuistik des Erd­be­ben­opfers prin­zipiell zu begründen versucht, wird von der Ärzteschaft in Krisen­fällen lau­fend praktiziert. Es wäre ausgesprochen paradox, bei der Zuteilung von Medika­menten Pati­enten mit uner­träg­liche Schmerzen aus rigiden Gleichheits­prin­zipien die gleiche Menge zuzu­teilen wie einem Pa­tienten mit schwachen Schmerzen.

Der Schwachpunkt der Singerschen Ethik liegt darin, daß sie eine Individualethik ist, aber das Be­gründungsaxiom auf einer allgemeinen Grundlage - dem Interesse - ohne definitive Grenz­ziehung setzt. Interesse stellt keine hinreichende Bedingung dar. Bei Zunahme der Kom­ple­xität des Geschehens oder der Sachlage kann die Singersche Ethik keine Antwort geben. Dies wird beim Beispiel Stenzels klar aufgezeigt. Aus Sicht eines unparteiischen, un­be­teiligten Beobachters wiegt das Leben von vier Menschen nach quantitativen Krite­rien ein­deutig höher als das Leben eines - auch gesunden - Menschen. Subjektiv liegt das Leben je­des der Beteiligten am Überleben. Singer könnte jedoch argumentieren, daß der Mann mit der zere­bralen Schä­digung keine Person sei und deshalb bei den Interessen nicht be­rück­sichtigt werden müs­se. Der Mensch wird aber dadurch zu einem instrumentalen Wert de­gradiert.

 

 

 

 

d) Der qualitative Aspekt von Interesse

 

Die egalisierende Forderung Singers, daß Interessen die gleiche Wertschätzung entge­gen­zu­brin­gen sei, gleichgültig, ob es sich um Interessen menschlicher oder nicht­menschlich-tie­rischer, selbstbewußter oder nichtselbstbewußter Tiere handle (B 74), wird von ihm nicht in einer Art rigidem Werteschema verstanden. Im Kontext zu Reflexionen über eine ökologi­sche Ethik und dem intrinsischen Wert von Pflanzen, Gattungen und Ökosystemen zieht Singer die moralisch relevante Grenze zwischen empfindungsfähigen und nicht­emp­fin­dungs­fähigen Le­be­wesen. Argument sollen auf den Interessen sowohl gegenwärtiger, als auch zukünftiger em­pfin­dungsfähiger, menschlicher und nichtmenschlicher Lebewesen re­stringiert werden (B 284). Unbelebte Materie hat überhaupt keine Interessen (B 57). Der quali­tative Sprung tritt bei selbstbewußten Lebewesen, den Personen, ein (B 73). In der zweiten Auflage nahm Sin­ger eine Änderung im Text vor.

 

A 64: “The claim that self-conscious beings are entitled to prior consideration is compatible with the princi­ple of equal consideration of interests if it amounts to no more than the claim that something which happens to a self-conscious being can cause it to suffer more (or be happier, as the case may be) than if the being were not self-conscious.”

 

B 73: “The claim that self-conscious beings are entitled to prior consideration is compatible with the princi­ple of equal consideration of interests if it amounts to no more than the claim that something that happens to self-conscious beings can be contrary to their interests while similar events would not be contrary to the in­terests of beings who were not self-conscious.”

 

Während in der ersten Auflage das Bewußtsein seiner selbst auf eine empirisch-konkrete Glücks- bzw. Leidensfähigkeit ausgerichtet ist, wird durch die Paraphrasierung der zweiten Aus­gabe die allgemeinere Ausrichtung auf Interessen erreicht. Durch diese allgemeinere Aus­sa­ge besteht keine Begrenzung nach unten. Es wird absolute Priorität auf die Interes­sen von Per­sonen gelegt.

Eine qualitative Differenz kann aber nicht nur zwischen dem kategorialen Unterschied von per­sonalem und nichtpersonalem Interesse angenommen werden, sondern auch innerhalb dieser Kategorien. Das primäre Interesse aller Lebewesen liegt im Lebens selbst. Da Sin­ger den verschiedenen Lebensformen keine höhere Wertzuordnung nach evolutionären Ge­sichts­punk­ten zubilligt, müßte jede Lebensform einen absoluten Wert darstellen. In jeder Katego­rie ist Leben der höchste Wert. Es dürfte kein Leben - nicht einmal das Leben einer Mikrobe - ver­nichtet werden. Singer greift zu einer nichtutilitaristischen Begründung, daß per­sonales Le­ben einen höheren Wert besitzt, da Personen aufgrund eines besseren zeit­li­chen und ört­li­chen Orientierungsvermögens eine höhere Leidens- bzw. Freudensfähigkeit be­sitzen.[xlv] Die Be­gründung menschlicher Dominanz durch das Speziezismusargument wird mutatis mutan­dis auf personale Interessenspriorität abgeändert. Das Argument ver­la­gert sich auf personale Kri­terien.

 

Eine hermeneutische Analyse des Begriffs Interesse (welche von Singer nicht vorge­nom­men wurde) unter Berücksichtigung der ety­mo­lo­gischen Wurzeln läßt auf eine duale Be­deu­tungsstruktur schließen:

          1.  Es handelt sich um eine psychisch-geistige Disposition, eine Form des Be­wußt­s­eins, mit der eine besondere Aufmerksamkeit für ein Objekt (des Interesses) ausgedrückt wird. In dieser Interpretation wird Interesse als bewußte Zielgerichtetheit der eigenen Ambi­tionen er­lebt.

          2.  In der Interpretation, die den Nutzens- und Vorteilsaspekt dieses sprachlichen Aus­drucks hervorhebt. Als Fremdwort seit dem 15. Jahrhundert bezeugt, hat es seinen Ur­sprung im lateinischen “inter-esse”, welches sowohl die Bedeutung von “Zinsen” als auch von “Ge­winn, Nutzen, Vorteil” hatte.

 

Bei der Beurteilung von Interessen als Basis ethischen Handelns ist diese Form der Dif­fe­ren­zierung von Bedeutung.[xlvi] Interesse in der ersten Bedeutung kann nur von Personen ent­wic­kelt werden. Personales Interesse kann aufgrund bewußter Intelligenz von Nutzens­er­wä­gungen geleitet werden, dies stellt jedoch keine notwendige Bedingung dar. Eine Person kann auf den persönlichen Nutzen verzichten und die eigenen Interessen höheren unter­ord­nen, d.h. al­truistische Verhaltensweisen zeigen. Einem nichtpersonalen Wesen fehlt diese Freiheit und es kann nur aufgrund seiner triebhaften Natur agieren. Für nicht­personale We­sen kann In­teresse nur in der Bedeutung von Nutzen verstanden werden. Nichtpersonale Nutzens­er­wä­gun­gen können von Personen nur extrapolierend aus der eigenen Perspektive getroffen wer­den.

Aufgrund des fehlenden Bewußtseins kann bei nichtpersonalen Wesen keine intrinsische Wer­tigkeit angenommen werden, sehr wohl aber bei Personen aufgrund der qualitativen Dif­ferenz. Der Wert von nichtpersonalen Wesen ist auf die Empfindungsfähigkeit, d.h. auf die Em­pfindung von Leid und Lust restringiert. Wenn die Basis von Interessensabwägung ein Ver­gleich der Werte ist, muß das Interesse einer niedrigeren Lebensform, d.h. von nicht­per­sonalen Wesen, dem Interesse einer höheren Lebensform, d.h. von Personen im­mer wei­chen. Damit besteht auch eine entscheidende, qualitative Differenz bei einer Nivel­lierung auf Freu­dens- und Leidensfähigkeit von personalen und nichtpersonalen Wesen, welche in­kommen­surabel ist. Aufgrund der höheren Bewußtseinsform kann eine Person immer Priori­tät für ihre Interessen und eine instrumentale Wertigkeit im Sinne einer Nut­zens­interpretation des Inter­es­sensbegriffs für nichtpersonale Interessen geltend machen. Damit wären sogar Tier­experi­mente gerechtfertigt. Die Argumentationsstruktur zur Recht­fertigung von Tierver­suchen, z.B. bei der Erprobung eines Medikaments gegen Aids, ba­siert auf Interessen. Statt einer spezie­zistischen Begründung wird extensional der Perso­nenbegriff als Privilegierung her­angezogen. Das den Versuchstieren zugefügte Leid fällt aufgrund des mangelnden Selbst­bewußtseins nicht ins Gewicht.

Interesse als Grundlage für eine neue Ethik ändert nichts an den derzeitigen Prak­tiken, le­dig­lich der Begründungsmodus hat sich ge­ändert.

 

 

e) Interesse als fundamentales ethisches Prinzip

 

Der Interessensbegriff hat in der englischsprachigen Philosophie Tradition und ist schon bei Locke zu finden. Als ethisches Kriterium wird er nicht nur von Singer, sondern auch von anderen Philosophen herangezogen.

So betrachtet Helga Kuhse Interessen als Bausteine der Moral; Interesse und nicht das Le­ben als solches sind moralisch bedeutsam.[xlvii]

Hat aber Interesse tatsächlich für eine praktikable Ethik diesen Stellenwert ?

Interesse als Kriterium moralischen Handelns ist mangels konkreter Definition bezüglich des Objekt des Handelns sehr neutral. Die Begründungsstruktur liegt tiefer als bei einer norma­ti­ven Ethik, welche die moralische Handlung in konkreten Aussagen, wie “Du sollst nicht tö­ten”, definitorisch festlegt. Interesse als  ethisches Kriterium läßt sich deshalb auf alle Be­rei­che des Seins anwenden, durch Extrapolation sogar auf die Bereiche der Tier­welt. Die Ob­jek­te der ethischen Handlung werden nicht a priori, sondern a posteriori ein­gesetzt. Kon­krete Nor­men führen bei veränderten Situationen unter Umständen in der kon­kreten An­wen­dung zu Paradoxien, Falsifizierung und Verifizierung kann aber relativ leicht durch­geführt wer­den. Das Interesse des anderen als Entscheidungskriterium für ethische Hand­lungen her­an­zu­ziehen, klingt prima facie sehr verlockend und scheint sich im Konnex mit dem Prinzip der glei­chen Interessensabwägung als zuverlässiges, ethisches Prinzip an­zu­bie­ten. Wie aber aus den vorangegangenen kasuistischen Fallbeispielen hervorgeht, ist es sehr leicht, durch simple, fiktive Konstruktionen Antinomien zu erzeugen und durch Beispiele aus dem realen Leben ist nachzuweisen, daß konfligierende Interessen in exi­stentielle Aporien führen. Inter­es­sen haben eine komplexe Struktur, die Vielzahl der zu be­rücksichtigenden In­ter­essen kann vom Ent­scheidungsträger nicht überblickt werden.

Die Verlagerung des moralischen Kriteriums auf die Interessensebene bedeutet eine Ver­la­ge­rung auf die Kriterien Vorteil und Nachteil, was nach einer Hermeneutik des Interes­sens­be­griffs eine Verlagerung auf die Nutzensinterpretation nach sich zieht. Intrinsische, absolute Wer­te sind dadurch nicht möglich. Die unterste gemeinsame Basis, die Leidens- und Freud­fä­hig­keit von Lebewesen, ist deshalb ebenfalls keine feste Grenze, sondern kann bei Bedarf un­ter­laufen werden.

Der Gegenstand von Interesse läßt sich aber nicht auf Ethik reduzieren. Brief­marken­sam­meln, Lustgewinn, sexuelle Befriedigung, Geldverdienen, Bergsteigen kann genauso Ge­gen­stand des Interesses sein, wie das Interesse des Lustmörders, durch Be­frie­digung sadi­stischer Triebe Lust zu gewinnen - auch wenn dies den Tod des Ge­peinigten be­deutet, oder viel­leicht auch gerade deshalb - oder das Interesse des Bankräubers, seine drückenden Schul­den durch die Beraubung eines reichen Geldinstitutes loszuwerden.

Intension und Extension des Begriffs Interesse sind derart vage, daß die zusätzliche Instanz eines moralischen Telos bzw. einer moralischen Motivation erforderlich ist. Moralität muß als Objekt des Interesses postuliert werden. Man müßte quasi von einem moralischen In­ter­esse sprechen.[xlviii] Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung und das Prinzip des sin­ken­den Grenznutzens können aufgrund der ökonomischen Orientierung diese Funktion nicht über­nehmen.

Durch die Verankerung ethischer Beurteilung im  Interesse soll eine universale Beurtei­lung durch einen unparteiischen Beobachter ermöglicht werden. Auf die Unzulänglichkeit des Sin­gerschen Universalitätsbegriffs wurde bereits im vorigen Paragraphen hingewiesen.

Bei einem Vergleich der verschiedenen Umstände konfligierender Interessen kann bei ei­ner 100­prozentigen Kompatibilität der verschiedenen Interessen nach quantitativen Krite­rien auch bei einer völligen Gleichwertigkeit eine Antinomie entstehen, wodurch sich das Prinzip der gleich­wertigen Interessensabwägung als nutzlos erweist.

Bei qualitativen Differenzen der verschiedenen Interessen[xlix] entsteht ein nicht zu über­brüc­ken­der Hiatus, wobei die niedrigeren Interessen immer ins Hintertreffen geraten müssen, weil keine kommensurable Vergleichsbasis gefunden werden kann.

Eine konsequentialistische Orientierung ist ebenfalls nicht hilfreich, da Folgen immer nach Nutzenskriterien beurteilt werden. So kann der Bankräuber argumentieren, daß durch den Raub von S 500.000,- seine und die Existenz seiner Familie gerettet ist, während für die Bank S 500.000,- von derart geringem Interesse sei, daß dies überhaupt nicht ins Gewicht falle.

 

Interesse kann deshalb als gutes Hilfsmittel im Sinne einer goldenen Regel für persönliche, mo­ralische Entscheidungen herangezogen werden, stellt aber in keiner Weise das univer­sale, ab­solut gültige Fundamentalprinzip einer praktikablen Ethik dar.

 

 

 

 

 

§ 3 Personalität als ethisches Kriterium

 

a) Die Grenze zwischen Tier und Mensch

 

Singer weist die speziezistische Begründung zum Schutz menschlichen Lebens zurück. Die Zu­gehörigkeit zur Spezies Mensch ist keine hinreichende Bedingung zu einem beson­deren Schutz menschlichen Lebens bzw. menschlicher Werte. Menschliche Interessen ha­ben keine Priorität. Ein besonderer Schutz steht nur Lebewesen zu, welche die Bedingun­gen einer Sub­sumtion unter den Personenbegriff erfüllen. Nicht die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sa­piens, sondern die Zugehörigkeit zum Kreis der Personen stellt einen hö­heren Wert dar und ge­bührt eine besondere Zuwendung. Alle Gattungen und Lebensfor­men werden nach dem Ge­sichtspunkt einer Gleich­behandlung ihrer Interessen beurteilt. Durch die von Singer ange­wen­deten Personali­tätskriterien wird eine ethische Grenzzie­hung nicht zwischen den Gat­tungen vorgenommen, sondern die ethische Grenze läuft zwi­schen den Mitgliedern der glei­chen Gattungen hindurch. Die Mitglieder einer gleichen Gattung können sowohl zum Kreis der Personen zählen, als auch ausgeschlossen sein, wie z.B. geisteskranke Menschen, Be­hin­derte oder neugeborene Kinder.

Singer erweiterte in der 2. Ausgabe die Beispiele, womit er den Personenstatus bestimmter Tier­arten argumentativ zu belegen versucht (B 110ff). Als Beweis für den Personenstatus von Affen führt er folgende Exempel an:

         das Erlernen einer beschränkten Anzahl von Zeichen (350) durch den Schimpansen Washoe und 1000 Zeichen durch den Gorilla Koko,

         das Erkennen eines Gorillas auf einer Photographie durch den Orang-Utan Chantek,

         das Zeitempfinden von Schimpansen, welche offensichtlich das Aufstellen eines Christ­baums zum richtigen Zeitpunkt erwarteten,

         das Verwenden verschiedener Schlüssel durch einen Schimpansen, um zu einer Ba­na­ne zu gelangen,

         das Umgehen eines Hindernisses - einen elektrisch geladenen Zaun - durch gemein­schaft­liche Zusammenarbeit, um zu einem Baum und damit zu den Blättern zu gelan­gen, etc.

Für Singer besteht keine Schwierigkeit, Tieren die Fähigkeit konzeptuellen Denkens bei feh­len­der verbaler Ausdrucksfähigkeit zuzuschreiben (B 114). In die Liste eventueller Per­sonen nimmt er auch Katzen, Hunde und Schweine auf. In seiner Begründung für eine even­tuelle Per­sonenhaftigkeit von Tieren verwendet er Konditionalsätze und konzediert, daß alle seine Re­flexionen zu diesem Thema rein spekulativ sind (B 119). Im Zweifelsfall seien diese Tier­arten aber dem Kreis der Personen zuzuordnen und besonders zu schützen, d.h. Singer be­zieht eine sehr vorsichtige Position und bleibt eine definitive Aussage schul­dig.

 

Gegen die Argumente Singers läßt sich anführen, daß wenn andere Speziesformen die Kri­terien des Personenstatus erfüllen könnten, und zwar in einer strengen Auslegung der Kri­te­rien, müßten sie eigentlich aufgrund dieser Fähigkeiten - wel­che ein gewisses minimales In­telligenzniveau beinhalten - mit der menschlichen Rasse kom­munizieren können, und zwar auf personalem Niveau. Daß keine andere Speziesformen auf der Erde diese Fähig­keit hat, läßt sich nicht bestreiten. Aufgrund von DNA-Analysen läßt sich feststellen, daß der letzte ge­meinsame Vorfahr des Menschen und der verschiedenen Men­schenaffen, Schimpansen und Bonobos, vor ca. 8 Millionen Jahren gelebt hat. Die Erb­sub­stanz bei die­sen drei Arten stimmt zu mehr als 98 Prozent überein[l]. Wenn tatsächlich Per­sonalität bei den Menschenaf­fen vor­läge, müßte eine Verständigung zwischen diesen drei Arten auf ei­nem weit höheren Niveau er­fol­gen können als dies de facto der Fall ist. Eine schein­bare Verständigung mit ei­ner Re­striktion auf ein paar hundert Zeichen stellt keine hin­reichende Bedingung zum Nach­weis von Personalität dar, da es sich aufgrund des doch relativ hohen In­telligenzniveaus von Menschenaffen durchaus um ein konditioniertes Erlernen be­stim­m­ter Reaktionen handeln kann, wodurch der Anschein eines Verstehens erweckt wird. Bei allen Beispielen, welche Singer anführt, ist pri­mitives Triebverhalten die Ursache und auf Nah­rungsaufnahme bzw. Sexualität gerichtet.

 

Gehlen setzt mit Herder die Differenz des Menschen zum Tier auf eine völlig andere Weise an:

 

“Man kann über das Verhältnis des Menschen zum Tier nichts Treffenderes sagen, als daß der Unterschied nicht ‘in Stufen, oder Zugabe von Kräften‘ liege, so daß also der Verstand des Menschen nicht seiner tie­rischen Organisation aufliegt, sondern: ‘Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur, …die bei den Men­schen so Ver­nunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt, und bei den Tieren Instinkt wird‘. Die ‘ganze Haushaltung der Natur‘ schlägt also beim Menschen eine neue Rich­tung ein.” [li]

 

Auch eine graduelle Vermehrung der Intelligenz von Primaten würde ohne Änderung der Gesamtkonstitution keineswegs einen Übergang zum Menschen bedeuten.[lii] Mit Bezug auf die “Sachlichkeit” des Verhaltens, d.h. das Sicheinlassen auf die im Umgang ent­wickel­ten Eigenschaften der Dinge selbst, was ein wesentliches Konstituens der mensch­lichen Natur ist, verweist Gehlen darauf, daß Schimpansen ablösbare “Inseln” sachlichen Ver­haltens nur unter künstlichen Laboratoriumsbedingungen unter dem Druck anschau­licher Trieb­ziele vor­über­gehend zeigen, was aber keine Anfänge, sondern die obersten Leistungs­gren­zen seien.[liii] Der Mensch als unspezialisiertes und organisch mittelloses Kultur­wesen kann durch pla­nende und vorausschauende Veränderung der vorgefundenen Um­stände seine Kultursphäre schaffen, wäh­rend Tiere aufgrund ihrer Spezialisierung auf ökologische Ni­schen und geo­graphische Ört­lichkeiten festgelegt sind.[liv] Der Mensch deu­tet seine Welt aus, nimmt sie in sich hinein, d.h. er vermittelt selbst die inhaltlichen und kon­kreten Be­stimmungen seiner Antriebe, er wird sich selbst notwendig zum Problem.[lv]

 

“Das bloße Herumexperimentieren und Entlanggleiten am Gegenwärtigen ist nicht die Aufgabe des Men­schen, sondern das Umschaffen der Welt von der Zukunft her.”[lvi]

 

Nach Hegel wird der Mensch durch sein Wissen um sein Tiersein vom Tier zum Men­schen.

 

Fichte schreibt: “Ich will frei sein auf die angegebene Weise, heißt: ‘Ich will mich machen zu dem, was ich sein werde.‘”[lvii]

 

Bei allen Verdrängungsmechanismen, die beim Menschen wirken, um ihm die Endlichkeit sei­ner Existenz zu verschleiern, weiß der Mensch um seinen Tod, und Philosophen haben immer wieder auf dieses Wissen hingewiesen.

 

Alle diese Argumente zeigen eine höhere Form des Bewußtseins, welche als Konstituenten von Personalität betrachtet werden können und stellen notwendige Bedingungen des Selbst­bewußtseins - des Bewußtseins seines Selbst in einer sachlichen Umwelt - dar, wel­che auch von den dem Menschen genetisch nächsten “Verwandten”, den Primaten, nicht erfüllt wer­den können, geschweige denn von anderen Speziesformen. Die Differen­zierung des Tiers zu sei­ner Umwelt, sein zeitliches Orientierungsvermögen, etc., sind Teile seiner Überlebens­mecha­nismen und basieren auf instinktbestimmtem Verhalten. Mit der Spezies Homo sa­piens als animal rationale trat in der Evolution ein qualitativer Sprung auf, der Vergleiche mit anderen Speziesformen höchst problematisch erscheinen läßt. Das Bewußt­sein des Men­schen hat ein - in der Singerschen Diktion das personale - Niveau, welches aufgrund der qualitativen Dif­fe­renz keine Vergleiche mit animalischen Lebens­formen zu­läßt.[lviii]

 

 

b) Personalität des Homo Sapiens

 

Der “Begriff Person hat für unsere Zivilisation zentrale Bedeutung, und dessen Kon­se­quenz, der Gedanke der Menschenrechte, ist von der Art, daß kein Mensch auf der Erde sich seiner Evi­denz entziehen zu können scheint.” Mit diesen Worten charakterisiert Ro­bert Spaemann die Bedeutsamkeit dieses Begriffs für die Menschheit.[lix]

Die vorchristliche Antike verstand unter persona die Rolle im Theater oder in der Ge­sell­schaft. Der Apostel Paulus hat noch diesen antiken Begriff der Person im Auge. In der theo­lo­gischen Trinitätslehre wurde dieser maßgebliche Personenbegriff ausgebildet und auf die Person Jesu als Träger zweier Naturen, der göttlichen und der menschlichen, in der Folge auf den Menschen übertragen. Boëthius gibt die für die nächsten tausend Jahre maß­gebliche Definition: “persona est individua rationalis naturae substantia.”[lx] John Locke unterschied als erster zwischen Personen und Menschen.[lxi] Im englischen Empiris­mus wurde diese Dif­feren­zierung tradiert.

Die Kritik Tooleys und Singers am Speziesargument, daß die Zugehörigkeit zu einer Spe­zies, unabhängig von den tatsächlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des individuel­len Ex­em­plars, keine moralische Relevanz hat, wird - nach Anton Leist[lxii] - heute unter den Philo­so­phen all­gemein akzeptiert.

Singer begründet die moralische Relevanz des Personalitätskriteriums mit folgenden Wor­ten:

 

“The biological facts upon which the boundary of our species is drawn do not have moral significance. To give preference to the life of a being simply because that being is a member of our species would put us in the same position as racists who give preference to those who are members of their race.” (B 88)

 

Er rekurriert auf die antike Praxis, mißgebildete Kinder zu töten und führt die Positionen Pla­tons und Aristoteles‘ an, um den Anspruch einer Heiligkeit des Lebens für Angehörige der Spe­zies Mensch zurückzuweisen. Der tief eingewurzelte Glaube im westlichen Den­ken, daß die menschliche Rasse einzigartig und deshalb zu privilegieren sei, gehe auf zwei christ­liche Leh­ren zurück:

1.   auf den Glauben an ein ewiges Leben und

2.   daß der Mensch als Geschöpf Gottes dessen Eigentum sei und deshalb nicht ge­tötet werden dürfe. (B 88f)

Durch das Herstellen eines Bezugs auf die Gleichheit in den verschiedensten Bereichen des menschlichen Lebens, wie Unterschiede zwischen Rassen, den Geschlechtern und den da­mit verbundenen Prinzipien (B 88) wird die Notion nahe­gelegt, daß eine unterschiedli­che Be­hand­lung der verschiedenen Speziesformen gegen die Prinzipien der Gleichheit verstoße und das Speziesargument wird endgültig verworfen (B 89).

 

Die herausragende Stellung personalen Lebens - komparativ zu den anderen Lebensformen - wird mit den Eigenschaften des Bewußtseins-seiner-selbst als Individuum mit tempo­ra­lem Ori­en­tierungsvermögen in Vergangenheit und Zukunft angegeben.[lxiii] Nur Personen sind auf­grund dieser Eigenschaften in der Lage, Präferenzen zu entwickeln. Ein Lebe­we­sen, wel­ches keine antizipatorische Disposition zu seiner zukünftigen Existenz hat, kann keine Präfe­renzen in Hinblick auf diese Zukunft entwickeln (B 95).[lxiv] Aufgrund dieser Ei­gen­schaften ist das Töten von Personen gravierender als das Töten anderer Lebewesen, da Personen in ih­ren Präferenzen zukunftorientiert und damit leidensfähiger sind. Das Töten einer Person verstößt gegen die zentralsten und be­deu­tendsten Präferenzen, die ein Lebe­wesen haben kann (B 95). Die Präferenzen anderer Lebens­formen können sich ledig­lich auf Empfin­dungsfähigkeit beschränken.[lxv]

 

Für Roland Wittmann ist die Differenzierung zwischen den Seinskategorien Mensch und Sein eine implausible ontologische Voraussetzung.[lxvi]

 

Der evangelische Theologe Joseph Fletcher veröffentlichte 1972 in seinem Werk Indica­tors to humanhood: a tentative profile of man fünfzehn positive und fünf negative Kri­te­rien, wel­che die Bedingungen für das Menschsein darstellen:

 

Positive Kriterien des Menschseins:

 

1.    Minimale Intelligenz: Bei einem IQ unter 20 gelten Mitglieder der Spezies Homo sapiens nicht mehr als Personen.

2.    Selbstbewußtsein: hat eine zentrale Rolle für die Persönlichkeits­entwick­lung des Men­schen. Bei Primaten und anderen höherentwickelten Tieren ist es im ange­nom­menen Sinn wohl nicht vorhanden.

3.    Selbstkontrolle: Bei Fehlen eines unkorrigierbaren zielgerichteten und kontrol­lier­ten Verhaltens fehlt das Personalitätskriterium.

4.    Zeitempfinden: Hier ist lediglich die Dimension der Uhrzeit gemeint.

5.    Zukunftsorientiertheit: Nicht-menschliche Lebewesen leben vermutlich nur “nach dem Magen”.

6.    Gefühl von Vergangenheit: Diese Eigenschaft macht den Menschen zu einem kul­tu­rellen Wesen im Unterschied zum instinktgebundenen Tier.

7.    Die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen aufzunehmen: Politische, freund­schaft­li­che, be­rufliche, wirtschaftliche, romantisch-erotische Beziehungen des Men­schen gehen über das instinktgetragene soziale Verhalten des Tieres hinaus.

8.    Verantwortung für andere, Nächstenliebe: Dieser Zug dürfte gattungsspezifisch sein.

9.    Kommunikation: Völlige und unkorrigierbare Entfremdung und Kontaktlosig­keit sind als Zustand der Dehumanisierung aufzufassen. Solche Individuen sind sub­per­sonal.

10.  Existenzielles Wissen: Der Mensch hat ein nur begrenztes Wissen von der Natur, ist ihr aber nicht ohnmächtig ausgeliefert. Gänzliche Unwissenheit und Hilf­losig­keit sind gewissermaßen “Antithesen des Menschseins”.

11.  Wissensdrang: Anomie, Gleichgültigkeit, Indifferenz sind inhuman. Der Mensch ist ein Lernender, ein Wissender, ein Werkzeugerfinder und -benutzer.

12.  Veränderung und Veränderbarkeit: Individuelle Unveränderbarkeit bzw. sich ei­ner Veränderung dauerhaft widersetzen verneint menschliche Kreativität.

13.  Gleichgewicht zwischen Rationalität und Gefühl: ist notwendig für das “Hu­ma­num”.

14.  Einmaligkeit: Eine Person sein bedeutet, eine Identität besitzen, erkennbar und mit Namen ansprechbar sein. Eine Person hat das Recht auf genotypische Ein­ma­ligkeit.

15.  Neo-kortikale Funktion: Ohne Synthetisierungsfunktion des zerebralen Kortex gibt es keine Person, sondern nur organisches Leben.

 

 

Negative Kriterien für das Menschsein:

 

1.    Der Mensch ist keineswegs nicht- bzw. antikünstlich (Man is not non- or anti-arti­ficial). Ein außerhalb des Mutterleibes entwickeltes Individuum hat men­sch­lichen Wert.

2.    Das Wesentliche des Menschseins liegt nicht in seiner Reproduktion. Der Mensch ist eine Person, auch wenn er sich nicht fortpflanzt.

3.    Menschsein hängt nicht von der Sexualität ab.

4.    Der Mensch ist kein Bündel von Rechten. Rechte sind nicht vorgegeben wie bio­lo­gische oder soziale Kontexte.

5.    Der Mensch ist kein gläubiges Wesen. Glaube ist bedeutend, aber nicht unver­zicht­bar.[lxvii]

 

Nach Selbsteinschätzung Fletchers handelt es sich hier um eine vorläufige Auflistung von In­di­katoren, welche ohne ausführliche Besprechung und Begründung keine argumentative Va­lenz besitzen. Vermutlich aufgrund erheblicher Kritik schwächte Fletcher seine Krite­rien spä­ter ab und reduzierte sie auf vier wesentliche Bedingungen: auf die neokor­ti­kale Funk­tion; das Selbst­be­wußt­sein; die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen und Glück zu empfin­den.[lxviii] Singer be­zieht sich expressis verbis auf Fletcher, als er seinen Personen­be­griff aus der Differenz des Men­schen in seiner biologischen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch und seiner Zugehörigkeit zum Per­so­nen­kreis entwickelt.

 

Der Philosph Murphy lieferte auf einem Symposium in Greenville, North Carolina, 1981, einen Beitrag mit dem provokanten Titel Do the Retarded Have a Right Not to Be Eaten? A rejoinder to Joseph Margolis.

Er greift die Position der Margolis‘schen Liberalismus-Idee an, welche darauf hinausläuft, daß es einer liberalen Gesellschaft aufgetragen ist, jene Bedingungen zu sichern und zu ver­bes­sern, unter denen die Behinderten -  leicht oder schwer geschädigt - ein gutes Leben füh­ren können. Murphy wendet ein, daß dasselbe Prinzip auch für nichtmenschliche Lebe­wesen gel­ten könnte, die mit uns in enger Gesellschaft leben. Die mangelnde Trenn­schärfe zwi­schen An­gehörigen der Spezies Mensch und Angehörigen anderer Spezies zeige die Schwä­che des Margolis‘schen Liberalitätsprinzips auf. Die moralische Besonderheit des Men­schen ist auf die­sem Weg zwar zu behaupten, aber nicht zu begründen.

Murphy weist darauf hin, daß er die Idee, einen Behinderten zu verzehren, genauso ab­sto­ßend finde wie einen charmanten und intelligenten Gorilla, wie z.B. Koko, zu essen. Er wollte nur nach­weisen, daß eine derart schockierende Vorstellung mit rationalen Mitteln zu ver­teidigen ist. Gattungszugehörigkeit hat keine moralische Relevanz.[lxix]

 

Die logische Konsequenz antispeziezistischer Argumentationsformen führt in eine Teilung der menschlichen Gemeinschaft: die einen sind drinnen und genießen die Privilegien und die an­deren haben draußen zu bleiben. Sie erfüllen zwar die gleichen biologischen Voraus­set­zun­gen, erfüllen jedoch nicht die Anforderungen des Personalitätskriteriums.

 

 

Potentialität

 

In Verbindung mit einer Argumentation, welche Potentialität als Rechtsanspruch zurück­weist, führt eine auf Personalität fundierte Ethik zum Ausschluß biologischer Menschen in vier mög­lichen Fällen:

 

1.  alle Menschen bis kurz nach der Geburt

2.  viele alte (senile) Menschen

3.  Menschen, welche ihre Personenhaftigkeit aufgrund von Unfällen oder auf­grund von Erkrankungen verloren haben

4.  alle schlafenden oder bewußtlose, d.h. temporär nicht bei Bewußtsein befind­li­chen Menschen.

 

Die Berücksichtigung von Potentialität weist Singer in der ersten Ausgabe mit den Worten zu­rück wie folgt:

 

“In general, a potential X does not have the rights of an X. Prince Charles is a potential King of England, but he does not have the rights of a king. Why should a potential person have the rights of a person?” (A 120)

 

In der zweiten Ausgabe wird das Argument wie folgt abgeändert:

 

“Prince Charles is a potential King of England, but he does not now have the rights of a king. In the absence of any general inference from ‘A is a potential X‘ to ‘A has the rights of an X‘, we should not accept that a potential person should have the rights of a person, unless we can give some specific reason why this should hold in this particular case.” (B 153)

 

Die Änderung  in der Formulierung hat weitreichende Konsequenzen. Während in der er­sten Ausgabe die Rechte einer potentiellen Person hinterfragt werden, wird in der zweiten eine Begründung gefordert, daß ein Personenstatus vorliegt. Außergewöhnliche Gründe müs­sen angeführt werden, was de facto bedeutet, das ein Individuum in der Lage sein muß, seine Per­sonenhaftigkeit rational zu vertreten.

 

Die Diskussion, ob Potentialität als ethisches Kriterium personaler Rechte und Interessen an­erkannt werden soll, hat ihren Ursprung in der technologischen Entwicklung der Medi­zin, welche zuerst die Abtreibung und später die In-Vitro-Fertilisation ermöglichte. Singer und Karin Dawson[lxx] weisen darauf hin, daß eine große Differenz zwischen einem Embryo in der Uterus und einem Embryo in einer angelegten Kultur in einem Labo­ra­torium be­steht. Der Po­ten­tialitätsbegriff wird als logische und physische (reale) Mög­lich­keit[lxxi] diffe­renziert. Um eine potentielle Person zu werden, muß eine reale und nicht bloß logische Möglichkeit vor­handen sein. Zwei Blastozysten, welche beide in ihrem Aussehen und in­härenten Eigen­schaf­ten identisch sind, können verschiedene Potentiale haben. Wäh­rend ein Embryo in der weib­lichen Uterus als Ergebnis eines Koitus eine potentielle Person ist, kann der andere keine Per­son werden, weil er in einer Laboratoriumskultur liegt, es sei denn, er wird in eine Uterus ein­ge­pflanzt.

 

Die Proponenten von Abtreibung wiesen die Begründung der Gegner, daß bei der Abtrei­bung potentielle Menschen getötet würden, damit zurück, daß Potentialität keine Rechte be­gründe. 1971 veröffentlichte Judith Thomson den Aufsatz Eine Verteidigung der Abtrei­bung[lxxii], in dem sie in Frage stellte, was gewöhnlich als nicht begrün­dungs­be­dürftig ange­se­hen wurde: daß Abtreibung in der Regel moralisch verboten sein soll, wenn dem Fötus ein ver­gleich­bares Lebensrecht zukommt wie einem Erwachsenen. Sie hinter­fragte die Prämisse, daß ein Fötus vom Augenblick der Konzeption an eine Person sei[lxxiii] und kam zum Schluß, daß ein Fötus wahr­scheinlich schon eine geraume Zeit vor der Geburt eine Person geworden ist, vom Zeit­punkt der Konzeption aber nur ein menschliches Wesen (d.h. nur Spezies­zuge­hörigkeit be­sitzt) und deshalb eine frühe Abtreibung kein Töten einer Person ist.[lxxiv]

 

1972 veröffentlichte Michael Tooley den Essay Abtreibung und Kindstötung, worin er ge­gen das Potentialitätsprinzip argumentiert.[lxxv] In einem fiktiven Beispiel nimmt er an, daß in der Zukunft eine Chemikalie entdeckt werden würde, welche bei einem Kätzchen, in das Gehirn injiziert, die Entwicklung eines menschlichen Gehirns nach sich ziehen und das Kätzchen die Fähigkeiten eines erwachsenen Menschen entwickeln würde. Er folgert, daß es moralisch dann nicht gerechtfertigt wäre, Angehörigen der Spezies Homo sapiens ein Le­bensrecht zuzu­schreiben, ohne es auch den Katzen zuzubilligen. Zweitens wäre es nicht ernsthaft moralisch falsch, ein neugeborenes Kätzchen zu töten, anstatt die besondere Che­mikalie zu injizieren. Drit­tens sei es nicht ernsthaft moralisch falsch, nach dem Prinzip der moralischen Sym­me­trie[lxxvi] einen solchen Prozeß zu unterbrechen, solange das Kätz­chen noch nicht diejenigen Eigen­schaften entwickelt hat, welche ein Lebensrecht begründ­en. In Analo­gie zu diesem Bei­spiel folgert er, daß es auch nicht moralisch falsch ist, einen Ange­hörigen der Spezies Homo sapiens zu vernichten, solange diese Eigenschaften fehlen. Als Folge die­ser Argu­mentation ist nicht nur Abtreibung, sondern auch Infantizid erlaubt, wo­bei Tooley einen legalen Zeitraum von einer Woche vorschlägt.[lxxvii]

Die Reflexionen Humes in den Essays on Suicide and the Immor­tality of the Soul lassen auf einen langen Diskurs um den Wert von Kleinkindern schließen.[lxxviii]

Singer zitiert Bentham, welcher Infantizid als unbedeutend be­zeichnet.[lxxix]

Nach Anstötz ist die vielleicht einzige Stelle in der deutschsprachigen, ein­schlägigen Lite­ra­tur, wo das Töten schwerstbehinderter Neuge­borener erwogen wird, bei Musschenga (1987) zu finden, eine aus dem Holländischen übersetzte und von der deutschen Lebens­hilfe für gei­stig Behinderte e.V. herausgegebenen Schrift.[lxxx]

Ernst Haeckel vertrat allerdings schon 1904 in seinem Werk Die Lebenswunder die Posi­tion, daß die Tötung neugeborener, verkrüppelter Kinder nicht unter den Begriff des Mor­des fal­len. In­fantizid sei sowohl für die Beteiligten, als auch für die Gesellschaft eine nütz­liche Maß­regel. Er pries die Spartaner, welche durch diese künstlichen Maßnahmen eine Stei­ge­rung der kör­perlichen Vollkommenheit erreichten.[lxxxi]

Daß aktuale Personalität und nicht potentielle einen Rechtsanspruch begründet, wird von ver­schie­den Autoren, wie Hare, Warnock, Lockwood geteilt.[lxxxii] Die Verknüpfung eines aktu­alen Per­sonenstatus mit dem Recht auf Leben bzw. personalen Rechten führt bei kon­sisten­ter Ar­gu­mentation in die Crux, daß Menschen diesen Status wieder verlieren kön­nen.[lxxxiii]

Tooley schreibt im Aufsatz Abtreibung und Kindstötung einem Organismus ein gewich­ti­ges  Le­bens­recht nur dann zu, wenn dieser über einen Begriff des Selbst als fort­dauern­des Sub­jekt von Erfahrungen und anderen mentalen Zuständen verfügt und auch glaubt, daß er selbst eine solche fortdauernde Entität darstellt.[lxxxiv] In einem Nachtrag von 1989 wird bei ei­ner Be­grün­dung des Lebensrechts die Emphase auf tatsächliche psychische Eigenschaft ge­legt und nicht bloß potentielle.[lxxxv] In seinem Buch mit dem Titel Abortion and Infanti­cide wird die Be­grün­dung eines Rechtes auf Leben um das Kriterium erweitert, daß das Be­wußtsein einer fort­dau­ern­den Existenz tatsächlich (aktual) vorhanden sein muß oder zu­mindest irgendwann früher vor­gelegen haben muß. (B 98)

Nach Singer wird durch diese extensionale Erweiterung die Problematik einer argumen­ta­tiven Begrün­dung des Lebensrechts bei aktual schlafenden oder bewußtlosen Men­schen be­seitigt und fin­det seine Zustimmung. Singer setzt den Wert perso­nalen Lebens über den ei­nes lediglich em­pfin­dungsfähigen Lebewesens und begründet dies mit der Fähigkeit, Prä­fe­renzen für die eigene Zukunft ent­wickeln zu können.[lxxxvi]

 

 

c) Der Personenbegriff Kants

 

 Der kontemporäre Personendiskurs versucht die Kriterien einer ethischen Disponibilität so zu adaptieren, daß das moralisch Schützenswerte in einer sich durch technologische Ent­wicklung ständig verändernden, menschlichen Welt erhalten bleibt. Singer glaubt Per­so­nali­tät in ande­ren Gattungen vorgefunden zu haben und räumt diesen nichtmenschlichen Per­so­nen nach dem Prinzip der Gleichheit die Rechte von Personen ein.

Bei Kants Personenbegriff liegt die Priorität auf Moralität und Vernunft. Vernunftlosen We­sen schreibt er einen nur relativen Wert als Mittel, den vernünftigen Wesen als Per­so­nen einen Zweck an sich selbst zu.[lxxxvii] Die vernünftige Natur setzt sich[lxxxviii] ihren Zweck selbst. “Eine Per­son ist” nach seiner Rechtslehre “dasjenige Subjekt, dessen Hand­lungen einer Zurech­nung fähig sind.” Die Person ist nur Gesetzen unterworfen, die sie sich selbst gibt.[lxxxix]

In der Anthropologie charakterisiert er die Person als mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattet. Selbst in den dunkelsten Vorstel­lun­gen eines Pflichtgesetzes ist eine Person mit dem Gefühl ausgestattet, daß ihr oder durch sie an­deren recht oder unrecht geschieht.[xc] Als moralische Persönlichkeit hat der Mensch die Frei­heit eines vernünftigen Wesens und der moralischen Gesetze, als psycho­logische Per­sön­lichkeit das Vermögen, sich der Identität seines Daseins bewußt zu sein.[xci]

“Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch praktischen Ver­nunft, ist über allen Preis erhaben;…” Die Menschheit in seiner Person ist von jedem Men­schen ein­forderbar.[xcii]

Er führt Differenzierungen im Personenbegriff nicht auf biologisch-faktische Unterschiede zurück, sondern die Differenz konstituiert sich aus dem Verlust des moralischen Wertes wie z.B. durch sittlich-falsche Kriecherei, Heuchelei, Schmeichelei.

Sein Personenbegriff geht über den eines individuellen hinaus, wenn im ehelichen Leben das ver­einigte Paar gleichsam eine einzige, moralische Person ausmachen soll, welche durch den Ver­stand des Mannes und den Geschmack der Frauen belebt und regiert wird.[xciii]

 

Dieser - nach heutigem Geschmack - antiquierte Personenbegriff beinhaltet noch nicht die kom­plexe Struktur unseres auf naturwissenschaftlichem Wissen basierenden Perso­nen­ver­stän­dnisses, er wurde jedoch aus einem systematischen  Denken heraus formuliert, welches die absolute Gültigkeit von Moral und Ethik - infinit in Raum und Zeit - im Sinn hatte. Der Mensch war als Person nicht ersetzbar. Ob die utilitaristische Annäherung an die ethische Pro­blematik, durch ständige Adaption den wechselnden Bedingungen existentiellen Seins Ge­nüge zu tun und damit eine praktikable, allgemeingültige Ethik hervorzubringen ver­mag, wird sich erst im Verlaufe der weiteren Geschichte zeigen.

 

 

d) Kritik des Personalitätskriteriums

 

Die Vertreter einer auf dem Personenbegriff fundierten Ethik versuchen - offensichtlich in dem Bestreben eine gerechte Lösung zu finden - die Restriktion einer human-speziezi­stisch ori­entierten Ethik zu transzendieren, was bei den traditionell Denkenden zu einer Gegen­reak­tion geführt hat.[xciv]

Die Begründungen entstanden aus einer technologischen Entwicklung in der Medizin und ver­laufen sehr problemspezifisch, wie sich aus der Zurückweisung des Potentialitäts­argu­ments zum Zwecke der Rechtfertigung von Experimenten an Embryonen zeigt. Argumente mit einem restringierten Geltungsbereich tragen zur Lösung partikulärer Problem­bereiche bei, in der Formulierung ethischer Normen tritt der defiziente Charakter einer solchen Ar­gu­men­tationsbasis zutage: Eine Ethik, welche per definitionem nur in örtlichen, sach­li­chen, tempo­ralen, etc., Grenzen Gültigkeit besitzt, kann kaum als praktikable Ethik be­zeichnet werden und stellt in keiner Weise  eine hinreichende Bedingung für Gerechtig­keit dar. Sin­ger ver­suchte mit den Variablen Interesse, Empfindungsfähigkeit und Personalität eine Ethik zu schaf­fen, welche unter Anwendung der verschiedenen Gleichheitsprinzipien, insbeson­dere des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung bei aller Variabilität ein konstan­tes und sicheres Resultat, d.h. ein zuverlässiges Ergebnis, bei der Lösung mora­lischer und ethischer Probleme zu liefern vermag. Bei diesem philosophischen Lösungs­an­satz drängt sich der Ge­danke an die Analogie zu einem Rechenmodell auf. Das Ergebnis dieser Be­mühungen ist eine Ethik, welche zwar nach allgemeingültigen Gesetzen formu­liert ist, das “ethische Produkt” lei­det jedoch an einer Entscheidungsunsicherheit, welche sub­jektiven In­ter­pre­tationen unter­wor­fen ist.

Aufgrund eines Postulats, daß ethischen Normen Allgemeingültigkeit zukommen muß, ist eine Extrapolation der Kriterien von Personalität auf andere Bereiche als Embroyexperi­men­tierung und IVF notwendig und hier zeigen sich die negativen Auswirkungen dieses An­satzes:

Es kann kein Argument gegen jegliche Form des Infantizids gefunden werden. Nach Linda Richter, Professorin für Politikwissenschaften der Kansas State University, 1995, sollen in China, Pakistan und Indien 77 Millionen Mädchen durch Abtreibung oder nach der Geburt  ge­tötet worden sein. Das Töten neugeborener Mädchen wird in Kulturen prak­tiziert, wel­che Frauen als Belastung ansehen.[xcv]

Potentielle Gefahren liegen in der zukünftigen tech­nologischen Entwicklung der Medizin, welche bereits in der Vergangenheit eingesetzt hat. Die vollständige Kenntnis des men­schli­chen Ge­noms wird die Menschheit in die Lage versetzen, nicht nur genetisch be­dingte Krankheiten zu heilen, sondern zu verändern und durch Rekombinant-DNA-Ver­fah­ren völ­lig neue Orga­nismen zu schaffen, welche es vorher in der Natur nicht gegeben hat.[xcvi] Indivi­duelle Men­schen können in Hinblick auf ein qualitatives Sosein “geschaffen” wer­den. Ho­munkuli mit be­sonderen Fähigkeiten für bestimmte Aufgaben können produ­ziert werden. Die Gesellschaft der Zukunft wäre ein durch den Menschen per se deter­minier­tes soziales Gefüge, welches die sich ent­wickelnden Anforderungen und Probleme durch die “Ausgabe” genetisch modi­fi­zierter Individuen bewältigt. Es würde sich um Euge­nik auf dem aller­höchsten, sozial-te­chno­­kratischen Niveau handeln, wozu sich die bisher bekann­ten Prakti­ken primitiv anmuten. Die Kon­stitution der Menschen, das äußere Er­scheinungs­bild, etc., könnte An­forderungen an­ge­paßt werden, welche durch die natür­lichen Disposi­tionen nicht bewältigt werden könnten. So könnten z.B. für die Raumfahrt Men­schen mit mehreren Gliedern und erhöhtem phy­sischen und psychischen Resistenz­ver­mögen ge­schaffen werden, um den Strapazen stand­halten zu können. Um solche Wesen hominiden Ursprungs optimal einsetzen zu können, müß­te man sie mit Bewußtsein, Intel­ligenz, etc., d.h. mit personalen Eigenschaften i.S. der mo­dernen Per­sonalisten versehen.

Ein­wände aus konsequentialistischen und utilitaristischen Gründe können gegen eine sol­che Vor­gangsweise nicht angeführt werden: Die Menschheit profitiert, indem durch die Schöp­fung spezialisierter Wesen die diversen Probleme leichter oder überhaupt erst da­durch gelöst werden können, die geschaffenen Wesen können bei der Erfüllung ihres Zwecks ein be­frie­digendes und erfülltes Dasein führen. Sie könnten u.U. dazu noch besser in der Lage sein als die “natürlichen” Menschen, welche mit den von der Natur verlie­henen Defekten fertig wer­den müssen.

Eine auf aktualer Personalität basierende Ethik kann gegen die Schaffung solcher Wesen - oder  gegen monströse Schöpfungen - kein stichhaltiges Argument liefern, da die Eingrif­fen zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden, als das Gewebe ein amoralischer (For­schungs-) Ge­gen­stand war und deshalb keine Rechte hatte bzw. keinen moralischen Wert dar­stellt.

 

Ein weiteres - dzt. noch hypothetisches Problem - ergibt sich aus der Entwicklung einer ge­nu­in künstlichen Intelligenz. Singer definiert eine Person als selbstbewußtes Wesen mit zeit­lichem und örtlichem Orientierungsvermögen.[xcvii] Diese Definition kann durchaus auf eine in der Zukunft noch zu entwickelnde Maschine zutreffen. Das Argument der größeren Leidens­fä­higkeit aufgrund personaler Eigenschaften hat nur sekundäre Bedeutung und stellt nur die Folge der Bedingung einer auf Personalität fundierten Ethik dar. Als Kon­se­quenz dürfte ein in­tel­ligenter Computer eigentlich nicht mehr vernichtet werden.

Das Argument Tooleys verläuft etwas anders, da er sein Recht auf Leben mit dem Wunsch nach fortlaufender Existenz verknüpft.[xcviii] Sollte jedoch ein intelligenter Computer das Ver­lan­gen äußern, nicht vernichtet zu werden, wäre es sehr schwer, dies mit der Begründung ab­zu­lehnen, daß eine Maschine keinen psychischen Wunsch besitzen kann und deshalb keine personalen Rechte hat.

Lediglich die Personalitätskriterien Fletchers sind aufgrund ihres komplexen Aufbaus in der Lage, eine Differenz zwischen maschinelle Intelligenz und biologische Personalität zu setzen und damit (biologische) Personen durch eine ethische Argumentation in ihren mora­lischen An­sprüchen zu schützen.

 

Diese utopisch anmutende Perspektive zeigt die Gefahren auf, denen die Spezies Homo sa­piens durch eine auf aktualer Personalität fundierten Ethik ausgesetzt ist. Die Menschheit steht an der Schwelle einer essentiellen Verfremdung, welche das Menschenbild in der uns bekannten Form und Beschaffenheit aussterben läßt. Den kontemporären Ethikern, welche biologisch fundierte Personenhaftigkeit als Grundlage einer Ethik heranziehen, ist vorzu­wer­fen, daß sie u.U. aus ihrer Rolle als Beobachter, Interpretatoren und Kommentatoren[xcix] her­ausgetreten sind und als argumentative Causa efficiens den Untergang der Menschheit initiie­ren.

 

Daß die Personenhaftigkeit das Schützenswerte im Menschen konstituiert, wird nicht be­strit­ten. Es darf aber nicht übersehen werden, daß der Mensch in seiner natürlichen, bio­lo­gi­schen Funk­tionalität lediglich das notwendige Apriori für Personalität darstellt.

 

Die Personenethik reduziert den Schutz außer- oder vorpersonalen, menschlichen Lebens auf Empfindungsfähigkeit. Sie kann weder ein Argument gegen exzessiven, rein subjektiv moti­vierten Infantizid, noch gegen die Veränderung des menschlichen Genoms, was eine quali­tative Veränderung des Menschseins nach sich zieht, vorbringen und wobei zu be­fürch­ten ist, daß diese Modifikationen ins Negative umschlagen. Eine Ethik, die keinen Schutz der ei­ge­nen Gattung in ihren positiven Qualitäten zu liefern vermag, ist nicht nur frag­würdig, son­dern schlichtweg abzulehnen.

 

Aufgrund dieser Reflexionen läßt sich folgendes, ethisches Axiom postulieren:

Der Mensch ist sowohl als Individuum als auch als Spezies in seiner qualitativen, biolo­gi­schen Beschaffenheit unantastbar. Eingriffe in die menschliche Natur - auch auf mole­kula­rer bzw. genetischer Ebene - dürfen nur vorgenommen werden, um das Gelingen indivi­dueller Exi­stenz auf der Basis natürlicher Entwicklung zu gewährleisten.

 

Mit diesem Postulat soll nicht die Grundlage für eine neue Ethik gelegt werden und mora­li­sche Werte sollen nicht auf eine Humanethik restringert werden. Es sollen jedoch die ne­ga­ti­ven Auswirkungen einer personenorientierten Ethik, welche im dzt. philosophischen Dis­kurs ange­legt sind, vermieden werden. Die Gefahr, daß die existierenden Generationen das Sosein der nächsten Generationen festlegen und dadurch eine individuelle Deter­mi­niert­heit herbei­führen, ist eminent. Diesem Denken muß mit aller Entschiedenheit entge­gengetreten werden, da eine fehlerhafte, philosophische Begründung kausal für das Ende der mensch­li­chen Frei­heit in der uns bekannten Form sein kann.

 

Der Personenbegriff Kants hat als stillschweigende Prämisse den Menschen als Voraus­set­zung, läßt sich jedoch nicht auf eine rein speziezistische Interpretation reduzieren, was durch die Diktion “vernunftbegabtes Wesen” vermieden wird. Eventuell existierende extra­terrestri­sche, intelligente, personale Lebensformen werden dadurch ebenfalls erfaßt. Die Pro­blema­tik eines aktualen Personenstatus, welche auch bei einem temporären Verlust zu einem mo­ralfreien Status führt, fehlt.[c] Bei Kant hat eine Person Würde. Dieser Begriff fehlt in einer utilitaristischen Ethik. Die Kritiker der Singerschen Ethik haben immer wie­der auf den Ver­lust der Menschenwürde in diesem Denken hingewiesen.

Zweifelhaft ist jedoch, ob ein Würdebegriff aus einer Zugehörigkeit zur Spezies Mensch ab­geleitet werden kann, wie dies von Spaemann gefordert wird.[ci] Durch eine auf Geburt ge­gründete Zugehörigkeit erhält der Begriff Menschenwürde Leerformelcharakter. Ein spezie­zistischer Würdebegriff kann sich nur auf einen prophylaktischen Schutz indi­vidu­el­ler Frei­heit und Entwicklungsmöglichkeiten erstrecken.

Die Würde der Kantschen Person findet sich in der Moralität und der sittlichen Tat. Wür­de­los ist der­jenige, der unmoralisch denkt und handelt. Eine speziezistische Würde kann man nicht verlieren, da die Zugehörigkeit zur Spezies durch die Geburt festgelegt wird.[cii] Die indi­vi­duelle Menschenwürde ist eine im Rahmen der existentiellen Möglichkeiten er­arbeitete, die verloren gehen kann oder die nie erlangt wurde. Das Individuum trägt selbst die Verant­wortung für das Erlangen und die Schuld am Fehlen dieser Würde. Nicht der Verlust perso­naler Fähigkeiten[ciii] degradiert den Men­schen, sondern der Mangel oder der Verlust dieser Art von individueller Würde, welche sich im Den­ken und Handeln gegen­über seinen Mit­menschen und anderen Lebensformen äußert.

In diesem Sinne ist der Kantsche Personenbegriff als fundamentum ethicae weit geeigneter als der utilitaristische.

 

 

III. KAPITEL: Euthanasie

 

1. Abschnitt: Allgemeine Exposition

 

§ 1 Geschichtliche Entwicklung des Euthanasiebegriffs[civ]

 

Mit eÈyanas€a beschrieben die alten Griechen den schönen und leichten, einen guten, glück­lichen Tod. Es handelte sich um einen philosophischen und nicht um einen medizi­ni­schen Be­griff. Die Römer verstanden darunter einen guten, ehrenvollen, zumindest nicht schänd­lichen Tod; einen Tod in Erfüllung des Lebens, der schnell und ohne Schmerzen ein­tritt.

Das Mittelalter lehnt jeden Gedanken einer wie auch immer gearteten Lebens­verkürzung ab. Thomas Morus war der erste Vertreter der Neuzeit, welcher den Gnadentod verteidigte. Ro­ger Bacon sah die Aufgabe des Arztes nicht nur in der Erhaltung der Gesundheit und Hei­lung der Krankheiten, sondern auch in einer Verkürzung des Lebens, wenn eine Ver­länge­rung sinnlos war. Erasmus von Rotterdam wollte die Luetiker im Interesse des Staats­wohles dem Flam­men­tod überantworten, Martin Luther meinte beim Anblick eines blöd­sinnigen Kindes, es sei besser, diesen Wechselbalg zu ersäufen.

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wird Euthanasie in der ärztlichen Diskussion the­ma­tisiert. Eine Verkürzung des Lebens wird kategorisch abgelehnt. Euthanasie bedeu­tete Ster­be­begleitung, dem Sterbenden seinen Tod leicht zu machen. Erst gegen Ende des 19. Jahr­hunderts wird die Verfügbarkeit menschlichen Sterbens unter dem Einfluß darwi­ni­sti­scher Ideen in aller Öffentlichkeit diskutiert. Es entwickelten sich zwei Richtungen:

1.  Juristen, Mediziner und Theologen vertraten eine erweiterte Tötungserlaubnis unter dem Aspekt des Fortschritts und der echten Humanität. Unheilbar Kranke sollen nicht herzlos gequält werden. Ins Kalkül gezogen wird allerdings auch der Schaden und die Lasten, welche der Allgemeinheit aufgebürdet werden.

2.  Rassenfanatiker erhoben einen spezifischen Menschentypus zum Ideal.

1895 erschien die soziale Studie Das Recht auf den Tod von Adolf Jost. Als Grundlage diente die Philosophie Schopenhauers, mit Mitgefühl als Quelle von Moral und Sittlich­keit. Jost ordnete dem Leben per se keinen absoluten Wert zu. Der Wert eines Menschen­lebens bi­lanziert aus dem Wert des Lebens für den Betroffenen selbst und aus dem Nutzen und Scha­den, den das Individuum für seine Mitmenschen darstellt. Die Faktoren des Le­bens­wer­tes kön­nen nicht nur Null sein, sie können auch negativ werden. Wenn der Wert eines Le­bens unter Null sinkt, hat der Mensch selbst, aber auch die Gesellschaft das Recht, dieses Leben zu beenden. Der Begriff des lebensunwerten Lebens wird zwar nicht expres­sis ver­bis, aber inten­sional geprägt. Jost verwirft die egoistische Orientierung Nietzsches, da diese einer sachlichen Er­wägung im Wege steht, als auch religiöse Einwände und die Ge­fahren, die aus dem po­ten­tiel­len Töten aus Irrtum entstehen: Selbst wenn ein Irrtum vor­liegt, wiege dieser eine Fall leicht gegen das Elend der Tausenden und den Vorteil der Ge­sell­schaft.[cv] Vor der letzten Kon­sequenz schrickt Jost zurück: Die Frage der Geistes­kran­ken, deren Wert für das Gemein­wohl negativ ist, wird ausgeklammert.

Alexander Tille forderte 1895, die Herdenmoral der Humanität in bezug auf Fortpflanzung ab­zuschaffen. Minderwertige müßten von diesem Geschäft ausgeschlossen werden. Die sich entwickelnde Diskussion spielte sich im Spannungsfeld Humanität (Otto Ammon, Al­fred Ploetz, Ernst Haeckel), eugenischen Orientierungen (Wilhelm Schallmeyer) und so­zial­öko­nomischer Erwägungen (Ernst Haeckel) ab.

Durch einen Beitrag Roland Gerkans in der Zeitschrift Das monistische Jahrhundert wurde 1913/1914 eine heftige Diskussion um Euthanasie ausgelöst. Gerkan forderte, selbst schwer­krank, ein Gesetz zur Freigabe des Gnadentodes, der jedem unheilbar Kranken als Recht zu­stehen sollte.

Zu Beginn der 20er Jahre erreicht die Diskussion um Euthanasie durch die Schrift Die Frei­gabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche eine neue Dimension. Binding vertrat die These, daß der Mensch als gebore­ner Sou­verän über sein eigenes Leben  nach eigenem Gutdünken darüber ent­scheiden könne. Dies sei das erste aller Menschenrechte. Binding bedauert in diesem Zu­sam­menhang  den sozialen Scha­den, welcher durch Freigabe der Selbsttötung der Ge­mein­schaft aus dem Ver­lust noch durchaus nutzkräftiger Mitglieder entstünde! In bezug auf die Begrenzung von Euthanasie vertrat Binding die Überzeugung, daß die Verab­rei­chung von Medikamenten an qualvoll Leidende durch den Arzt, um dessen Marter vor­zeitig zu been­den, vom Gesetz nicht expressis verbis verboten sei, sondern lediglich nicht ausdrücklich erlaubt werde. Es würde lediglich eine wirkende Todesursache durch eine andere ersetzt. Er ver­knüpft das Schlag­wort vom Recht auf den Tod mit der Frage nach dem Wert des Men­schenlebens. Ein end­gültiges Urteil konnte seines Erachtens erst gefällt werden, wenn geklärt worden ist, ob das Menschenleben die Eigenschaft als Rechtsgut eingebüßt hat, daß die Fortdauer des Lebens für den Le­bensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat. Beklagt wird die nutzlos vergeudete Arbeitskraft, Geduld und Vermögens­aufwand in den Irrenanstalten. Binding sieht weder aus sozialer, noch sittlicher oder reli­giöser Perspektive ein Hindernis für das Töten in folgenden Fällen: “‘Die zufolge Krank­heit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu er­kennen ge­geben haben‘, die unheilbar Blödsinni­gen, die weder den Willen zu leben, noch zu sterben ihr eigen nennen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen verkörpern, die ‘geistig gesunden Per­sön­lichkeiten, die durch irgendein Ereignis bewußtlos geworden sind und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namen­losen Elend erwachen würden’”.[cvi]

Um Mißbrauch auszuschalten soll die Entscheidung über die Euthanasie einer Staats­be­hörde zugesprochen werden, deren Funktion jedoch auf das passive Moment beschränkt wird, d.h. die eigentliche Initiative bleibt dem antragsberechtigten Privatmann vorbehalten. Ein Aus­schuß, zusammengesetzt aus einem Arzt, einem Psychiater und einem Juristen, urteilen, ob dem Ansinnen stattgegeben werden kann. Entscheidungen dürfen nur einstim­mig gefaßt wer­den. Unsicherheit der Diagnose oder das Gespenst der Fehlerhaftigkeit: ‘Das Gute und das Ver­nünftige müsse geschehen, trotz allen Irrtumsrisikos; nimmt man aber auch den Irr­tum einmal als bewiesen an, so zählt die Menschheit ein Leben weniger. Aber die Mensch­heit ver­liert infolge Irrtums so viele Angehörige, daß einer mehr oder weniger wirklich kaum in die Waag­schale fällt.’

An diesen ersten, bereits 1913 konzipierten Teil knüpft Hoche in einem zweiten Teil an:

Hoche weist die offenkundige Relativität eines ärztlichen Wertekanons nach. Er entleiht wört­lich von Binding: ‘Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaften des Rechts­gutes ein­ge­büßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dau­ernd allen Wert verloren hat?’ Dies sei zu bejahen. Er differenziert den mehrdeutigen Begriff des Lebenswertes: Bei unrettbar Kranken und Verwundeten kann zwischen sub­jektiver und ob­jektiver Gewichtsbemessung eine mehr oder minder große Lücke klaffen, die unheilbar Blöd­sinnigen vermögen weder selbst ihrer Existenz Bedeutung abzuge­win­nen, noch können dies Außenstehende. Als Klassifikationsmerkmal geistig toter Krea­turen kann gelten: Der Zeitpunkt des Eintritts der Umnachtung, der Grad geistiger Öde, die Be­ziehungen zur Um­welt und die wirtschaftliche und moralische Bürde für die Umgebung. Den komplexen Ge­samt­be­reich schlüsselte er weiter auf in die Fälle, bei denen der Ver­stand erst im Laufe der Jahre da­hin­welkte, dazu rechnen Greisenveränderungen des Ge­hirns, Dementia praecox und die­je­nigen, welche von Geburt an Dunkelheit umfing, was durch Mißbildung des Gehirns, Hem­mung der Entwicklung im Mutterleib oder Krank­heits­vorgänge im Säuglingsalter ver­ur­sacht werden kann.[cvii]

Solche, welche nie Bewußtsein erlangt haben, hätten sowieso keine Beziehung zur Um­welt, da­gegen hätten die erst später vom Schwachsinn Heimgesuchten einen besonderen Affek­ti­onswert für Angehörige und Freunde, was man bei Überlegungen einer eventuellen Ver­nich­tung berücksichtigen müsse. Die geringste Belastung gehe von Paralytikern aus, welche der Aus­bruch des Gebrechens nur wenige Jahre von ihrem Ende trenne. Die näch­sten mit le­dig­lich minimal vermehrter Lebensspanne hätten die von Greisenblödsinn Be­trof­fenen, die durch ju­gend­liche Prozesse verödeten aber vegetierten noch zwei bis drei Jahr­zehnte dahin. Die All­ge­meinheit am schwersten treffen die Vollidioten, welche das Pflege­personal von zwei Men­schen­altern verschleißen können.

Alle Zeiten konfrontierten die Völker mit dem Problem, einen möglichen Konflikt zwi­schen sub­jektivem Recht auf Existenz und  objektiver Zweckmäßigkeit, nach denen Le­bens­be­rech­ti­gung abgewogen werden kann, zum Ausgleich zu bringen. Wie sie es be­wäl­tigen, ihn auf­zu­lö­sen, das reflektiert den Grad der jeweils erreichten Humanität.[cviii]

            Hoche zieht als Kriterien den finanziellen Aufwand an Anstaltsbediensteten und die na­tionale Lage heran, ob sich ein Mitschleppen dieser ‘Defektmenschen‘ lohne.

Er veranlaßte eine Umfrage bei einschlägigen deutschen Instituten, um über die pekuniären Verhältnisse Aufschluß zu erhalten und beklagt sich nicht nur über den finanziellen Auf­wand, sondern auch, daß die für den Betrieb benötigten Personen für weit nützlicher Auf­ga­ben versperrt werden. ‘Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pfle­gern ne­ben diesen Menschenhüllen dahinaltern.’

Die durch Blödsinn Verödeten vermögen gar keinen subjektiven Anspruch auf Existenz zu er­heben, weil ihnen alle Qualitäten des Subjekts abgehen. “Tilgung solcher Geschöpfe hat mit ei­ner mit Strafe bedrohten Tötung nichts gemein, da sie nicht, wie etwa Mord, einen Ge­gen­wil­len überwinden muß.”

            “Selbst Mitleid wird zu sinnlos leerem Akt entfremdet, denn wo es kein Leiden gibt, gibt es auch kein Mitleiden.”[cix]

Hoche hat die Hoffnung, wir möchten ‘eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Be­seitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine ge­fühlsmäßige Roheit, sondern  einen erlaubten nützlichen Akt darstellt. Eine neue Zeit wird kom­men, die von dem Standpunkt einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forde­rung eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Exi­stenz schlecht­hin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen.‘

Weder bei Binding, noch bei Hoche taucht der Begriff Euthanasie auf, aber viele der Schrif­ten, die im Anschluß erschienen, trugen ihn als Titel. “Der Begriff Euthanasie hat eine neue Qua­lität erreicht. Er bezeichnet nicht mehr die Bemühungen des Arztes um ein würde­volles Ster­ben, Euthanasie ist auch nicht mehr die Tötung auf Verlangen, sondern sie ist, wie der Titel schon sagt, die Vernichtung lebensunwerten Lebens.”[cx]

1933 verabschiedete das Reichskabinett das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach­wuch­ses.[cxi] Beamtete Ärzte und Anstaltsleiter waren antragsberechtigt.

Es bestand Anzeigepflicht für:

            1. angeborenen Schwachsinn

            2. Schizophrenie

            3. manisch-depressives Irresein

            4. erbliche Fallsucht

            5. Huntingtonsche Chorea

            6. erbliche Blindheit

            7. erbliche Taubheit

            8. schwere, körperliche Mißbildung

1935 wurde durch eine Erweiterung des Gesetzes Abtreibung bei Schwangeren erlaubt, bei denen eine Sterilisation durchgeführt wurde. Während der NS-Zeit sind zwischen 200.000 und 350.000 Menschen zwangssterilisiert worden.[cxii] In der geballten Propagandaflut fin­det sich nie ein Hinweis auf die Tötung des sogenannten lebensunwerten Lebens. Neben wirt­schaftlichen Gesichtspunkten wurden immer mehr die Aspekte einer zu steigernden Wehr­haftigkeit angeführt, um einer drohenden Entartung gezielt entgegenzutreten. Eine neue, ärzt­liche Ethik wurde propagiert: weg vom lebensunwerten Leben, hin zum behan­delbaren und heil­baren Volksgenossen; weg vom biologisch Minderwertigen, hin zur bio­logischen Hoch­wer­tigkeit. Die Sterilisationsgesetzgebung der Nationalsozialisten kann als Vorstufe zur Eu­thanasie - im Sinne der NS - aufgefaßt werden. Ab Frühjahr 1939 wurden Kinder mit Idio­tie, Mon­go­lismus, Hydrozephalus und anders mißgebildete Kinder getötet. Das Alter der Kin­der wurde von 3 auf 16 Jahre hochgesetzt, letztlich reichte in der Spalte Krank­heit die Angabe “Jude” oder “Zigeuner”. Ca. 5.000 Kinder wurden bis Kriegsende getötet.

Ende 1939 wurde mit der Euthanasie Erwachsener begonnen. Eine gesetzliche Grundlage gab es nicht, man konnte sich nur auf einen auf privatem Briefbogen geschriebenen Befehl Hitlers berufen. Euthanasie wurde als Vernichtungsstrategie auf sozialdarwinistisch-rassi­sti­scher Grund­lage zur Ausmerzung lebensunwerten und artfremden Lebens durchgeführt.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde keine öffentliche Euthanasiedebatte ge­führt. “Euthanasie” und “Gnadentod” wurden in der Bedeutung von “lebensunwertem Le­ben” ver­standen, waren aber nur für den internen, nicht öffenlichen Gebrauch bestimmt. Während des gesamten Ablaufs der Euthanasieaktionen wurde eine strikte Publi­kations­sperre verhängt. Im Film Ich klage an von 1941 wurde durch eine geheime Pressean­wei­sung das Eingehen auf das Thema Euthanasie untersagt. Der Begriff “Euthanasie” wird be­wußt vermieden. Es wird le­dig­lich die Frage aufgeworfen, ob einem Arzt das Recht zu­steht, auf Wunsch einem un­heil­baren Kranken die Qual abzukürzen.

In der bundesdeutschen Nachkriegsdiskussion wurde es aufgrund dieser Sprachregelung nötig, einen von der Vergangenheit unbelasteten Begriff einzuführen. Der Gerichts­psychia­ter Helmut Ehrhardt schlug 1965 die Differenzierung des Begriffs Euthanasie im Sinne der Ver­nichtung lebensunwerten Lebens und im Sinne von Sterbehilfe vor. Damit wurde ge­wis­ser­maßen ein terminologischer Befreiungsschlag geführt, der geeignet war, die an Binding und Hoche anknüpfenden Diskussionen aus dem Bereich des überhaupt Disku­tier­baren aus­zu­schließen. Die Präferenz für Sterbehilfe geht häufig mit zwei inhaltlichen An­nahmen einher: Einerseits werden die NS-Aktionen als Beleg dafür genommen, daß jede Bewertung von Leben als lebens­wert oder -unwert moralisch verwerflich ist, anderer­seits wird mit dem Be­griff Sterbe­hilfe unterstellt, daß nur Fälle der Hilfe beim Sterben, d.h. bei Menschen, welche sich im Sterbensprozeß befinden, moralisch erwägenswert sind. Leist hält diese beiden An­­nah­men nicht für sinnvoll, sondern sieht darin nur eine ver­ursachende Verwirrung im tra­di­tionellen Themenbereich.[cxiii]

 

§ 2 Die kontemporäre Situation

 

Die heutige, öffentliche Diskussion zur Euthanasie zeigt sich aus einer völlig anderen Per­spektive. Aufgrund der Meldungen internationaler Presseagenturen[cxiv] kann gefolgert wer­den, daß Euthanasie sich zu einem weltweiten Problem entwickelt hat. Die Motivation liegt aller­dings nicht in eugenischen oder sozialdarwinistischen Intentionen. Die moderne Medizin scheint nicht in der Lage zu sein, Moribunde ausreichend zu versorgen und un­heilbar Kranke for­­dern Euthanasie im antiken Sinne, um von ihrem Leiden erlöst werden zu kön­nen.

 

Durch das Parlament des Nordterritoriums Australiens - als einzige Legislative in der Welt - wurde die gesetzliche Grundlage für eine legale, aktive Euthanasie geschaffen, welche mit 1. Juli 1996 in Kraft trat. Initiiert wurde dieses Gesetz durch den ehemaligen Chief Minister des Nord­territoriums, Marshall Perron. Er wurde durch das Miterleben des lang­samen und qual­vollen Todes eines Ministerkollegen dazu veranlaßt. Die Verabschiedung dieses Geset­zes lö­ste heftigen Protest bei den Pro-Life-Organisationen aus. Es wurde mit 27.3.1997 durch den au­stra­lischen Senat außer Kraft zu gesetzt, obwohl ca. 80% der au­stralischen Be­völkerung Eu­tha­nasie befürworten. Aborigines opponieren aus stammes­ge­schichtlichen Mo­ralvorstel­lun­gen und aus Angst vor dem Zauber des weißen Mannes. Sie fürchten, daß sie bei sta­tio­nä­ren Behandlungen zwangseuthanisiert werden.

 

In den Niederlanden wird als einzigem Staat der Welt Euthanasie und ärztlich unterstützter Sui­zid seit 23 Jahren praktiziert. Euthanasie ist formell illegal, den Ärzten wird aber prak­tisch Immunität ge­währt, wenn bestimmte formale Prozeduren eingehalten werden.

 

In Oregon, USA, wurde aufgrund eines Referendums ein Gesetz inauguriert, welches ärzt­lich unter­stützten Suizid - nicht Euthanasie - legalisiert. Es ist aufgrund einer gericht­lichen Ver­fü­gung noch nicht rechtskräftig und unterliegt einem judikativen Verfahren.

 

Bemühungen in Japan, Neuseeland, den Philippinen, Hong Kong und China, ähnliche Ge­setze zu schaffen, schlugen fehl. In Japan wurden jedoch durch Gerichtsbeschluß Bedin­gungen fest­gelegt, unter denen Euthanasie erlaubt ist und in Taiwan dürfen lebenser­hal­tende Systeme abgeschaltet werden. In Schottland wurde es Angehörigen durch Gerichts­beschluß ermög­licht, lebenserhaltende Systeme einer 52jährigen abzuschalten, welche sich in einem ständig vege­tativen Zustand befand. Der ungarische Präsident begna­digte eine Mutter, wel­che ihre un­heilbare Tochter tötete.

 

Die Ärzteschaft ist zerrissen. Einerseits wird unter Berufung auf den hippokratischen Eid mit Erhaltung des Lebens und Heilen als Aufgabe des Arztes argumentiert, andererseits kon­ze­dieren weltweit immer mehr Ärzte, daß sie bereits aktive Euthanasie geleistet haben. Die Mo­tive sind immer integer und von dem Bestreben geleitet, aussichtloses Leiden zu be­enden.

 

§ 3 Der Suizid

 

Der Suizid kann von einem Diskurs über Euthanasie nicht getrennt werden. Die der suizi­dalen Dynamik inhärente Problematik läßt sich konsistent auf freiwillige Euthanasie über­tragen. Die Motive, die einen Menschen in den Selbstmord treiben, wären dieselben für ein legales Eu­tha­nasieverfahren.

Die Bezeichnung “Selbstmord” entstand erst im 17. Jahrhundert im deutschen Sprach­raum[cxv], während vorher - noch im deutschen Strafgesetzbuch des 16. Jahrhunderts - von “eige­ner Tö­tung” die Sprache ist.[cxvi]

 

a) Die Einstellung zum Suizid im europäischen Denken

 

Die Befugnis des freiwilligen Todes zählte in der Antike zur Freiheit im Leben der Philo­so­phen. Sokrates trank den Schierlingsbecher, obwohl er Gelegenheit zur Flucht aus dem Ker­ker gehabt hätte. Der fast hundertjährige Demokrit faßte den Vorsatz, des Hungers zu ster­ben. Epikur starb nach zweiwöchentlicher, als unheilbar erkannter Krankheit, unge­misch­ten Wein schlürfend, in einer Wanne heißen Wassers. Zenon, der Stifter der Stoa, er­dros­selte sich, als er in hohen Jahren wund gefallen war. Die Philosophen vollzogen den letzten Schritt überhaupt fast nur bei sehr hohem, der Hilf­lo­sig­keit nahen Alter oder in un­heilbarer Krankheit.[cxvii]

 

Der Tod wurde vom antiken Menschen nicht als Desaster betrachtet, wie aus den Fabeln He­rodots hervorgeht. Auf die Frage des Kroisos nach dem glückseligsten Menschen führte Solon Tellos an, weil dieser seine Vaterstadt in Wohlfahrt sah, edle und brave Söhne besaß und es erlebte, daß alle seine Kinder erwachsen wurden und gediehen. Er war ein begüter­ter Mann und beschloß sein Leben mit einem rühmlichen Tod: Er fiel  in der Schlacht zwi­schen Athenern und ihren Nachbarn in Eleusis und fand so einen schönen Tod. Das atheni­sche Volk be­stattete ihn, wo er gefallen war und erwies ihm große Ehre. An zweiter Stelle nannte er Kleobis und Biton: Ihre Mutter erflehte für sie wegen einer großen Tat, die sie vollbracht hat­ten, von der Göttin Hera das Schönste, was ein Mensch erlangen kann. Die Jünglinge fan­den beim Schlaf im Heiligtum als Lohn den Tod.[cxviii] Die Ansichten von einem jenseitigen Le­ben divergierten in der Antike stark. Der Einzelne war frei, davon zu halten was er woll­te.[cxix] Selbst­mord hatte seinen Platz im Denken der Menschen. Er wurde zwar geächtet, aber in der Volksmeinung nicht als Sünde gegen die Götter betrachtet - man hatte das Leben ja nicht von den Göttern. Die Polis verhängte über Selbstmörder Atimie, Versa­gung des Be­gräbnisses, Ab­trennung der rechten Hand von der Leiche und dgl. mehr. Sie erzürnte sich in derselben Manier, als wenn z.B. jemand sein Ver­mögen durchbrachte, an­statt es sich von ihr stückweise oder durch Kon­fis­kation ab­ringen zu lassen.

 

Es gab aber auch legale Formen des Freitods.

 

Auf der Insel Keos starben alte Menschen gemeinschaftlich. Das Leben auf der Insel galt als sittenstreng, die Leute blieben gesund und wurden beim natürlichen Lauf der Dinge sehr alt. Die Alten tranken aus freiem Entschluß gemeinsam den Schierling oder Mohnsaft, wenn sie fühl­ten, daß sie zu einem der Heimat nützlichen Tun nicht mehr tauglich und dem Kin­dischwerden nahe waren. Der Hergang selbst wurde zu einer Art Fest. Trauer um Tote be­deutete auf Keos wenig. Begründet wurde diese Sitte mit Nahrungsmangel auf der Insel.

In der Stadt Massalia gab es bei Todesfällen weder Trauer noch laute Klage. Diejenigen, wel­che das Leben zu verlassen wünschten, mußten dem Rat der Sechshundert Gründe für ihren Tod angeben - er wurde ihnen nicht leichthin gestattet - und dann verabreichte ihnen die Stadt sel­ber den Schierling.

Von jeher war aber für die Griechen klar, daß die wahre Größe darin lag, selbst in den schreck­lichsten Lagen auszuhalten. Bei den späten Griechen genügten aber geringe An­lässe zum Verlassen des Lebens. Vermögensverlust, Liebeskummer genügten. Selbst­morde ent­wickel­­ten sich zu Epidemien wie in Milet, wo sich die jungen Mädchen nach dem Tode sehn­ten und sich viele gegen Worte und Tränen der Eltern, sowie Mahnungen der Freunde er­dros­selten. Die Epidemie wurde erst bezwungen, als auf öffentlichen Be­schluß die Erdros­selten nackt über die Agora getragen wurden.

 

Selbstmord wegen unheilbarer Krankheiten wurde sowohl bei den Griechen, als auch Rö­mern widerspruchslos akzeptiert. Für stoische und epikureische Philosophen waren Selbst­mord und Euthanasie zulässige Handlungsmöglichkeiten, wenn das Leben nicht mehr wert­voll war. So schreibt Seneca in seinem 58. Brief an Lucilius (§ 34f), daß es eine grö­ßere Gefahr sei, ein ver­fehltes Leben zu führen als bei Zeiten zu sterben und daß der­jenige ein Tor sei, der nicht um den geringen Preis eines Augenblicks einer schweren Schick­salswen­dung zuvorkomme.

 

“Ich werde auf das Greisenalter nicht verzichten, wenn es mich mir ganz bewahrt, ganz nämlich im Sinne meines besseren (geistigen Teiles). Aber wenn es Miene macht, an meinem Geiste zu rütteln und in das Ge­füge desselben störend einzugreifen, wenn es mir nicht das Leben, sondern nur das leibliche Dasein übrig läßt, dann werde ich den Sprung nicht scheuen, um herauszukommen aus dieser morschen und zusammen­sinkenden Behausung. Einer Krankheit werde ich mich nicht durch den Tod entziehen, vorausgesetzt, daß sie heilbar ist und dem Geiste nicht schädlich. Schmerz soll niemals Veranlassung für mich werden, Hand an mich zu legen: so zu sterben ist nichts anderes als sich besiegen lassen. Gewinne ich aber die Überzeugung, daß ich ihn nicht wieder loswerde, dann werde ich mich davonmachen, nicht wegen des Schmerzes selbst, sondern weil er mir ein Hemmnis sein wird für alles, um deswillen man lebt. Schwach und feig ist, wer um des Schmerzes willen stirbt, aber ein Tor, wer lebt, um dem Schmerz seinen Willen zu lassen.”[cxx]

 

Der letzte Stoiker, Marc Aurel, zeugt von einer freisinnigen Betrachtung des Werts von Le­ben:

 

“Wie du am Ende deines Lebens wünschest gelebt zu haben, so kannst du jetzt schon leben. Wenn dir aber das dei­ne Umgebung nicht gestattet, dann gehe ruhig aus dem Leben, so, wie wenn dir kein Übel widerfah­ren wäre. Es raucht irgendwo, gut, so gehe ich eben weg. Was scheint dir das Großes zu sein? Solange mich aber nichts derart hinaustreibt, bleibe ich freiwillig, und niemand soll mein Tun hemmen.”[cxxi]

 

Wenn das Leben wertlos sei, könne man es verlassen, freundlich, wie wenn man es voll­bracht hätte.[cxxii] Diese Freisinnigkeit des Denkens gegenüber dem Tod ging mit dem Chri­sten­tum ver­loren. Augustinus vertrat in seinem Gottesstaat[cxxiii] die These, daß nicht nur Fremdtötung, son­dern auch Selbsttötung von Gott verboten sei.[cxxiv] Wahrscheinlich wollte er damit der Selbst­mord­manie der frühen Christen Einhalt gebieten[cxxv] und erreichte dies durch den Trick, das la­tei­nische Wort homicidium auch auf Selbsttötung anzuwenden.[cxxvi] Die Hei­ligkeit des mensch­­lichen Lebens trat in den Vordergrund. Die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens wurde in zwei Varianten postuliert:

         1) Thomas von Aquin argumentierte, daß das Leben ein Geschenk Gottes und eine Ent­scheidung über Leben und Tod eine Anmaßung des göttlichen Prärogatives sei.

         2) Nach Kant handle der suizidale Mensch sträflich, weil er unter der Vorsorge eines gütigen Herrn stehe und sich (durch den Selbstmord) den Absichten desselben wider­setze.[cxxvii]

 

Aufgrund der kirchlichen Ächtung entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte unmensch­li­che Verfahrensweisen, welche sich nicht nur gegen die Leichen der Suizidanten, sondern auch gegen die Überlebenden eines Suizidversuchs richteten. Adelige verloren ihre Titel, die Schlösser wurden geschliffen, das Vermögen der Suizi­danten konfisziert. Die Leichen wur­den ge­henkt und gepfählt. Die Konfiskation von Eigentum und die Ächtung des Ge­dächt­nis­ses eines Suizidanten verschwand in Frankreich erst mit der französischen Re­volu­tion. Selbst­mord wird im neuen Strafgesetzbuch 1791 nicht mehr erwähnt. In England konnte das Ver­mögen bis 1870 kon­fisziert, der Selbstmörder noch bis 1961 inhaftiert wer­den.

 

Eine Begebenheit besonderer Art aus dem London von 1860 wurde von Nicholas Ogarev an seine Geliebte Mary Sutherland berichtet:

 

A man was hanged who had cut his throat, but who had been brought back to life. They hanged him for sui­cide. The doctor had warned them that it was impossible to hang him as the throat would burst open and he would breathe through the aperture. They did not listen to his advice and hanged their man. The wound in the neck immediately opened and the man came back to life again although he was hanged. It took time to con­voke the alderman to decide the question of what was to be done. At length alderman assembled and bound up the neck below the wound until he died. Oh my Mary, what a crazy society and what stupid civilization.[cxxviii]

 

Neben der christlichen Tradition bestanden jedoch auch Rechtfertigungen des Selbst­mor­des wie durch Holbach, der den Selbstmord als natürlichen Akt der Geburt gleich­setzte.[cxxix]

 

Schopenhauer lehrte, daß der Selbstmörder das Leben will, aber lediglich Bedingungen, Ver­flechtungen der Umstände da seien, die ihn veranlaßten, sein Leben (als einzelne Er­schei­nung zu zerstören.[cxxx] Selbstmord sei zwischen dem Hungertod als Extrem der Askese in reli­giöser Schwär­merei und dem aus Verzweiflung entspringenden freiwilligen Tod an­zu­sie­deln.[cxxxi] Schopenhauer war ein Gegner des Selbstmords, weil das Metaphysische oder Ding an sich keine Gewalt brechen könne, wenn der Wille zum Leben da sei.

 

“Daher ist der einzige Weg des Heils dieser, daß der Wille ungehindert erscheine, um in dieser Erscheinung sein eigenes Wesen ERKENNEN zu können. Nur in Folge dieser Erkenntniß kann der Wille sich selbst auf­heben und damit auch das Leiden, welches von seiner Erscheinung unzertrennlich ist, endigen: nicht aber ist dies durch physische Gewalt, wie Zerstörung des Keims, oder Tödtung des Neugeborenen, oder Selbstmord möglich.”[cxxxii]

 

Außer diesem Grund gäbe es keinen anderen haltbaren moralischen Grund, den Selbst­mord zu verdammen.[cxxxiii]

 

In unserem Jahrhundert des mechanisierten Megatods hat sich die Einstellung zum Selbst­mord grundlegend geändert. Der Suizid entwickelte sich zu einer Krankheit.

 

b) Der Suizid aus psychologischer Sicht[cxxxiv]

 

Die Analyse der psychothanatologischen Thematik umfaßt auch marginal die suizidale Dy­namik. Nach psychologischen Untersuchungen erfolgt Selbstmord meist in der Ado­les­zenz, im Alter und bei Medikamenten- bzw. Suchtgiftmißbrauch[cxxxv]. Es besteht ein Zusam­men­hang zwischen Geisteskrankheiten und Akten der Selbstzerstörung[cxxxvi].

 

Zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde von Elie Metchinkoff (1903) und von Sigmund Freud (1933) die Konzeption eines Todestriebes vorgestellt. Für Metchinkoff war es natür­lich, daß ein alter Mensch den Tod genauso wie den Schlaf wünschte. Die Aufgabe von Wissenschaft sei, die Lebensspanne von Menschen zu verlängern, sodaß sie viele Jahre in Gesundheit ver­bringen konnten und dann die Erfüllung des Todestriebs erwar­teten, der in ihnen gereift ist. Freud begründete seine Theorie des Todestriebs damit, daß alle Instinkte konservativ seien und versuchten, ein früheres Stadium zu wiederholen oder wieder­herzu­stellen. Da die orga­nische Materie aus anorganischer entstanden war, mußte ein Instinkt ent­standen sein, welcher das Leben in das anorganische Stadium zurück­zu­wandeln suchte. Die Gegenkraft zum Todestrieb, Thanatos, war für Freud Eros, das Lust­prinzip. Der Dua­lismus Thanatos-Eros bestimme das Leben antagonistisch. Wir seien nie ganz auf Überle­ben und Entwicklung ori­en­tiert. Nur in extremen Situationen, wenn über­haupt, regiere der Todestrieb ohne Antago­nis­mus. Tod sei eines der fundamentalen Ziele des Lebens. Wir lebten in der Intention zu ster­ben. Aber Leben sei auch ein Ziel des Le­bens. Beide Ziele seien in der Natur lebender Or­ga­nis­men eingebunden. Die Prinzipien seien in jeder Zelle unseres Körpers zu finden, durch­dräng­ten jedoch in kraftvollen Ten­denzen unsere menta­len Operationen.

Die Fachwelt hat sich von dieser Theorie distanziert.[cxxxvii]

 

Viele Suizidanten lassen sich einen “Fluchtweg” offen, der eine Intervention, d.h. Rettung noch möglich macht. Dies kann an zwei Fallbeispielen dokumentiert werden, welche von Ka­sten­­baum als Form der prophylaktischen Medizin angeführt werden.

 

“L. V. was an unmarried nurse in her 30s. Her life had centered around her work and several close friend­ships. She had more than the usual knowledge of terminal illness and care. The idea of becoming a hospice nurse or director appealed to her, but she was very much involved in her current position in a hospital. This, however, is the way things had been. Now, incredibly, she was dying. With the help of friends she had been able to remain at home. By saving up her energies she could write letters, read, converse, and even continue working a little on a project she had started before her illness.

One day she asks her two best friends if they would do a couple of errands for her. These errands happen to be in different directions, and each will take at least an hour and a half. They return to find L. V. dead. She has somehow managed the very difficult feat of (a) acquiring a lethal supply of morphine and (b) rigging up the intravenous line to deliver the drug into her own veins. There was a note asking their forgiveness for this little trick. She wanted to quit before life became unbearable.

The friends experienced a very strong and very mixed response: surprise, sorrow, relief, anger. The anger was still there months later. ‘It was as if she didn‘t trust us.‘ They had no difficulty in understanding why this strong-minded person would want to control her own destiny, especially because she knew better than most people about the probable future course of her illness and debility. They felt, however, that a bond of mutual trust had been broken when L. V. had not informed them of her plans. One did observe, though, that the ‘sui­cide machine‘ had been rigged with the outside possibility of rescue: She had used a hemalock device that would have made it possible to quickly shut off the flow of morphine had either friend returned earlier and no­ticed the setup. Many suicide attempts include an ‘escape hatch‘, enabling the individual to share little of re­sponsibility with friends, family, or fate.

By contrast, J. J. did not conceal his suicidal intent. He told the visiting hospice nurse that he had his own way of treating his condition - and then produced a large handgun from beneath a pillow. Life was hardly worth living any more. They had already told him to stop smoking and drinking. What would they want to take away next? He was not going to keep lying around until he rusts out, and the doctors could keep their knives and pills for some other sucker. The nurse secured his agreement to speak with the hospice social worker about his suicidal intention, and, in the meantime, would he not like to feel a little better? The social worker responded promptly to her call. The nurse put the intervening time to good use and even persuaded J. J. to shave for the first time in weeks. He was looking more comfortable and relaxed by the time the social worker showed up.

After a brief conference with J. J. and his wife, the social worker left their home with the gun inside a plastic bag. The weapon would be held for him in a locked security box. J. J. had the receipt. Hospice had his pro­mise that he would give them a chance to support the quality of life remaining to him. J. J.‘s wife, who had hardly spoken during the whole visit, nodded approvingly to the social worker: ‘You‘re all right.‘

The next morning‘s hospice team meeting devoted considerable attention to J. J. And his wife. A little later they learned that he had killed himself with his other gun (most probably brought to him by his wife).

In both examples, the two people chose to select the exact time of death that would likely have occurred within a few weeks. Neither person was experiencing much pain at the time, and both had intimate compa­nions for support; however, they thought to spare themselves from increasing dependency and hel­plessness.”[cxxxviii]

 

Nach Kastenbaum haben Suizidologen schon lange erkannt, daß einige Leute glauben, ih­ren eige­nen Tod über­leben zu können. Dies sei an einem Fallbeispiel ersichtlich, das Ka­sten­baum als Beleg für die letzten Gedanken eines Suizidanten anführt.

 

“My love for you has always been the deepest and hopefully I‘ll see you again. You are my miracle. I have accepted the Lord Jesus as my saviour but I know that he wouldn‘t condone this. I accept the just dues and pray that maybe you won‘t hurt anymore. Make our kids something! you and Jesus I pray can forgive me for copping out…If I see mom I‘ll see that Joe is taken care of + I will try to be with him too!…Eternity is the best way of saying how long I (?) love you…May the Lord bless + keep you + forgive me for something I have no earthly rights to do.”[cxxxix]

 

 

c) Der Selbstmord bei Kant

 

Kant spricht von einem Naturinstinkt, der einen Moribunden von seinem vernunftbe­grün­de­ten Wunsch zu sterben abhält[cxl] und daß allen Menschen eine natürliche Furcht vor dem Tod zu eigen ist.[cxli]

Selbstmord ist ein Verstoß gegen die Pflicht gegen sich selbst. Zu differenzieren ist zwi­schen Pflichten gegen sich selbst in Hinblick auf die tierische und auf die moralische Natur des Menschen.

Der erste Grundsatz fordert die Erhaltung der Vollkommenheit, soweit sie von der Natur ver­liehen wurde und die Weiterentwicklung dieser Vollkommenheit, der zweite die sub­jek­tive Ein­teilung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst, wonach sich das Subjekt der Pflicht als animalisches und zugleich moralisches oder bloß als moralisches Wesen be­trach­tet. Die Motivation des Menschen in Hinblick auf seine animalische Natur besteht in

                                    1. Selbsterhaltung

                                    2. Arterhaltung

                                    3. die Erhaltung seiner animalischen Genußfähigkeit.

Die entsprechenden Laster sind: Selbstmord, sexuelle Perversion und Völlerei.

Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst als bloß moralisches Wesen besteht rein formal in der Übereinstimmung der Maximen seines Willens mit der Würde der Menschheit in sei­ner Person, d.h. er darf sich nicht seiner inneren Freiheit begeben und damit zum Spiel­ball seiner Neigungen werden.

Die entsprechenden Laster sind: Lüge, Geiz und falsche Demut.[cxlii]

 

Selbsterhaltung sei die erste, wenn auch nicht vornehmste Pflicht des Menschen gegen sich selbst - in seiner animalischen Natur. Kant verwendet den Ausdruck “Entleibung” für den will­kürlichen physischen Tod, welcher total (suicidium) oder nur partial (Entgliede­rung/­Verstümmelung) sein kann.[cxliii] Als Selbstmord könne die willkürliche Ent­leibung nur dann be­zeichnet werden, wenn der Nachweis eines Verbrechens gegen sich selbst oder an ande­ren erbracht würde. Als Beispiel führt er den Suizid einer schwangeren Person an.

Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen, und zwar als Übertretung seiner Pflicht gegen an­dere Menschen (Eheleute, Eltern gegen Kinder, des Untertans gegen seine Obrigkeit, seine Mit­bürger, oder auch gegen Gott). Kant fokussiert aber seine Reflexionen auf Pflichten ge­gen sich selbst.

Er übt an den Stoikern Kritik, da sie sich die Freiheit nahmen, beliebig aus dem Leben zu gehen. Sie hätten den Mut, den Tod nicht zu fürchten, eher zum Fortbestand ihres Lebens - als

Wesen mit Verfügungsgewalt über ihre eigenen Triebe[cxliv] - einsetzen sollen.

So wie der Mensch sich nicht seiner Persönlichkeit entäußern kann, so kann er sich nicht von seinen Pflichten entbinden und es wäre ein Widerspruch, sich aller Verbindlichkeit ent­ziehen zu können.

Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person vernichten, ist eben so viel, als die Sitt­lichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm auf einen belie­bi­gen Zweck zu dis­ponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) ab­wür­di­gen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertraut war.[cxlv]

 

Organtransplantationen subsumiert er dem partialen Selbstmord zu, außer wenn es sich um ein Organ handelt, welches für die Fortdauer des Lebens negative Auswirkungen hätte.[cxlvi]

 

In der Anthropologie[cxlvii] differenziert er zwischen dem Selbstmord aus Mut und aus Feig­heit. Dies sei jedoch nicht eine moralische, sondern eine psychologische Frage. Bei Selbst­mord aus Zorn mit dem Motiv, seine (verletzte) Ehre nicht zu überleben, scheine er Mut zu sein; bei Er­schöpfen der Geduld durch Traurigkeit, Verzagen. Wenn der Mensch aber die Qualen des Le­bens nicht ertragen kann und trotz Furcht vor dem Tod in einer Ge­müts­verwirrung der Angst zum Selbstmord schreitet, sei es Feigheit.

Die Art der Ausführung gebe den Unterschied in der Gemütsstimmung zu erkennen. Wenn das gewählte Mittel keine Rettung ermöglicht, so könne man dem Selbstmörder einen ge­wis­sen Mut nicht abstreiten, wenn aber noch Rettung möglich sei und der Selbstmörder noch froh ist und keine Wiederholung versucht - “so ist es feige Verzweiflung aus Schwä­che, nicht rü­stige, welche noch Stärke der Gemütsfassung zu einer solchen Tat erfor­dert.”[cxlviii]

Kant konzediert, daß nicht immer nichtswürdige Seelen einen Selbstmord begingen, aber ge­rade von solchen, welche für Ehre kein Gefühl hätten, wäre eine solche Tat zu befürch­ten.

An anderer Stelle[cxlix] wird das harte Urteil Kants abgeschwächt: Die Menschen wünschen am sehn­süchtigsten, lange zu leben und gesund zu sein. Dem Hospitalkranken, der Jahre auf seinem Lager darbt und wünscht, durch den Tod von seinem Leiden erlöst zu werden, darf man nicht glauben. Seine Vernunft sage es ihm zwar vor, sein Naturinstinkt wolle es aber an­ders. Er verlange vom Tod immer noch eine Vertagung dieses peremtorischen De­krets. “Der in wilder Entrüstung gefaßte Entschluß des Selbstmörders, seinem Leben ein Ende zu ma­chen, macht hievon keine Ausnahme: denn er ist die Wirkung eines bis zum Wahn­sinn exal­tierten Affekts.” D.h. Kant deutet hier die Aussichtslosigkeit einer Situation in deren dia­lek­tisch widersprüchlichen Rationalität und die damit verbundene Zurech­nungs­unfähigkeit an.

Aus der Position Kants spricht eine bedingungs- und voraussetzungslose Bejahung des mensch­lichen Lebens, welche in bezug auf den Suizid kompromißlos ist, was ihn in seiner Straf­rechtslehre nicht davon abhalten kann, für Mörder unter der Idee der Gerechtigkeit nach dem Wiedervergeltungsrecht den Tod für den Mörder zu fordern. Er fordert im Fall einer Auf­lösung einer bürgerlichen Gesellschaft die Hinrichtung der letzten im Gefängnis ver­blie­benen Mörder, “damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blut­schuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teil­nehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet wer­den kann.”[cl]

Bei zwei todeswürdigen Verbrechen aus verletzter Ehre sei es zweifelhaft, ob die Ge­setz­ge­bung die Befugnis hat, sie mit der Todesstrafe zu belegen:

            Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord (infanticidium maternale) an ei­nem unehelichen Kind aus verletzter Geschlechtsehre, da das Kind außerhalb des Geset­zes, d.h. der Ehe, geboren wurde.[cli]

            Das andere Verbrechen ist der Kriegsgesellenmord (commilitonicidium), das Duell, aus verletzter Kriegsehre. Wenn einem als Unter-Befehlshaber eingesetzter Kriegsmann Feigheit vor­geworfen wird und dieser Schimpf in der öffentlichen Meinung der Mitge­nos­sen seines Standes nicht durch das Gesetz vor einem Gerichtshof, sondern nur durch ein Duell, wobei er sich selbst der Lebensgefahr aussetzt, um seinen Kriegsmut zu beweisen, be­seitigt werden kann, so kann man hier eigentlich nicht von Mord (homicidium dolosum) sprechen, auch wenn bei diesem Kampf der Gegner getötet wird.[clii]

Menschen befänden sich in diesen Fällen im Naturzustand und müßten zwar bestraft wer­den, jedoch nicht mit dem Tode.[cliii]

 

Aus diesen Argumenten geht hervor, daß Kant eigenartigerweise die Selbsttötung als un­mo­ra­lisch verwirft, sich aber bei der Begründung nicht auf die Heiligkeit, d.h. Unver­letz­lichkeit des menschlichen Lebens beruft.

 

d) Das japanische Suizidverständnis[cliv]

 

Die Selbsttötung ist in der japanischen Tradition nicht nur eine nicht verachtenswerte Tat, sondern ist für einen Helden in äußerster Bedrängnis die einzig ehrenvolle Lösung. Es ist nicht der “Ausweg eines Feig­lings, kein impulsiver Akt aus Verzweiflung, sondern eine stolze Tat, die sorgfältig bedacht und vorbereitet war”. Für den japanischen Helden hat der Tod eine besondere psychologische Be­deu­tung, da er den ganzen Sinn seines Lebens in ei­nem Augenblick verkörpert. Von allen schreck­lichen Todesarten ist dem Krieger keine ver­haßter als die Gefangennahme und Hin­rich­tung durch den Feind. Dies bedeutet nicht nur eine unerträgliche Erniedrigung seiner selbst, sondern, weit schlimmer, die Ver­nich­tung des Rufes seiner Familie für die Ver­gangen­heit und die Zukunft. Schon die kür­zeste Gefangen­schaft stellt eine nicht wiedergut­zuma­chen­de Katastrophe dar. Der Soldat, der sich gefangen gab, verlor automatisch seine Ehre als Krie­ger und konnte nur die brutal­ste Behandlung er­warten: grausame Folter, eine demü­ti­gende Art der Hinrichtung, die Ver­stüm­melung des Leichnams und, was das aller­schlim­mste war, den Beinamen toriko (Gefangener). Seit frü­hester historischer Zeit galt die Selbst­aus­lö­schung eines Kriegers als Rettung von Schande und als Beweis höchster Integrität. Vor dem 12. Jahrhundert begin­gen besiegte Krieger Selbstmord, um der Gefangennahme zu entgehen, seit den Brüger­kriegen des 12. Jahrhun­derts wurde in der Samurai-Tradition das Harakiri[clv] als schlüs­si­ger Be­weis angesehen, daß es sich hier um einen Mann handelte, der zwar sein Ziel ver­fehlt hatte, aber dennoch von seinen Freunden und Feinden ob seiner Entschlossenheit und Auf­rich­tig­keit geachtet werden konnte.

Den ersten dokumentierten Fall von Harakiri beging 1170 Minamoto no Tametomo bei ei­ner Nie­derlage, als alle seine Männer getötet worden waren.

Diese spezifische Form der Selbsthingabe etablierte sich nicht nur als Mittel, Schmach zu ent­gehen, oder nach einer Verfehlung seine Ehre wiederherzustellen, sondern auch als offi­zielle Form der Bestrafung, als Treuebeweis eines Gefolgsmannes beim Tode seines Herrn und als letzter Ausdruck des Protests gegen einen Mächtigen, der im Unrecht war. Harakiri wurde als besonders schmerzhafte Form der Selbstverstümmelung zweifellos in Zusam­men­hang mit den Prinzipien der Selbstkasteiung im Zen gewählt, um die einzigartige Tap­fer­keit und Ent­schlos­senheit der Angehörigen einer elitären Kriegerklasse unter Beweis zu stellen und welche ein gewöhnlicher Bürger auf keinen Fall ertragen konnte. Hara (der Bauch) galt als physisches Zen­trum des Körpers, traditionell aber auch als Heimstätte des Innersten des Menschen, als Ort, an dem Wille, Seele, Großmut, Empörung, Tapferkeit und andere wich­tige Werte ihr Zen­trum hatten. Harakiri stellte eine Form der Selbsttötung dar, bei  der sich der Sa­murai sein Schwert, das Symbol seiner Seele in den Kern seiner edel­sten Gefühle stieß.[clvi]

Ab dem 17. Jahrhundert wurde es Sitte, daß der Sekundant dem Todgeweihten den Kopf ab­schlug, bevor sich dieser den Bauch aufschlitzen konnte. Dies geschah in der Haupt­sa­che bei Hinrichtungen.

Im 20. Jahrhundert gipfelte diese Form des Denkens  im 2. Weltkrieg in der Bildung orga­ni­sier­ter Selbstmordeinheiten, als sich das Kriegsglück zu ungunsten Japans wendete. Vize­ad­miral Onishi übernahm am 17.10.1944 als neuer Kommandant die 1. Marine­luft­flotte in Ma­nila. Zwei Tage später fand in Mabalacat eine Konferenz statt, bei wel­cher er die scheinbar un­lösbaren Probleme darstellte und die Idee schilderte, die er in den letzten Monaten entwic­kelt hatte: Angriffseinheiten von Zero-Maschinen mit 250 Kilo­gramm Bom­benlast zu bilden, welche im Sturzflug auf gegnerische Flugzeugträger zerschellten. Eine Entscheidung, ob diese Idee realisiert werden sollte, mußte aufgrund der prekären Situation sofort getroffen werden. Kapitän Tamai, der Erste Offizier der 201. Luftgruppe, bei dem die Verantwortung lag, zog sich mit seinem Adjudanten zurück, um die Reaktio­nen der Piloten zu erkunden, und als er zurückkam, teilte er die Zustimmung der 201. Luftgruppe mit, diesen Vorschlag aus­zu­führen. Die Entscheidung für die organi­sierte Selbstmordtaktik wurde inner­halb weni­ger Mi­nu­ten getroffen und wäre ohne die japani­sche Tradition des Suizids nicht denkbar ge­wesen. Jeder einzelne Angehörige der 201. Luftgruppe meldete sich frei­willig zu den Kami­kaze-Ein­heiten. Onishi, der Haupt­ver­ant­wortliche für die Einführung der Selbst­mordstrate­gie, hatte selbst zwiespältige Empfin­dungen, die Führer der konventionellen Streitkräfte hatten ihre Zwei­fel. Mit Zunahme der Nieder­lagen übernahm aber fast jede Einheit im Pazifik die Kami­kaze-Taktik.

 

Die Selbstmordstrategie wurde in drei Formen durchgeführt:

1.     Die Kamikaze-Angriffe, bei denen Zero-Maschinen mit Sprengstoff beladen wur­den.

2.     Angriffe mit Okas (Kirschblüte), eigens konstruierte, primitive, mit Sprengstoff be­ladene Flugzeuge, die von einem Trägerflugzeug in das Angriffsgebiet ge­bracht und dort ausgeklinkt wurden.

3.     Angriffe mit Kaiten, sprengstoffbeladenen Torpedos, welche von Mutter-U-Booten in das Zielgebiet gebracht und ausgesetzt wurden. Jeder Angriff endete mit dem Tod des Piloten.

 

In den letzten Monaten des Krieges wurden die Flugzeuge so rar, daß man die wackeligste Maschine zusammenflickte und auf Selbstmordmission schickte. Die Ausbildung der Selbst­mord­piloten wurde auf 10 Tage reduziert, trainiert wurden ausschließlich Start- und Sturz­flug­manöver. Gegen Ende des Krieges starteten die Maschinen ohne Fahrgestell, welches für die nächste Maschine wiederverwendet wurde.

Bei den Kaiten war eine Vorrichtung eingebaut, die dem Piloten in einer Entfernung von 45 Metern zum Ziel den Ausstieg ermöglichte, von dieser Möglichkeit wurde aber nie Ge­brauch gemacht. Nur der sichere Tod garantierte einen sicheren Treffer, da das Verlassen des Kaiten ein Abweichen vom Kurs hätte bewirken können.

An Kandidaten für Selbstmordmissionen herrschte zu keiner Zeit Mangel. Die Kaiserli­chen Streitkräfte hatten nie Schwierigkeiten bei der Rekrutierung. Es mag zögernde junge Männer gegeben haben, es wurde aber mit Sicherheit niemals Zwang von einer Muste­rungs­kom­mis­sion oder Vorgesetzten ausgeübt. Bei Kriegsende waren doppelt so viele Frei­willige als Flug­zeu­ge vorhanden. Sie wurden als lebende Götter angesehen. Es kam vor, daß junge Männer fürchteten, nicht in Selbstmordeinheiten Dienst tun zu dürfen und deshalb ihre dringliche Ein­gabe, einer alten Tradition folgend, mit ihrem eigenen Blut un­ter­schrieben, wodurch die Ernst­haftigkeit unterstrichen wurde und welche nun kaum ab­zu­lehnen war. Scheinbar gab es keine Diskriminierung derjenigen, welche die Ehre aus­schlugen, an einem Selbstmord­kom­man­do teilzunehmen.

Der typische Kamikaze-Kämpfer war ein Universitätsstudent, dessen Ausbildung durch den Mili­tärdienst unterbrochen wurde. Unter ihnen waren weit mehr Studenten der Gei­stes­wis­sen­schaften und des Rechts als etwa Ingenieure und Naturwissenschaftler oder An­gehörige “prak­tischer” Studiengänge. Bei Berufssoldaten stießen Kamikaze-Kandidaten oft auf Ab­leh­nung wegen ihres Bücherwissens und ihres freien, relativ unmilitärischen Auf­tretens, be­son­ders bei den Unteroffizieren, welche wußten, daß diese jungen, unerfah­renen Exstu­den­ten bald Offiziere und göttergleiche Helden sein würden, während sie selbst im Mann­schafts­grad ver­sauerten.

Während das System mit formlosen, spontanen Freiwilligenmeldungen begonnen hatten, wur­den seit der Schlacht um Okinawa Männer zunehmend “gebeten”, einer Selbstmor­d­ein­heit bei­zutreten. In der Armee, in der die Spezialeinheiten viel später eingeführt wur­den, war eine größere Dringlichkeit und man übte vielleicht auch mehr offenen Druck auf wider­stre­bende Kan­didaten aus.

Haß auf den Feind oder um den Tod der Kameraden zu rächen, scheint nicht die Psyche der Kami­kaze-Kämpfer dominiert zu haben. Sie sprechen oft von ihrer Pflicht, Japans hei­ligen Boden vor der Verunreinigung durch Fremde zu schützen und ihr Leben für die Ver­teidi­gung ihrer Familien zu opfern. In ihren Worten drückt sich eher ein starkes Gefühl der Ver­pflich­tung aus, die seit der Geburt empfangenen Wohltaten zu vergelten. Das Aner­kennen einer Dan­kes­schuld und die Entschlossenheit, sie zu vergelten, welches Opfer dazu auch immer nötig war, ist für das japanische Moralempfinden grundlegend und war durch viele Jahr­hun­derte in Krieg und Frieden eine mächtige Triebkraft. Dankbarkeit gegenüber Japan, dem Land ihrer Geburt und gegenüber dem Kaiser standen im Vordergrund. Ein wei­teres, immer wie­der­kehrendes Motiv ist die Aufrichtigkeit. Die Kamikaze-Kämpfer wußten um die Sinnlosig­keit der Selbstmordkommandos - pragmatisch gesehen waren die Selbstmord­kommandos völlig sinnlos und für den Kriegsverlauf unerheblich -, die Auf­richtigkeit war wichtiger als die Frage nach Sieg oder Niederlage. Der Freiwillige betrach­tete seine Anstren­gung nicht als völlig sinn­los, da sie zwar nicht die Niederlage verhindern konnte, aber viel­leicht eine Art geistige Wiedergeburt her­beiführen konnte: der Akt der Selbst­aufopferung ohne praktischen Nutzen für die Kriegs­füh­rung als wertvolle, spirituelle Auswirkung.

Die meisten der jungen Männer scheinen selbst im Angesicht des Todes keinen Trost im Glau­ben an eine mögliches Weiterleben gefunden haben. Der Tod kam für diese jungen Frei­wil­ligen nicht von außen, durch einen Zufall oder unglückliche Umstände, sondern von in­nen, als vorsätzliche Tat aus eigenem Antrieb. Die tatsächlich vorherrschende Stimmung unter ihnen scheint eine Art unbekümmerter Skeptizismus gewesen zu sein. Trotz ihrer an­gespann­ten und schwierigen Lage gestatteten sich die Selbstmordpiloten nie hysterische oder thea­tra­lische Ausbrüche und es war allgemein bekannt, daß die Kami­kaze-Einheiten seit ihrer Ein­führung 1944 die beste Moral der ganzen japanischen Streit­kräfte hatten. Wenn sie zu ih­ren Flügen ohne Wiederkehr starteten, waren sie voll Begei­sterung. Am Tag des Aufbruchs war ihre Stimmung von Ungeduld und Erregung geprägt. In den Abschieds­briefen versuch­ten die Kamikaze-Piloten häufig, etwas von ihrer gelasse­nen Heiterkeit zu ver­mitteln, um ihre El­tern zu trösten.

Von den tausenden Freiwilligen, die sich für Selbstmordkommandos gemeldet hatten, über­lebte nur eine Handvoll den Krieg. Sie verfielen in einen Zustand der quälenden Fru­stration, eine Mischung aus überwältigter Enttäuschung und dem Verlust ihrer Selbst­ach­tung. Es dau­erte oft Jahre, bis sie darüber hinwegkamen. Als ein Pilot, Watanabe Sei, zwei Tage vor sei­nem Feindflug die Nachricht erhielt, daß der Krieg beendet sei und er nach Hause zurück­keh­ren könne, weinte er und war tief gekränkt, weil man ihn um seinen Tod gebracht hatte. Ein an­de­rer, der einen Selbstmordangriff überlebt hatte, versteckte sich und mußte zum Büro des Kom­mandanten gebracht werden. Für solche Piloten war es alles an­dere als ein Ver­gnü­gen, noch am Leben zu sein und viele versuchten Selbstmord zu be­ge­hen. Ein Pilot, der sich den Ab­schiedszeremonien unterzogen hatte und gezwungen war, zu Basis zurück­zukehren, weil er kein Ziel gefunden hatte, litt unter den schlimmsten Formen seelischer Frustration. Es war eine Schande, so zurückzukehren. Sie verfielen in einen Zu­stand der Apathie, der für Kami­kaze-Überlebende charakteristisch war. Abge­sehen von Selbstvor­würfen, folgten öf­fentliche Demütigungen. Sie wurden nicht nur verbal, sondern auch phy­sisch malträtiert. Während Selbst­tötungsakte, um der Gefangen­nahme zu entge­hen, in der japa­nischen Ge­schichte auch für  Feinde niedriger Stände, wie Bauern, Bewun­derung und Ach­tung hervor­riefen, gab es keine Nachsicht für einen Über­lebenden, auch wenn widrige Umstände und nicht ein schuld­haf­tes Verhalten, wie etwa Feig­heit, vorlagen. Es ist deshalb kein Wunder, daß Kamikaze-Kämp­fer, welche ihren Auf­prallangriff wider Erwarten wie durch ein Wunder überlebten, die Sol­daten, welche sie gefangennahmen, ba­ten, sie zu töten oder ihnen Gele­genheit zum Selbst­mord zu geben.

 

 

§ 4 Der Tod in der europäischen Geschichte[clvii],

ein historisches Exposé

 

Ariès basiert seine Analysen der diversen Erscheinungsformen des Todes auf historische Grund­lagen wie Ausgrabungen, Grabepitaphe, Ikonographie, Testamente, Literatur, Filme, etc., wobei er vorwiegend französische Quellen heranzieht, jedoch die Entwicklung in ganz Euro­pa und Amerika berücksichtigt.

Aus seiner Darstellung ergibt sich die gleiche globale Einstellung zum Tod in Europa von Homer bis Tolstoi, wenn auch dieser strukturellen Permanenz historische Veränderungen im eigentlichen Sinn nicht fremd gewesen wären. Für nahezu zwei Jahrtausende bietet diese traditionelle Ein­stellung zum Tod im Gegensatz zu unserer von Veränderung gepräg­ten Welt den Eindruck eines Walls von Trägheit und Kontinuität. Die alte Einstellung, wel­che den Tod nah und ver­traut in abgeschwächter und kaum fühlbarer Form dem Men­schen akzepta­bel machte, steht in schroffem Gegensatz zu unserer Todeskonzeption, wel­che so angstein­flößend ist, daß wir den Tod kaum beim Namen zu nennen wagen.

 

Während unsere technizistische Zivilisation den Tod verbannt hat, ist er in traditionellen Ge­sellschaften ein naher und vertrauter Bestandteil des Alltagslebens. Ariès nennt dieses To­des­mo­dell den gezähmten Tod. Der Übergang vom Leben zum Tod wurde nicht als ra­dikaler Um­schlag (Jankélévitch) oder als gewaltsame Überschreitung (Georges Bataille) empfun­den, eben­sowenig empfand man Schwindel und existentielle Angst. Man glaubte aber auch nicht an ein Nachleben, welches lediglich die Fortsetzung des Lebens auf Erden gewesen wäre. Der Tod war ein Über-Gang, inter-itus. Man glaubte, die Toten schliefen. Dieser Glaube ist alt und beständig und schon bei Homer und den Römern anzutreffen. Im Chan­son de Roland, dem Ausgangspunkt der Untersuchungen Ariès‘, verlassen Olivier und Ro­land einander als ob sie einen langen, endlosen Schlaf vor sich hätten.

Die Toten konnten aufwachen und die Le­benden stören. In der heidnischen Tradition brachte man den Toten Opfergaben dar, um sie zu besänftigen und daran zu hindern, die Lebenden heim­zusuchen. Dieser Eingriff der Lebenden hatte keineswegs das Ziel, den Toten den Auf­ent­halt in ihrer dämmrigen Unterwelt zu ver­süßen. In der jüdischen Tradi­tion kannte man nicht einmal diese kargen Praktiken.

Das Bild des Schlafes für den Tod war bei den Urchristen, welche die hypnotische Fühl­lo­sig­keit der Toten eher übertrieben, vorhanden und erhielt sich über die Jahrhunderte. Bis heute wer­den Gebete für die Toten und die Ruhe ihrer Seele gesprochen. Die Ruhe ist zu­gleich das älteste, volkstümlichste und dauerhafteste Bild des Jenseits. Im gezähmten Tod des Mittel­alters traf der Sterbende, der sein Ende nahen fühlte, seine Verfügungen. Der Tod war eine ein­fache Sache. Zweifellos wurde der Sterbende vom Rückblick auf das Le­ben, die be­ses­­se­nen Güter und die geliebten Wesen berührt, seine schmerzliche Ab­schiedsklage über­schreitet aber nie eine bestimmte Intensität, die im Vergleich zur üb­li­chen Pathetik der Epo­che sehr ge­ring ist. Die Anklammerung an ein erbärmliches Leben steht der Vertrautheit mit dem immer nahen Tod nicht im Weg. Auch am Tod des mittel­al­ter­lichen Ritters, der tapfer als Held kämpft, haftet nichts Heroisches und Außerge­wöhnli­ches: er hat die Banalität des Todes von jedermann.

Vertraute Einfachheit ist eine der beiden unabdingbaren Wesenszüge des rituellen Todes, der an­dere ist die Öffentlichkeit. Der Sterbende bildet den Mittelpunkt einer Versamm­lung, der Tod wird durch Brauch und Herkommen geregelt. Der gewöhnliche, normale Tod fällt den Ein­zelnen nicht aus dem Hinterhalt an.

 

Der Tod als mors repentina war jedoch ein angsteinflößendes, fremdartiges und schreck­li­ches Phä­nomen, häßlich und gemein. Wenn er sich nicht ankündigte, setzte er nach allge­meinem Glau­ben die Ordnung der Welt außer Kraft und wurde als Folge des Zornes Gottes inter­pre­tiert.

Nicht nur der plötzliche, auch der heimliche Tod ohne Zeugen oder Zeremonien war häß­lich und gemein. Der Tod des Reisenden unterwegs, der des im Fluß Ertrunkenen, der des vom Blitz zu­fäl­lig getroffenen Nachbarn, war mit einem Fluch belastet. Dieser alte Glaube wurde vom Chri­sten­tum mit Zurückhaltung und Kleinmut bekämpft. Im 13. Jahr­hundert meinte Gu­liel­mus Durandus, Bischof von Mende, daß ein plötzlicher Tod nicht bedeute, aus einer offen­kun­di­gen Ursache gestorben zu sein, sondern einzig, daß der Tod nach dem uner­gründ­lichen Rat­schluß Gottes erfolgte. Kein Zweifel bestand an der Schuld, wenn ein Mensch durch He­xe­rei starb. Das Opfer konnte nicht von Schuld freigesprochen werden, da es zwangs­läufig durch die “Niedrigkeit” des Todes entweiht wurde.

Ermordeten wurde zwar nicht die christliche Bestattung verweigert, sie wurden aber volks­tüm­lich verdammt und man erlegte ihnen als Buße eine Zahlung auf.

Der Argwohn, den der plötzliche Tod erweckte, erstreckte sich nicht auf die heldenmüti­gen Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen.

A fortiori war der Tod der Verurteilten schambesetzt: Bis zum 14. Jahrhundert verweigerte man ihnen sogar die Wiederaufnahme in den Schoß der Kirche. Die Leichen der Hinge­rich­te­ten blieben oft monate-, ja sogar jahrelang aufgehängt am Galgen und so zur Schau gestellt. Verdammte und Verurteilte wurden auf freiem Felde oder - nach einer späteren Be­zeichnung - auf dem Schindanger beigesetzt, obwohl die Leichen krimineller Straftäter durchaus in ge­weih­ter Erde bestattet werden hätten können, da es die Kirche im Prinzip er­laubte. Dies än­derte sich erst in der Epoche der Bettelmönche. Der Mensch des Mittelalters und der begin­nen­den Neuzeit ließ nicht zu, daß der Lauf der Gerechtigkeit vor dem Tod halt­machte. Der Tod ließ den Rachedurst ebensowenig erlöschen wie die Justiz.

Die Einstellung zum Tod brachte eine spontane Fügung ins Schicksal und in den Willen der Na­tur zum Ausdruck. Dieser Einstellung zum Tod entspricht eine symmetrische Ein­stellung zu den Toten, dieselbe indifferente Vertrautheit in Hinsicht auf die Modalitäten der Grab­le­gung und der Grabstätten für die Periode vom 5. bis zum 18. Jahrhundert.

 

Trotz ihrer Vertrautheit mit dem Tod scheuten die Alten die Nachbarschaft mit den Toten und hielten sie abseits. Die bestatteten und eingeäscherten Toten waren unrein. Die Fried­höfe des Al­tertums lagen außerhalb der Städte. Die Christen paßten sich anfangs an die Bräuche ihrer Zeit an. Zuerst bestatteten sie ihre Toten in den selben Nekropolen wie die Heiden, später je­doch abseits in getrennten, immer außerhalb gelegenen Friedhöfen. Die­ses Widerstreben ge­gen die Nähe der Toten versiegte bei den alten Christen jedoch bald, zunächst in Afrika, dann in Rom. Dieser bemerkenswerte Wandel bringt eine beträchtliche Differenz zwischen heidnischer und christlicher Einstellung zu den Toten zum Ausdruck, trotz der gemeinsamen Anerkennung des gezähmten Todes. Bis ins 18. Jahrhundert flößten die Toten den Lebenden keine Angst mehr ein.

Im volkstümlichen Glauben gefährdete die Schändung und Beraubung eines Grabes die Er­weckung am Jüngsten Tag, weshalb man versuchte, die Toten nahe den Gräbern der Mär­ty­rer zu be­statten. Die Märtyrer, die einzigen Heiligen, welche ihres Platzes im Him­mel sofort si­cher waren, wachten über die Leiber und bannten Grabschänder. Die Angst vor Grab­schändern leg­te sich seit dem Hochmittelalter, da aufgrund mangelnder Grabbei­gaben kein öko­no­misches Motiv mehr für Grabschändung vorlag. Das Hauptmotiv der Be­stattung ad sanc­tos lag deshalb primär in der Vergewis­serung des Schutzes des Heiligen für den Tag der Auf­er­stehung und des Gerichts.

Ab dem 7. Jahrhundert wurden die Friedhöfe auf dem Land aufgegeben und in die Städte ver­legt. Der mittelalterliche Friedhof war neben seiner Funktion als Bestattungsort Brenn­punkt des sozialen Lebens. Die Reichweite der weltlichen Macht endete bei der Kirche und ihrem atrium. Der Friedhof hatte Asylfunktion, welche unter Umständen Übergewicht über die Be­stat­tungsfunktion erlangte. Er wurde dauernder Wohnsitz. Flüchtlinge richteten sich dauerhaft ein und weigerten sich, ihn zu verlassen. Der Friedhof diente als Forum, als Haupt­platz, Stätte des Vergnügens und des Spiels, die ihrerseits mit der Atmosphäre von Markt und Messe ver­quickt blieben. Dieses Nebeneinander von Lebenden und Toten sorgte allerdings auch für Kon­flikte, wie aus einem gefundenden Text des 17. Jahrhunderts hervor­geht.

Im Hochmittelalter wurde die Bestattung ad sanctos durch die Beisetzung apud ecclesiam er­setzt. Die Kirche setzte sich an  Stelle der Heiligen, was die Einstellung zum Tod kaum ver­än­derte.

 

Die Sorge um das ewige Leben der Verstorbenen und das Bedürfnis, die Heilsgewißheit durch religiöse Rituale zu stärken, war in den Heilsreligionen heimisch, wie in den dio­ny­si­schen My­ste­rien, im Pythagoräismus und den hellenistischen Mithras- und Isis-Kulturen.

Der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tode bildete den gemeinsamen Fun­dus mit dem Christentum. Die Vorstellungen der Christen von Tod und Unsterblichkeit wa­ren im Laufe der Zeit großen Veränderungen unterworfen.

Die erste bildliche Darstellung vom Ende der Zeiten war keine Vorstellung des Gerichts. Der Christ des frühen Mittelalters hatte in der Stunde des Todes den triumphierenden Ein­griff Got­tes vor Augen, der den Prüfungen der Heiligen ein Ende setzte. Die commendatio animae schürte keine Gewissensbisse angesichts begangener Sünden, sie flehte nicht ein­mal um Ver­gebung für den Sünder, so als ob er bereits Verzeihung erhalten hätte.

In der Ikonographie des 12. Jahrhunderts überlagern sich zwei Darstellungen des Jüngsten Gerichts: die ältere zeigt den Christus der Apokalypse in seiner Glorie, in der neueren tritt das Gericht des Jüngsten Tages und die Scheidung der Gerechten und der Verfluchten her­vor. So überlagert das Matthäus-Evangelium, welches in Verbindung mit heidnischen, be­sonders  ägyp­tischen Traditionen bereits die gesamte mittelalterliche Konzeption des Jen­seits, des Jüng­sten Gerichts und der Hölle enthielt, die Offenbarung Johannis, ver­klam­mert beide und ver­bindet damit die zweite Thronbesteigung mit dem Jüngsten Ge­richt. Im 13. Jahrhundert schwächte sich der Einfluß der Apokalypse ab und die Vorstel­lung des Ge­richts setzte sich durch.

Das Symbol des Buches, welches in der Heiligen Schrift schon beim Propheten Daniel und in der Offenbarung Johannis auftaucht, spielte eine Rolle: Im liber vitae sind die Erwählten auf­gezeichnet. Im 13. Jahrhundert wird im Französischen  aus dem Buch ein Register. Es ist die Ge­schichte eines Menschen, ein Buch der Rechnungslegung, welches in zwei Spal­ten die guten und bösen Taten verzeichnet. Auf einer Waage wird jedes Leben gewogen. Die Hand­lungen jedes Menschen verlieren sich nicht mehr im grenzenlosen Raum des Trans­zen­denten oder im kollektiven Geschick der Gattung, sondern werden jetzt indivi­dua­lisiert. Ein Jahr­hun­dert später wird das Buch im dies irae franziskanischer Autoren zu ei­nem Buch der Ver­dam­mten.

Am Ende des Mittelalters trat die erste Veränderung in der Todeskonzeption des christ­li­chen Abendlandes ein. Seit dem 12. Jahrhundert bildete sich bei den Reichen, den Gebil­de­ten und Mächtigen die Vorstellung, daß jedermann eine persönliche Biographie habe. Zu­erst bestand sie aus guten und bösen Taten, die vor dem Weltgericht zu verantworten wa­ren: aus dem Sein. Später kamen auch Dinge dazu, leidenschaftlich geliebte Tiere und Menschen, ebenso das ge­sell­schaftliche Ansehen: das Haben. Das Bewußtsein des eigenen Selbst und der eige­nen Bio­graphie verband sich mit der Liebe zum Leben. Der Tod war nicht mehr einfach nur der Ab­schluß des Seins, sondern auch Trennung von Hab und Gut. Ariès nennt dieses Mo­dell das des eigenen Todes. Die Auferstehung des Fleisches wurde aus dem kosmischen Zu­sam­men­hang herausgelöst und in das persönliche Geschick des Einzelmenschen verlagert. Ent­schei­dend war die Gewißheit der eigenen Auferstehung. Diese Bekräftigung der eigenen Indi­vi­dua­lität ließ die Einstellung des 14. und 15. Jahr­hun­derts noch mehr als die des 12. und 13. Jahr­hunderts zur traditionellen Mentalität in Ge­gen­satz treten. An Stelle des Jüng­sten Ge­richts trat die Auferstehung im Jenseits.

Die Trennung von Auferstehung und Gericht hatte die Konsequenz, daß die Zwischen­phase zwi­schen Gericht und physischem Tod, in welcher der Tote noch die Möglichkeit zur “Wie­der­kehr” hatte, verschwand. Von nun an wurde über das Schicksal der unsterb­li­chen Seele im Au­genblick des physischen Todes selbst entschieden. Der Raum für “Wie­der­kehrende” und ihre bedrohlichen Äußerungen nahm ab. Der ursprünglich auf die Ge­bil­deten, auf Theologen und Poeten beschränkte Glaube an ein Purgatorium als Ort des Har­rens  wurde volkstümlich und setzte sich bis Mitte des 17. Jahrhunderts an die Stelle der alten Bilder der Ruhe und des Schla­fes.

Die Ikonographie des Jüngsten Gerichts wird im 15. Jahrhundert durch die mittels Buch­druck ver­breiteten Holzschnitte ersetzt: einzelne, bildliche Darstellungen, in die man sich zu Hause ver­senken konnte und die als Abhandlungen über die rechte Art und Weise eines heil­samen Sterbens dienten: artes moriendi. Diese Ikonographie führte zum archaischen Urbild des krank auf dem Sterbebett Ruhenden zurück, das die Szenen des Jüngsten Ge­richts überlagert hatten. Man starb immer im Bett, entweder eines natürlichen Todes, d.h. eines Todes ohne Krank­heit und Leiden, oder eines unnatürlichen, welcher mit Fieber, Ei­ter­fluß oder einer lan­gen und schmerzhaften, schweren Krankheit verbunden war. Gefürch­tet war der plötzliche Tod, die mors improvisa. Selbst schwere Verletzungen und gewalt­same Un­fälle ließen im all­gemeinen Zeit für den rituellen Kampf auf dem Sterbebett. Das Sterbebett erhielt in der ma­ka­bren Ikonographie eine neue Bedeutungs­dimension: Aus dem Ort eines beinahe banalen Ereignisses, welches lediglich feierlicher als andere war, wurde die Bühne eines Dramas. Der Kranke sieht den Tod vor Augen. Das Zimmer ist von Besuchern über­füllt, denn man starb immer öffentlich. Die Umstehenden nehmen von den Vorgängen nichts wahr. Die Aufmerk­sam­keit des Sterbenden ist auf überirdische Wesen gerichtet, die sich ihm zu Häupten drän­gen. Auf der einen Seite befand sich die Heilige Dreifaltigkeit, die Jungfrau Maria, sein Schutz­engel und der himmlische Hofstaat, auf der anderen der Satan und seine gräßlichen Heer­scharen. Die große Versammlung am Ende der Zeiten fand also im Sterbe­zimmer des Kranken statt. In den artes moriendi ist der Tod ein barmher­ziger Stachel, wel­cher die physi­schen Leiden und geistlichen Prüfungen ab­kürzt. Gott fungiert nicht als Rich­ter. Er wird  zu einem Schieds­richter des Kampfes zwi­schen den Mächten des Guten und des Bösen, der Einsatz ist die Seele des Sterbenden. Über das Heil des Menschen wird in dessen Todesstunde ent­schie­den. Seine Biographie ist noch nicht abgeschlossen und muß sich rückwirkende Ver­än­derun­gen gefallen lassen. Ent­scheidend ist der Ausgang der letzten Prü­fung, die der Ster­bende in hora mortis ablegen muß und welche anstelle des Jüngsten Gerichts getreten ist. So spricht Savonarola in Be­griffen von Spiel und Spieleinsatz und die Angst vor dem Jenseits er­faßte damals ganze Bevölkerungsschichten, die noch keine Furcht vor dem Tod gekannt hat­ten. Während im 12. Jahrhundert der Verstorbene noch als homo totus, mit Leib und Seele, in den Himmel auffährt, ist aus der Ikonographie des 13. Jahr­hunderts er­sichtlich, daß man den Tod als Trennung von Seele und Körper zu empfinden begann. Aus der Idee einer Tren­nung von Seele und Körper entwickelte sich die des 18., bis ins 20. Jahr­hundert reichende Vor­stel­lung, daß Leib und Seele beim Tod ein unterschiedli­ches Ge­schick zustieß: das Nichts für den Leib; für die Seele ein Überleben im wohlorgani­sier­ten Jen­seits, im Andenken, oder sie fiel ebenfalls dem Nichts anheim.

 

In der Romantik des 18. und 19. Jahrhunderts machten sich Zeichen gänzlich neuer Ein­stel­lun­gen bemerkbar, welche drei Hauptentwicklungslinien aufzeigten:

1.     Die Entwicklung des Individuums, die im Denken oder in der Stunde des To­des ge­mach­te Entdeckung der eigenen Identität, der eigenen Geschichte -  in dieser Welt wie in jener.

2.     Der dauerhafte Glaube an einen neutralen Zustand der Ruhe als Zwischen­stadium zwi­schen irdischer Ratlosigkeit und himmlischer Kontemplation.

3.     Die physische Annäherung dieser beiden Kategorien in Zusammenhang mit den Kapel­len, in denen die lebenden und toten Mitglieder einer Familie in ein und dem­sel­ben Raum versammelt werden.

Das ganze Mittelalter hindurch hatte der reale Tod immer mehr an Bedeutung und Inten­si­tät zu­genommen, kam in den erschreckenden Bildern der makabren Künste zum Aus­druck und führte zu einer gedanklichen und sinnlichen Konzentration auf den unmittel­baren Au­genblick des physischen Todes. Seit dem 16. Jahrhundert begann der unmittelbare Au­genblick des Todes zu Hause auf dem Sterbebett seine relative Bedeutung einzubüßen. Der entscheidende As­pekt der Vorankündigung des Todes ging vollends verloren. Der Ster­bende verschied, den­noch ging nichts Außerordentliches vor sich, was den großen Dramen ähnelte, die das Ster­bezimmer der artes moriendi des 15. Jahrhunderts erschüttert hatten. Sogar die Leiden des To­des­kampfes selbst wurden beargwöhnt. Der Tod war nicht mehr der auf dem Sterbe­bett Ruhende, der Schwitzende, Leidende und Betende, er wurde zu et­was Metaphysischem, das in einer Metapher zum Ausdruck kam: der Metapher der Tren­nung von Seele und Leib, die wie die Trennung zweier Ehegatten oder zweier lieber und alter Freunde empfunden wurde. Der Schmerz des Todes wurde nicht zu den realen Lei­den der Agonie, sondern zur Trauer über eine zerbrochene Freundschaft in Beziehung gesetzt. Nicht nur im Augenblick des Sterbens oder in drohender Todesnähe durfte seiner gedachte werden, sondern während des gesamten Lebens. Die ars moriendi wurde durch eine Kunst des Lebens ersetzt. Die geist­lichen Traktate des 16. und 17. Jahrhunderts bereiteten nicht die Sterbenden auf den Tod vor, son­dern riefen die Lebenden auf, sich beizeiten des Todes zu bedenken, wofür re­gelrechte Übungstechniken entwickelt wurden. Der Tod war nicht mehr als ein Mittel zu ei­nem bes­seren Leben. Nicht der Augenblick des Todes verlieh dem vergangenen Leben sei­nen ge­rechten Preis und entschied über das Geschick des Betroffe­nen in der anderen Welt. Dafür war es dann bereits zu spät. Der Tod blieb ein dramatisches Ereignis, die Kirche war aber vom 16. bis zum 18. Jahrhundert be­müht, dies nicht gelten zu lassen und versuchte im Gegen­teil seine Intensität abzu­schwächen.

Der Tod wurde desekralisiert, was einige Folgen nach sich zog:

1.  Der Tod büßte seine gleichsam magischen, irrationalen, von primitiver Wildheit be­stim­mten Kräfte ein. Dies galt auch für den plötzlichen und gewaltsamen Tod. Beide wurden bana­lisiert. Die Einstellung der Reformatoren zu den Hingerichteten änderte sich. Der Schuldige war nicht mehr die Personifizierung des Bösen, er wurde durch sein Leiden und seine Buße rehabilitiert; sein Tod wurde zu einem guten Tod.

2.  Der genaue Tod, die hora mortis, wurde entwertet. Während im Hochmittelalter die Ein­stellung zur Welt, zum Mammon, entweder nur verdammenswürdige Liebe, avaritia, oder nur endgültiger Bruch und totaler Verzicht, Verteilung der Güter an die Armen und die Weltabkehr in einem Kloster ist, tritt in der Renaissance die Einstel­lung auf, daß der Mensch in der Welt leben muß, auch wenn er nicht von dieser Welt ist. Die Zuflucht zum Kloster gilt nicht mehr als vollkommene, christ­liche Haltung. Dem Menschen wird anempfohlen, von seinen Gütern Gebrauch zu ma­chen und zu beherzigen, daß er die Güter nicht selbst besitzt, sondern nur deren Nutznießer ist.  Dieser Begriff der Nutz­nie­ßung führte zu einer neuen Tugend, der Enthaltsamkeit und Mäßigkeit. Fortan wurde die avaritia als maßlose, über­schweng­liche Liebe zur Welt angesehen, welche auch die Liebe zu menschlichen Wesen ein­schloß und zur verabscheuungswürdigen Sünde wur­de. Eine Welt der Mäßigkeit trat langsam an die Stelle einer Welt des Exzesses, in wel­cher auch der Tod dem gemein­samen Gesetz des Maßes unterworfen wurde.

Die letzte Auswirkung dieses Phänomens ist ein Modell des guten Todes, der schöne und er­bauliche Tod, welcher zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert auftrat, der Tod des Ge­rech­ten. Der Gerechte bedenkt seinen Tod nicht, wenn er nahe ist, sondern hat ihn sein Le­ben lang be­dacht. Die Betonung des guten Todes liegt auf der unaussprechlichen Schön­heit, welche nach den Schrecknissen des Todeskampfes in Erscheinung trat. Dieser hier noch au­ßer­gewöhnliche As­pekt des Todes wurde im 19. Jahrhundert zum banalen, aber tröstlichen Grundzug des Todes eines geliebten Wesens.

 

Der Mensch der Neuzeit begann dem Zeitpunkt seines eigenen Todes mit Zurückhaltung ent­gegenzusehen und ersetzte ihn durch die Sterblichkeit im allgemeinen. Der Tod wurde in die­sem Leben in vorsichtige Distanz abgedrängt und Ariès führt dies auf weniger über­schweng­liche Liebe zu den Dingen und zu Menschen zurück, welche in einer Zeit vor­han­den war, als der Tod den Mittelpunkt des Lebens darstellte.

 

Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die Friedhöfe in die Städte verlegt. Am Ende des 17., zu Be­ginn des 18. Jahrhunderts trat ein Bruch in der Einheit von Kirche und Friedhof auf: Der Friedhof wurde ein auf Beisetzung spezialisierter Raum. Man entwickelte Toten ge­gen­über eine Indifferenz, welche keine Ähnlichkeit mit dem früheren, vertrauten Ver­hält­nis hatte. Es ent­wickelte sich ein Bedürfnis nach Schlichtheit in allen Aspekten des Todes. Die­ses Be­dürfnis läßt nach Ariès trotz aufrechterhaltenen und bekräftigten Jenseitshoff­nungen ein Nich­tig­keitsgefühl erkennen.

Dieser Tendenz zur Schlichtheit entsprach eine gewisse Nüchternheit in der Äußerung von Trauer. Traueräußerungen hatten eine Tendenz zu Ritualisierung, welche im Hochmittel­al­ter begann. Sie hatten einen sozialen und obligatorischen Charakter. Gegen Ende des Mit­tel­al­ters erreichte diese Tendenz ihren Höhepunkt, schwächte sich im 16. Jahrhundert et­was ab und steigerte sich noch einmal im 17. Jahrhun­dert. Die Aufwendungen für die Trauer wur­den als so­ziales Erfordernis und nicht als Aus­druck persönlichen Schmerzes aufgefaßt. Die echt Trau­ernden des 17. Jahrhundert durften ihren Kummer nur in den Grenzen eines Ri­tuals zu er­kennen geben, dessen Rahmen nicht gesprengt werden durfte. Der Aus­druck des Schmerzes war am Toten­bett nicht gestattet. Er wurde, jedenfalls in den nördlichen Regio­nen, in der vornehmen Gesellschaft und unter wirklichen Christen mit Stillschweigen über­gangen. Wer seine Frau oder seinen Mann verlor, suchte auf dem schnellsten Weg Ersatz.

Umgekehrt gab man sich seit dem 16. Jahrhundert dem Trauerschmerz innerhalb der vor­ge­schriebenen Trauerzeit haltlos hin, eine Tendenz, die bis zur Mitte des 19. Jahr­hunderts an­hielt. Nach der vorgeschriebenen Trauerzeit duldeten Brauch und Herkommen keine per­sön­liche Trauer mehr. Ritualisiert und sozialisiert spielte die Trauer nicht mehr die Rolle der Af­fek­tentlastung, die ihr früher zu eigen war. Die Trauer übernahm die Rolle der Trennwand zwi­schen dem Tod und den Menschen.

 

In den Vanitasdarstellungen (15. bis 18. Jahrhundert) wurde das Verfliegen der Zeit und die Trug­bilder der Welt bis zum taedium vitae festgehalten. Sie brachten schließlich das per­ma­nente Gefühl der beständigen und diffusen Präsenz des Todes im Herzen der Dinge zum Aus­druck. Während der Tod im Mittelalter von außen zugriff, ist er jetzt ins hinfällige und nich­tige Wesen der Dinge selbst eingelassen. Tod und Leben haben die Rollen ge­tauscht. Nicht die Vorstellung des Todes, sondern die des sterblichen Lebens wird erfaßt. Diese Vor­stel­lung wurde Allgemeingut. Sie leitete im 17. Jahrhundert das Ende der ava­ritia ein und er­setzte sie durch eine asketische Beziehung zum Leben und zu den irdi­schen Dingen, was für die Ent­wicklung des Kapitalismus unabdingbar erforderlich war. Ariès sieht darin ein merk­wür­diges und vielleicht sogar paradoxes Phänomen, da das Leben ge­nau zu dem Zeitpunkt aufhörte, be­gehrenswert zu sein, als der Tod aufhörte, sich punktuell und derart beein­druk­kend in Szene zu setzen.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts vollzog sich der Übergang von der Vergänglichkeit zum Nichts. Die Memoirenschreiber waren auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die sich schließ­lich als Schwerpunkt der Vergänglichkeit, als Leere, als Nichts, manifestierte. Ariès führt dies auf die fortschreitende Entwicklung des Glaubens an den Dualismus des Seins zu­rück. Der Glaube an die Auferstehung des Fleisches wurde zwar in den Epitaphien be­schworen, der Verstorbene harrte ihrer, aber sie stand nicht mehr im Zentrum der spirituel­len Grund­haltung. Der Gegen­satz von Körper und Seele führte zu einer Vernich­tung des Leibes. Die Bereiche des Nichts und der Unsterblichkeit entfernten sich vonein­ander und brachen alle Ver­bindungen zuein­ander ab. Ariès führt dies weniger auf eine Schwä­chung des Glau­bens, als auf die escha­to­logische Unruhe im inneren Glaubenskern zurück. Das Nichts wurde damals noch nicht in der Nacktheit des 20. Jahrhunderts wahr­ge­nommen, sondern es war mit der Natur verquickt, von ihr abgewandelt und gebrochen.

 

Am Ende des 17. Jahrhunderts ersetzten die Ärzte den Geistlichen als beste Medien der all­ge­meinen Glaubensvorstellungen. Der Tod und der tote Körper waren selbst Gegenstand der wis­senschaftlichen Untersuchung, unabhängig von den Ursachen des Todes; d.h. daß man den Tod studierte, bevor man die Ursachen kannte und nicht nur, um diese zu entdec­ken. Man sah den Toten an, wie man später den Kranken ansah. Diese Haltung ist der heu­tigen Medizin fremd. Der Tod ist nicht mehr von Krankheit zu trennen. Garmann, ein deutscher Arzt des 17. Jahr­hunderts, staunte über die Ähnlichkeit von Schlaf und Tod. Seiner Lehre nach gäbe der Schlaf dem Menschen ein Wissen und eine Verbindung zu Gott, über die er im Wachzustand nicht verfügte. Im Schlaf und im Tod konzentriere sich die Seele außerhalb des Körpers, an­statt über den ganzen Körper verteilt zu sein. Eine sol­che Ähnlichkeit führe zur Frage nach den Kräften des Todes und dem Grad der Trennung zwischen Seele und Körper. Diese Frage war als  Zentrum des medizinischen Nach­den­kens über den Tod eine der Hauptsorgen dieser Epoche.

Im populären Aberglauben dieser Zeit konnten Leichen hören und sehen. Die Verwesung des Kör­pers wurde gewünscht, eine Mumifizierung von Leichen wurde als Fluch angese­hen. Ariès sah darin eine Folge der Idee des Nichts, der Verachtung des Körpers. Die Ärzte des 17. Jahr­hunderts gestanden den Toten noch eine Art Persönlichkeit zu. Sie suggerier­ten, daß er noch ein Sein in sich habe, welches sich bei Gelegenheit manifestiere.

Im 19. Jahrhundert gab die Medizin diesen Glauben auf und schloß sich der These an, daß der Tod an sich existierte und Trennung der Seele vom Körper, Deformation und Nicht-Le­ben war. Der Tod wurde reine Negativität.

 

Um 1600 entstand eine Annäherung von Eros und Thanatos. Während die makabren Tänze des 14. und 15. Jahrhunderts keusch waren, wurden sie im 16. Jahrhundert gewaltsam und ero­tisch. Im Werk des Bischofs Camus, Die Greuelbeispiele, 1630, starben alle mit Aus­nahme von drei Personen eines unnatürlichen Todes. Der Tod war kein friedliches Ereignis mehr.

Die große, makabre Epoche des 15. Jahrhunderts hatte vom Tod nur die Zer­setzung festge­halten, die Zerstörung der Gewebe und das unterirdische Gewimmel der Würmer, Schlan­gen und Kröten. Im 17. Jahrhundert pflegte man die Illusion, daß der Tod ein Augen­blick des Triumphes sei: Die Liebe besteht fort, aber es ist nicht die Schönheit des le­ben­den Kör­pers, die man zu lieben fortfährt, sondern es ist die Schönheit des Todes. Tod und Wol­lust wurden ver­wechselt, der tote Körper war Gegenstand der Begierde. In der ersten Hälfte des 17. Jahr­hun­derts war die Annäherung von Eros und Thanatos noch ver­deckt, sie spielte sich noch im Un­bewußten und Uneingestandenen ab. Die Zeitgenossen ahnten noch nicht die se­xuelle Grund­lage ihrer Neigung zum Entsetzen. Dies änderte sich im 18. Jahr­hun­dert, die Maske fiel über­all ab. Die Texte dieser Zeit sind voll von Liebes­ge­schichten mit Toten. In den Er­zäh­lun­gen tauchen Geschichten über Paarungen mit Toten auf. Die Paarung mit Toten ist ein Motiv, das häufig im Werk von Sade auftauchte. Nach Sade war der Tod nur ein menschlicher Be­griff und verschwand im Plan der Natur. Der Tod sei nur Einbildung, sym­bolisch und ohne jeg­liche Realität.

Bis zum Ende des Mittelalters waren sich Tod und Sexualität fremd. Dies war nicht ein christ­liches Phänomen, da sexuelle Anspielungen auch in der griechisch-lateinischen Grab­kunst, mit Ausnahme bei den Etruskern, sehr selten waren. Seit dem 16. Jahrhundert nä­her­ten sie sich, bis sie am Ende des 18. Jahrhunderts einen wirklichen Korpus makabrer Erotik bildeten. Während das Übrige, was mit dem Tod zusammenhing, kaum änderte, spielte sich im 17. und 18. Jahrhunderts etwas Verwirrendes ab: Tod und Liebe näherten sich im Ima­ginären, bis sich ihre äußere Erscheinung verwischte.

Nach Ariès ist Fortschritt dem Widerstand des homo sapiens gegen die feindliche und fremde Natur zu verdanken. Der Mensch setzt sich als Gesellschaft der Natur entgegen. Die Gewalt der Natur muß aus den für die Gesellschaft reservierten Gebieten ferngehalten wer­den. Das Verteidigungssystem gegen die Natur, Moral, Religion, die Errichtung der Stadt, Recht, Öko­no­mie, die Organisation von Arbeit, kollektive Disziplin, Technologie, hatte je­doch zwei schwa­che Punkte: die Liebe und den Tod, wo immer ein wenig Gewalt durchsic­kerte.

Die Gesellschaft bemühte sich, die Heftigkeit der Liebe und die Aggressivität des Todes ab­zu­schwächen. Im 19. Jahrhundert, als der Mensch sich rüstete, die Natur zu besiedeln und die Grenzen der technischen Besitzergreifung und die rationale Organisation immer weiter trieb, als man die Natur für besiegt halten konnte, brach die natürliche Wildheit durch diese beiden Pforten in die geordnete Welt des Menschen ein. Etwas Unwider­ruf­li­ches trat in die tausendjährige, unveränderte Beziehung des Menschen zum Tode ein: Der Tod wurde wie­der zum Wilden. Die Männer der Wissenschaft und Aufklärung entwickel­ten Angst vor Se­xualität und Tod. Nach Ariès war für den Menschen von einst der Tod zwar eine ernste An­gelegen­heit, man hatte jedoch nie wirklich Angst vor ihm gehabt. Die Geistlichen hatten je­doch keine Skrupel gehabt, die Angst auszunützen und den Tod auf­zublähen. Sie taten alles, um Angst zu machen und so ihre Ziele zu erreichen. Als man be­gann, ernstlich Angst vor dem Tod zu haben, schwiegen zuerst die Geistlichen und dann die Ärzte. Als Kennzeichen dieser Angst sei die Angst vor dem Scheintod zu inter­pretie­ren. Ariès findet es sonderbar, daß diese Angst in einer Epoche entstand, als sich alle Ver­trautheit des Menschen zum Tode änderte. Zu­nächst blieb diese Angst in der Welt des Imaginären eingeschlossen: in der Welt der Dichter, der Romanschriftsteller und der Künst­ler. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhun­derts trat die när­rische Angst über die Ufer des Imaginären und drang in die Welt der geleb­ten Wirklichkeit ein.

Das 19. Jahrhundert war die Epoche des schönen Todes. Der Tod enthüllte einen neuen As­pekt: den der Unendlichkeit. Der Tod war das Glück, betont wurde die Schönheit des Toten. Der Illustrator des schönen Todes füllte das Zimmer des Sterbenden mit Verwand­ten und Des­inkarnierten, Freunden, die aus der anderen Welt gekommen waren, um ihm zu helfen und ihn bei seiner ersten Wanderung zu führen.

Während die Fürbitte am Ende des Mittelalters dem eigenen Tod galt, um sich durch Kapi­ta­li­sie­rung der Gebete und Gedanken Sündenablässe zu sichern, ging es später mehr um den Tod  des Anderen.  Im Laufe des 18., vor allem im romantischen 19. Jahrhundert wurde daraus die Ge­legenheit, die Fürsorge und die Zuneigung irdischen Lebens über den Tod hin­aus zu ver­län­gern. In der Romantik errang das Gefühl für den anderen den Vor­rang: “Ein einziges We­sen fehlt Euch und alles ist entvölkert.”

Nach Ariès sind die verschiedenen Arten des Glaubens an ein künftiges Leben oder an das Leben in der Erinnerung Antworten auf die Unmöglichkeit, den Tod des geliebten Men­schen zu akzeptieren. Da der Tod nicht das Ende des geliebten Wesens darstellt, ist er we­der häß­lich noch furchterregend. Er ist schön und der Tote ist auch schön.

Die Anwesenheit am Sterbebett des 19. Jahrhunderts ist nicht die übliche Teilnahme an ei­ner rituellen, gesellschaftlichen Zeremonie. Sie ist Anwesenheit bei einem tröstlichen und erhe­benden Schauspiel. Der Tod ist mit der Schönheit eins geworden, die letzte Etappe ei­ner Ent­wicklung, welche mit dem schönen “Ruhenden” in der Renaissance begonnen und sich im barocken Ästhetizismus fortgesetzt hatte. Dieser Tod war nicht mehr der Tod, son­dern eine Il­lusion der Kunst. Der Tod hatte begonnen, sich unter der Schönheit der Kunst zu verber­gen. Hier trifft nach Ariès die Geschichte des Todes auf die des Bösen. Der Tod wurde in den christlichen Zeugnissen und im gewöhnlichen Leben als Manifestation des Bösen ange­sehen. Bei den Christen war er der Augenblick einer tragischen Orien­tierungs­suche zwi­schen Him­mel und Hölle, die ihrerseits der banalste Ausdruck des Bösen war. Im 19. Jahr­hundert glaub­te man kaum noch an die Hölle. Sie war nur noch ein Lippen­be­kenntnis. Da es im Jenseits kein Böses mehr gab, wurde der Tod so wünschens­wert.

 

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bis etwa zum 1. Weltkrieg, wurde die soziale Gruppe vom Tod angerührt und reagierte kollektiv. Der Tod war ein öffentliches Ereignis. Trotz aller Veränderungen im Laufe eines Jahrtausends in den Einstellungen zum Tod, war er stets et­was Soziales und Öffentliches. Dieses traditionelle Modell hat sich bis heute in weiten Krei­sen des lateinischen Abendlandes erhalten, es hat jedoch seine Allgemein­gül­tig­keit einge­büßt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts trat in der am stärksten industri­alisierten, technisierten und am wei­test urbani­sierten, westlichen Welt eine völlig neue Art des Ster­bens auf, welche folgende Merk­male aufwies:

1.   Die Gesellschaft hatte den Tod ausgebürgert. Diese Form steht dem früheren Bild des Todes gleichsam als umgewendetes Abziehbild oder Negativ entgegen. Aus­ge­nommen ist nur der Tod der großen Staatsmänner. Nichts zeigt ansonst in unse­ren modernen Städten an, daß etwas passiert ist. Die Gesellschaft legt keine Pause ein, das Verschwin­den eines einzelnen unterbricht nicht mehr ihren kontinuierli­chen Gang.

2.   Die Modifikationen des Todes erfolgten im Laufe eines Jahrtausends sehr langsam im Zeitraum von einigen Generationen, sodaß die Zeitgenossen sie gar nicht wahr­nahmen. Heute hat sich in einer einzigen Generation eine vollständige Um­wälzung der Alltags­wirklichkeit vollzogen.

Ariès nennt dieses Modell den ins Gegenteil verkehrten Tod.

Der entscheidende Wandel zwischen Sterbendem und seiner Umgebung begann in der zwei­ten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Tod wurde vor dem Sterbenden verheimlicht. Die An­ge­hö­rigen verweigerten sich der traurigen Pflicht, ihm sein nahes Ende selbst mitzu­tei­len. Der Ursprung dieser neuen Hemmung mag wohl in der Liebe zum anderen gelegen haben, in der Angst, ihm weh zu tun und ihn in Verzweiflung zu stürzen. Diese Aufgabe wurde in Frank­reich zum Priester delegiert, denn die Ankündigung des Todes fiel mit sei­ner geistli­chen Vor­bereitung auf die letzte Stunde zusammen. Der Moribunde seinerseits hatte kein Bedürf­nis, auf den Tod hingewiesen zu werden, da er sowieso im Bilde war. Er schwieg je­doch, um nicht die Illusion zu zerstören. Der Kranke und seine Umgebung spiel­ten Komö­die. Die erste Etap­pe dieses Prozesses hatte am Ende des 18. Jahrhunderts be­gon­nen, als der Sterbende darauf ver­zichtete, seinen letzten Willen durch einen Rechtsakt verbindlich zu ma­chen und ihn sei­nen Erben direkt zu übermitteln.

Selbst in den religiösesten Familien aufrichtig praktizierender Katholiken begann sich zu Be­ginn des 20. Jahrhunderts die Angewohnheit zu verbreiten, den Priester erst zu rufen, wenn sein Erscheinen den Sterbenden nicht mehr beeindrucken konnte, weil er entweder das Be­wußtsein verloren hatte oder bereits tot war. Damit wurde die letzte Ölung nicht mehr zu ei­nem Sakrament für den Sterbenden, sondern für den Toten. Die Stunde des letzten Lebe­wohls, der letzten Empfehlung, wich der Verpflichtung, den Moribunden über seinen Zu­stand im unklaren zu lassen und die Sterbenden gingen dahin, ohne noch ein Wort gesagt zu haben. Der Tod wird als Tod geleugnet und als Krankheit maskiert. Sowohl die Sterbenden als auch ihre Umgebung lügen über den wahren Zustand.

Das andere neue Phänomen im Umkreis des Sterbenden ist der schmutzige und ungehörige Tod. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hörte der Tod auf, immer nur als schön wahrge­nom­men zu werden. Die scheußlichen Bilder der makabren Epoche, die seit dem 17. Jahr­hun­dert verdrängt worden waren, kamen erneut zur Geltung, jedoch mit dem Unterschied, daß was im Mittelalter mit der Verwesung nach dem Tod in Verbindung gebracht wurde, nun auf die Vorboten des Todes, die Agonie, bezogen wurde. Der Tod flößte nicht nur we­gen seiner absoluten Negativität Angst ein, sondern verursachte geradezu Übelkeit, wie ir­gend­ein ekeler­re­gendes Schauspiel. Er wurde unschicklich wie die biologischen Vor­gänge im Menschen, wie die Ausscheidungen seines Körpers. Es wurde unanständig, ihn vor der Öffentlichkeit aus­zubreiten. Er wurde zum heimlichen und gemeinen Tod.

Die zweite Entwicklungslinie führte zum heimlichen Tod im Krankenhaus, welche in den 30­er Jahren unseres Jahrhunderts einsetzte und seit den 50er Jahren zur Regel geworden ist.

Je weiter das 20. Jahrhundert vorrückte, desto lästiger wurde die Anwesenheit des Kranken im Haus. Das rasche Wachstum in Sachen Komfort, Intimität und Hygiene, hat unsere Ge­sell­schaft empfindlich gemacht. Wir ertragen nicht mehr den Anblick und die Gerüche des Lei­dens und der Krankheit, welche noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Bestandteil der Alltags­wirklichkeit waren. Die physiologischen Begleiterscheinungen des mensch­lichen Le­bens sind aus der Alltagswirklichkeit ausgebürgert und in die aseptische Welt der Hy­giene, der Medizin und der Sittlichkeit verwiesen worden: ins Krankenhaus. Während frü­her die Last der Für­sorge und des Widerwillens von einer kleinen Gesellschaft von Freun­den und Nachbarn mit­ge­tragen wurde, schrumpfte die teilnehmende Gruppe auf die näch­sten Ange­hörigen, wobei so­gar noch die Kinder ausgeschlossen wurden. Die tech­nischen Entwick­lung in der Medizin mach­te außerdem eine stationäre Behandlung not­wendig, so­daß die Klinik das Asyl wurde, wo die Familien, die ihre lästigen Kranken nicht ertragen konnten, hintransportierten und ver­steckten. Das Krankenhaus wurde zum Ort des einsa­men Todes, einer Todesform, die von den Pio­nieren Amerikas, welche nach dem Westen zogen, ge­fürchtet wurde. Bei ihnen war es eine Er­leichterung, von Menschen um­geben zu sterben, und es war ein Privileg, einem Ster­benden im Tode beizustehen. Es war Auf­gabe eines die­ser Privilegierten, als nuntius mortis zu fun­gie­ren und wenn der Sterbende seine Ankündi­gung akzeptierte, war er sensible oder er be­nahm sich wie ein Dumm­kopf, very stupid.

Die dritte Entwicklungslinie führt zum verschämten und zurückhaltenden, aber nicht scham­haften Tod: Der Tod wurde unschicklich und ungebührlich.

Der Tod wurde aus der Gesellschaft ausgeklammert, seines öffentlich-zeremoniellen Cha­rak­ters entkleidet und in erster Linie zu einem Privatakt für die Nahestehen­den gemacht, von dem mit der Zeit sogar die Familie ausgeschlossen wurde, als die Krankenhaus­ein­wei­sung für den Tod­kranken allgemein üblich wurde.

Es sind zwei Phasen einer Kommunikation zwischen Sterbendem und Gesellschaft zu un­ter­scheiden:

1.   Die letzten Augenblicke, in denen der Sterbende wieder die Initiative ergreift, die ihm aber aus der Hand genommen worden war, und

2.   die Zeit der Trauer.

Das zweite, große Ereignis der zeitgenössischen Geschichte des Todes ist die Verweige­rung und Abschaffung der Trauer. Zum ersten Mal von Geoffrey Gorer analy­siert, zeigte er in sei­nem Aufsatz The Pornography of Death, 1955, daß der Tod scham­besetzt und ähnlich ta­bui­siert worden war wie in der viktorianischen Epoche die Sexualität. Gorer führte 1963 eine so­zio­logische Erhebung zum Trauerproblem durch, welches fol­gende Er­gebnisse zei­tigte:

-  Der Tod ist in weite Ferne gerückt. Man ist nicht am Sterbebett zugegen, selten bei Bei­set­zungen.

-  Kinder bleiben abseits und werden nicht informiert. Jesus wurde zu einer Art Niko­laus, um mit Kindern über den Tod zu sprechen, ohne an ihn zu glauben.

-  Der Glaube an ein künftiges Leben lag zwischen 30 und 40%. Bei jüngeren Men­schen nimmt der Glaube an ein Leben nach dem Tode ab, während er bei Schwer­kranken an­steigt.

-  Manche der Befragten pflegten lebhaften Umgang mit den Toten und sprachen mit ih­nen, was der anthropomorphen Eschatologie des 19. Jahrhunderts entsprach.

-  Die Hölle war total verschwunden. Selbst diejenigen, die an den Teufel glaubten, be­schränk­ten seinen Aktionsradius auf die hiesige Welt und glaubten nicht an die ewige Ver­dammnis. Dies war allerdings schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall.

-  Der Klerus verzichtete auf seine alte Rolle.

-  Die traditionellen Trauerbräuche und die Begräbnisfeierlichkeiten waren verfallen.

-  Feuerbestattungen werden vorgezogen, dem Grab wird Abneigung entgegenge­bracht.

-  Bei den Eingeäscherten ist an Stelle des Grabkultes ein Gedenkkult getreten, der zu Hau­se gepflegt wird.

-  Der Friedhof dagegen bleibt ein Ort des Gedenkens und des Besuchs.

Nahezu im gesamten Abendland ist es zur Regel geworden, daß Trauer nie öffentlich ge­zeigt werden darf.

 

Gorer unterscheidet drei Kategorien von Leidtragenden:

 

                   - solche, welche ihren Kum­mer vollständig verdrängen,

                   - solche, welche ihn vor anderen verbergen und

                   - solche, welche ihm freien Lauf lassen.

 

Nach Ariès sind die früher für alle Gelegenheiten vorhandenen Verhaltenskodes ver­schwun­den. Die Abschaffung der Trauer ist nicht der Frivolität der Hinterbliebenen, son­dern dem un­barm­herzigen Zwang der Gesellschaft zuzuschreiben, welche die Präsenz des Todes ne­giert. Trauer wurde zur Krankheit. Sie zu zeigen, wird als Charakterschwäche ausgelegt. Der Leid­tra­gende wird in einer Art Quarantäne isoliert.

Psychologen haben diese neue Einstellung sofort als gefährlich und abnorm eingestuft. Die Denkanstöße der Psychologen und Psychoanalytiker auf dem Gebiet der Sexualität und der Entwicklung des Kindes wurden von der Gesellschaft rasch assimiliert, ihre Aussagen über die Trauer wurden ignoriert. Die These der Psychologen lautet, daß der Tod eines gelieb­ten Menschen eine tiefe Wunde hinterläßt, die sich jedoch auf natürliche Weise allmählich wie­der schließt, wenn der Heilungsprozeß nicht gestört wird. Was die Psychologen als Natur­ge­ge­ben­heit beschreiben, geht historisch auf das Modell des schönen, romantischen Todes im 18. Jahrhundert zurück.

Im traditionellen Modell wurde der erste Schock beim Tod eines geliebten Wesens durch die traditionelle Geschäftigkeit der Gruppe abgefangen und häufig rasch überwunden, so­daß ein Witwer nicht selten nur wenige Monate später erneut heiratete. Das Leben hielt inne, ver­langsamte sich. Man nahm sich für anscheinend nutzlose und unproduktive Dinge Zeit. Die Trauerbesuche unterstrichen die Einheit der Gruppe und stellten menschliche Wärme her. Wenn es dem Leidtragenden nicht gelang, seines Kummers Herr zu werden, waren dies Aus­nahmefälle. Im 19. Jahrhundert behielt die Trauer noch für einige Zeit ihre soziale Rolle, wur­de dann aber zum Ausdruckmittel eines unendlichen Schmerzes, zu einer  von der Um­welt be­reit­willig ergriffenen Möglichkeit diesen Schmerz zu teilen und die Hinterbliebenen zu trö­sten. In der großen, romantischen Gefühlsrevolution entwickelten sich individuelle, zwi­schen­mensch­liche Bindungen, deren Bruch uns undenkbar und uner­träglich erschien. Die früh­ro­man­tische Generation war die erste, die den Tod verneinte. Sie verherrlichte, hy­posta­sierte ihn. Nicht jedes beliebige, aber das geliebte Wesen wurde zum unverlierbaren Unsterb­lichen gemacht. Diese Bindung hat auch heute noch, trotz einer scheinbaren Locke­rung, welche mit einer zurückhaltenderen Sprache und mit einer größe­ren Scham zusam­menhängt, Gül­tigkeit. Gleichzeitig erträgt unsere Gesellschaft den An­blick alles dessen nicht mehr, was mit Tod verbunden ist - den Leichnam, die weinenden Angehörigen. So werden die Hinter­bliebenen zwi­schen dem Ge­wicht des Schmerzes und dem des gesellschaftlichen Tabus zer­malmt.

Modifikationen bezüglich der ersten Phase des Sterbens traten gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts auf: Der Moribunde wurde über seinen Zustand in Unkenntnis gehalten. Seit dem Er­sten Weltkrieg wurde Trauer und alles, was an den Tod mahnte, zum Verbot. Der ei­gent­li­che Augenblick des Todes, der Rückblick auf das Leben, die Öffentlichkeit und die Ab­schieds­szene behielt noch lange traditionellen Charakter. Um 1945 verschwand dieses letzte Über­bleibsel als Folge der Medikalisierung des Todes. Der normal Sterbende wurde dem Schwer­kranken nach einer Operation gleichgestellt, das Krankenhaus wurde der Ort des nor­ma­len Todes. Im Leitbild des medikalisierten Todes hörte der Tod auf, als natür­li­ches und not­wendiges Phänomen zu gelten. Er wurde zum Fehlschlag. Ein allzu auf­fälli­ger, spektaku­lärer Tod stürzte die Umgebung in eine emotionale Erregung, welche mit der Arbeits- und All­tagsroutine des Einzelnen und des Krankenhauspersonals nicht ver­einbar war. Er wurde deshalb zurechtgestutzt, um ihn mit der Arbeitsmoral des Kranken­hauses zu versöhnen. Das Krankenhauspersonal hat einen acceptable style of facing death (Glaser und Strauss) defi­niert: einen Tod, bei dem der Sterbende bis zuletzt so tut, als müsse er gar nicht sterben. Er wird das um­so besser können, je weniger er selbst Bescheid weiß. Der gute, schöne Tod ist der­jenige, der einstmals verabscheut wurde: der mors repentina et im­provisa.

Dem akzeptablen Tod entgegengesetzt ist das embarrassingly graceless dying; der widrige, ge­meine Tod ohne Eleganz und Feingefühl, der verstörte Tod. Dies ist immer zugleich der Tod eines Kranken, der Bescheid weiß. Der Tod gehört nicht dem Sterbenden, nicht der Fami­lie, die von ihrer Unfähigkeit überzeugt worden ist, sondern wird von einer Bürokra­tie re­guliert und organisiert. Die Ärzte halten den Sterbenden von seiner Lage in Un­kenntnis und verschanzen sich hinter ihrer Autorität, um den Kranken nicht mit der Wahr­heit kon­frontieren zu müssen. Ihr Schweigen stellt  eine Form der Bequemlichkeitslüge dar. Diese Situa­tion gegen Ende der 50er Jahren hat sich geändert. Der Wandel ging nicht auf eine In­itiative der Ärzte zurück, sondern wurde ihnen von paramedizinischen Kreisen aufge­drängt: von Psycho­logen, Soziologen und später von Psychiatern, die sich der er­bärmlichen Situa­tion der Ster­benden bewußt geworden sind. Die Krankenhausbehörden opponierten, als Fei­fel 1959, wahr­scheinlich zum ersten Mal, und Kübler-Ross 1965 Ster­bende zu inter­viewen begannen. Diese neue Strömung sprach sich für eine Verbesserung der Bedin­gungen der Sterbenden aus, die im Mitgefühl mit dem sich selbst entfremdeten Sterbenden wurzelte. Die neueren Untersu­chungen bemühten sich, dem seit Ende des 19. Jahrhunderts aus der Medi­zin verdrängten und als lediglich philosophisches Problem ange­sehenen Tod wieder Realität zu verleihen. Die Fra­ge zentriert sich um die Würde des To­des. Die Ein­samkeit zu überwin­den und die Heim­lich­keit des Todes bekanntzumachen, of­fen und natür­lich darüber zu re­den, anstatt ihn zu ver­ber­gen, entspricht einem allgemeinen Bedürfnis. Um den Tod erträg­lich zu machen, kann man ihn ent­weder seiner natürlichen Würde zurückgewinnen oder ihn durch eine Art Vorbe­rei­tung, welche sich wie eine Kunst erlernen läßt und was von Kübler-Ross gelehrt wird, ban­nen.

Das Problem der Euthanasie und die Macht, Leben zu verlängern oder zu verkürzen, bricht eine Bresche in das dichtgeschlossene, medikalisierte Gehege, durch welches Leben und Tod sorgsam getrennt worden sind. Nach Ariès fühlt sich heute niemand von seinem eige­nen Tod betroffen, aber das Schreckensbild des mit Schläuchen und Röhrchen gespickten und künst­lich beatmeten Sterbenden beginnt den Schutzpanzer der Verbote zu durchdrin­gen. Er hält es für möglich, daß sich die Öffentlichkeit dieser Problematik mit der gleichen Lei­denschaft an­nehmen wird wie in anderen lebenswichtigen Fragen, wie z.B. die der Ab­trei­bung. Er  zitiert Claude Herzlich, der die Feststellung traf, daß im Krankenhaus die Ent­scheidung über Leben und Tod getroffen wird und die Frage aufwarf, ob es dazu kom­men würde, daß Menschen ihren  Tod fordern, wenn sie es wirklich wollten. Die Macht der Technik, welche mit der Me­di­kalisierung des Todes auf das engste verknüpft ist und zuerst als Elimination des phy­sisch Bösen, des Leidens und der Krankheit, auf das freu­digste be­grüßt wurde, wird zum ersten Mal in Zweifel gezogen.

 

 

“Que philosopher, c‘est apprendre à mourir.”

Montaigne

 

§ 5 Die Todesthematik in der europäischen Philosophie[clviii],

ein philosophiehistorischer Abriß

 

Nach Scherer bewegt sich das philosophische Denken hinsichtlich des Todes methodo­lo­gisch um vier grundsätzliche Fragenkomplexe:

         1. Was ist der Tod?

         2. Gibt es für Menschen eine Hoffnung über die Todesgrenze hinaus?

         3. Wie sollen wir uns im Tod verhalten?

         4. Woher und wie wissen wir um den Tod?

Unser Leben wird fundamental von unserem Todesverständnis bestimmt. Die Frage nach dem Tod ist eine Frage der praktischen Philosophie, obwohl sie theoretische Fragen grund­legender Art ein­schließt. Die vier obigen Frageaspekte lassen sich unter eine einzige Grund­frage sub­su­mieren: die Frage nach dem Sinn des Todes. Sie macht den Kern des phi­losophi­schen Fra­gens nach dem Tode aus. Die genannten Fragestellungen sind philo­so­phisch nur möglich im Horizont der ontologischen Frage nach dem Sinn des Ganzen der Wirklichkeit und der damit ver­bundenen Grundfrage der philosophischen Anthropologie “Was ist der Mensch?”. Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, welches nicht nur nach Selbst­erhaltung strebt und biolo­gisch bedingte Mechanismen der Abwehr des Todes betätigt, son­dern um seinen Tod als das unvermeidlich eintretende Ende seines Das­eins in dieser Welt weiß.

 

 

a) Metaphysische Todesmodelle

 

Die europäische Philosophie entfaltete sich an ihrem Anfang in Zusammenhang und im Wi­der­spruch zum Mythos. Im Mythos ist die Differenz zwischen Diesseits und Jenseits, dem welt­lichen und dem göttlichen Bereich noch unbekannt. Die Toten kehren in die Welt der Le­benden zurück. Im philosophischen Denken distanzierte sich der Einzelne vom kol­lektiven Ge­füge, weil er als Individuum einen allgemeingültigen Anspruch der Vernunft vorbrachte. Daß die frühe Philosophie sich in der Auseinandersetzung mit dem Mythos nicht nur von ihm abstößt, sondern sich zugleich auch von ihm her denkt, wird im Ver­ständnis des Todes bei den ionischen Naturphilosophen und dem Dionysosmythos deut­lich. Dionysos ist ein Gott, der alle Grenzen der normalen Ordnung aufhebt. Zu den An­testherien bringt er die to­ten See­len zu den Lebenden. Er selbst wird von einem Stier und von blutrünstigen Frauen zerris­sen, er kehrt aber immer wieder. In seiner Gestalt um­schlingen sich Tod und Leben. Die von Heraklit überlieferte Version des Dionysos­mythos bezeugt, daß Dionysos mit dem Gott der Totenwelt identisch ist. In seiner Gestalt stellt sich der Kreislauf zwischen Leben und Tod, der Hervorgang des Lebens aus dem Tod und des Todes aus dem Leben dar. Dio­nysos ist das Ur­bild des unzerstörbaren Lebens im Sinne der zvÆ. Aus den vorhandenen Fragmenten geht die Gegensatzeinheit zwischen Leben und Tod hervor. Damit besteht eine Analogie zu der von der vorsokratischen Denkern gesuch­ten érxÆ, welche von den ioni­schen Denkern ver­schie­den aufgefaßt wurde, aber immer den gleichen Grundzug aufwies: Die érxÆ ist der im­mer anwesende Anfang und das, gleichsam auf dem Wege, schon an­wesende Ziel. Die érxÆ ist das Eine, welches alles ist und in dem alles ist.

         Die érxÆ Anaximanders, das êpeiron, war todlos, ohne Verderben und Alter.

Im Fragment 76 wird die érxÆ Heraklits, das Feuer, zum Ausdruck des ständigen Flie­ßens: “Feuer lebt der Erde Tod und Luft lebt des Feuers Tod. Wasser lebt der Luft Tod und Er­de den des Wassers”.

         Im Gegensatz dazu leugnet Parmenides jegliche Veränderung und damit Werden und Ver­gehen. Seine grundlegende Einsicht lautet: Sein ist und Nichtsein ist nicht. Sein kann nicht in das Nichtsein umschlagen und aus dem Nichts  kann kein Sein entstehen. Werden ist blo­ßer Schein und damit auch der Tod, da völliges Vergehen unmöglich ist.

         Die Pythagoreer waren der Überzeugung, daß die Seele das wahre Wesen des Men­schen aus­macht. Durch ihre Verbindung mit dem Körper wird sie verunreinigt. Unser jetzi­ges  Le­ben ist ein Leben unter dem Schatten einer weniger wirklichen Welt. Die Seele ist mit Gott ver­wandt, selbst göttlicher Natur und unsterblich. Um zum eigentlichen Leben zu kommen, muß man sich vom Leiblich-Materiellen lösen. Wesentlich war die Lehre von der Seelen­wan­derung. Die Seele verläßt beim Tod das Gefängnis des Körpers und ver­kör­pert sich ge­mäß ih­rer Lebensführung in einem anderen menschlichen Leib oder auch in ei­nem Tier. Das Stre­ben des Menschen muß darauf gerichtet sein, aus diesem Kreislauf der Wie­dergebur­ten her­aus­zu­kom­men und zu seiner wahren Heimat zurückzukehren. Die Be­freiung beginnt dort, wo sich der Mensch der reinen Schau, der Kontemplation, hingibt.

         Metempsychose und die Möglichkeit eines Aufstiegs der menschlichen Seele zum Gött­lichen kehren im Denken Empedokles‘ wieder. Er lehrte eine asketische Lebensweise und ein absolutes Tötungsverbot, da wir u.U. beim Töten und Verzehren eines Tieres einen verstorbe­nen Freund oder Verwandten zu uns nehmen. Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt wer­den. Durch die Kraft des Denkens muß die Seele gottähnlich sein. Mit dieser These gehört Em­pedokles zu den Wegbereitern der klassischen Metaphysik.

         Die philosophische Auseinandersetzung um das Problem des Todes erreichte mit Pla­ton jene Gestalt, die das abendländische Denken bis in die Gegenwart grundlegend be­stimmt hat. Daß die Seele unsterblich und der Tod Trennung von Leib und Seele ist,  stellt den in­nersten Kern der Platonischen Lehre dar. Der Tod spielt bei Platon deswegen eine so über­ragende Rol­le, weil er die Bewegung des Lebens und Denkens in Frage stellt, die mit dem Staunen an­hebt und welche für Platon Philosophie heißt. Diese Bewegung zielt auf das, was den Men­schen wahrhaft zum Menschen macht, auf das Gute, das Glück, das Schöne, das wahrhaft Seiende. Das Streben des Eros nach Glück und dem Besitz des Guten, die Kraft dieser Be­we­gung, zielt auf Dauer und Unvergänglichkeit. Eros ist wesent­lich Streben, un­sterblich zu sein. Nur wenn Eros die Schranke des Todes zu übersteigen ver­mag, kann er wahrhaft und sel­ber sein: Streben nach immerwährendem Glück. Die Prä­existenz der Seele begründet Platon mit dem Argument, daß eine Natur, in der es keine Rück­kehr aus der Un­terwelt gäbe, d.h. wenn es keine Geburt aus dem Tode gäbe, als vor­herrschenden Anblick den des Schwin­dens und Er­lahmens zeigen würde. Nicht Hervor­gang ins Erscheinen, son­dern Sterben wäre der Grund­­zug der Natur. Da dies nicht der Fall ist, steht fest, daß die Seele nach dem Tod noch ist und wie­der aufleben kann. Aus der énãmnhesiw wird der Be­weis geliefert. Da das grie­chische Denken keinen schöpferischen Neu­zuwachs kennt, kann Erkenntnis nur auf Wie­der­erinnerung früheren Wissens zurück­geführt werden. Die Fortexi­stenz der Seele nach dem Tode wird nur aus der Beziehung zwischen Seele und Idee gesi­chert. Aus der vorge­burtlichen Er­kenntnis der Ideen hat die Seele apriorisches Wissen. Die Ideen sind unauf­löslich, erleiden keine Verän­derung, sind das Beständige, immer Seiende, nicht der Zeit und ihren Wechsel­fällen Unter­worfene. Die Ideen sind das eigentlich Wißbare, das sich aber nur dem Denken, der geistigen Ein­sicht, der Vernunft zeigt, nicht aber der sinnlichen Wahr­nehmung. Das wahr­haft Seiende kann nur durch die Seele erkannt werden. Der Tod ist Trennung von Leib und Seele, Be­frei­ung der Seele vom Leibe und Teilnahme am Unwan­delbaren. Platon hat die pytha­gore­ische und empedokleische Lehre der Seelen­wanderung und der Wiedergeburt fort­ge­führt. Der Zu­stand der Seelen hängt ebenfalls von der diesseitigen Lebensführung ab.

         In der Stoa fand sich ursprünglich eine materialistische Vorstellung von der men­sch­li­chen Seele, welche mit dem Leib entsteht und vergeht. Dieser Materialismus war mit einem ge­wissen Pantheismus verbunden. Die prÒnoia herrschte über die Welt nach dem Prinzip der Wiederkehr des Gleichen. In periodischer Wiederkehr vergeht die Welt in ei­nem Welten­brand und entsteht wieder in einer neuen Weltperiode. Da der Gesamtbestand des Seienden im lÒgow immer derselbe bleibt, kann weder Tod noch Weltenbrand die Seele ganz vernich­ten, die neue Seele ist mit der vorigen identisch. In der mittleren Stoa bedeutet der Tod die Rück­kehr in das als göttlich angenommene All. Nicht mehr das Phä­nomen des Todes ist be­deut­sam, sondern allein das Verhältnis zum Tod, welches wir in unserem Leben erreichen können. Das Ideal des naturgemäßen, d.h. vernunft­gemäßen Le­bens tritt in den Vorder­grund. Der Tod ist etwas Bedeutungsloses, weil der einzelne ange­sichts des göttlichen Gan­zen des Alls un­wich­tig ist. Die Spätstoiker kehrten zur Lehre von der Un­sterb­lichkeit der Seele zu­rück.

In der Antike galt die epikureische Sicht des Todes lange Zeit als Alternative zur pla­to­ni­schen Unsterblichkeitslehre. Den physikalisch-metaphysischen Hintergrund bildete der Ato­mismus Demokrits, welcher lehrte, daß beim Tod die Atome auseinanderfallen, was auch für die feineren Atome der Seele gilt. Epikur geht von der Voraussetzung aus, daß es für uns Gu­tes wie Übel nur aufgrund der Wahrnehmung gibt. Der Tod ist jedoch Verlust der Wahr­neh­mungs­fähigkeit des Menschen. Warum also den Tod fürchten? Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.

         Nach Aristoteles ist keine eindeutige Antwort auf die Frage nach Tod und Unsterb­lich­keit möglich. Es ist nicht klar, ob es eine Unsterblichkeit gibt oder nur einen ein­zigen tätigen Ver­stand, an dem alle Menschen teilhaben. In diesem Fall gäbe es keine per­sönli­che Un­sterb­lich­keit, sondern höchstens ein Aufgehobensein im Ganzen des einen, all­um­fassenden Gei­stes.

         Die Platonische Lehre entfaltete durch ihre Verbindung mit dem Christentum einen welt­geschichtlich bedeutsamen Einfluß. Das Verständnis des Geistes als höhere Weise des Seins gegenüber der Materie, die Auffassung des Todes als Trennung von Leib und Seele, der Voll­zug geistigen Lebens als Aufstiegsbewegung über die Stufen des Materiellen zum Geist, die Unsterblichkeit der Seele, waren prägende Faktoren für die christliche Anthro­po­logie und Es­cha­tologie. Es hat immer wieder Versuche gegeben, die Verbindung von christ­lichem Glau­ben und platonischer Philosophie aufzusprengen. So hat Origenes, der wohl größte Bi­bel­theologe der Antike auf die Irrtümer der griechischen Philosophie, die sitt­lichen Unzu­läng­lichkeiten der Philosophen, den Zwiespalt zwischen ihrer Lehre und ih­rem Leben, die tiefen Unterschiede zwischen dem biblischen Glauben und der antiken Philosophie hin­gewie­sen. Aber auch seine Lehre ist ohne die platonische Lehre von Seele und Körper, Tod und Un­sterb­lichkeit nicht denkbar. Die Proteste gegen die Rezeption des Platonismus durch die füh­renden Theologen der frühen Kirche sind jedoch sachlich be­gründbar und besonders in Zu­sam­menhang mit Tod und Unsterblichkeit deutlich ersicht­lich. In den früheren Schich­ten des Alten Testaments ist eine die Todesgrenze überschrei­tende Hoffnung wahrscheinlich unbe­kannt. Die Toten fahren in die Scheol hinab, der sonst weit verbreitete Glaube an Toten­geister und die Möglichkeit eines Verkehrs mit Lebenden fehlt im Alten Testament fast völ­lig. Die Be­rührung mit allem, was mit Tod zusam­men­hängt, verunreinigt, weil Gott der Le­bendige ist  und der Tod die äußerste Entfernung von ihm bedeutet. Während sich in eini­gen Psalmen die Hoffnung durchsetzte, daß Gott auch in der Unterwelt ist und aus der Gewalt der Unterwelt rettet, setzte sich in den Texten der Apokalyptik der Glaube an eine künftige Auf­er­weckung der Toten voll durch. Im Zentrum der neutestamentlichen Schriften steht die Verkündigung Jesu als Gekreuzigter und Aufer­weckter, von dem her alle anderen Aussagen be­wertet werden müssen. Auferweckung meint die rettende Tat Gottes, der seinen Gerechten im Tode nicht ver­läßt, sondern für ihn eintritt. Das bedeutet ein Entrücktsein aus der Raum­zeit­lichkeit und eröffnet dem Aufer­weckten eine universale Präsenz für alle Zeiten und Räume. Der ent­schei­dende Unter­schied zur metaphysischen Unsterblichkeitslehre besteht da­rin, daß es in dieser etwas un­ge­wordenes Unsterbliches im Menschen gibt, was durch den Tod befreit wird, wäh­rend diese Prädikate im biblischen Denken nur Gott vorbehalten sind und der Mensch ein schöp­ferisches Novum darstellt. Damit hängt zusammen, daß die Bibel den Men­schen ganz­heit­lich, d.h. in seiner Einheit als leiblich-geistiges Wesen sieht, der dem plato­nischen Leib-Seele-Dualismus fremd ist.

         Nach der Lehre Thomas von Aquins ist die Seele die unica forma corporis: Es ist der Seele nicht äußerlich, im Leib zu sein, Leib zu formieren und zu gestalten, sondern dies macht ihr Wesen aus. Es gibt nur eine einzige Seele mit verschiedenen Vermögen, sinn­li­chen und gei­stigen, Vernunft und Wille. Der Mensch ist nicht aus Leib und Seele zusam­men­ge­setzt, son­dern die Wirklichkeit des Menschen ist die leibliche Selbst­darstellung in der Mate­rialität und das Ergriffensein der Materie vom Geist. Thomas gelangte dadurch zu einem an­deren Ver­ständnis des Todes als es der platonischen Tradition entsprach. Er blieb bei der traditio­nel­len Bestimmung des Todes als Trennung von Leib und Seele. Dies Tren­nung ist jedoch nicht Befreiung, sondern der Mensch stirbt. An der Unvergänglichkeit und Unzer­störbarkeit der Seele hält Thomas allerdings fest. Sie bildet gleichsam die Brücke zwischen dem Tod und der Auferweckung am Ende der Tage und sichert die Identität zwi­schen dem Gestorbenen und dem Auferweckten.

         In der Neuzeit kommt es durch die Entwicklung der Spätscholastik zu einem neuen Dua­lismus. Descartes differenziert zwischen zwei Substanzen, welche verschiedene Regio­nen des Seins repräsentieren: die res cogitans und die res extensa. Substanz ist ein Ding, welches zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf. Der Mensch gehört beiden Be­rei­chen an. Der Tod ist ein rein körperliches Geschehen. Er kann der unkörperlich-un­räumli­chen Seele nichts anhaben. Der Körper unterscheidet sich vom Leichnam eines Menschen wie eine Uhr oder eine andere selbstbewegliche Maschine, die aufgezogen ist und alles zu ihrer Tätigkeit Nö­tige hat, von einer Uhr oder Maschine, die zerbrochen ist und in der das Prinzip der Be­we­gung nicht mehr wirkt.

         Spinoza versteht unter Substanz das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, d.h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet wer­den müßte. Substanz ist die causa sui. Dies trifft nur auf eine Substanz zu, auf die gött­li­che als einzige Wirklichkeit. Die Descartes‘schen Substanzen, welche sich von der gött­lichen noch unterscheiden,  werden von Spinoza in diese zurückverlegt und zu At­tributen de­gradiert. Die einzelnen, endlichen Dinge werden ihres Selbstbestandes völlig beraubt und gelten nur noch als Modi der einen Weltsubstanz. Unter diesen meta­phy­si­schen Vorausset­zungen kann von einer Unsterblichkeit der Seele im strengen Sinne nicht ge­redet werden, da keine subsistierende Individualität existiert. Spinoza geht es um ein in­tellektuelles Entwerden des einzelnen Ich, welches sich in das eine Ganze hinein über­win­det. Unter solchen Aspek­ten stellt der Tod keine Katastrophe mehr dar. Der indivi­duelle Mensch geht zwar im Tode unter, währt aber als Gedanke, als Idee des unendlichen Den­kens, fort.

         Kant wirft der spekulativen Vernunft, welche über Gott, die Welt, die Seele und ihre Un­sterblichkeit, sowie von Dingen an sich spricht, Anmaßung vor, da wir darüber nichts wis­sen können. Nicht aus der theoretischen, sondern aus der praktischen Vernunft ergibt sich das Pos­tulat eines künftigen Lebens jenseits der Todesgrenze. Theoretische Erkennt­nis kann sich nicht auf Dinge an sich erstrecken, sondern nur auf Erscheinungen. Aus dem Po­stulat der prak­tischen Vernunft der Bewirkung des höchsten Gutes als vollständige Iden­tifi­zierung des men­schlichen Willens mit dem moralischen Gesetz in angemessener Pro­por­tio­nierung zwi­schen Glückseligkeit und Moralität folgt das Postulat eines künftigen Lebens jenseits der To­des­grenze, da die Zeit unseres Lebens zu kurz ist, um den Wider­spruch zwi­schen Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung zu überwinden. Einer Auf­erstehung des Leibes im christ­lichen Sinne mißt Kant keine Bedeutung zu.

         Im Fichteschen Denken wird der Tod entzaubert, zum Schein erklärt. Nach seiner Wis­sen­schaftslehre kann über die Unsterblichkeit der Seele nichts statuiert werden, da es nach ihr keine Seele, kein Sterben oder Sterblichkeit, mithin auch keine Unsterblichkeit, sondern nur Leben gibt. Nach Fichte ist das Leben der Natur nur ein “bloßes Bilderleben” und nicht das ur­sprüngliche und wahre Leben. In der Vergänglichkeit des Scheinlebens der Natur müssen wir immerfort sterben, während mit dem Tod am Ende unseres Lebens ge­rade dieses Sterben aufhört und in die Unendlichkeit hineinstirbt, in der unsere wahres Le­ben beginnt. Tod ist Ein­gang des Endlichen in das Unendliche. Leben ist Selbst­bewußt­sein, Subjektivität, d.h. sich wissen und sich wollen, Setzung des Ich, das sich, indem es um sich selbst weiß und sich selbst will, von allen anderen unterscheidet. Im Ver­laufe der Geschichte des Fichteschen Den­kens verschoben sich die Akzente und das Ich versteht sich immer stär­ker als Bild des ab­so­luten Seins und als die Form der Erscheinung dieses Seins. Vom Abso­luten könne man nichts aussagen, als daß es das Absolute sei. Das Abso­lute ist ein in sich geschlossenes Singu­lum des Lebens und des Seins, das nie aus sich her­aus kann. Weil die­ses göttliche Leben rein in sich selbst schwingt und nicht in den Unter­schied von Subjekt und Objekt zerfällt, ist es das reine Leben. Zum Leben gehört aber Tä­tigkeit als Äußerung und Zum-Vorschein-Kommen. Nur das Tote ist unwirksam und ohne Äußerung. Dieses göttliche Sein ist aber nicht das des Menschen und auch nicht das der Welt. Fichte bildet den Kantschen Begriff der Erscheinung um. Erscheinung ist das Wis­sen selbst, in dem das abso­lute Sein und Leben dem Menschen erscheint, so daß es auch als das Bild Gottes bezeichnet werden kann. Sich selbst als Bild zu ver­stehen und dieses Verständnis selber hervorzubrin­gen, macht das Wesen des Ich, des Wis­sens, der Erschei­nung aus. In Fichtes Konzeption im Wesen der Endlichkeit, die sich im Wis­sen, im Ich, in der Erscheinung des Absoluten begreift, ist immer eine Todesrichtung ein­ge­zei­chnet, weil sie sich im Absoluten aufheben muß, indem sie sich nur noch als Bild ver­steht, als Bild des Absoluten. Weigert sich das Ich, sich als solches Bild zu verstehen, erscheint es sich selbst als das Tote und legt die Wirklichkeit im Horizont des Todes aus. Der Tod in seiner mäch­tigsten und verbreitetsten Erscheinung liegt im toten Blick geistlosen Denkens und nicht im Sein an und für sich. Das Tote, das Objekt, entsteht, indem wir es in seinem An-Sich anerkennen und gleichzeitig die spontane Leistung unserer Vernunft, kraft welcher wir dieses von uns unabhängige Seiende setzen. Die tote Substanz ist das Produkt der Selbst­ver­ges­senheit, in welche das setzende Subjekt durch die Differenzierung von Subjekt und Objekt ver­fällt. Der Tod ist bloßer Schein, der dadurch entsteht, daß wir eine von uns un­abhängige Na­tur voraussetzen.

         Leben, Bewegung heißt für Hegel Geist, Subjektivität, Vernunft, Denken. Es geht um die Selbstbewegung der absoluten Idee, um den Prozeß, in welchem der Geist zum voll­stän­di­gen Begriff seiner selbst kommt, das Absolute sich aus sich herausgehend selbst auslegt und in dieser Entäußerung zugleich, sich selbst reflektierend, in sich zurückkehrt. In der Ge­sell­schaft und im Staat, vor allem in der Religion, der Kunst und abschließend in der Philo­sophie kommt der ganze Prozeß der Geschichte zu seiner sich wissenden Durch­sichtigkeit und das absolute Wissen wird als Sich-selbst-Wissen Gottes im Menschen er­reicht. Dieser Welt- und Geschichtsprozeß muß dialektisch verstanden wer­den. Dialektik im Sinne Hegels hängt aber aufs engste mit dem Tod zusammen. Im dialektischen Prozeß hebt sich das Ganze in seinen Bestimmungen im Ganzen und die Bestimmungen unter­ein­ander in sich ständig auf, scheiden sich, stellen einander in Frage, treten gegeneinander auf, vereinen und versöh­nen sich schließ­lich. In all dem bleibt aber das Ganze es selbst, kommt gerade erst zu sich selbst, was durch Ne­gation geschieht. In ihr wird das jeweils Bestehende zerrissen und ge­nichtet. Diesem Ne­gativen schreibt Hegel eine ungeheure Macht zu. Sie ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs. Die Macht des Negativen, diese Energie des Denkens bezeichnet Hegel auch als den Tod. Sein und Leben müssen sich, um selbst sein zu können, der Nega­tivität, dem Tod aus­setzen. Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein be­wahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Dieser ge­winnt seine Wahrheit nur, in­dem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht gewinnt er nicht, in­dem er nur das Positive ist, welches vom Ne­gativen wegsieht, son­dern indem er dem Ne­gativen ins Auge schaut, bei ihm verweilt. Die Liebe ist Aufhebung aller Trennung und es ist zu vermuten, daß in der Liebe der Tod über­wunden wird, womit Hegel in die Nähe der Reflexion auf inter­personale Erfahrung wie es im Denken Marcels und in ähnlicher Weise bei anderen Vertretern des sogenannten dialogi­schen Denkens auftritt.

Innerhalb der Hegelschen Dialektik erscheint das Thema des Todes ausdrücklich in Zu­sam­menhang von Herrschaft und Knechtschaft. Für Hegel erscheint der Mensch in seiner Frei­heit gerade darin, daß er sterben kann; nicht wie ein Tier verendet, sondern sich zu sei­nem Tode verhält. Im Kampf will das Bewußtsein zum Selbstbewußtsein werden, zu sei­ner Selb­ständigkeit vordringen, sich als Für-sich-Sein konstituieren, was es nur erreicht, wenn es sich vom bloßen An-sich der toten Substanz unterscheidet. Das Für-sich-Sein ist nur durch die Aus­einandersetzung mit dem Tod möglich. Im Kampf geht es in der Wech­sel­seitigkeit der Kämpfenden um das Tun des anderen und das Tun durch sich selbst. Inso­fern es Tun des an­deren ist, geht jeder jeweils auf den Tod des anderen. Das Selbstbewußt­sein der bei­den Käm­pfenden muß sich durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. Darin erlangen sie die Ge­wißheit ihrer selbst, für sich zu sein. Aus diesem Kampf erheben sich zwei entge­genge­setzte Gestalten des Bewußtseins, die von Herrn und Knecht. Der Herr gewinnt Macht über das Sein, der Knecht bleibt unselbständig. Der Herr erhob sich im Kampf über die Unmittel­barkeit des bloßen Daseins, indem er das Leben aufs Spiel setzte und sich darin in seiner selbstbewußten Freiheit zeigte, dem Knecht ist die Angst als Beziehung zum Tod ei­gen. Aus Furcht vor dem Tod unterwirft sich der Knecht dem Herrn und begibt sich in die Zucht von Dienst und Gehorsam. Der eigentliche Motor der Dialek­tik liegt in der Negation, deren starker Ausdruck der Tod ist. In der Negation der Negation heben sich die einzelnen Stufen der Ent­wicklung des Geistes auf, wie auch im Ganzen des Systems. Von daher könnte man meinen, daß auch der einzelne Mensch für immer von der lebendigen Totalität des Ganzen umgriffen und nicht schlechthin durch den Tod vernichtet wird. Hegel schweigt jedoch über eine mög­liche Zukunft des Menschen jen­seits der To­desgrenze. Der Einzelne ist nur Funktion des um­greifenden Prozesses, an dessen persönli­cher Unsterblichkeit nichts liegt.

         Für Schopenhauer ist der Tod der eigentlich inspirierende Genius oder der Musaget der Philo­sophie. Ohne Tod würde nach seiner Überzeugung nicht philosophiert. Religion und phi­lo­sophische Systeme sind für ihn das von der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln her­vorgebrachte Gegengift der Gewißheit des Todes. Schopenhauer bewegt sich auf der tra­di­tionellen Linie der Metaphysik, wonach die philosophische Lebensführung ein ständiges Sterbenlernen ist. Der Wille ist das grenzenlose und unendliche Ding an sich, das in allem gegenwärtig ist. Der Wille ist Wille zum Leben und als solcher blind, ein Streben ohne Ziel und Ende. Er verspannt den Menschen in den ausweglosen Widerstreit zwischen Wunsch und Befriedigung. Bleibt die Befriedigung aus, entsteht Leiden. Wird unser Be­geh­ren erfüllt, müs­sen uns sofort neue Wünsche antreiben, da wir ansonst in Leere und Lange­weile ver­sinken. Glück und Wohlsein bestehen nur in der raschen Abfolge von Wunsch, Befriedi­gung und neuem Wunsch. Daher ist für den Menschen eine dauernde Be­friedigung unmöglich und alles Glück ist im Grunde negativ. Wir ertragen ein solches Da­sein nur aus Furcht vor dem Tode. Die Todesfurcht trifft den Menschen härter als das Tier, da das Tier nur von seiner an­ge­bo­renen Abwehr seiner Vernichtung geleitet wird, während der Mensch seines Todes in der Ver­nunft bewußt und gewiß ist. Schopenhauer geht von einem unge­wordenen und unzer­stör­baren Anfangslosen aus, von einem Ewigen, das au­ßerhalb der Zeit steht. Eine wirkliche Hilfe wird uns nur zuteil, wenn wir erkennen, daß es in uns etwas gibt, was nicht aus dem Nichts stammt und darum der absoluten Ver­nich­tung entzogen ist. Alle Gegenstände er­scheinen uns in der Zeit, sie selbst ist aber nicht wieder einer dieser Gegen­stände, weshalb im Tod nur eine Er­scheinung in der Zeit zu Ende geht, ohne daß dadurch das Ding an sich in irgendeiner Wei­se angefochten würde. Wir sind in die Absurdität des Lebens zwischen Ge­burt und Tod ver­strickt, weil wir in der Welt der Vorstellung leben, die unser Bewußtsein zeitigt. Das Wesen, jen­seits der Zeit, ist das­selbe Eine in allen Individuen. Im Tode zerfällt unsere In­dividualität und wir sinken wieder in den Urgrund zurück, in dem es weder Zeit noch Raum, weder Viel­heit noch Indivi­dualität gibt. Der Wille ist das unsterb­liche Leben der Natur selbst. Nicht Me­tem­psychose, sondern Palingenesie führt zum Einge­hen in den allein un­zerstörbaren Wil­len. Der Wille als Ding an sich ist frei, d.h. er vermag sich selber bejahen oder verneinen und der Tod ist die große Befreiung, die die Verirrung der Individualität be­sei­tigt.

         Für Wolfgang Cramer ist die Transzendenz über alles Physische hinaus darin gege­ben, daß wir Menschen um unseren Tod wissen. Dieser nicht zu leugnende Sachver­halt wird zur Ein­bruchstelle für den Gedanken an eine Seinsweise des Menschen, welche dem Physisch-Biologischen entrückt ist. Der Widersinn des Todes verschwindet, indem wir uns zum Tod wissend verhalten. Damit bekommt der Tod einen guten Sinn, wenn er eine Er­öffnung einer an­deren Dimension von Leben ist, wie immer man diese auch zu denken hat. Metaphysische Theorien von Unsterblichkeit sind nicht ohne weiters als irra­tional zu ver­werfen. Vielleicht haben wir in ihnen den Versuch der Vernunft vor uns, auch in Fragen nach dem Tod Ver­nünftiges zu denken, um Vernunft nicht in einer blinden Natur­kausalität untergehen zu las­sen.

 

b) Das neue Denken

 

         Der Idealismus wurde nach Hegel einer tiefgreifenden Kritik unterzogen, wobei aus der resul­tierenden Krise des Idealismus die Metaphysik im ganzen in eine Krise geriet, wel­che bis heute nicht überwunden ist. Scherer bezeichnet dieses Denken, welches ein­setzte, als neues Den­ken.

         Feuerbach übte eine fundamentale Kritik an den bisherigen Auffassungen von Tod und Un­sterblichkeit. Der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit sei identisch mit dem Glau­ben an den persönlichen Gott. Gott ist nur ein anderer Name für die eigene Vollkom­menheit des Menschen. Religion mit ihrem Unsterblichkeitsglauben entsteht aus dem Zu­sam­men­stoß des un­endlichen Verlangen des Menschen und seiner Fähigkeit, mit den end­lichen und be­grenzten Da­seinsbedingungen in Natur und Gesellschaft, deren Symptom vor allem der Tod ist, auf Un­endliches zu reflektieren. Das Sein für andere fällt mit dem Leben für die Gattung, das All­ge­meine, der Gemeinnützigkeit des Menschen zusammen. Der Tod stellt ein unauf­hebbares natürliches Geschehen dar, das der Einzelne als Tatsache hinzu­nehmen hat, wird aber in der Geschichte der Menschheit zur Bedingung des Fortschritts. Die Menschheit ver­mag nur auf­grund des Todes der Menschen von einer niedrigeren Stufe der Entfaltung zu ei­ner immer hö­he­ren Ge­staltung des Lebens voranzuschreiten. Allein die geschichtliche Be­stim­mung, die kol­lektive Entwicklung der Menschheit, gibt dem Men­schen seinen Wert und kann den Ein­zel­nen mit seinem Todesschicksal versöhnen.

         Nach Marx muß der Mensch aus dem Ganzen des Gesellschaftlichen, d.h. der Pro­duk­tionsverhältnisse, begriffen werden. Religion ist das Selbstbewußtsein und das Selbst­ge­fühl des Menschen, der sich entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Re­ligion ist das Opium des Volkes. In ihrem Charakter als Jenseitsglaube ist sie Ideo­logie, nicht Rea­lität, der Spiegel einer verkehrten Welt. Das Engagement für die im Dies­seits zu ge­win­nende Zukunft erfüllt Marx und die meisten Marxisten so sehr, daß das Pro­blem des To­des nicht weiter bedacht wird. Der Tod ist ein Sieg der Gattung über das be­stimmte Indi­vi­duum. Marx vermischt einen naturalistischen und einen idealistischen Aspekt: Die Berufung auf die Gattung, welche im Tod über den Einzelnen siegt, ist offen­bar der Biologie entnom­men, die Aufforderung, daß der Einzelne sich am Allgemeinen orien­tieren soll, entspricht dem Hegel­schen Idealismus. Die Menschheit muß sich als großes soziales Unternehmen verstehen. Der Ein­zelne soll sich an der geschichtlichen Tat der Befreiung der Menschheit mitwirken und sich so in den zukunftsorientierten Zug der Menschheitsgeschichte hineinstel­len. Von da aus gesehen, stellt der Tod für den klas­si­schen Marxismus kein wichtiges,  philo­sophisches Pro­blem dar. Wo der überzeugte Mar­xist mit dem Tod konfrontiert wird, vermag er alle Todes­angst überwinden, wenn er in der Überzeugung sterben kann, durch seinen Tod der großen, ge­meinsamen Sache der Befrei­ung der Menschheit gedient zu haben.

         Der Wille zur Macht gilt für Nietzsche als das innerste Wesen aller Dinge. Der Über­mensch ist das letzte Ziel der Sehnsucht Nietzsches und muß derjenige sein, der sich vom Willen zur Macht, der zugleich Kraft des Befehlens wie höchste Lebendigkeit bedeutet, be­stimmen läßt. Der Gedanke von der ewigen Wiederkehr und der vom Willen zur Macht macht ein einheitliches Gefüge aus. Nach Heideggers Interpretation stellt Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen die Spitze seines Denkens dar, auf welche dieses Denken zielt und in dem es sich zusammenfaßt. Zeigt sich im Willen zur Macht, was das Seiende sei­nem Wesen nach ist, so ist in der ewigen Wiederkunft des Gleichen “wie das Ganze des Einen an­west”.

Die zentrale Stellung der Lehre von der Wiederkehr bedeutet die Ablösung der von Nietz­sche aufs schärfste zurückgewiesenen metaphysisch-christlichen Auffassung von der Un­sterb­lich­keit des Menschen in einem Jenseits. Nietzsche verkündigte den Tod Gottes, des Gottes, der durch die Synthese von Metaphysik und Christentum zur Herrschaft ge­langte. Gott ist der Name Nietzsches für die Unfreiheit des Menschen, da er den Menschen einer vorgege­benen Be­dingung unterwirft. Der Tod Gottes ist die Bedingung menschlicher Frei­heit. Der auf den Tod Gottes folgende Nihilismus als Zwischenzustand fordert den Men­schen heraus, über sich selbst hinaus auf den Übermenschen zuzugehen. Beim Gedan­ken der Wiederkehr handelt es sich um den Versuch, eine Antwort auf die Frage nach Ver­gänglichkeit und damit nach dem Tode zu finden. Für Nietzsche gibt es Ewigkeit nur als die Zeit selbst. Im Ring der Wieder­kehr fallen Zeit und Ewigkeit zusammen. Nietzsche versucht eine Welt zu denken, die sich im­mer in der Bewegung des Werdens und Ver­ge­hens befindet, darin aber ziellos ist. Der Wil­le muß immer auf ein Ziel gerichtet sein, weil sich sonst die innerste Struktur des Willens sel­bst auflösen würde. Nietzsche versucht, den Willen, der die Grundbewegung der Welt dar­stellt, als ein Kreislaufgeschehen zu inter­pre­tieren. Er zielt auf das in sich Ver­schlungene des Willens, der sich selbst und zugleich den Sieg über den Tod will. Dies ist je­doch nur möglich, wenn sich in diesem Gedanken die höchste Lebensbejahung daran entfal­tet, daß auch das Kleine und Niedrige am Menschen endgültig bejaht wird. In der höchsten Lebensbejahung enthüllt sich der tragische Charak­ter. Wenn nämlich alles wiederkommt, dann auch das Ver­ächtliche im Menschen. Der Weg der zukünftigen Geschichte endet nicht ein für allemal im Übermenschen, sondern muß immer wieder aufs neue gegangen werden. Leben und Tod sind in einem übergreifen­den Ring verschlungen. Der Tod soll nicht in einen ein für alle­mal an­brechenden Sieg hineinverschlungen werden, sondern immer wieder ge­storben werden. Nietz­sche geht es darum, daß der erfüllte Augenblick des Einklangs von Mensch und Welt, die Erfahrung der Totalität, des Einssein in allem, nicht für immer vorbei sei und dem end­gül­tigen Tod anheim falle. Da er Ewigkeit als jenseitige Unweltlichkeit ab­lehnt, muß er den Au­gen­blick verewigen, indem er ihn immer wiederkehren läßt.

 

Trotz aller Erklärungsmodelle liegt über dem Tod eine unaufhebbare Verhülltheit, da wir nicht wissen, was im Tod mit uns geschieht, bevor wir ihn nicht selbst hinter uns gebracht haben.

         Nach Adorno spottet die Idee des absoluten Todes dem Denken kaum weniger als die der Unsterblichkeit. Der Tod entzieht sich uns in der Verhülltheit. Unter diesem Vor­zeichen einer durchgängigen und alles bestimmenden Verhülltheit können keine positiven Aus­sagen über ein Leben des Menschen jenseits der Todesgrenze möglich sein. Dennoch ist der Ge­dan­ke, der Tod sei das schlechthin Letzte, unausdenkbar. Versuche der Sprache, den Tod aus­zu­drü­cken, sind vergebens bis in die Logik hinein: Wer wäre das Subjekt, von dem da prädi­ziert wird, es sei jetzt, hier, tot?

         Sartre wendet sich gegen alle Auffassungen, die dem Tod eine das Leben des Men­schen ab­schließende und ganz-machende Funktion zuschreiben wollen. Der Tod bricht völ­lig von au­ßen in die Freiheit des Menschen ein. Der Tod verhilft uns nicht zu unserer Ganz­heit, wenn wir angstbereit in ihn vorlaufen, sondern wir bleiben für immer eine “of­fene Ganzheit”, eine unabgeschlossene Ganzheit, wenn wir gestorben sind. Unser Le­ben ist gleichsam stehenge­blieben. Im Tod erlangen wir zwar eine Endgültigkeit, aber eine ab­surde, weil wir von all un­se­ren realisierten Möglichkeiten, von der sturen Faktizität des An-sich-Seins als der äußersten Nichtung unserer Freiheit überholt werden. Die Unbe­stimmtheit des Todes, die Ungewißheit des Zeitpunktes seines Eintretens ist ein Ausdruck dieser Zufällig­keit. Auf den Tod kann man nicht warten wie auf einen Zug. Es ist absurd zu meinen, man könnte sich zu ihm verhalten und gerade durch seine Unbe­stimmt­heit das Heute, die Ge­genwart als Möglichkeit des Selbst­seins ergreifen.

         Für Camus gehört die Gewißheit des Todes zentral in die Erfahrungen der Absurdi­tät, von denen unsere Existenz bestimmt ist. Unser von Absurdität bestimmtes Da­sein zwingt uns, die Frage nach dem Sinn zur leitenden Grundfrage allen Denkens über­haupt zu machen. Die Anerkennung einer solchen Sinnbasis unserer Existenz verschärft die Frage nach dem Tod. Gibt es nämlich Sinn, dann muß gerade der Tod als diejenige Macht er­scheinen, die je­den Sinn nichtet. Die Betonung der radikalen Endlichkeit des Menschen wie auch der Vor­rang der Gegenwart lassen für Camus jede Aussicht auf ein Jenseits als indiskutabel erschei­nen. Die Zustimmung zur Endlichkeit und zum Tod setzt aber den Menschen in die Freiheit der Mög­lichkeiten, das Endliche zu erfahren und zu gestalten.

         Nach Jaspers läßt sich der Mensch auf verschiedenen Ebenen betrachten:

- Als Dasein untersteht er biologischen Gesetzmäßigkeiten, steht in Furcht und Sorge und kämpft um sein Überleben.

- Als Bewußtsein vollzieht er logische Gültigkeit auf der Ebene des Verstandes im Sinne von Kant.

- Als Geist versucht er sein Dasein sinnhaften Ideen zu unterstellen, die dem Getriebe des Da­seins und den Ergebnissen des Bewußtseins Gehalt und Richtung geben sollen.

Innerhalb dieser drei Stufen unseres Seins stehen wir in Bezogenheit auf eine der beiden Wei­sen des Seins, auf die Welt.

Als Existenz beziehen wir uns über alle Welt hinaus auf das Sein, das niemals Welt wird, aber durch sein Sein in der Welt gleichsam spricht. Das ist die Transzendenz. Während der Mensch im Dasein, im Bewußtsein und im Geist auf die Welt bezogen ist, verhält er sich als Existenz zur Transzendenz. Nur wenn das Weltimmanente überstiegen wird, erwacht Exi­stenz. Der Sprung über alles Welthafte hinaus geschieht im Durchgang durch die Grenz­si­tua­tionen. Zu ihnen zählen die endliche Begrenztheit des Menschen, Leiden, Schuld, Kampf und Tod. Allen Grenzsituationen ist gemeinsam, daß ich sie als von mir in der unvertretba­ren Ein­sam­keit meines je eigenen Seins auszustehend erfahre und daß alle die Wirklichkeit ver­schlei­ern­den Harmonisierungsversuche zerbrechen. Die Welt im gan­zen und ohne Rest be­ginnt zu ver­sinken. Alles Weltimmanente wird fraglich und es gibt keinen Halt mehr für den Men­schen. Eine Grenzsituation ist nur dann durchgestanden, wenn kein Grund der Recht­fertigung für das Leben in der Welt aus dem Welthaften selbst mehr genommen wer­den kann. Das Nichts, die Leere, in welcher sich der Mensch dann be­findet, ist nicht das leere Nichts, son­dern der überweltliche Urgrund allen welthaften Seins. Im Abgrund des Nichts trifft den Menschen das Sein selbst, die absolute Trans­zendenz, für die der religiöse Glaube die Chiffre Gott hat.

Die Grenzsituation des Todes vermag die existentielle Wahrheit von Transzendenz er­öff­nen. Durch das Festhalten am Dasein wird Existenz verwirkt. Der Mensch verfängt sich im Wech­sel von Angst vor dem Tod und Vergessen des Todes. Der Angst vor dem vitalen Nicht­dasein, d.h. dem Ende des vitalen Daseins, steht die existentielle Angst vor dem exi­sten­tiellen Nicht­sein gegenüber, d.h. vor dem Verlust der existentiellen Wirklichkeit, wel­che darin besteht, daß der Mensch im Durchgang durch die Grenzsituation sein Selbst be­greift.

Dieser zweifachen Angst entspricht der zweifache Tod. Ein Dasein, welches endlos dauern würde, wäre dennoch in sich tot, würde zur Qual des Nichtsterbenkönnens, wenn in ihm die Möglichkeit eigentlicher Existenz verspielt wird. Der andere Tod ist die nicht ver­wirk­lichte Exi­stenz. Der Schrecken vor dem Tode hält uns solange in Atem, als wir uns noch nicht ver­wirklicht haben und um das Nichtsein als die auf uns zukommende Un­möglich­keit exi­sten­tieller Verwirklichung erfahren müssen. Menschliches Leben bleibt immer durch die Dop­pelheit der Todesangst und Lebenslust einerseits und der stets neu sich er­werbenden Seins­gewißheit andererseits bestimmt. In dem Gefaßtsein auf den Tod müssen beide Mo­mente stän­dig anwesend sein, damit der Mensch sich aus dieser Span­nung immer neu zum Erwer­ben der existentiellen Gewißheit aufgerufen fühlt. Aus diesem Grund lehnt Jaspers den Ver­such der Stoiker und der Epikureer ab, sich gegenüber dem Tod unemp­findlich zu machen. In solchen Vorstellungen werde der Fremdheitscharakter des Todes dadurch festgehalten, daß man ihn nur vom bloßen Dasein versteht, dadurch in der Welt der Er­scheinungen befan­gen bleibt und nicht zum Entscheidenden vordringt. Das Ent­scheidende be­steht darin, daß man auf den Tod zugehen kann als je eigenem Grund und daß in ihm Voll­endung von unbe­greiflicher Art sei. Tod sei weniger als Leben und fordere Tapferkeit. Tod sei mehr als Le­ben und gebe Ge­borgenheit. Für Jaspers gibt es keine ein für allemal fest­gelegte Stellung­nahme zum Tod. Diese wandelt sich in Sprüngen neuen Erwerbens durch das Leben und ge­schieht dadurch, daß die zweifache Angst und der zwei­fache Tod immer neu auf­einandersto­ßen. Nur als Fak­tum objektivierbaren Wissens ist der Tod eine immer gleiche Tatsache. Trotz der Lehre von der Transzendenz lehnt Jaspers alle Vorstellungen von einer Unsterb­lichkeit ab und hält Sterb­lichkeit für beweisbar, wes­halb Scherer die Aussagen Jaspers‘ über Tod und Un­sterb­lich­keit für undeutbar hält.

 

 

 

 

c) Der natürliche Tod

 

Der Begriff des natürlichen Todes stellt den zentralen Punkt der heutigen, philosophischen Aus­einandersetzungen dar. Die Auffassung des Todes als natürliches, biologisches Ge­sche­hen ist als Gegenposition zur traditionellen, metaphysischen Unsterblichkeitslehre bzw. des Auf­er­weckungsglaubens zu betrachten. Das Verständnis des Todes als “natür­lich” ist für eine im­mer größere Zahl von Menschen zum Inbegriff eines naturwissen­schaft­lich orientier­ten Ver­hält­nis­ses zum Tod geworden.

Der “natürliche” Tod wird heute zunächst als Alterstod bestimmt, der sich aus der Ent­wick­lung des alternden menschlichen Leibes heraus mit Selbstverständlichkeit als Ende einstellt. Dieser biologische Alterstod erklärt sich endogen, nicht pathogen und läßt sich vom vor­zei­ti­gen, durch Unfall, Krankheit, Krieg, Mord und durch gesellschaftliche Miß­stände ver­ur­sachten Tod abgrenzen. Der “unnatürliche” Tod wird den Medizinern als auch der Gesell­schaft als Ganzes angelastet, weil sie den Menschen noch nicht in jedem Fall bis an sein na­tür­liches Ende ans Leben erhalten können.

                                                                                                                                                Der Gedanke vom natürlichen Tod hat auch seine philosophische Wurzeln. Feuer­bach hat auf dem Hintergrund seiner Anthropologie, welche den Menschen von seinen sinnlichen Bedürfnissen her zu verstehen sucht, den Begriff des “naturgemäßen” und “ge­sunden” To­des ge­bildet. Das ist für ihn der Tod, der in hohem Alter erfolgt, wenn der Mensch des Le­bens satt ist. Dieser Tod könne zum letzten Willen und Wunsch des Men­schen werden, so­lange dieser in seinen Wünschen und Vorstellungen der mensch­lichen Natur treu bleibt. Schrecklich ist nur der unnatürliche, gewaltsame, grausame Tod.

 

Es ergibt sich hinsichtlich des Todes in den heute erörterten Fragen ein Widerspruch. Um den Tod solange hinauszuschieben, bis er durch den biologischen Alterungsprozeß bedingt ein­tritt, sind umfangreiche Maßnahmen notwendig.

Johannes Schwartländer erklärt daher, daß der heute geforderte “natürliche Tod” der in Wahr­heit künstlichste Tod ist, da er die Frucht der kunstvollen Selbstmanipulation des Men­schen und seiner Lebensumstände ist.

Nach Scherer ist es des Menschen Natur, auf nichtnatürliche, nämlich kulturell-geschicht­li­che Wei­se zu existieren, da der Mensch, um im biologischen Sinne des Wortes weiter­leben zu kön­nen, das Biologische mit Wissenschaft, Technik, politische Maßnahmen, usw., über­stei­gen muß. Es ist unmöglich, das Natürliche des natürlichen Todes ausschließlich von bio­lo­gi­schen Fakten her zu bestimmen. “Was der für den Menschen der natürliche Tod ist, kann nur gefunden werden, wenn man nicht nur auf die biologischen Strukturen des Menschen, son­­dern z.B. auf seine Freiheit, seine Verwiesenheit auf Sinn, seine Vernunft und auf die ethi­sche Dimension seiner Existenz blickt.” Die heutige Gesellschaft untersteht einer charak­teri­sti­schen Tendenz zur totalen Operationalisierung und Funktionalisierung der Wirk­lich­keit. Die­ser Funktionalismus wird vom nur selten ausgesprochenen “Ideal” einer durch­gän­gigen und in allen Bereichen bestimmenden Verfügung des Menschen über sich selbst defi­niert. Diese Ten­denz schließt eine positive Stellungnahme zu “Wider­fahr­nissen” aus. Was nicht be­wältigt wer­den kann, soll nicht sein. Im Tod kulmi­niert das für uns Menschen Un­einholbare. Wir ver­suchen den Tod zu bewältigen, was am radi­kalsten in der Gestalt des Freitodes geschieht. Aber auch der natürliche Tod zielt bewußt oder unbe­wußt auf die Be­wältigung des Todes, da seine Voraussetzung darin be­steht, daß der Mensch die naturale Basis seines Lebens in den Griff bekommt, um den Tod soweit wie möglich hinauszu­schie­ben. Wo sich die Intention auf Bewältigung des Todes richtet, kon­zentriert sich das Interesse der Lebens­verlängerung häufig nur noch auf die medizi­nische Erhaltung der Lebenspro­zesse. Tritt der Tod dann trotzdem ein, wissen wir mit dem Ster­benden nichts mehr anzu­fangen. Wir überlassen ihn dem Ver­fallsprozeß und erklären ihn rational als unvermeid­liches Naturgeschehen. Wir verstehen nicht, daß sich Freiheit und Selbstbestimmung nicht nur in der Selbstverfügung ereignen, son­dern gerade auch in dem Verhalten zu dem, was uns wi­der­fährt.

                                                                                                                                                Nach Walter Schulz ist das Thema Unsterblichkeit für die gegenwärtige Philosophie nicht aktuell. Der Tod ist ein absolutes Ende des Lebens. Die Epoche der Metaphysik ist durch die Wissenschaft abgelöst worden. Zu ihr gehört die biologisch orientierte Vorstel­lung vom natürlichen Tod. Der Mensch ist allerdings nicht nur ein naturhaftes Exem­plar seiner Gat­tung, sondern ein Wesen, das sich zu sich selbst verhalten kann.

                                                                                                                                                Für Kamlah ist der Tod eine Katastrophe. Diese Katastrophe vernichtet irgendwann je­des Lebewesen, den Menschen nicht ausgenommen. Das katastrophische Todesver­ständnis hat dasjenige abgelöst, welches den Tod des Menschen im Unterschied von dem der Pflan­zen und Tiere als Durchgang zu einem neuen, leidlosen, ewigen Leben ansieht.

                                                                                                                                                Auch Weischedel als Vertreter des Skeptizismus vertritt die These vom Ende der Meta­physik. Im Unterschied zu Kamlah, bei dem der Begriff des natürlichen Todes deut­lich im Hintergrund des katastrophischen Todesverständnisses steht, spricht Weischedel ohne Be­zug­nahme zu naturwissenschaftlichen Aussagen über den Tod als unwider­rufli­ches und schlecht­hin­niges Ende des Menschen. Der Tod erscheint jedoch als Befreier. Der Mensch gewinnt sich als Selbst, wenn er sich im Blick auf den Tod von allem löst, woran dieses Selbst hängt. Dieser Selbstverlust ist paradoxerweise Selbstgewinn. Damit erscheint der Tod nicht mehr als Wi­der­sinn, sondern wird in eine Möglichkeit der Freiheit verwan­delt und dient zuletzt der Au­tonomie des Menschen.

 

 

d) Euthanasie und Freitod

 

Die neue Diskussion um Euthanasie wurde nach Scherer notwendig, weil der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und Technik die Verlängerung des Lebens von Schwer­kranken unter Bedingungen ermöglicht, die uns nach dem Sinn solcher Maßnahmen fragen lassen. Oft wird der Vorgang des Sterbens durch den Einsatz moderner, medizinischer Mittel künst­lich ver­längert und damit menschliches Leiden, vielleicht unnötigerweise, ver­mehrt. In man­chen Fäl­len besteht die Möglichkeit, Kranke, die man früher für tot erklärt hatte, mittels fort­ge­schrit­tener Medizin wieder ins Leben zurückzurufen.

Daraus resultieren Fragen, welche für eine medizinische Ethik eine unüberschlagbare Be­deu­tung besitzen:

Wann dürfen und müssen wir alles tun, um menschliches Leben zu verlängern?

Wann dürfen wir, wann sind wir vielleicht verpflichtet, solche Hilfeleistungen zu unter­las­sen, d.h. passive Sterbehilfe leisten?

Ist es erlaubt, aktive Maßnahmen zu ergreifen, um einen Kranken mit schwerem, unheilba­ren Leiden zu töten?

Darf der Mensch selbstmächtig über seinen Tod und damit über sein Leben verfügen?

Dürfen wir unser eigenes oder das Leben anderer beenden, weil uns angebliche oder wirk­li­che Ab­surditätserfahrungen so bedrängen, daß wir meinen, keinerlei Grund für eine uns weiter­tra­gende Hoffnung mehr vorweisen zu können? Eine die Neuzeit bestimmende Eman­zipa­tions­be­wegung will den Menschen durch Überwindung naturwüchsiger Abhän­gig­keiten und ge­sell­schaftlicher Zwänge zur vollständigen Autonomie vorstoßen lassen. Der Mensch soll die Voll­macht haben, seinem Leben ein Ende zu setzen, wenn er es von seinem Sinnho­rizont her für richtig hält. So erklärt Herbert Marcuse, daß der Tod zum Wahr­zeichen der Freiheit wer­den können. Die Unvermeidlichkeit des Todes widerlege nicht die Mög­lichkeit einer schließ­lichen Befreiung. Diese Befreiung besteht darin, daß der Tod gleich den anderen Notwendig­keiten vernünftig gestaltet werden kann, d.h. schmerz­los.

Nach Scherer geht es bei der Frage nach dem Freitod und der aktiven Sterbehilfe um den Sinn menschlicher Freiheit. Es geht darum, ob nicht die Widerfahrnisse, die wir hinneh­men müs­sen, wie den Tod, ihren Ort in unserem Dasein haben und ob nicht auch sie in ih­rer Weise ge­rade unsere Freiheit beanspruchen. Es geht um die Frage, ob nicht jede Sin­n­erfah­rung den Cha­rakter des Widerfahrnisses besitzt und ob es von daher so ausge­schlos­sen ist, daß sich uns im Widerfahrnis des Todes Sinn zuspielt, allerdings in einer Weise, die uns unbekannt bleibt be­vor wir gestorben sind. Der zweite Punkt ist, ob bei Sterbehilfe in der Form von Sterbe­be­gleitung bis zum natürlichen Verscheiden Tod und Sterben be­greiflich gemacht werden kann, also um ein Sinnverstehen.

In diesem Zusammenhang stehen sofort Fragen zur Rede, welche die Philosophie immer wie­der gestellt hat:

wie der Mensch zu seinem Leben steht, das nun zu Ende geht;

was dem Menschen im Tod widerfährt und was aus dem Menschen und all dem, was bis­her sein Leben ausgemacht hat, wird.

Scherer wirft die Frage auf, ob wir nicht gerade mitten im Leben das memento mori immer wieder vollziehen müssen, nicht nur um sterben, sondern auch, um menschenwürdig leben zu kön­nen. Er sieht ein solches memento mori als mögliche Leistung der philosophischen Be­stim­mung.

 

 

 

 

 

 

“I believe that no man ever threw away life, while it was worth keeping.”

David Hume, Essays on Suicide and the Im­mort­ality of the Soul, S. 21

 

 

2. Abschnitt: Euthanasie als partikuläres ethisches Problem

 

§ 1 Analyse der Euthanasieproblematik

 

Die heute stattfindende, weltweite Diskussion um Euthanasie zeigt ein großes, mensch­li­ches Be­dürfnis auf, den Zeitpunkt des Todes frei wählen zu dürfen. Den Argu­menten der Gegner von Euthanasie, welche eine suffiziente, medizinische Versorgung der Bedürfnisse Mori­bunder als gegeben betrachten[clix], ist mit gewisser Skepsis zu begegnen, da in diesem Fall der Drang zur Euthanasie nicht derartige Ausmaße erreicht hätten.  Eutha­nasie wird ille­gal in vielen Ländern praktiziert. Die weltweiten Versuche, Euthanasie zu legalisieren und damit Ster­be­willigen den Tod zu gestatten und gleichzeitig Mißbrauch zu vermeiden, haben zu star­ken Gegen­reaktionen geführt. Bestrebungen, den nordaustralischen Rights of the Terminally Ill Act zu Fall zu bringen, haben zu einem Zustrom von Kranken nach Nor­daustralien ge­führt, welche be­fürchten, daß die Gegner des Acts Erfolg haben könnten und ihnen damit die Möglichkeit verwehrt wäre, davon Ge­brauch zu machen. Bezeichnend ist eine Aussage Bob Dents, dem ersten Australier, wel­cher nach dem Terminally Ill Act eu­thanasiert wurde, in einem offenen Brief an austra­lische Parla­mentarier. Darin bezeich­net er dieses Gesetz als “the most com­passionate piece of legislation in the world”. Im Kon­text mit der Schilderung seiner Leiden zeichnet sich die Situation eines Kranken ab, welcher durch den Akt der Eu­thanasie aus einer aussichtslosen Lage erlöst wurde. Das Ziel der heutigen Euthanasie ist das Beenden von hoff­nungslosem Leiden und Pa­ral­lelen zur soge­nannten “Euthanasie” der na­tionalsoziali­stischen Ära treffen - wie aus nach­folgendem Au­genzeugenbericht einer Ver­ga­sung hervor­geht - auf keinen Fall zu:

 

“Ich…blickte durch das in der Seitenwand eingelassene Guckfenster. Durch dieses sah ich etwa 40 bis 45 Män­ner, die dichtgedrängt im Nebenraum waren und nun langsam starben. Einige lagen auf der Erde, andere waren zusammengesunken, viele hatten den Mund auf, als wenn sie keine Luft mehr bekamen. Die Todesart war so qualvoll, daß man von einer humanen Tötung nicht sprechen konnte, zumal viele der Getöteten ja auch klare Augenblicke gehabt haben mögen. Ich sah dem Vorgang etwa 2-3 Minuten zu und entfernte mich dann, weil ich den Anblick nicht länger ertragen konnte und mir schlecht wurde.”[clx]

 

            Bei den NS-Termini “Euthanasie” und “Endlösung” handelte es sich offensichtlich um Eu­phe­misierungen, um den Tätern die Selbsterkenntnis zu ersparen, daß sie Mörder waren. Ge­tö­tet wurden gesunde, lebenswillige Menschen. Während in jener Zeit sozi­al­darwi­nisti­sche und -ökonomische Erwägungen die treibende Kraft waren,  sind die heu­tigen Motive per­sona­ler oder humanitärer Natur. Die “Täter” setzen sich über all­ge­mein anerkannte Nor­men hin­weg, um dem Leidenden zu helfen. Nicht einem Unbe­kannten, für den man nichts empfindet, son­dern einem geliebten Menschen hilft man zum erlösenden Tod.

 

Wiplinger thematisierte als erster das Problem des personalen Todes in der Phi­lo­sophie.[clxi] Für ihn wird die Erfahrung des eigenen Todes im Tod des geliebten Menschen gemacht. “Eine Weile, vielleicht nur für den Blitzesaugenblick jenes ersten Eintreffens der Nach­richt, werde ich mit hinein- und hinabgerissen in seinen Tod, erfahre den Verlust jeg­lichen Halts am Leben, am Sein, absolute Halt-losigkeit, das Nichten des Nichts.”[clxii] Durch die Er­fah­rung des Todes des geliebten Menschen geht die Gewißheit des eigenen Todes auf, die Er­fahrung des Menschentodes, des “allgemeinen Todes”,  über­haupt und zwar “in einer Ge­wißheit, an die keine noch so tiefsinnige Argumentation und spe­ku­lative Begrün­dung des­selben heranreicht, die aber auch die selbstsichersten Prognosen der Wissenschaft und Technik in ihrer Zu­ver­sicht, doch noch einmal den Tod zu besiegen, nicht mehr er­schüt­tern können. Denn ich habe er­fahren: Tod ist Trennung von dem, den wir lie­ben.[clxiii]

 

 

            Liebende Personen, welche einen Akt von eÈyanas€a in der genuinen Bedeutung des Wortes setzen, wer­den vor den Widersinn ihres eigenen Todes und damit in die Un­wieder­holbarkeit der eigenen Existenz  geworfen. Solches Tun dem moralisch Bösen zu sub­sumie­ren ist bei Berück­sich­ti­gung der enor­men Selbstüberwindung und den unwider­ruflichen Folgen rational-logisch nicht be­gründ­bar.

            Der zweite, Euthanasie praktizierende Personenkreis ist die Ärzteschaft. Das Motiv liegt in der Einsicht, daß ihre ärztliche Kunst und Wissenschaft an ihre Grenzen gelangt ist und den be­han­delten Pa­tienten nicht geholfen werden kann; das verbleibende Leben der Pati­enten wür­de nur Qual be­deuten. Ärzte erfahren nicht den Tod eines geliebten Men­schen und werden da­mit nicht mit dem Tod in der Weise konfrontiert wie Wiplinger dar­legt. Um die psy­chi­schen Sperren des Tötungstabus zu überwinden, muß der Wille rational re­flek­tiert  und stär­ker aus­ge­prägt sein als bei einem lie­ben­den Menschen. Eine solche Handlung wider­spricht dem Be­rufs­ethos. Das Hilfe rufende Du des Patienten muß den Arzt ansprechen, ihn zwin­gend drän­gen, da eine Risikobereitschaft für Fremde ge­ringer oder überhaupt nicht vor­handen ist. Es ist schwierig, Eutha­nasie, welche in der Gesin­nung zu helfen prak­ti­ziert wird, als ethisch nicht vertretbare Position zu betrachten.

Bei den kon­tem­po­rären Versuchen, Euthanasie zu legalisieren, wird den Ärzten aufgrund ih­rer fach­lichen Qua­li­fikationen ein besonderer Stellenwert eingeräumt.

 

§ 2 Das absolute Tötungstabu als Paralogismus

 

Jede Gesellschaft akzeptiert ein oder mehrere Prinzipien der Achtung vor dem mensch­li­chen Le­ben. Die Ablehnung von Mord ist die wahrscheinlich universellste von allen mo­ralischen Ein­stellungen[clxiv]. Die meisten Historiker der westlichen Moral stimmen darin überein, daß die Verbreitung der jüdischen, und noch mehr die Verbreitung der christ­li­chen Religion we­sent­lich zum Gefühl beitrug, daß menschliches Leben generell wertvoll und achtenswert sei[clxv]. All­gemein wird angenommen, daß einige philosophische und reli­giöse Schulen unab­hängig vom jüdisch-christlichen Einfluß starke Achtung vor menschli­chem Leben äußerten. So wird schon im hippokratischen Eid Abtreibung und Euthanasie miß­billigt. Nach Ludwig Edelstein re­präsentiert  dieser Eid nur einen schmalen Ausschnitt aus der verbreiteten, grie­ch­ischen Mei­nung und ist auf die Pythagoreer zurück­zuführen, die Selbstmord aufgrund der Überzeu­gung verurteilten, daß wir als Soldaten Gottes an ei­nem bestimmten Ort der Pflicht aufgestellt seien, den zu verlassen eine Rebel­lion gegen unseren Schöpfer wäre.[clxvi]

In der modernen Strafrechtsdogmatik wird dem Rechtsgut Leben absoluter Höchstwert zu­ge­ordnet und einer Interessensabwägung entzogen.[clxvii] Dieses Tötungsverbot zieht stets, au­ßer bei Notwehr, Krieg und Todesstrafe, das Verdikt der rechtswidrigen Tötung nach sich.[clxviii]

Das Tötungstabu wurde zum Schutz der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft ent­wic­kelt. Es ist selbstevident, daß das Töten eines anderen aus Motiven wie Haß, Habgier, Ei­fersucht, etc., ethisch keine argumentative Rechtfertigung finden kann. Zu hinterfragen ist allerdings, ob menschliches Leben als bonum absolutum betrachtet werden kann.

Proponenten von Eu­tha­nasie weisen die Berufung auf religiöse Autoritäten zurück.

            Ursula Wolff kann in einer nicht-religiösen Moral keine Grundlage für ein Tötungs­verbot er­ken­nen.[clxix]

            Helga Kuhse weist Argumente der Heiligkeit oder unendlichen Werthaftigkeit des mensch­lichen Lebens als prima facie plausibel klingend, aber als tautologische Begrün­dung zurück. Diese Argumente gingen lediglich auf die Behauptung eines besonderen Werts zu­rück.[clxx]

            Philippa Foot akzeptiert, daß Leben normalerweise ein Gut darstellt, dies aber nicht immer der Fall sein muß. Leben zu retten oder zu verlängern darf nicht immer positiv be­wer­tet wer­den, da es u.U. für jemanden besser sein kann, früher als später zu sterben.[clxxi] Leben kann al­ler­dings mit mehr an Schlechtem als Gutem noch immer selbst ein Gut sein.[clxxii] Das Töten eines Menschen zu seinem eigenen Wohl - d.h. aus der Binnenper­spek­tive betrachtet - gegen seinen Willen oder ohne seine Zustimmung als unfreiwillige Eutha­nasie kann aber niemals ge­rechtfertigt werden. Die Rechte eines Menschen werden durch eine solche Hand­lung ver­letzt und sie verstößt deshalb gegen die Gerechtigkeit. Jedoch seien alle anderen Kom­bina­tionen, wie nichtfreiwillige passive Euthanasie, frei­willige pas­sive Euthanasie und frei­willige aktive Euthanasie  manchmal sowohl mit Gerechtigkeit wie mit Nächstenliebe verein­bar. Ge­rechtigkeit und Nächstenliebe sind zwei Tugenden, die normativ gesehen sol­chen Hand­lungen generell entgegenstehen, wobei Foot Ge­rechtigkeit als eine Form von Nicht­ein­mischung und Schulden positiver Hilfe, Nächstenliebe als die Tugend versteht, die uns das Wohl anderer an­ge­legt sein läßt. Sie spricht sich lediglich wegen der Gefahr des Mißbrauchs gegen eine Le­ga­li­sierung aktiver Euthanasie aus. Die psycholo­gischen Barrieren gegen das Töten sollen auf­recht­erhalten bleiben. Verfahren zu entwickeln, welche den Men­schen einen Schutz davor gä­ben, ihrem eigenen Tod zuzu­stimmen, wäre sehr schwierig. Die Verfüg­bar­keit aktiver, frei­wil­liger Euthanasie würde - nach Foot - das soziale Leben in äu­ßerst negativer Weise ver­ändern.

            Auf die verschiedenen Kohärenzprobleme des moralischen Verbots des Tötens von Personen, sc. Menschen, haben Hegselmann und Merkel hingewiesen:

 

"In diesem Gesamtzusammenhang entstehen nun verschiedene Kohärenzprobleme, zu denen jedenfalls die fol­genden drei gehören:

1.  Es ist inkohärenzverdächtig, den Suizid jedenfalls unter bestimmten Bedingungen für moralisch erlaubt, die Tötung auf Verlangen jedoch für prinzipiell unvertretbar zu halten.

2.  Es ist inkohärenzverdächtig, einerseits weitreichende Abtreibungserlaubnisse für moralisch vertretbar zu halten, andererseits jedoch die Früheuthanasie prinzipiell abzulehnen.

3.  Es ist inkohärenzverdächtig, die passive Sterbehilfe für moralisch zulässig, die aktive Sterbehilfe hinge­gen für unter allen Umständen moralisch verwerflich zu erklären.

»Inkohärenzverdächtig« heißt dabei: Es ist schwierig zu sehen, wie plausibel und konsistent für die jeweils erste Position argumentiert werden können soll, ohne dabei zugleich die möglichen Gründe gegen die jeweils zurückgewiesene zweite Auffassung zu unterminieren."[clxxiii]

 

 

Bob Dent attackierte als Betroffener die Euthanasiegegner in sehr scharfer Art und Weise:

 

“What right has anyone,  because of their own religious faith (to which I don't subscribe),  to demand that I be­have according to their rules ... until some omniscient doctor decides that I must have had enough and goes  ahead and increases my morphine until I die? If you disagree with  voluntary euthanasia, then don't use it, but don't deny me the  right to use it if and when I want to.”

 

In Konnex mit seinem Leiden sind diese Worte ein Zeugnis des Willens zum Tod, um wei­te­res Leiden zu vermeiden.

Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gesinnung Senecas, dessen Zwecksetzung je­doch eine andere war. Dent hatte den Willen zum Tod, weil seine Lebensumstände uner­träg­lich wa­ren. Die­se menschlich akzeptablen Argumente wären für Seneca eine feige Nieder­lage. Schmerz ist für ihn nicht ein Grund, sich “davonzumachen”, sondern  - in ei­ner mo­dernen Dik­tion - weil das Leben keine lebenswerte Qualität aufweist. Die nicht termi­nier­bare Dauer des Schmer­zes ist nur dann Grund, aus dem Leben zu gehen, wenn er wegen seiner Uner­träg­lichkeit einen zufriedenstellenden Lebensablauf - die Bewältigung der Lebenspro­bleme - unmöglich macht. Im geistigen Umfeld sowohl Dents, als auch Senecas bestanden Ähnlich­keiten: Dent war gläubiger Buddhist, für Seneca war der stoi­sche Pantheismus eine Möglich­keit, den endgültigen Tod zu vermeiden. Der Tod war nicht das Nichts - eine weitere Ähn­lich­keit im Brückenschlag zwischen antiker, philoso­phischer Freizügigkeit im Umgang mit dem Tod und einem modernen Menschen des 20. Jahrhun­derts. Ein antiker Philosoph legte je­doch in einer einsamen Entscheidung Hand an sich und schied nach rationaler Er­wä­gung aus dem Leben. Dieser Schritt aus vernunftbetonter Ent­scheidung läßt auf ein hohes Ausmaß an persönlicher Freiheit in der Bewältigung der ei­genen Sterblichkeit schließen. Dieser Frei­heit in der Willensent­scheidung zum Tod mag jedoch mit gewisser Skepsis be­gegnet werden, da in jedem “Frei­tod” exi­sten­tielle Nöte den Anlaß bieten. Aus dem psy­chothanatologischen Bei­trag ist ersichtlich, daß sich Suizi­dan­ten einen letzten Fluchtweg of­fenlassen, d.h. im In­nersten wünschen, gerettet zu wer­den. Ihr Sinn ist auf Leben und nicht auf den Tod ge­richtet. Im pathologischen Suizid ist die Freiheit in der Willensentscheidung mit Sicherheit nicht gegeben, aber auch der Freitod des Philo­sophen, dem eine lange Tradi­tion der Todes­be­wältigung in der philosophischen Re­flexion zugrundeliegt, wodurch er in die Lage versetzt wird, die biologischen Überle­bens­mecha­nismen aus einer Entscheidung der Vernunft heraus zu überwinden und in den Tod zu gehen, basiert auf einer existentiellen Aussichtslosigkeit.

Bei einem genuinen Freitod wäre nicht nur eine Wahlfreiheit zwischen Leben und Tod ge­ge­ben, sondern eine absolut freie Willensentscheidung, in der sich der Suizidant für den Tod entscheidet.[clxxiv] In diesem Fall könnte  man nicht einmal den von Freud postulierten To­des­trieb prä­sumieren. Eine solche Le­bens­ein­stellung läuft aber den naturbedingten, biolo­gischen Über­le­bens­mechanismen zuwider und diese Form der existentiellen Freiheit und hätte den Un­ter­gang der Gattung Mensch aufgrund mangelnder Lebensbejahung schon lange nach sich ge­zogen.

Seneca hätte sich mit Sicherheit nicht für die mors voluntaria entschieden, wenn er nicht von Nero zum Tode ver­urteilt worden wäre, d.h. Seneca wählte das kleinere Übel.

Er[clxxv] läßt sich nicht durch den Schmerz besiegen,[clxxvi] er wird nicht vor einer Krankheit flie­hen,[clxxvii] wenn aber nur die leibliche Existenz übrig bleibt und die geistige Gesundheit ver­fällt, geht er aus dem Leben.[clxxviii] Aus “dumtaxat” geht das Element der sachlichen Erwä­gung zu diesem Schritt hervor; durch die Ver­wendung von “animus” statt “anima” die Priorität geisti­gen, menschlichen Seins. Die rein körperliche Präsenz hat nicht die gering­ste Be­deutung.

Seneca kann nicht Lebensverachtung vorgeworfen werden. Seine Reflexionen in Über die Vor­sehung sind rationale Bewältigungsstrategien, um widerfahrenes Unglück und das Böse er­tragen zu können. Die virtus boni viri erträgt alles. Der Tod stellt lediglich einen potent­iel­len Fluchtweg aus einer unerträglichen und unlösbar problematischen Situation dar.

In einer modernen Diktion könnte man sagen, daß Seneca durch den Verlust der Würde - die vir­tus aus stoischer Perspektive - zum Tod bewegt wird.

“Würde” im Kontext der modernen Euthanasiediskussion als Argument für und gegen Eu­tha­nasie leitet sich als rechtliches Element von den Menschenrechten ab. Gegner von Eu­tha­nasie sehen in der Menschenwürde den Grund, einem Menschen paternalistisch ein Recht auf den Tod zu verweigern, die Proponenten von Euthanasie sehen Menschenwürde als Recht, sich des Lebenrechtes zu entschlagen.

Entwürdigende Zustände veranlaßten neben körperlichem Ungemach Bob Dent, den Tod zu suchen:

 

"…,  often resulting in loss of bowel control in the middle of the  night. I have to have a rubber sheet on my bed, like a child who is  not yet toilet trained. Other drugs given to enhance the  pain-relieving effects of the morphine have caused me to feel  suicidal to the point that I would have blown my head off if I had  had a gun."

(Offener Brief an die Mitglieder des Parlaments)

 

Die Argumentation Bob Dents erfolgte aus einem bestimmten Lebenskontext heraus, da­ge­gen erörtert Kamlah die mors voluntaria aus philosophischer Sicht.[clxxix] Die von ihm ver­tre­tene goldene Re­gel lautet: “Beachte in jeder Situation, daß der andere Mensch bedürftig ist ebenso wie du selbst, und handle demgemäß”. Nicht die Erfüllung beliebiger Wünsche, sondern die Befrie­di­gung wahrer Bedürfnisse erfordere diese Grundnorm. Der Wunsch ei­nes unheilbar Kranken zu sterben, entspreche seinem wahren Bedürfnis und er habe ein Recht auf den ei­genen Tod.

Ein generelles Verbot von Selbsttötung lasse sich nicht begründen durch:

1.  den Augustinischen Trick, das Wort homicidium auf die Selbsttötung anzuwenden. Der frei­willige Abschied vom Leben sei eine Handlung sui generis, für welche Termini wie “Mord”, “Totschlag”, “fahrlässige Tötung” oder “Selbstmord” unzulässig seien.

2.  Ein generelles Verbot der Selbsttötung läßt sich auch nicht dadurch begründen, daß der Mensch Geburt und Tod als Widerfahrnisses hinzunehmen habe und daher über sein Le­ben “nicht verfügen” könne. Im Unterschied zur Geburt stehe der Tod als Wider­fahrnis dem mitwirkenden Zugriff des eigenen Handelns gerade offen.

Für das Recht auf den eigenen Tod gelte: in dubio pro libertate. In der Regel seien krank­hafte Verursachungen für gelungene und versuchte Selbsttötungen kausal. Die Zahl der mo­ra­lisch erlaubten Selbsttötungen sei verschwindend klein, aber de principio moralisch zu­läs­sig und für unser bedrängtes, menschliches Leben bedeutsam. Kamlah handelt Eutha­nasie nicht ex­pres­sis verbis ab, seine Reflexionen in bezug auf Lebenswert in Konnex mit ärzt­li­cher Berufsethik haben jedoch euthanasierelevanten Charakter:

 

"Ob das Leben eines Menschen erfülltes, lebenswertes Leben ist oder nicht, das bemißt sich an diesem Leben selbst und wahrhaftig nicht an Beurteilungen durch die Gesellschaft oder durch den Staat oder gar durch die Partei. Die Einmischung dieser unzuständigen Instanzen hat die Problematik des lebenswerten Lebens lange unheilvoll belastet, darf aber heute dem Arzt nicht mehr als Alibi dafür dienen, daß er sich auf seine Pflicht zurückzieht, unterscheidungslos ‘Leben zu erhalten‘. Vielmehr untersteht auch der Arzt, sofern er nicht allein Organismus-Ingenieur ist, der moralischen Grundnorm und kann daher in die Lage kommen, daß es ihm mo­ralisch geboten ist, einem Mitmenschen bei der Selbsttötung zumindest durch seinen Rat zu helfen."

 

Die Differenz von bloß biologischem Leben und lebenswertem, d.h. menschenwürdigem Le­ben werde dem Arzt in der Zukunft nicht mehr genügen, sich unter Berufung auf den hip­po­kra­tischen Eid dieser fundamentalen Unterscheidung zu entziehen.

 

"Unsere Welt mit ihrer gedankenlosen Gesellschaft und ihrer inhumanen Ärzte- und Juristenmoral ist so ein­gerichtet, daß der freiwillig Sterbende, wenn er überhaupt ans Ziel gelangt, nicht nur den althergebrachten mo­ralischen Makel auf sich nehmen, sondern der befremdeten Mitwelt auch noch ein abstoßendes Schau­spiel darbieten muß. Das Recht auf den eigenen Tod wird nur noch selten radikal bestritten. Aber wer von diesem Recht Gebrauch macht, weil er ein menschenwürdiges Leben nicht mehr führen kann, wird jedenfalls zu ei­nem menschenunwürdigen Sterben gezwungen. Und zuvor, solange er seinen Entschluß noch erwägt, wird er hoff­nungslos im Stich gelassen."

 

Der Tod per se könne nicht verstanden werden, die gerechtfertigte Selbsttötung als men­sch­liche Handlung müsse aber verstehbar sein.

Während bei Seneca der animus als wesentliches Kriterium für den Fortbestand des Le­bens steht, wird bei Kamlah ein menschenwürdiges Leben im Sinne von Lebensqualität ver­stan­den. Der Stoiker erwägt nur seine unversehrte virtus, der moderne Philosoph zieht bereits die Le­bens­umstände, welche nicht immer vom Individuum als Subjekt beeinflußt werden können in Be­tracht.

Obwohl die christliche Tradition eine solche Betrachtungsweise nicht zuläßt, kann auch bei Kant, als Vertreter der christlichen Philosophie, keine bedingungslose Bejahung men­schli­chen Lebens gefunden werden. Er klassifiziert Selbstmord als Verbrechen und spricht damit dem Men­schen ein Selbstverfügungsrecht über sein Leben ab, die Todes­strafe aber findet als Süh­ne seine Zustimmung.[clxxx] Wie aus der historischen Entwicklung der Einstel­lung zum Suizid (III. Kapitel, § 4) er­sichtlich ist,  wird sowohl im allgemeinen als auch im philoso­phischen Verständnis das Tö­ten eines anderen Menschen als moralisch verwerfli­cher ange­sehen als die Selbsttötung. Die Kantsche Posi­tion stellt damit in gewisser Weise ein Parado­xon dar, welches ihren Ur­sprung im reli­giö­sen Glauben Kants hatte.

 

Zweck des allgemeinen Tötungsverbotes ist der Schutz der einzelnen Mitglieder einer So­zie­tät. Die zunehmende Effizienz der modernen Medizin führt immer mehr zu einem in­versen Resultat: Die Verlängerung des Lebens dient nicht mehr dem Wohl des Menschen, sondern artet in eine sinnlose Verlängerung des Leidens aus. Das sich im Laufe der Menschheits­ge­schichte gebildetet Tötungsverbot entwickelte sich zu einem unre­flektierten Tabu. Der Ver­stoß gegen dieses Tabu zieht eine ambivalente und kontra­dikto­rische Reak­tion des eigenen Gewissens auch in dem Fall nach sich, daß Euthanasie mit der Über­zeu­gung praktiziert wird, etwas Gutes zu tun.[clxxxi] Die negativen Konsequenzen einer Le­bens­ver­längerung werden kate­go­risch negiert und die Moribunden werden ihrem Elend über­lassen. Das ius vitae per­vertiert zu einem officium vitae. Verschiedene Philosophen, wie z.B. Hume, Löwith, Kam­lah, haben sich mit der Begründung gegen eine Lebenspflicht ge­wandt, daß eine solche nur aus einem religiösen Kontext aufrechterhalten werden kann und im Fall des Christentums nicht einmal durch eine entsprechende Textstelle aus der Heili­gen Schrift be­legt werden kann.

Birnbacher spricht dem Leben den Stellenwert eines Höchstwerts, welcher von Le­bens­quali­tät  und den mit der Aufrechterhaltung des Lebens verknüpften subjektiven Ko­sten un­ab­hängig ist, ab:

 

"Wer das Leben als Höchstwert auffaßt, vertritt kein Prinzip, das auf universale Anerkennung Anspruch er­he­ben kann, sondern ein persönliches Ideal. Er ist nicht befugt, dieses Ideal anderen gegen ihren Willen auf­zu­nö­tigen."[clxxxii]

 

Die  technologisch hochstehende, moderne Medizin führte in die höchst virulente Proble­ma­tik, daß Menschen am Leben erhalten werden können, welche bei einem natürlichen Ver­lauf der Dinge schon lange gestorben und von einem sinnlosen Leiden erlöst worden wären. Die Ärzteschaft beruft sich auf den hippokratischen Eid als Auftrag, Leben zu er­halten. Die ent­­spre­chende Textstelle des hippokratischen Eids lautet:

“Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medi­ka­ment geben, und ich werde auch keinen entsprechenden Rat erteilen; ebenso werde ich kei­ner Frau ein Abtreibungsmittel aushändigen.”[clxxxiii]

Bauer interpretiert diesen Passus als Risikominimierung. Angesichts der beschränkten the­ra­peutischen Möglichkeiten  wäre es in vielen Fällen klüger gewesen, zusätzliche Schäden durch Nichtstun zu vermeiden, als die Krankheit durch eine falsche Behandlung womög­lich zu ver­schlimmern. Dem Ansehen des Arztes wäre die Beihilfe zur Selbsttötung oder die Tö­tung eines Menschen äußerst abträglich gewesen, weshalb sie im Eid genauso abge­lehnt wur­de wie die Abtreibung. Die eigentliche, historisch bemerkenswerte Leistung des hippo­kra­ti­schen Eides läge in der gelungenen Balance zwischen den ethischen Maximen und den prak­ti­schen Erfordernissen, die der Arzt im wohlverstandenen Eigen­interesse be­rücksichti­gen muß­te. Als normative Richtschnur für das konkrete Handeln des heutigen Arztes vor dem gewan­del­ten wissenschaftlichen und sozialen Kontext der Gegenwart sei er - nach Bauer - obsolet.

 

Damit kann der hippokratische Eid nicht als Argument gegen Euthanasie verwendet wer­den, vor allem, da zwei Textstellen den Nutzen des Kranken hervorheben.

1.  “Die diätetischen Maßnahmen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen des Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen.”

2.  “In wieviele Häuser ich auch kommen werde, zum Nutzen der Kranken will ich eintre­ten und mich von jeder anderen Sittenlosigkeit fernhalten, auch…”

Indem die Emphase auf den Nutzen für den Kranken gelegt wird, darf die ärztliche Kunst nicht zur Verlängerung aussichtslosen Leidens und irreduzibler Qual verwendet werden, da die Verwendung ärztlichen Wissens auf Heilung ausgerichtet sein soll. Die Verwen­dung die­ses Wissens zur Prolongierung eines Lebens, um einen pathologischen Zustand ohne Hei­lungs­chancen bis zum “natürlichen”, nicht länger retardierbaren Exitus auf­recht­zu­halten,  kann nicht aus der Intension des Textes abgeleitet werden.

 

Präsumptiv kann die allgemeine Ablehnung der Euthanasie - neben dem Tötungsverbot - auf die in den Naturinstinkten basierenden Angst vor dem eigenen Tod zurückgeführt wer­den. Das Jahrtausende währende Todesverständnis des gezähmten Todes, welches den Tod als ste­tes Bild der Ruhe empfunden hat,  ist verlorengegangen. Diese Form der Todesbe­wälti­gung läßt sich nicht aus der christlich-theologischen Auffassung ableiten, da dieses Bild des Todes auch in der Antike Gültigkeit hatte. Die legalisierten Euthanasie­verfahren in Massalia und auf Keos lassen auf einen freieren Zugang zum Tod schließen. Der Verlust dieser Ein­stellung läßt sich auch nicht auf die Entwicklung einer individua­listischen Ge­sellschaftsform in Europa, welche mit dem Auftreten einer persönlichen Bio­gra­phie im Hochmittelalter be­gann, redu­zieren.

Die Entdeckung der eigenen Identität, d.h. des eigenen Todes im Tod des geliebten Men­schen, welcher einen unersetzbaren Verlust darstellte, in der Romantik des 18. und 19. Jahr­hunderts und der Verlust der eigenen Identität im Übergang von der Vergänglichkeit des Le­bens zum Nichts, ließ die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens und dem Sinn von Sein ge­nerell aufbrechen. Solange eine kollektive Reaktion auf den Tod bestand, war Ster­ben so­wohl für den Sterbenden, als auch für die Angehörigen und Nahestehenden leichter. Die ge­meinschaft­liche Bewältigung erlaubte eine optimierte Trauerarbeit. Als man begann, den Tod vor dem Sterbenden zu verheimlichen - was immer auch das gutge­meinte Motiv war - wurde ein zwischenmenschlicher Hiatus introduziert und der Tod wurde zu einem unaus­sprech­lichen und nicht zu bewältigenden Übel. Die Abschiebung der Ster­benden in das Kran­kenhaus, um das Sterben nicht mitansehen zu müssen, kann als Symptom für die Ver­leugnung des eigenen, zu­künftigen Todes betrachtet werden. Die Ärz­teschaft reagierte “auf­trags­gemäß”, ohne die Un­möglichkeit zu bedenken, daß der Tod nicht “weggeheilt” werden kann. Als die Medizin im 17. Jahrhundert gegen den Tod zu kämpfen begann, wiesen die medi­zinisch-technolo­gi­schen Möglichkeiten noch nicht die Effizienz unseres Jahrhunderts auf. Zu Beginn dieses Kampfes stand das Ziel, den unzeit­gemäß frühen Tod zu eliminieren: Heute wird das Sterben immer als unzeitgemäß betrach­tet und unreflektiert verlängert,  ne­gierend, daß der Tod nicht eli­minierbar ist und dadurch nicht ein Leben gerettet, sondern Leiden sinn­los ohne positive Zu­kunfts­per­spektive ver­längert wird. Stimmen, die diese Ent­wicklung und den damit ver­bun­denen Ruf nach Eu­thanasie voraussahen[clxxxiv], wurden nicht gehört. “Euthanasie” ent­wickelte sich zum Be­griff der Rettung vor einer unmenschlichen Medizin: Die Angst vor dem Tod wurde in unserem Jahrhundert unüber­wind­bar, wild, un­kontrollierbar: Der Kampf der unheil­bar Kranken um das Recht auf den eige­nen Tod als letzten Ausweg aus unerträglichen Le­bens­umständen wurde zu einem Kampf gegen die Angst der Gesunden vor ihrem eigenen Tod.

Bemerkenswert ist das Faktum, daß die Euthanasiebewegung bzw. der Ruf nach einem wür­de­vollen Tod in christlichen Ländern entstand und nicht in einer Kultur wie derjenigen Ja­pans, ein welcher sich eine für westliche Denkweise  eigenartig freie Beziehung zum Tod bis in unser Jahrhundert erhalten hat. In der westlichen Einstellung wären Selbstmord­aktionen wie die japanischen Kamikaze-Taktiken des 2. Weltkriegs undenkbar gewesen. Die westli­che, mi­litärische Tapferkeit war bei allen todesmutigen Aktionen, welche Todes­gefahr in sich bar­gen, auf Überleben ausgerichtet, während der japanische Kamikaze-Kämpfer, wel­cher wider Er­warten überlebte, den Freitod suchte. Auch wenn das Ziel er­folg­reich getroffen worden war, stellte das Überleben per se ein Versagen dar. Daß diese Einstellung auch im heutigen Japan noch lebendig sein dürfte, läßt sich aufgrund des Ha­rakiri von Mishima Yu­kio ver­muten. Trotz dieser Einstellung wurden die Bedingungen für Euthanasie erst im März 1995 von einem japanischen Gericht - d.h. judikativ und nicht legislativ - festgelegt, und 1991 wur­de ein Arzt, der Euthanasie prakti­zierte, wegen Mordes verurteilt. 70% der japani­schen Ärzte spra­chen sich trotz fest­geleg­ter, juristischer Defini­tion von erlaubter Euthanasie gegen Eu­tha­nasie aus. Im Juni 1996 wurde ein poli­zeiliches Ver­fahren gegen einen Arzt ein­geleitet, wel­cher einen Freund wegen un­erträglicher Schmer­zen euthanasierte.

Diese Praxis weist darauf hin, daß die Opposition gegen Euthanasie nicht auf kulturelle oder christ­lich-religiöse Charakteristiken zurückgeführt werden kann.

 

Die Frage der Moral in ethischen Grenzsituationen

 

Die ambivalente Haltung in bezug auf eine Verletzung des Tötungsverbots geht aus der Posi­tion Jürgen Stenzels hervor. So sah er die konkrete Anwendung der Singerschen Prin­zipien als mörderische und menschenverachtende Tat[clxxxv]; die Praktische Ethik als Pseudo­phi­lo­so­phie[clxxxvi], welche mit Philosophie nichts zu tun habe, das Interesse Singers als fixe Idee[clxxxvii], wo­für der einzelne Mensch geopfert werden sollte[clxxxviii]; die quantitative Methode Singers sehe nicht das Leid des Einzelnen[clxxxix]; der Anti-Speziezismus Singers sei ausge­machter Anti-Hu­ma­nis­mus[cxc]. Trotz der scharfen Kritik dieser theoretischen Position ver­urteilt er einen ande­ren Men­schen nicht kategorisch, wenn derjenige einen anderen in einer Not­standssituation tötet:

 

"Löchrig wird die Maxime ‘Menschliches Leben um jeden Preis‘ auch schon durch andere Fälle, in denen die bewußte und aktive Tötung eines Menschen als ein Akt der Humanität erscheinen könnte. Ich denke da an einen von Reinhard Merkel geschilderten Vorfall: ‘Vor Jahren wurde in einem schwedischen Strafprozeß der folgende Fall verhandelt: Ein LKW-Fahrer geriet mit seinem Beifahrer auf einsamer Strecke in einen schweren Unfall und wurde zwischen massiven Stahlblechteilen ausweglos eingeklemmt. Der Wagen fing Feuer. Als der Ein­ge­klemmte am ganzen Leib zu brennen begann, flehte er seinen Begleiter an, ihn mit der Axt zu er­schlagen. In höch­ster Gewissensnot schlug der Beifahrer zu und bewahrte den Eingeklemmten durch diesen schnellen vor einem qualvollen anderen Tod.’[cxci] Was ist hier human? Was inhuman? Grausam ist beides: das Erschlagen eines Menschen ebenso wie sein allmähliches Verbrennen.

         Wir sollten gewiß nicht die Augen schließen vor der Tatsache, daß es viele solcher Handlungen gibt, in de­nen wir nur Übles tun können. Es gibt kein glattes, ‘gutes’ Leben. Wir müssen oft anderen und uns sel­ber schaden, wie das Beispiel des Lastwagenfahrers zeigt, das extrem sein mag, aber vom Prinzip her und in ab­ge­schwächter Form vielen öfter begegnet sein wird. Es gibt Situationen, in denen sowohl eine mögliche Tat wie ihr Unterlassen grausam ist.

         Das Ergebnis solchen Denkens wird freilich sein, wie - wenn Leid schon nicht zu vermeiden ist - das ge­ringste Leid zugefügt werden kann durch unser Tun bzw. Unterlassen. Man kann dies als quantitative Me­thode des Denkens bezeichnen, aber sie unterscheidet sich von der Singers durch die Einsicht, daß hier der Be­griff des Leidens ein anderer ist, daß in solchen Fällen jede mögliche Handlung unethisch und damit uns nicht lieb ist, daß jedes Verhalten uns unangenehme Gefühle bereiten wird und wir aus solchen Handlungen also keine Ethik des guten Gewissens machen wollen."[cxcii]

 

Stenzel flüchtet in die außerethische Prädikation, daß diese Tat grausam wäre. Die defini­tive Ver­ur­teilung der Tat fehlt, weil er sich offensichtlich nicht dem Zwang der Situation ver­schlie­ßen kann und das Nichthandeln noch grausamere Qualen verursacht hätte. Trotz­dem klas­sifiziert er die Handlung mit dem Hinweis als moralisch verwerflich, daß in ge­wissen Fäl­len jede mögliche Handlung unethisch sein könne. Diese Position ist frag­wür­dig.

Kant begründete den Satz “…: daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgte Freund sich nicht in unserem Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein wür­de”[cxciii] da­mit, daß es ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen ein­zu­schrän­ken­des Vernunftgebot ist, in allen Erklärungen wahrhaftig (ehrlich) zu sein[cxciv], daß alle recht­lich-praktischen Grundsätze strenge Wahrheit enthalten müssen und niemals Aus­nahmen ent­halten dürfen, weil diese die Allgemeinheit vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grundsätze führen.[cxcv]  Kant wurde zu seiner Zeit deshalb heftig kritisiert und heu­te würde kaum jemand diese Position aufrechthalten. Wenn aber das Prinzip der Allge­mein­gül­tigkeit schon bei einem Verstoß gegen eine derart minimale Norm wie der des Nicht-Lügens ver­lo­ren­geht und Kant deshalb bewogen wird, rigoros jede Form des Lügens abzu­lehnen, so trifft dies in weit höherem Ausmaß auf das Tötungsverbot zu. Nach dem Satz vom Widerspruch kann eine Aussage nicht gleichzeitig wahr und falsch sein, woraus folgt, daß im Kon­text mit einer ethi­schen Handlung diese nicht gleichzeitig mora­lisch richtig und moralisch falsch sein kann. Das Verwerfen des Satzes vom Widerspruch würde die gesamte der europä­ischen Tradition verpflichteten Logik als obso­let erklären und damit die darauf basierenden Re­geln unseres Denkens verwerfen. Das Prinzip der Verantwortung für das ei­gene Tun und damit das der Schuld für un­moralisches Handeln gerät aufgrund mangelnder Sub­sumierbarkeit der Hand­lung  unter eine ethische Regel ins Wanken.

Beim dem obigen, kasuistischen Beispiel wird der Anta­gonismus einer deontologischen Be­trach­tungsweise virulent: Handelt der Bei­fahrer nach den gültigen Rechtsnormen, geht der Fahrer elend und mit sinnlosen Schmerzen zu­grunde, orientiert sich der Bei­fahrer kon­se­quentialistisch, macht er sich aufgrund des gel­tenden Rechts schuldig. Die Aussage, daß jede mögliche Handlung unethisch sein kann, läßt auf­grund mangelnder logischer Strin­genz nur die Konklusion zu, daß in diesem Fall der Ethik­begriff falsch ist. Wenn im obi­gen Bei­spiel jede Handlung unethisch war, hätte der Beifahrer in jedem der beiden mögli­chen Fälle ver­urteilt werden müssen oder in keinem. Mora­lisches Handeln kann nur in der Kongruenz der Handlung mit der ethischen Norm nach dem Satz vom Widerspruch aufge­funden wer­den, da ansonst Moral und Ethik undefinierbar und kein schuldhaftes Ver­halten herausge­funden werden könnte, m.a.W.: Ethik und Moral wären inhaltslose Hirnge­spinste. Jede von nur zwei möglichen Handlungen als unethisch zu klassifizieren, weist auf ein ir­rationales Zuord­nungs­prinzip: Man weiß nicht, was moralisch richtig oder falsch ist. Vor­sichtshalber - sicher ist si­cher - wird deshalb jede Handlungsweise als unmoralisch er­klärt.

Den Proponenten des absoluten Tötungsverbots ist deshalb mangelnde Konsistenz in ihrer Argumentation vorzuwerfen. Halten sie an einer Lebenspflicht unter allen Umständen fest, kann ihnen Unmenschlichkeit vorgeworfen werden. Weichen sie ihre Position auf und las­sen par­tiell Tötungen zu, verstoßen sie gegen die Absolutheit ihres Verbots. Das Denken Kants ist stringenter.

Beim obigen Beispiel zeigt sich die Stärke des Utilitarismus: Sowohl für den Präferenz­uti­li­ta­risten, als auch für den Vertreter des klassischen Utilitarismus stellt die Kasuistik des Fallbei­spiels kein Problem dar. Der Beifahrer handelte nach diesen ethischen Begrün­dungs­modellen absolut moralisch. Der Paralogismus des absoluten Tötungstabus tritt nur bei deonto­logischen Argumentationsschemata auf.

 

 

§ 3 Kritik des Singerschen Euthanasiebegriffs

 

Wie aus der Kritik des Universalitäts-, Interessens- und Personalitätsbegriffs der Singer­schen Ethik ersichtlich war, ist der Versuch Singers, eine neue Ethik auf präferenz­utilita­risti­scher Basis zu introduzieren, als gescheitert zu betrachten. Fragwürdig ist jedoch, ob die Argumente Singers in euthanasierelevanter Hinsicht ebenfalls zurückgewiesen wer­den müs­sen oder ob Teilaspekte seiner Argumentation als ethisch vertretbar akzeptiert wer­den kön­nen.

Für Singer ist mit dem Zusammenbruch der Argumente für die Heiligkeit des Lebens die Ver­wei­gerung von Euthanasie - wenigstens in einigen Fällen - entsetzlich.[cxcvi]

Die Differen­zierung Singers in freiwillige, unfreiwillige und nichtfreiwillige Euthanasie fin­det sich auch in der allgemeinen Diktion euthanasierelevanter Diskurse, so z.B. im Re­port des kanadischen Senats zur Euthanasie aus dem Jahre 1994. Diese Differenzierung geht im philo­sophischen Bereich auf Aristoteles zurück:

 

"Unfreiwillig scheint zu sein, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht. Erzwungen oder gewaltsam ist das­jenige, dessen Prinzip außen liegt, und wo der handelnde oder der Gewalt Leidende nichts dazutut, z.B. wenn ihn der Wind oder Menschen, in deren Gewalt er ist, irgendwohin führen. Wenn aber etwas aus Furcht vor größeren Übeln oder wegen etwas Gutem getan wird - z.B. wenn ein Tyrann, der unsere Eltern und Kin­der in seiner Gewalt hat, eine schimpfliche Handlung von uns verlangte und jene geschont würden, wenn wir die Handlung verrichteten, dagegen sterben müßten, wenn wir uns weigerten -, so kann man zweifeln, ob solche Handlungen freiwillig oder unfreiwillig sind. Die gleiche Bewandtnis hat es mit den Gütern, die man bei ei­nem Seesturm über Bord wirft. Schlechthin freiwillig tut das niemand, dagegen um sich und die ande­ren zu retten, tut es jeder, der Vernunft besitzt. Derartige Handlungen sind also gemischter Natur, indessen neigen sie sich mehr auf die Seite des Freiwilligen. Denn im Augenblick ihrer Ausübung sind sie frei ge­wählte,…"[cxcvii]

 

und

 

"Da unfreiwillig ist, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so möchte freiwillig sein, dessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, daß er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt."[cxcviii]

 

Das Nicht-freiwillige-Handeln verbindet er mit dem Begriff der Reue:

 

"Was aus Unwissenheit geschieht, ist zwar nicht alles freiwillig getan, aber für unfreiwillig können doch nur diejenigen Handlungen gelten, denen Schmerz und Reue folgt. Wer etwas aus Unwissenheit getan hat, aber über die Handlung kein Mißfallen empfindet, hat zwar nicht freiwillig in dem gehandelt, was er ja nicht wußte, aber auch nicht unfreiwillig, da er keine Betrübnis darüber fühlt. Wer also das aus Unwissenheit Ge­tane bereut, er­scheint als jemand, der unfreiwillig gehandelt hat, wer es aber nicht bereut - dies soll nämlich ein anderes sein -, als jemand, der nicht freiwillig gehandelt hat. Denn da er sich von jenem unterscheidet, so erhält er besser eine besondere Bezeichnung."[cxcix]

 

Freiwilliger Euthanasie käme in dieser Begrifflichkeit der Stellenwert eines Grenzwerts zu, da Furcht vor Schmerzen und Leid im Sterbensprozeß einen Menschen veranlassen, sich eutha­na­sieren zu lassen. Wäre er nicht in dieser Lage, würde er genauso wie ein Suizidant, der sich in einer eingebildeten - d.h. rational nicht begründbaren - oder tatsächlich aus­sichts­losen Lage be­findet, weiterleben wollen.

 

 

 

 

 

a) Freiwillige Euthanasie

 

Als Grund für freiwillige Euthanasie werden von Singer nur Exempel geliefert, die eine Indi­ka­tion von Lebensunwert aus der Binnenperspektive aufzeigen. Als Basis seiner Be­grün­dungs­struktur fungieren unerträgliche und nichtterminierbare Lebensumstände. We­gen die­ser Po­sition wurde Singer kaum angegriffen. Freiwillige Euthanasie wird auch von nichtphi­loso­phischer Seite vertreten, wie z.B. von Jens und Küng. Argumente gegen freiwillige Eutha­na­sie können nur aus einem religiösen Horizont heraus unter Berufung auf zuwiderlau­fende In­tentionen meta­physischer Entitäten geliefert werden. Bei Wegfallen einer metaphysi­schen Be­gründungsbasis kann kein positives Argument für eine Auf­rechterhaltung qualvol­ler und un­erträglicher Lebensumstände im Sinne einer absoluten Lebenspflicht vorgebracht werden. Die von Singer angeführten Gründe aus Sicht der klas­sischen und präferenzutilita­ristischen Philo­sophie sind stichhaltig.

         Wie Birnbacher ausführt[cc], reichen die folgenden, starken Gründe des (klassischen) Utilita­ris­mus aus, um ein Tötungsverbot in zentralen Fällen eines intuitiv bestehenden Tö­tungs­ver­bots zu begründen:

1)  Einen anderen töten bedeutet in der Regel, das Leben eines bewußtseinsfähigen We­sens zu verkürzen, das sein Leben nicht dauerhaft als unerträglich empfindet.

2)  Der Verlust, den Nahestehende, Abhängige und andere durch den Tod des Getöteten er­lei­den.

3)  Die Angst und Unsicherheit, die eine Tötung (und besonders eine Praxis des Tötens) bei Dritten bewirkt.

4)  Jede Ausnahme vom Tötungsverbot, die sich utilitaristisch rechtfertigen läßt, beinhaltet das Risiko, als Freibrief für weitere, unberechtigte Ausnahmen mißverstanden zu wer­den.

5)  Die Auswirkungen von Tötungshandlungen auf das Selbstverständnis indirekt betrof­fe­ner Individuen.

Birnbacher sieht keinen Grund, welcher einen Übergang vom klassischen zum Präferenz­u­tili­tarismus erforderlich macht, um das Tötungsverbot in seinen zentralen Anwendungen utilita­ri­stisch zu begründen. Ein weiterer Einwand, welcher gegen die utilitaristische Ar­gu­mente ge­gen das Tötungsverbot geltend gemacht wird, sc. daß durch das Fragen nach Grün­den für das Tötungsverbot bereits eine Relativierung dieses Verbots nach sich zieht und seine Geltung unter­miniert, wird von Birnbacher als moralstrategisches Argument, aber nicht als  ethisches Argument eingestuft. Unter den Bedingungen einer demokratisch-kriti­schen Öf­fentlichkeit scheint es weder möglich noch wünschenswert, ein bestehendes Tabu als bloßes Tabu auf­recht zu halten. Von mündigen Menschen müsse man erwarten, daß sie die gesell­schaft­lichen Moral­normen hinterfragen, daß sie wissen wollen, warum sie gelten und warum sie zu diesen Nor­men erzogen worden sind. Außerdem sei es fraglich, ob das Zurückgehen auf eine tiefere Begründungsebene die faktisch geltenden Normen immer nur unterminiert.

         Jörg Fengler führt als Argument gegen Euthanasie an[cci], daß Leiden zwar nicht wün­schens­wert ist, aber leidvolle und belastete Zeiten des Lebens zur Stärkung, Läuterung, Ent­wick­lung und Reifung führen. Er ordnet ihnen eine ähnliche Funktion wie den Kinder­krankheiten zu. Der utilitaristischen Position wirft er vor, daß sie in ihren Visionen von dau­erhaftem Glück nicht das Unglück als Realität der menschlichen Existenz begreift.

         Klaus Dörner[ccii] stellt einen Bezug zwischen der Singerschen Orientierung und der Mehr­heits­fähigkeit unseres Wirtschaftssystems her und kritisiert das leistungs- und er­folgs­ori­en­tierte Modell unserer Gesellschaft. Er fordert, von der Norm der Unverfüg­bar­keit des Le­bens kein Jota abzuweichen, weil jede andere Grenzziehung willkürlich wäre und dadurch eine La­wine ins Rollen gebracht werden würde.

 

Mitleid wird von beiden - und von vielen anderen Autoren - als Scheinargument zurückge­wiesen.

Diese Kritiken verfehlen die Intentionen der Singers völlig und liefern keine hinreichende Ar­gu­mente gegen Euthanasie.

Bei Fengler ist nicht einsichtig, welche “Läuterung” ein an unerträglichen Schmerzen lei­den­der Moribunder noch erfahren und deshalb das Leben fortsetzen soll und aus dem Ar­gument Dörners spricht in seiner Rigidität die Resignation, welche vor einem schwierigen, ethischen Problem kapituliert und deshalb im status quo verharrt. Diese Kritiken haben ihren Ur­sprung in der Opposition zur nichtfreiwilligen Euthanasie, müssen jedoch auf­grund ihrer all­gemei­nen Argumentationsstruktur auch im Kontext mit der freiwilligen Eu­tha­nasie gesehen wer­den.

 

Für Küng, einem Theologen und Proponenten von Euthanasie, ist es nicht verwunderlich, daß viele Menschen nicht nur vor Schmerz und Leiden Angst haben, “sondern auch vor dem Ge­fangensein in einem hochtechnisierten medizinischen System, vor der totalen Ab­hängig­keit und dem Verlust der Kontrolle über das eigene Ich, vor lauter Schmerz­mitteln nur noch dösig, schläfrig, nicht mehr denkend, nicht mehr trinkend, nichts mehr erle­bend.”[cciii]

 

a)  Das Verfahren

 

Verfahrenstechnisch wird die Last der Verantwortung von Singer auf die Ärzteschaft über­tra­gen. Diese betrachtet jedoch Heilen und nicht Töten als gesellschaftlichen Auftrag.[cciv] Dem Arzt werden aufgrund seiner fachlichen Qualifikationen Entscheidungen über Leben und Tod an­derer - fremder - Menschen aufgebürdet. Bei den Versuchen, Eutha­nasie bzw. assistierten Sui­zid in den Niederlanden, dem australischen Nordterritorium und Oregon zu legalisieren, wird der Ärzteschaft eine herausragende Stellung sowohl in der Entschei­dungsgewalt als auch in der Durchführung der technischen Realisierung ein­geräumt.

 

Ein praktikables Verfahrensmodell wäre m.E. ein gemeinschaftliches Entscheidungs­ver­fah­ren, welches analog zur kollektiven Reaktion im gezähmten Tod den Willen eines Men­schen zum Tod und seine Situation prüft. So könnte eine Art Kommission gebildet werden, in der meh­rere Ärzte als medizinische Fachberater[ccv] fungieren, ein Jurist als Vertreter des Staa­tes, um die freie Willensentscheidung des Antragstellers zu garantieren, vielleicht auch ein Philo­soph oder Psychotherapeut, um weltanschauliche bzw. psychische Aspekte zu ver­ar­bei­ten, und Personen aus dem persönlichen Umfeld des Moribunden, die aufgrund ihres Nähe­ver­hält­nisses in seinem Sinn agieren. Eine Entscheidung über Leben und Tod muß nicht un­be­dingt nur ausschließlich vom Arzt getroffen werden. Bei Schilderung der Umstände ist auch ein me­dizinischer Laie durchaus in der Lage festzustellen, ob er unter den betreffenden Um­stän­den dem Leben oder dem Tod den Vorzug gäbe. Durch die Auf­teilung der Entscheidung auf mehrere Personen wäre die Möglichkeit des Mißbrauchs auf ein Minimum reduziert und durch die Kollektivität der Entscheidung wäre auch eine leich­tere, psychische Bewältigung durch die agierenden Personen gegeben. Durch das Aufteilen der Verantwortung - Entschei­dungen müßten aus persönlicher Überzeugung getroffen werden - würden irrationale Gewis­sens­konflikte vermieden werden. Irrational ist ein Ge­wissenskonflikt, wenn ein Mitglied die­ses Per­sonenkreises in derselben Lage wie der Mo­ribunde aufgrund von rationalen Über­le­gun­gen - keine Zukunftsperspektive im Leben - den Tod dem Leben vorziehen würde, je­doch Ge­wis­sensnöten ausgesetzt ist, nur weil er für eine andere Person die Entscheidung für den Tod trifft. Durch ein gemein­schaftliches Entscheidungsverfahren könnte u.U. eine all­gemeine so­ziale Akzeptanz erreicht und die “Anrüchigkeit” des Freitods für alle beteiligten und be­trof­fe­nen Personen zu Fall gebracht wer­den. Eine gemeinschaftliche Entscheidung hätte wahr­schein­lich noch andere existen­tiell positive Folgen. Aus dem Beispiel Kasten­baums, in wel­chem die unver­heiratete Krankenschwester Suizid beging, geht hervor,  daß ihre Betreuer Angst über diesen Freitod empfanden. Ihr Selbstmord wurde zwar verstanden, gebilligt, aber trotzdem als Vertrau­ensbruch empfunden. Selbstmord wird nicht nur in der Be­völkerung all­ge­mein als mo­ra­lisch zweifelhaft angesehen. So hat Wittgenstein den Suizid als unsittliche Hand­lung schlecht­hin betrachtet, weil sich der Mensch in ihr auf den Status des Triebgegen­standes re­du­ziere.[ccvi] Angehörige eines Suizidanten haben noch heute mit dem Ruf der “An­rüchig­keit” eines Selbstmordes in der Familie zu kämpfen und das Beispiel Ka­sten­baums läßt den Schluß zu, daß sie auch mit der Bewältigung der Trauerarbeit in einer schwie­rigeren Situ­ation sind als solche, in deren Familie ein natürlicher Todesfall stattfand. Der Suizid eines ter­minal Kran­ken stellt immer einen Akt der Verzweiflung dar, in dem der Mori­bunde in seiner exi­stentiellen Vereinzelung einsam stirbt. Diese Form des Ster­bens, der einsame Tod, welcher zwar im modernen Krankenhaus praktiziert wird, wurde schon bei den Pionieren Amerikas gefürchtet und ist abzulehnen. Die Berichte Kübler-Ross‘ weisen darauf hin, daß der Ster­bende das Un­erledigte seines Lebens aufarbeiten muß, um sterben zu können. Unerledigtes zu­rück­lassen zu müssen, bedeutet den Sterbe­prozeß zu erschwe­ren, was für die Sterbenden in Leid resultiert. Ster­bende, die die Mög­lich­keit haben, in Ordnung zu bringen, was sie quält, ler­nen nach Kübler-Ross oft zum ersten Mal in ihrem Leben, was erfülltes Leben heißt.[ccvii] Der andere sinnvolle As­pekt einer Sterbe­begleitung betrifft die Le­benden. Nach Kübler-Ross kön­nen die Lebenden aus dem Prozeß des Ster­bens lernen, so zu leben, daß sie keine unerledig­ten, belastende Dinge in ihrem Leben mit­schleppen.[ccviii] Für Kastenbaum besteht in der Sterbe­begleitung die Funk­tion des Trostspen­dens:

 

"Through this person‘s experiences and through this person‘s final exit we may undergo a vicarious death - and one that is either reassuring or threatening.  By comforting the actual dying person in his or her actual deathbed scene, we are also comforting the potential dying person within ourselves. In a sense, the dying per­son is a me­dium through which the vibrant life forces of hope, fear, faith, and doubt reach toward the unknown."[ccix]

 

Kastenbaum liefert verschiedene Beispiele von fiktiven und tatsächlichen Totenbettszenen, in welchen das Sterben dargestellt wird. Daraus geht hervor, daß die gemeinschaftliche Bewäl­tigung des Sterbeprozesses nicht nur für den Sterbenden, sondern auch für die Hin­ter­blie­be­nen positive Folgen, wie die Bewältigung der Trauerarbeit, zeitigt.[ccx] Wenn die ge­mein­sa­me Bewältigung bereits den Prozeß des natürlichen Sterbens erleichtert, scheint es plau­sibel, daß eine gemeinsame Bewältigung des Freitodes - was Euthanasie ist -, nicht nur dem Ster­be­wil­ligen, sondern auch dem sozialen Umfeld eine effizientere, mentale Verarbei­tung ver­schafft.

Be­merkenswert sind in diesem Kontext die Erfahrungswerte der niederlän­dischen Eutha­na­sie­praxis. Kimsma berichtet[ccxi], daß sich in Familien, welche der Verpflichtung, eine durch­ge­führ­te Euthanasie den Behörden zu berichten, nicht nachkamen, sich die Trauer­ar­beit we­sent­lich schwieriger gestaltet als in Familien, welche dieser Verpflichtung nach­ka­men. Kimsma führt dies auf den Öffentlichkeitscharakter der berichteten Fälle zurück, da hier keine Ver­schlei­erungs­maßnahmen getroffen werden müssen und die Sorgen in aller Öf­fent­lichkeit dis­kutiert werden können.

 

b)  Die Argumente

 

Den affirmativen Singerschen Argumenten einer legalen Euthanasie kann kein stich­halti­ges Ar­gument auf ethischer Basis entgegengehalten werden. Die Begründungen für eine frei­wil­lige Euthanasie - unerträgliche und nichtterminierbare Schmerzen bzw. Leiden - können von der utilitaristischen Begründungsbasis losgelöst werden. Gegenargumente kön­nen nur aus ei­nem metaphysischen bzw. religiösen Horizont vorgebracht werden.

 

Die christlichen Argu­mente gegen die mors voluntaria haben kein Gehalt. So vertritt Hans Küng als Christ und Theologe nach langwierigen Güterabwägungen den Weg der Mitte zwi­schen einem antireligi­ösen Libertinismus ohne Verantwortung und einem reaktionären Rigo­rismus ohne Mitleid.

 

"Der allbarmherzige Gott, der dem Menschen Freiheit geschenkt und Verantwortung für sein Leben zugemu­tet hat, hat gerade auch dem sterbenden Menschen die Verantwortung und Gewissensentscheidung für Art und Zeitpunkt seines Todes überlassen. Eine Verantwortung, die weder der Staat noch die Kirche, weder ein Theo­lo­ge noch ein Arzt dem Menschen abnehmen kann."[ccxii]

 

Gerade seine Überzeugung, daß der Tod nicht das absolute Ende ist, läßt ihn nicht an einer end­losen Verlängerung des Lebens festhalten. Die Frage nach einem menschenwürdigen Ster­ben dürfe nicht auf die Frage der aktiven Sterbehilfe reduziert werden, aber sie dürfe auch nicht davon losgekoppelt bleiben, da zu einem menschenwürdigen Sterben auch eine men­schen­würdige Verantwortung für das Sterben gehöre.[ccxiii]

 

Aber auch Gegenargumente aufgrund einer deontologischen Basis sind nicht stichhaltig.

So kann z.E. der kategorische Imperativ - bei aller Opposition Kants gegen den Selbstmord - nicht als Argument gegen freiwillige Euthanasie angeführt werden, wenn unerträgliches, ir­re­du­zibles und nichtterminierbares Leiden bei Fehlen einer Lebenspflicht - wie etwa ge­gen ei­nen Schöp­fer - als Euthanasiekriterium herangezogen werden. In der ersten Fassung des kate­go­rischen Imperativs wird das Wollenkönnen der Handlungsmaxime für die Mög­lichkeit der Rea­lisierung als allgemeines Gesetz postuliert. Die Realisierung von eigenem und frem­den Leid zur mo­ralischen Maxime des Handelns zu erheben wäre wider­sinnig und aus­ge­sprochen ab­surd; Leiden zum Telos des Lebens zu postulieren, wäre eine inversio ordi­nis evolutionärer Ent­wick­lung, welche auf das Lustprinzip bzw. auf Bedürf­nisbefriedi­gung aus­ge­richtet ist. Leid und Not als Sinn existentieller Freiheit zu sehen - und nicht als be­dauer­li­cher­weise not­wen­digen und unvermeidlichen Be­stand­teil mensch­lichen Seins - wäre ein Hang zu unna­tür­li­cher Patho­philie, welche sich für die biologischen - sowohl onto- als auch phyloge­netischen - Über­lebensstrategien als kontra­produktiv erweisen würde. Schon die re­ligiösen Lehren wei­sen auf Lebensstrategien hin, welche die Unbillen des Lebens erleichtern und er­träglich ma­chen sollen; für eine philoso­phische, rationale Begründung kann keine hin­reichende Be­din­gung für eine Leidorientierung ge­funden wer­den. Daß das böswillige Zuf­ü­gen von Leid - als sub­jektive Prämisse des Arguments - ge­gen jegliche ethische Welt­sicht verstößt, ist selbst­evi­dent. Leid­vermeidung, sowohl passiv als auch aktiv, geht auch als ob­jektives Prinzip im kate­go­rischen Imperativ  mit dem Sit­tengesetz konform, weshalb Leid­vermeidung nicht nur ein bio­logisches in der Evolution wurzelndes Verhalten, sondern auch ein ethisches Kriterium dar­stellt.

 

Der Singersche Interessensbegriff hat sich als defizientes, moralisches Kriterium erwiesen, als existentielles  Qualitätskriterium zur Beurteilung der Situation des Leiden­den ist er je­doch von herausragender Bedeutung. Niemand kann besser beurteilen als der Betrof­fene, ob er sich in einer unerträglichen Lage befindet. Seine Forderung nach dem Tod, d.h. sein Ansin­nen an die Gemeinschaft, ihm beim Sterben “zur Hand zu gehen”, liegt in seinem Interesse und muß des­halb aus dem moralischen Kontext herausgelöst auch nach existen­tiellen Krite­rien eva­lu­iert wer­den. Ethische Aspekte kommen erst durch die Handlung oder das Sein ei­nes anderen zum Zug. Das ge­sell­schaftliche Verharren im Nichtstun nach dem Prinzip, “der Natur ihren Lauf zu lassen”[ccxiv], ist weder ein Kriterium für eine moralische Gesinnung, noch für eine ethisch fundierte Handlung. Das passive Zu­sehen beim Fortgang des Leidens eines terminal Kran­ken, das tat­lose Beobachten der Qualen eines anderen, wirft eher die Frage auf, ob es nicht eine ethische Pflicht ist, dem Lei­denden zum Tod zu verhelfen.

Angesichts der technologischen Möglichkeiten der modernen Medizin, kann sich die Ärz­te­schaft nicht der Notwendigkeit entziehen, u.U. eine Entscheidung treffen zu müssen, die den Tod eines Patienten bedeutet, da die Verlängerung des Lebens mit den technologi­schen zur Ver­fügung stehenden Mitteln bei einem nichttherapierbaren Leiden nur Qualen bedeutet, wie z.B. die Reanimation einer bereits klinisch toten, 86jährigen Patientin, nur damit sie noch  zwölf Stunden länger leben kann. Solche Handlungsweisen drücken weit mehr Men­schen­ver­ach­tung aus, als die Position Singers, sich über das Tötungsverbot hin­wegzusetzen und den Zeitpunkt des Todes volitional zu bestimmen. Die Argumente Sin­gers für Euthana­sie schei­tern nicht am Verstoß gegen das Tötungsverbot, sondern am In­teressenskriterium, welches eine defiziente Beurteilungsgrundlage bietet.

Das einzige, ausschließlich ethisch akzep­table Kriterium, welches für Euthanasie spricht, ist nicht­terminierbares, irredu­zibles und unerträgliches Leid[ccxv], wobei die temporale Ko­inzi­denz aller drei Komponenten die notwendige Bedingung darstellt. Nur unter diesen Voraus­set­zungen wird das an und für sich ethisch richtige Tötungsverbot seiner Funktion enthoben, da sich im Lebenskontext eines nichtterminierbaren Leidens das rigorose Tö­tungs­tabu als mo­ra­lisch inverse Norm erweist. Bei Akzeptanz dieser existentiellen Vor­aus­setzung als Eu­tha­na­sie­kriterium fällt die De­fizienz eines rein formal aufgebauten Interes­sensarguments auf­grund kla­rer de­finitorischer Bestimmung weg.

 

Für eine Legalisierung von Euthanasie spricht, daß der Moribunde vielleicht in einer aus­sichts­losen Lage nicht in sozialer Isolation die einsame Entscheidung des eigenen Todes tref­fen muß und daß das Schockerlebnis des Verlusts eines geliebten Menschen von den Hinter­blie­benen leichter verarbeitet werden kann. Das untätige Zusehen beim qualvollen Tod eines ge­liebten Men­schen ist auch für die Lebenden Leid. Die freie, autonome Ge­sin­nung eines Phi­losophen in be­zug auf den Tod und die damit verbundene Freiheit einer auf Vernunft be­grün­deten Ent­scheidung ist diesbezüglich wegweisend.

 

Die Freiheit, ja Verpflichtung den Tod zu suchen, die aus der japanischen Mentalität des Sa­mu­rai-Kodex hervorgeht und die den Tod auch sucht, auch wenn kein Zweck gegeben ist, wirkt auf das europäische Denken befremdlich. Tapferkeit bis in den Tod ist eine krie­geri­sche bzw. soldatische Tugend, die auch in der europäischen Tradition verwurzelt ist; ebenso der Sui­zid zur Herstellung der Offiziersehre, um einen Verstoß gegen den Offi­ziers­kodex zu süh­nen. Der Selbstmord aber, um der Schande einer Gefangennahme per se zu entgehen oder als Treue­beweis beim Tod des Herrn entspringt nur dem japanischen Denken, welches einen Be­zug zwischen dem Wesen des Harakiri und dem Prinzip des ma­koto herstellt. Diese Form des Sui­zids ist für den europäischen Geist ohne Sinn. Der Frei­tod des europäischen Philosophen wird durch existentielle Zwänge verursacht, welchen er sich zu entziehen sucht. Seine Frei­sin­nig­keit gegenüber dem Tod ist eine andere als die ja­panische Einstellung und ist auf die euro­päische Tradition des Philosophierens zurück­zu­führen. Dem Tod wird in der eu­ro­päischen Philosophie eine eminente Bedeutung zu­ge­wie­sen. Bei einigen Philosophen, wie Franz Rosenzweig, Schopenhauer oder Oswald Speng­ler,  wird dem Tod ein besonderer Stel­len­wert zugewiesen. Die freisinnige Ein­stel­lung ge­genüber dem Tod wurde nur in der von der christ­lichen Theologie geprägten Peri­ode des Mittelalters apodiktisch abgelehnt. Die antike To­le­ranz wurde in der Neuzeit wieder auf­genommen, aber auch Philosophen, welche den Suizid ablehnten, wie Schopen­hauer oder Kant, vertraten eine nachsichtige Haltung ge­gen Sui­zi­danten, während im allge­meinen Ver­ständnis  der Selbstmord bis in unser Jahr­hundert ver­teufelt wurden. Die Studien Ariès stellen anschaulich dar, wie der Umgang mit dem Tod ver­wilderte. Dies kann nicht von der Ent­wick­lung in der philosophischen Todesre­zeption ge­sagt werden. Die Philosophen des 20. Jahrhun­derts zeigen die gleiche Freisinnig­keit gegen­über dem Tod wie die antiken. Während die voli­tionale, absolute Freiheit im “Freitod” sich als Schein bzw. auf Wahlfrei­heit reduziert erweist, da immer - auch bei einem Philosophen - exi­stentielle Nöte den im­petus zum mors “volun­taria” als Handlungsnotwen­digkeit virulent wer­den lassen, stellt der Akt des Entschlusses für den Suizid und seine Durchführung eine Über­windung der bio­logischen Überlebensmecha­nismen dar, die durch­aus als Form von Frei­heit bezeichnet werden kann.[ccxvi]

Kamlah bezeichnet in seinen Reflexionen zum Tod die ars vitae, die mit Hilfe philoso­phi­scher Besinnung gelingende Kunst des Lebens, nicht als Handeln-Können, sondern als Loslassen-Kön­nen.[ccxvii] Kamlah beging Selbstmord.

Jaspers war bereit, mit seiner jüdischen Frau in der nationalsozialistischen Zeit in den Tod zu gehen.[ccxviii]

Philosophische Modi der Todesbewältigung waren aber auch Strategien, welche eine Form des Weiterlebens als Aufgehen in einem Weltganzen postulierten, wenn auch die persön­li­che Un­sterblichkeit bezweifelt wurde.

 

Verschiedene Beispiele weisen darauf hin, daß der Tod als Bedürfnis empfunden wird. So traf Pater F. de Dainville, als er mit Schläuchen und Röhren gespickt auf einer Intensiv­sta­tion starb, die Aussage, daß er um seinen Tod gebracht würde.[ccxix] Der Kamikaze-Überle­bende Watanabe Sei war tief gekränkt, weil er zwei Tage vor seinem Feindflug die Nach­richt erhielt, daß der Krieg beendet war und er auf diese Weise um seinen Tod gebracht wurde. Die 93­jäh­rige Großtante Brillat-Savarins bezeichnete den Tod als ein Bedürfnis wie den Schlaf, trank noch ein Glas besten Weins und verschied eine halbe Stunde später.[ccxx] Aus diesen Bei­spielen ist ersichtlich, daß der Tod als adäquate Art und Weise des Sterbens auch ohne exi­stentielle Not ein Bedürfnis ist, wenn er erwartet und akzeptiert worden ist.

In Hinblick auf diese Fakten scheint es fragwürdig, jemandem bei einem qualvollen Ster­be­pro­zeß den Wunsch der mors voluntaria qua Eutha­nasie zu versagen, da der Tod sicher und un­aus­weich­lich ist.

 

b) Unfreiwillige Euthanasie

 

Stenzel interpretiert den Singerschen Begriff der unfreiwilligen Euthanasie als Rechtfer­ti­gung des Tötens einer Person in gewissen Grenzsituationen, auch wenn sie ihre eigene Tö­tung ab­leh­nen.[ccxxi]

 

"Der Gipfel des ethisch Fragwürdigen dürfte in jenem Satz formuliert sein, den Singer in Zusammenhang mit der ‘unfreiwilligen’ Euthanasie aufstellt: Wenn eine Person nicht erkennt, ‘welche Agonie ihr in der Zukunft be­vorsteht und daß sie diese, falls sie jetzt nicht getötet wird, bis zum bitteren Ende wird durchstehen müs­sen‘ dann soll diese Person gegen ihren Willen getötet werden (P.E., S.200). Singer denkt an Fälle, in denen zum Beispiel ein Mensch, ohne es zu wissen, ‘in die Hände von mörderischen Sadisten gefallen ist, die sie zu Tode fol­tern werden’ (ebd.). Aber was sollte das für ein ethisches Gesetz sein, das uns erlaubt, eine solche Person so­zu­sagen prophylaktisch zu töten? Hier wird ein - für sich schon unplausibler - Satz zur Forderung erhoben, zu ei­ner ethischen Regel, zu einem Prinzip womöglich: die einen Menschen wollen andere vor Lei­den bewah­ren und bringen sie kurzerhand um? und nennen dieses Töten auch noch ‘moralisches’ Handeln? - Nicht nur hier, öfter unterläuft Singer der Fehler, ein sehr spezielles Beispiel zu generalisieren, was dann zu Unsinnig­keiten führt, die er allerdings geflissentlich verschweigt."[ccxxii]

 

Diese Interpretation trifft nicht die Singersche Position. Singer konzediert, daß genuine Fälle von unfreiwilliger Euthanasie in praxi kaum vorstellbar und sehr selten aufzutreten schei­nen.[ccxxiii]  In der Diskussion des Problems[ccxxiv] führt er als Argument gegen unfreiwillige Eutha­na­sie an, daß es kaum einen besseren Beweis für den Wert eines Lebens - aus der Bin­nen­per­spek­tive - gäbe als den Wunsch weiterzuleben.

Die Anführung der unfreiwilligen Eutha­nasie ist also nur unter dem Gesichtspunkt der voll­ständigen Komplementarität einer theore­tischen Er­örterung des Problems zu be­trach­ten, wozu Singer selbst unter Bezug auf die Haresche Dif­ferenzierung einer kriti­schen und intui­tiven Ebe­ne der moralischen Begründungsstrukturen hinweist.[ccxxv]

 

c) Nichtfreiwillige Euthanasie

 

Die Zielgruppe für nichtfreiwilligen Euthanasie sind nach Singer solche Menschen, welche das Personalitätskriterium nicht erfüllen. Solche Menschen haben kein Selbstbewußtsein und ihr Leben ist nur nach den Kriterien der Lust- und Schmerzempfindung zu beurteilen. Es sind des­halb aus präferenzutilitaristischer Sicht keine Gründe gegen das Töten solcher Men­schen an­zuführen, außer solche, welche außerhalb der Betroffenen liegen, wie z.B. Lust und Schmerz der Angehörigen eines Komatösen oder der Eltern eines behinderten Kindes. Singer über­trägt deshalb die Entscheidungspriorität diesem Personenkreis. Er ver­knüpft aber die Be­hand­lung solcher Menschen auch mit der Kostenfrage[ccxxvi], wodurch eine ökonomische Kompo­nente in die Argumentation einfließt, die stark an Jost und Binding erinnert und einen instru­men­talen Charakter in die zwischenmenschlichen Be­ziehun­gen bringt. Humanität kann des­halb von ihm nicht als ausschließliches Begrün­dungs­motiv für Euthanasie vorgebracht wer­den, wenn sie auch das primäre Kriterium für Euthanasie dar­stellt.

Durch die Verknüpfung ökonomischer Aspekte mit Euthanasie wurde ein Element in den Dis­kurs gebracht, der Behinderte und chronisch Kranke veranlaßte, ihr Recht auf Leben hin­ter­fragt zu sehen.

Aus den Ausführungen Thomas Malenkes[ccxxvii], welcher an Mukoviszidose leidet und des­halb von einer konsequent durchgeführten, lebenslangen Dauerbehandlung in Form von regel­mäßiger Einnahme von Enzympräperaten abhängig ist, geht die Angst des Kranken hervor, für sein So­sein aus der Gesellschaft ausgegliedert zu werden. Für ihn ist die Ab­treibungs­praxis der an Mukoviszidose erkrankten Föten “…eine allgemein sanktionierte Methode zur vor­sorglichen Tötung lebensunwerten Lebens…”. Indirekt werde durch diese Praxis auf diese Weise den lebenden Mukoviszidose-Patienten das grundgesetzlich garan­tierte Recht auf Le­ben abgesprochen. Er stellt einen Bezug zu den medizinischen Kosten für die Gesell­schaft her und wirft die Frage auf, welchen Menschengruppen morgen von der Wissenschaft bescheinigt würde, mit einem auszurottenden Makel behaftet zu sein. In seinem Engagement für die in Deutschland bundes­weite CF-Selbsthilfe e.V. endet sein Appell als “…Forderung nach einer ver­stärkten Orientierung der Anwendung von For­schungsergebnissen am Wohle der jetzt le­benden Patienten…Erkenntnisse sollten ge­nutzt werden, um Betroffenen zu hel­fen, nicht um sie zu verhindern”.

Aus dieser Argumentation eines Kranken, welcher nach eigenen Angaben seine Probleme recht gut in den Griff bekommen hat und sich in seiner Existenz, wenn auch mit verkürzter Le­bensdauer, anscheinend recht gut verwirklichen kann, geht hervor, daß er selbst seine Krankheit als Makel empfindet, d.h. seine Einstellung ist - vielleicht durch die verminderte Kon­kurrenzfähigkeit in einer marktwirtschaftlich orientierten Leistungsgesellschaft - ne­gativ besetzt. Die logische Konsequenz seiner Forderung wäre das endlose Gebären Muko­vis­zi­dose- Leidender, nur damit sich die jetzt lebenden Kranken nicht ausgestoßen fühlen. Die logische Fort­setzung dieses Arguments würde in der Aussage münden: Krank­sein ist gut.[ccxxviii] Da Krankheit und Leid nicht als Télos des menschlichen Lebens definiert werden können, ist diese Form der Logik abzulehnen. Die Struktur dieses Arguments würde darauf hinauslau­fen, Krank­heit generell ad infinitum zuzulassen. Auch die dzt. praktizierte und allgemein ak­zep­tier­te Form der passiven Euthanasie dürfte nicht durchge­führt werden. Singer bezeichnet die be­dingungslose Verlänge­rung des Lebens ohne Be­rück­sichtigung der Hoffnungslosig­keit und Schmerz­haftigkeit der Zukunftsperspektive im Kontext mit Früheuthanasie als “…surely to cruel for any humane person to support”.[ccxxix]

 

Stenzel schlägt in seiner Diskussion der Singerschen Lust- und Leidlehre folgende “Thera­pie” vor: “Wer dem Schmerz nicht krampfhaft wehrt, wer sich auf ihn einläßt, der leidet weniger darunter.”[ccxxx] - So kann nur jemand argumentieren, der noch nie in seinem Leben unerträg­lichen Schmerzen ausgeliefert war.

 

Generell wird argumentiert, daß Leid ein Bestandteil menschlicher Existenz ist.

 

So Roland Wittmann: “Geht man von der Vorstellung einer fundamentalen Gebrochenheit und Defizienz der menschlichen Existenz aus, dann gehört das Leiden zu conditio hu­ma­na.”[ccxxxi]

Leidvolle und belastete Zeiten des Lebens werden als Notwendigkeit und Helfer der Ent­wick­lung bezeichnet.[ccxxxii]

Dörner sieht in der leidensfreien Gesellschaft eine verführerische Version, welche mit ge­wach­sener technischer Machbarkeit Auftrieb bekommen hat und in welcher Leiden grund­sätz­lich (fälschlicherweise) vom Menschen abgetrennt werden könne.[ccxxxiii]

Elisabeth Beck-Gernsheim zitiert Novalis mit “Wer den Schmerz flieht, will nicht mehr lie­ben.” und Nietzsche mit “Und was die Krankheit angehen: Würden wir nicht fast zu fra­gen ver­sucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist? Erst der Schmerz ist der letzte Be­freier des Gei­stes.”[ccxxxiv]

Für Jantzen erfordert sinnvolles Sein “nicht Entsorgung des Leidens, sondern Teilnahme am Lei­den, damit die Wünsche und Träume der Leidenden nicht der menschlichen Realität ge­opfert werden. … Die Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie ist,  muß zum Leiden füh­ren … Je mehr sich Menschen abhängig machen von der erwarteten Abschaffung des Lei­dens, de­sto geringer wird ihr Kraft, sich ihm tatsächlich zu stellen, und um so weniger Ver­nunft, Hu­ma­nität und Glückseligkeit können sie realisieren.”[ccxxxv]

 

Den Proponenten einer leidorientieren, existentiellen Lebensausrichtung entgeht, daß Leid in seiner Unerträglichkeit Existenz nicht nur zur Reife bringen, sondern auch zerbrechen kann.

 

Fredi Saal, ein Behinderter, schreibt in seinen Reflexionen über Mitleid und Ausson­de­rung, daß Leid eng mit dem Schicksal des Humanen verknüpft sei.

 

"Nur an Widerständen läßt sich reifen. Dies bedeutet keine Glorifizierung des Leidens. Mit Recht sucht ihm jeder zu entkommen. Doch jeder erfährt auch, daß dies nicht möglich ist. Erst im nachhinein sehen wir in ei­ner Leiderfahrung oft einen wichtigen Markstein in unserem Leben."

 

Aus diesen Worten eines direkt Betroffenen spricht die Erfahrung eines Menschen, der sich Leid nicht in einer theoretisierenden Reflexion genähert hat, sondern der gelitten und erfolg­reich alle damit verbunden Schwierigkeiten bewältigt hat.

Die Opponenten von Euthanasie erwägen nicht im entferntesten, daß Leid unerträglich sein und der Tod der einzige Ausweg sein könnte. Sie betrachten Mit­leid immer als vorge­scho­be­nen Vorwand, um Soziallasten loswerden zu können.[ccxxxvi] Offen­sichtlich ist aber bei den heu­ti­gen Euthanasiefällen genuines Mitleid - d.h. Mitleiden - der Impetus des Handelns.

Bei einer allgemeinen Akzeptanz von unerträglichem, irreduziblem und nichtterminier­barem Leid als Kriterium für freiwil­lige Euthanasie muß aber bei logischer Konsistenz das gleiche Argu­ment für nichtfreiwillige Eutha­nasie Gültigkeit besitzen, und zwar auch für Früheutha­nasie, wenn das zukünftige Leben des Säuglings dieses Kriterium aufweist. Die durch die Ar­gu­men­ta­tions­struktur der Singerschen Ethik introduzierte Diskussion um den menschli­chen Le­benswert wird dadurch obsolet. Durch die Aus­schließlichkeit des Leid­kri­teriums als hin­reichende Bedingung für Euthanasie wird eine in­halt­liche Definition gelie­fert, welche nicht das Sosein eines Menschen als Lebenswert in qua­litativer Hinsicht be­stimmt oder wo­durch eine bestimmte Qualität postuliert werden könnte. Es kann nicht die Frage auftauchen, was das Interesse des Betroffenen sein könnte oder worin es liegen könnte. Fremdes Inter­esse kann nicht zum Zug kommen oder als Kri­te­rium euthana­tischer Erwägungen dienen. Leid­ver­mei­dung ist ein aus­ge­zeichnetes Kriterium, da es ein uni­ver­sa­les Streben jeglichen biolo­gischen, so­wohl be­wuß­ten als auch selbstbewußten Lebens ist.

Ein Gegner von Euthanasie könnte bei diesem Kriterium seine Opposition nur in der Form auf­recht halten, daß der Leidende um des Leidens willen leiden muß, d.h. Leiden zum Selbst­zweck erheben.

 

Der Singersche Begriff des Lebenswertes bzw. Lebensunwertes basiert auf der Binnen­per­spektive:

 

"A life of physical suffering, unredeemed by any form of pleasure or by a minimal level of self-conscious­ness, is not worth living."[ccxxxvii]

 

Im Appendix der zweiten Ausgabe explizierte er seine Intentionen in bezug auf Früheutha­nasie:

 

"If the parents and their medical adviser are in agreement that the infant‘s life will be so miserable or so de­void of minimal satisfactions that it would be inhumane or futile to prolong life, then they should be allowed to ensure that death comes about speedily and without suffering."[ccxxxviii]

 

D.h. bei Singer liegt die Emphase auf Leidvermeidung. Aus seinen Ausführungen folgt ein­deutig, daß die Festlegung eines Lebenswertes aus der Fremdperspektive als Sosein etwa im Sin­ne der Nationalsozialisten moralisch nicht vertretbar ist. So führt er das Prinzip der gleich­wer­tigen Interessensabwägung als Kriterium zur Falsifizierbarkeit rassistischer Diffe­renzie­rungen i.S. nationalsozialistischer Lebensunwertbegriffen an.[ccxxxix]

Beim Vergleich der verschiedenen Argumentationen drängt sich die Frage auf, wer sich mehr von einem Humantitätsideal leiten läßt: die Gegner von Euthanasie, welche vom Mori­bunden das Ertragen eines unerträglichen Loses fordern, oder Singer, welcher sich über das Tötungs­ver­bot hinwegsetzt und einem in aussichtsloser Lage Befindlichen  die ethische Be­gründung für eine Flucht in den Tod liefert.

Die Crux der Singerschen Argumentation liegt im Personalitätsargument. Die logische Kon­si­stenz des Arguments führt zu einer Exklusion einzelner Menschen aus der Gemein­schaft des Homo sapiens als selbstbewußte Wesen. Diese Konsistenz führt allerdings Sin­ger als Konse­quenz logischen Argumentierens auch zum Ausschluß gesunder Neuge­bore­ner. Seine Re­strik­tion des Infantizids nur auf die Fälle, in denen das Leben des Säug­lings miserabel ver­laufen würde, ist willkürlich und entspringt einer persönlichen, aber seiner philosophi­schen Be­gründungsstruktur nicht standhaltenden Einstellung. Auf die Konse­quenzen dieser nicht­frei­willigen Euthanasieform wurde bereits an anderer Stelle ver­wie­sen. In der Rezeption der Singerschen Ethik wurde sein Begriff des Lebenswertes häufig in Richtung Fremdper­spektive interpretiert und Singer damit die Einstellung unterschoben, Neugeborene nach Kriterien des sozialen Wertes selektieren zu wollen. Die Opponenten von Euthanasie versu­chen die Pro­blematik eines negativen Lebenswerts in einer unerträg­lichen Situation generell als Problem der mensch­lichen Würde darzustellen. In der Nega­tion der existentiellen Tatsa­chen - d.h. der un­erträglichen Situation - wird auf einer theore­tischen Ebene diskutiert, ohne die Realität in ihrer Faktizität zu berücksichtigen. Daß ei­nem Mensch in seiner existentiellen Ge­worfenheit u.U. eine un­trag­bare Bürde  aufgebürdet ist, wird ganz einfach nicht zur Ken­ntnis genommen und die Unzulässigkeit eines Verstos­ses gegen das Tötungsverbot ste­reo­typ mit Hinweis auf die Würde des Menschen zurück­gewiesen:

 

         "Menschen haben keinen Wert, sondern eine Würde."[ccxl]

 

         "Die Würde des Menschen als Wertträger ist jene Eigenschaft des Menschen, aufgrund derer er aus jeder abwägenden Berechnung ausscheidet, weil er selbst Subjekt und Maßstab der Berechnung ist."[ccxli]

         "Die Unterscheidung zwischen Wert und Würde läßt sich näher bestimmen in Verbot der Instrumenta­li­sierung des Menschen;…"[ccxlii]

 

         "Die in der Diskussion eingeführten Begriffe wie ‘Lebensqualität‘ und ‘freiwillige, wohltätige Eutha­nasie‘ werfen mehr die Frage nach dem Menschenrecht auf Leben und die Frage nach der Garantie der Men­schenwürde auf, als daß sie diese Fragen beantworten."[ccxliii]

         "Was aus unserem Wörterbuch wirklich zu streichen ist, ist die Frage, was ‘lebenswert‘ und ‘le­bens­unwert’ ist."[ccxliv]

 

         "Jedoch: Menschen haben grundsätzlich Würde, nur Sachen sprechen wir Wert zu - eine Kategorie, die ihre Herkunft aus der Ökonomie nicht verleugnen kann -, zumal nur Werte und damit nur Sachen positiv oder negativ sein können. Nur unter dem grundsätzlichen Schutz der Würde des Menschen ist es unschäd­lich, Men­schen beispielsweise unter dem ausgestanzten Leistungsaspekt auch einen Wert beizumessen."[ccxlv]

 

         "Jedem einzelnen Menschen kommt Würde zu. Er wird nicht nach «Wert» bemessen, denn sonst könnte er unter Umständen über Wertungen antastbar sein. Der Begriff der Würde soll zum Ausdruck brin­gen, daß jeder Mensch außerhalb des Systems von Bewertungen zu respektieren ist. Ihm kommt Würde zu, auch wenn er wie eine Gestalt aus einem Beckettschen Schauspiel verstümmelt in der Mülltonne vegetiert.

Dieser Gedanke der Würde ist ein großartiger Gedanke, obwohl man immer mehr beobachten kann, daß er im alltäglichen Sprachgebrauch in sein Gegenteil verkehrt wird. So kann man hören, daß das Eingekerkert­sein in eine Krankheit, daß ein bestimmter qualvoller Sterbeprozeß nicht menschenwürdig sei  und daß solch einem Leiden und Sterben ein Ende zu bereiten sei. Der Würdebegriff, der grundsätzlich ein Schutzbegriff ist, wird häufig auch als Handlungsaufforderung verstanden in dem Sinne, daß einem Menschen aus schwie­rigen Si­tua­tionen geholfen werden soll. Dieser handlungsauffordernde Charakter im umgangssprachlichen Gebrauch des Wür­debegriffs läuft dem Schutzaspekt des Würdebegriffs zuwider, wenn die Handlungsauf­forderung bei «men­schenunwürdigen» Situationen so aussieht, als ob die Tötung des betreffenden Menschen etwas die Würde Er­hal­tendes sei."[ccxlvi]

 

Birnbacher hat auf die Problematik hingewiesen, welche eine Tabuisierung von Menschen­würde mit sich bringt:

 

"»Menschenwürde«, »Achtung vor der menschlichen Würde« - das sind Begriffe, deren Pathos nicht von un­ge­fähr in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer semantischen Bestimmtheit und Eindeutigkeit steht. Als ab­so­lute Grenzen des Zumutbaren nehmen diese Begriffe in unserer säkularisierten Kultur Funktionen ehemals re­ligiös verankerter Tabuierungen wahr. Lückenlose Präzision jedoch, so scheint es, ist mit dem Wesen eines Tabus, und sei es auch eines so aufgeklärten, >modernen< wie dem der Menschenwürde, kaum vereinbar. Es liegt, wie Leszek Kolakowski jüngst hervorgehoben hat (Kolakowski 1986, S. 12), etwas zutiefst Paradoxes darin, Tabus rational begründen zu wollen. Wesentlich für ein Tabu ist seine Absolutheit und Sakrosanktheit, und die scheint durch >Vernünfteln< - durch Differenzierung, Präzisierung, Interpretation - eher Schaden zu nehmen."[ccxlvii]

 

Der kategorische Imperativ Kants wird in diesem Kontext immer als Argument bemüht. Aus der Formulierung des Imperativs ist jedoch der Bezug nicht ersichtlich.

"Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Ma­xime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde."[ccxlviii]

Kant betont die Übereinstimmung von Subjektivität in der Allgemeingültigkeit:

"…, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte."[ccxlix]

In der Humanitasformel wird der Imperativ um den Menschen zentriert:

"Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, nie­mals bloß als Mittel brauchest."[ccl]

Dem Selbstzweck des Menschen wird Priorität zugewiesen:

"Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst."[ccli]

Kant definiert Mittel als relativen Wert[cclii] und ordnet diesem Sachen und vernunftlosen We­sen zu:

"…: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen,…"[ccliii]

In Konnex zu einer Explikation des Philosophiebegriffs wird Würde als absoluter Wert de­finiert. Philosophie hat allein inneren Wert und konstituiert Wert für alle anderen Erkennt­nis­se.[ccliv] Die Eigenschaft der Personenhaftigkeit hat bei Kant nicht den Stellenwert des Mensch­seins.

 

Der Mensch ist “eine Person, die Pflichten auf sich hat, die ihm seine eigene Ver­nunft auferlegt,…”[cclv]

 

Die “Geringfähigkeit als Tiermensch” kann dem Menschen in seinem “Bewußtsein seiner Würde als Ver­nunftmensch nicht Abbruch tun, und er soll die moralische Selbstschätzung in Betracht der letzteren nicht verleugnen, d.i. er soll sich um seinen Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knech­tisch (animo servili), gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleugnen, son­dern immer mit dem Bewußtsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon enthalten ist); und diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.”[cclvi]

 

"Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde." Was einen Preis hat, ist ersetzbar, “was dagegen über allen Preis erhaben ist, … , das hat eine Würde."[cclvii]

"Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann;… Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat."[cclviii]

 

"…; denn ihr Wert besteht nicht in den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vorteil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in den Gesinnungen, d.i. den Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht begünstigte."[cclix]

 

Aus diesen Zitaten geht hervor, daß die Berufung auf Kant in der kontemporären Diskus­sion um Wert oder Würde des Menschen ein argumentum vitiosum darstellt, da Mo­ralität als con­ditio sine qua non individueller Würde ein denkfähiges Individuum voraussetzt. Geistig schwer Behinderte können den strengen, moralischen Ansprüche Kants genauso­wenig Ge­nü­ge tun, wie senile oder komatöse Personen. Versuche, einen speziezistischen, absoluten Wert als Würde nachzuweisen, halten deshalb einer Verifizierungsanalyse nicht stand. Das Her­an­ziehen des Kantschen Würdebegriffs, um einen speziezistischen Sonder­status des Men­schen zu rechtfertigen, scheitert schon an der Kantschen Formulierung des “vernünfti­gen We­sens”.[cclx] Derartige Argumentationsmethoden stellen eine Verzerrung des ursprüngli­chen Den­ken Kants dar, welches die essentia des Würdebegriffs verflachen läßt und banali­siert.

 

Der Verlust der Menschenwürde in unserer Zeit läßt sich als Verlust des Selbstwertgefühls de­finieren. Psychothanatologische Untersuchungen zur Angst vor Tod und Sterben zeigen u.a. eine Angst vor dem Verlust der persönlichen Würde, der sich aus der Pflegesituation im Kran­ken­haus ergeben kann.[cclxi] Eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls ergibt sich letzt­lich für Sterbende aus dem Verlust an Autonomie und Selbstbestimmung. Wittkowski be­trach­tet die Stärkung des Selbstwertgefühl als hervorragendes psycho-soziales Bedürfnis Ster­ben­der, da damit ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Respek­tie­rung der per­sönlichen Würde und Werthaftigkeit besteht. [cclxii] Für ein Konzept des Ster­be­bei­stands, d.h. Ster­bebegleitung, hat die Linderung von Schmerzen herausragende Be­deutung, weil Schmerz­freiheit eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß der Ster­bende seine letz­ten Wo­chen und Tage in Würde und - den Umständen entsprechend - in freier Selbstbe­stim­mung ver­bringt.[cclxiii]

 

Aus den Ausführungen Fredi Saals läßt sich ein Verlust des Selbstwertgefühls und damit der Verlust der persönlichen Würde im Konnex einer Zuwendung von Mitleid einem Be­hinder­ten gegenüber herauslesen.

 

"Denn Mitleid sondert meistens aus und zielt meistens am Menschen vorbei."[cclxiv]

"Mitleid schafft Distanz."[cclxv]

"Wer Mitleid verdient, steht nicht mit mir auf der gleichen Stufe."[cclxvi]

 

Saal entwickelt deshalb ein ausgeprägtes Identitätsbewußtsein:

 

"Als ‘so geborener’ Behinderter kann ich gar nicht anders sein als behindert. Ich bin so ‘richtig‘ in meiner Be­hinderung. Das hat nichts mit einer Leidensverliebtheit zu tun, sondern nur mit unverwechselbarer Identi­tät."[cclxvii]

 

Für Jean Améry erhebt sich der Mensch nach seinem échec - der Irreversibilität des totalen exi­stentiellen Scheiterns - im Freitod in nomine seines Menschentums und reißt den Tod an sich heran. Auf diese Weise stehen Humanität und Dignität des Menschen dem échec ent­ge­gen.[cclxviii]

 

Bei Leidvermeidung als ausschließliches Euthanasiekriterium kann Menschenwürde weder ge­gen freiwillige, noch gegen nichtfreiwillige Euthanasie als kontraindikatives Argument vor­­ge­schoben werden. Nichtterminierbares Leid als teleologischer Zweck ist sinn–los. Sinn er­gibt sich erst aus einem Kampf mit bewältigungspotentieller Strategie gegen Leid. Der Sin­ger­schen Kritik an der derzeit geübten Praxis, lebensunfähige Neugeborene aus Gründen ei­ner Hei­ligkeit des Lebens unter Qualen sterben zu lassen, obwohl kranke und verletzte Tiere ge­tötet werden, wenn sie Schmerzen haben[cclxix], kann kein stichhaltiges Ar­gu­ment entgegen­ge­hal­ten werden.

 

Seneca zeichnet das Töten schwächlicher und mißgestalteter Kinder als Handlungen der Ver­nunft und spricht sich gegen das Töten aus emotionalen Gründen aus.

 

"…; portentosos fetus exstinguimus, liberos quoque, si debiles monstrosique edite sunt, mergimus; nec ira sed ratio est a sanis inutilia secernere."[cclxx]

 

Nichtterminierbares, irreduzibles und unerträgliches Leid kann nicht als relevantes Eutha­na­sie­kriterium bei Menschen in einem irreversiblen Koma herangezogen werden, da aus medi­zi­ni­scher Sicht ein lediglich vegetativer Zustand vorliegt und Schmer­zen daher nicht bewußt emp­funden werden können. Die Aufrechterhaltung rein physiologischer Funk­tio­nen mit tech­no­logischen Mitteln bis zum nicht länger retardierbaren biologischen Tod  des Körpers ist je­doch aus dem existen­zia­len Sinn­hori­zont heraus abzulehnen, da dem Men­schen in die­sem So­sein sein Wesen verlorenge­gan­gen ist.

 

 

§ 4 Gefahren von Euthanasie für Sozietät und Individuum

 

Singer argumentiert, daß die Möglichkeiten, welche skrupellose Regierungen durch prak­ti­zierte, aktive Euthanasie erhalten würden, zwar nicht vernachlässigt, aber auch nicht über­trie­ben werden dürften.[cclxxi] In der Geschichte gäbe es kein Beispiel, daß eine tolerante Hal­tung gegenüber dem Töten einer bestimmten Kategorie von Menschen zu einem allge­mei­nen Ver­lust der Tötungshemmungen geführt habe. Bei einer Abwägung des begrenzten Risikos einer legalen Freigabe aktiver Euthanasie gegen den definitiven, nicht abstrakten Schaden der­je­ni­ger, deren Misere durch die Axiomatik einer traditionellen Ethik unnötig verlängert wird, spricht sich Singer für eine bessere (sounder) Ethik aus, welche zwar in ihrer defini­torisch Be­stimmung nicht so exakt ist, aber auf lange Sicht eine sicherere Be­gründungsbasis gegen nicht zu rechtfertigendes Töten biete.[cclxxii] Singer sieht diese Basis natürlich im Präfe­renzutili­tarismus.

Es wäre jedoch unzulässig, den großangelegten Genozid als Abgleiten auf die schiefe Bahn im Dritten Reich zu negieren. Hans-Walter Schmuhl hat auf die Schlüsselstelle der Ärzte­schaft in dieser Zeit und die historische Entwicklung hingewiesen.[cclxxiii] Er kommt zu dem Schluß, daß die neue Lebens(un)wert-Diskussion zwar nicht an die alte anschließt, aber die Ge­fahr besteht, sich in eine ähnliche Bahn zu entwickeln wie in den  zwanziger und dreißi­ger Jahren.

Die von Binding und Hoche entfachte Diskussion war sehr wohl von sozialökono­mi­schen und eugenischen Gesichtspunkten geprägt, in der kontemporären Diskussion sind solche Kriterien bisher noch nie aufgetaucht. Bei den Legalisierungsversuchen im Oregon Death with Dignity Act[cclxxiv] und im Northern Territory of Australia Rights of the Terminally Ill Act[cclxxv] wurden Be­stim­mungen geschaffen, welche finan­zielle Erwä­gun­gen zur Durch­füh­rung als Motivation ver­hindern. Die Entwicklung der natio­nalsozialistischen “Eutha­nasie” war nur in einer Dik­ta­tur und auch da nur mit absoluter Ge­heimhaltung möglich. Nicht­ein­halten der Schweigever­pfli­chtung hatte schwerwiegendste Strafsanktionen zur Folge.[cclxxvi]

Legalisierung von Euthanasie ist in einer demokratischen Regie­rungsform offensichtlich politisch nicht oder nur sehr schwer umzusetzen, obwohl derartige Bestrebungen auf den Be­ginn unseres Jahrhunderts zurückgehen.

Der erste Versuch, Euthanasie zu legalisieren, wurde in den Vereinigten Staaten, in Ohio, 1906 unternommen und mit einer Majorität von 78 zu 22 abgelehnt. Erhebungen in der ver­gan­genen Jahren in verschiedenen Ländern haben eine starke Befürwortung durch die Be­völ­ker­ung[cclxxvii] ergeben, trotzdem sind sämtliche Legalisierungsversuche bis jetzt geschei­tert.[cclxxviii] In den Niederlanden wurde die Gesellschaft für freiwillige Euthanasie 1973 gegrün­det[cclxxix]. Nach Kimsma ist Euthanasie in den Niederlanden keineswegs allgemein akzeptiert: Nach dem Or­di­narius für Rechtssoziologie Griffith stellt Euthanasie für sich betrachtet kein großes ge­sell­schaft­liches Problem dar, weder im Umfang noch in dem Maße wie die forma­len Erfor­der­nis­se der Sorgfaltspflicht beachtet werden.[cclxxx] Offene Debatten über Eu­thanasie werden in einer de­mo­kratischen Gesellschaft wie der niederlän­dischen als beste Garantie ge­gen töd­lichen Miß­brauch angesehen.[cclxxxi]

 

Die bisherigen Erfahrungen bestätigen damit das Argument Singers, daß legalisierte Eu­tha­na­sie in einer demokratischen Gesellschaftsform keine negativen Tendenzen ent­wickeln würde.

 

Folgende negative Entwicklungen wären aber denkbar:

 

1.  Das Leben wird auch bei geringfügigen Belastungen leichtfertig weggeworfen, weil durch ein legalisiertes Euthanasieverfahren der Zugang zum Tod zu leicht gemacht wird.

2.  Eine Änderung des allgemeinen Zeitgeists mit Tendenz auf sozialdarwinistische oder son­stigen utilitaristische, den Menschen instrumentalisierende Erwägungen, welche im “Aus­­stoß unnützen Menschenmaterials” die Lösung der gesellschaftlichen Probleme se­hen. Be­fürchtungen einer Ökonomisierung euthanasierelevanter Kriterien sind bereits der­zeit weit ver­breitet.[cclxxxii] So könnte als “Lösung” des Problems einer defizienten me­dizi­nischen Ver­sorgung das Argument so lauten, daß ein leichter und schneller Tod besser sei als ein mi­se­ra­bles Leben.

3.  Im Laufe der Geschichte traten immer wieder Massenselbstmorde auf, wie z.E. im anti­ken Griechenland, im Urchristentum, das Wertherfieber; die Massenselbsttötungen, wel­che in der japanischen Geschichte aufgetreten sind. Es kann nicht ausgeschlossen wer­den, daß das Phänomen eines Wunsches nach Masseneuthanasierungen auftritt.

4.  Euthanasie aus eugenischen Gründen könnte sich als Korrektur gentechnologischer Fehl­schläge auch in einer demokratischen Gesellschaft etablieren.  Unter Bezug auf die histo­rischen Wurzeln im ausgehenden 19. Jahrhundert ver­weist Hans Walter Schmuhl in An­be­tracht der Fortschritte auf dem Gebiet der Humangenetik auf die Gefahr einer wechsel­seitigen Verstärkung der Diskussionen um Euthanasie und Eugenik.[cclxxxiii]

5.  Die Selektion behinderter Kinder könnte nicht nach Kriterien der Binnenperspektive, son­dern nach “Effizienzkriterien” einer Leistungsgesellschaft, also nach Kriterien aus der Fremd­perspektive erfolgen.[cclxxxiv]

 

Diese durch Euthanasie verursachten Problematikbereiche sollen mit dieser Aufzählung kei­nes­wegs als ausschließlich mögliche dargestellt werden.

 

§ 5 Solidarität

 

Der Solidaritätsgedanke in Hinblick auf das Schwache und Kranke in Form von Behin­de­rung wirft die Frage der Grenzziehung auf. Bei allgemeiner Akzeptanz des Leidkri­teriums stellt sich die Frage, welches Ausmaß Leid haben muß, um Euthanasie zu rechtfer­tigen.

 

Kann von Kranken und Schwachen mit Berufung auf Solidarität gefordert werden, daß z.B. von einem Staat in extremis sämtliche Res­sourcen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse  auf­ge­bracht werden müssen?[cclxxxv] Abgesehen von der Unmöglichkeit der Realisierung einer sol­chen Forderung wirft sie die Frage der Zumut­barkeit für individuelle Belastung auf. Kann z.B. aus mora­lischen Gründen gefordert werden, daß die Eltern eines behinderten Kindes ihre gesamte Existenz opfern? Bei Anstötz[cclxxxvi] wird ein Fallbeispiel dargestellt,  in welchem ein bei der Ge­burt an Myelomeningozele leidendes Kind nicht behandelt wurde, da die Ärzte er­warteten, daß es sterben würde. Das Kind wurde deshalb nur routinemäßig versorgt. Das Kind ent­wickel­te sich trotz seiner schweren Be­hin­derung und starb trotz an­fänglicher Pro­gnosen nicht. Mit 8 Jahren besuchte es wegen einer Seh­schädigung eine Schule für Blinde und hatte einen Intelligenzquotienten von IQ = 80. Es  verbrachte das Wochenende mit sei­ner Familie. Diese hatte allerdings so große Probleme mit ihm, daß sie psychiatrische Unter­stützung er­halten mußte, um mit der Situation fertig zu werden.[cclxxxvii]

In einer Pressemeldung vom November 1996 wird von einer Mutter berichtet, welche ihr 8jähriges, körperlich und geistig behindertes Kind in einer Verzweiflungstat tötete.

Diese Exempel weisen auf eine unerträgliche Belastung der Betroffenen hin, welche eine aus­schließliche Begründung von Früheuthanasie aus rein binnenperspektivischen Kriterien frag­lich erscheinen lassen. Wunder fordert, daß eine Ethik die Verpflichtung beinhalten soll, Sor­ge für die menschenwürdigen Lebensbedingungen aller zu tragen und den behin­derten und schwerst­behinderten Menschen ein Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Dieser For­derung kann beigepflichtet werden. Schwer nachzuvollziehen ist jedoch seine Aussage, daß die Geburt eines behinderten Menschen kein Schicksalsschlag sei, “noch ein vermeidba­rer De­fekt der Natur, sondern ein Gewinn, ohne den unsere Gesellschaft ärmer würde.”[cclxxxviii] Diesem unverständlichen Argument liegt die Struktur einer Verherrlichung des Krank­seins und einer Einschränkung der potentiellen Entwicklungsfähigkeiten des Menschseins zugrun­de. Die logische Konsequenz dieser Argumentation wäre in einer Ge­ne­ralisierung der Auf­trag an die Medizin Krankheiten nicht zu heilen, was absurd wäre.

Singer verwies in seiner Befürwortung von Früheuthanasie Behinderter neben dem Lei­dens­kriterium auf die Belastung der Eltern[cclxxxix] und aus den Beispielen Repouilles und Li­neares‘[ccxc] mani­festierte sich eine derartige Belastung für die Eltern, daß sie im Töten des Be­hinderten bzw. Koma­tösen mündete. Dies veranlaßte Singer, die Entscheidungsgewalt vom Staat auf die Eltern zu verlagern.[ccxci]

Singer führt das Beispiel Baby Andrews an, welches als Frühgeburt zur Welt kam und das nur be­grenzt lebensfähig war und das von den Ärzten gegen den Willen der Eltern mit al­len Mög­lich­keiten der modernen Medizin beinahe 6 Monate am Leben erhalten wurde, obwohl das Neu­geborene fürchterliche Schmerzen gelitten haben mußte und sicher war, daß An­drew, falls er überlebte, nur schwer behindert überleben würde. Der behandelnde Arzt teilte den Eltern gelegentlich mit “that it must ‘hurt like hell‘ every time Andrew drew a breath.”[ccxcii] In diesem Kontext verwendete Singer das Argument der unnütz aufge­wen­deten Kosten.

 

In der Entscheidung, ob das individuelle Wohl oder das der Gemeinschaft den Vorrang hat, bietet das Prinzip der Interessensabwägung Singers eine Entscheidungshilfe, aber in Hin­blick auf die ethische Defizienz dieses Prinzips darf man nicht mehr erwarten. Auch der strenge Pflichtbegriff Kants kann hier keine Auskunft geben: Sein Leben zu erhalten ist Pflicht[ccxciii], aber auch seine eigene Glückseligkeit zu fördern, da der Mangel an Zufrie­den­heit und unbe­friedigte Bedürfnisse eine große Versuchung zur Übertretung der Pflich­ten wer­den.[ccxciv]

Die Problematik weist eine aporetische Struktur auf, welche nicht durch univoke Aussage­kri­terien sondern nur durch quantitative Bedingungen aufgelöst werden kann. Nicht die Art, son­dern das Ausmaß der relevanten Kriterien gibt den Ausschlag. Die Forde­rung der Gesell­schaft, Leben um jeden Preis zu erhalten, und zwar auch gegen den Willen der un­mit­telbar Be­troffenen wie im Baby-Doe-Fall[ccxcv], scheint eher ein Sedativ für das öffent­liche bzw. kol­lektive Gewissen als eine ethisch fundierte Entscheidung zu sein. Die positive Pflicht der Pfle­ge des Kranken und Schwachen kann keine hinreichend ethische Bedin­gung zum échec an­derer Individuen oder des Kollektivs sein.

 

 

§ 6 Der Sinn von Existenz und Euthanasie

 

a) Die Todeskonzeption Heideggers[ccxcvi]

 

Dem Dasein, d.h. dem Menschen, geht es um das verstehende Seinkönnen seiner selbst. Da­seins­mäßig aber ist der Tod nur in einem existenziellen Sein. Das Dasein kann den Übergang zum Nicht-mehr-dasein nicht erfahren und als erfahrenen verstehen. Das Dasein kann eine Erfahrung vom Tode im Mit-sein mit anderen bei deren Tod gewinnen, jedoch kann keiner dem anderen sein Sterben abnehmen. Das Aus-der-Welt-gehen des Daseins wird termino­lo­gisch als Sterben, das des Lebendigen als Verenden erfaßt.

 

Am Dasein ist eine ständige »Unganzheit«, die mit dem Tode ihr Ende findet. Was am Da­sein die »Unganzheit« ausmacht, das ständige Sich-vorweg, ist ein Nochnicht, das je ein Dasein als das Seiende, das es ist, zu sein hat. Enden besagt nicht notwendig sich vollen­den. Das mit dem Tode gemeinte Enden bedeutet kein zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod im weitesten Sinne ist ein Phänomen des Le­bens. Leben muß  als eine Seinsart verstanden werden, zu der ein In-der-Welt-sein gehört. Das Zwischen­phä­nomen, die Seinsart, daß das Dasein auch enden kann, ohne daß es ei­gentlich stirbt, anderer­seits qua Dasein nicht einfach verendet, wird von Heidegger als Ab­leben be­zeichnet. Sterben aber gilt als Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu sei­nem Tode ist.

Am Tode läßt sich der Möglichkeitscharakter des Daseins am schärfsten enthüllen. Als Grund­verfassung des Daseins wird die Sorge sichtbar gemacht: Das Sich-vorweg-schon-sein-in (auf der Welt) als Sein-bei (innerweltlich) begegnendem Seienden. Das Noch-nicht des Da­seins­endes im Sinne eines Ausstandes wird zurückgewiesen, das äußerste Noch-nicht hat den Charakter von etwas, wozu das Dasein sich verhält. Das Ende, der Tod ist ein Be­vor­stand des Da­seins. Der Tod verweist das Dasein völlig auf sein eigenstes Sein­kön­nen.

“Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit. So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. Als solche ist er ein aus­ge­zeichneter Bevorstand.”[ccxcvii]

Das Dasein stirbt faktisch solange es existiert, aber zunächst und zumeist in der Weise des Ver­fallens. In diesem verfallenden Sein bei… meldet sich die Flucht aus der Unheimlich­keit, d.h. vor dem eigensten Sein zum Tode.

Existenz, Faktizität und Verfallen charakterisieren das Sein zum Ende und sind demnach kon­sti­tutiv für den existenzialen Begriff des Todes.

Das Sterben gründet hinsichtlich seiner ontologischen Möglichkeit in der Sorge. Die Aus­le­gung des Man sagt »man stirbt«, d.h. dieses Man ist das Niemand. Dergestalt besorgt es eine stän­dige Beruhigung über den Tod. Die Öffentlichkeit soll nicht in ihrer besorgten Sorg­lo­sig­keit gestört werden. Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht auf­kommen und ver­kehrt die Angst in eine Furcht vor einem ankommenden Ereignis. Es de­krediert eine gleich­gültige Ruhe gegenüber dem Sterben, welches das Dasein seinem ei­gensten und unbe­züg­lichen Seinkönnen entfremdet. Versuchung, Beruhigung und Ent­fremdung kennzeichnen aber die Seinsart des Verfallens. Das alltägliche Sein zum Tode ist das Verfallen, das ist eine stän­dige Flucht vor ihm. Das Gewiß-sein gegenüber dem Tod stellt am Ende eine ausge­zeich­nete Da­seinsgewißheit dar. Das alltägliche Sein zum Tode spricht dem Tod »nur« em­pirische Ge­wißheit zu. Dies ist nicht die höchste Gewißheit, die apodiktische. Die Alltäg­lichkeit drängt in die Dringlichkeit des Besorgens und der Tod wird hinausgeschoben. So verdeckt das Man das Eigentümliche der Gewißheit des Todes, nämlich daß er jeden Au­genblick möglich ist. Mit der Gewißheit des Todes geht die Unbe­stimmtheit seines Wann zusammen. So ver­hüllt sich der eigenste Möglichkeits­charakter des Todes: gewiß und dabei unbestimmt, d.h. jeden Augen­blick möglich.

 

“Der volle existenzial-ontologische Begriff des Todes läßt sich jetzt in folgenden Bestim­mun­gen umgrenzen: Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und sol­che unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins. Der Tod ist als Ende des Da­seins im Sein dieses Seienden zu seinem Ende.”[ccxcviii]

 

Das alltäglich verfallende Ausweichen vor dem Tod ist ein uneigentliches Sein zum Tode. Das eigentliche Sein zum Tode bedeutet eine existenzielle Möglichkeit des Daseins. Das Da­sein wird konstituiert durch die Erschlossenheit, das ist ein befindliches Verstehen. Der Tod ist als Möglichkeit kein mögliches Zuhandenes oder Vorhandenes, sondern eine Seins­mög­lichkeit des Daseins. Das fragliche Sein zum Tode kann offenbar nicht den Cha­rakter des be­sorgenden Aus-seins auf seine Verwirklichung haben. Zu einem Mög­lichen in seiner Mög­lich­keit verhält sich das Dasein jedoch im Erwarten. Das Vorlaufen in die Möglichkeit des To­des soll nicht ein besorgendes Verfügbarmachen eines Wirklichen, sondern im ver­stehen­den Näherkommen die Möglichkeit des Möglichen nur »größer« ma­chen. Die nächste Nähe des Seins zum Tode als Möglichkeit ist einem Wirklichen so fern als möglich. Je unverhüll­ter diese Möglichkeit verstanden wird, desto reiner wird das Ver­stehen von der Unmöglich­keit der Existenz überhaupt. Der Tod als Möglichkeit ist für das Dasein die Unmöglichkeit jedes Existierens, jeglichen Verhaltens zu… Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Mög­lichkeit er­mög­licht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei. Das Sein zum Tode als vor­laufendes Enthüllen: aufs eigenste Sein­kön­nen sich entwerfen aber besagt: sich selbst ver­stehen können, im Sein des so enthüllten Seienden: existieren. Das Vor­laufen er­weist sich als Mög­lichkeit des Verstehens des ei­gensten äußersten Seinkönnens, d.h. als Möglichkeit eigent­licher Existenz. Der Tod als ei­genste Möglichkeit des Daseins entreißt das Dasein dem Man. Die im Vorlaufen ver­stan­dene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Diese Verein­zelung ist eine Weise des Erschließens des »Da« für die Existenz. Bei die­sem eigensten Sein­kön­nen versagt alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mit-sein mit an­de­ren. Besorgen und Fürsorge bedeuten keineswegs eine Abschnürung des Daseins vom ei­gent­lichen Selbst­sein. Sie gehören mit zur Bedingung der Möglichkeit von Existenz über­haupt.

Die eigenste unbezügliche Möglichkeit ist unüberholbar. Das Vorlaufen aber weicht der Un­über­holbarkeit nicht aus wie das uneigentliche Sein zum Tode, sondern gibt sich frei für sie. Sie befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten. Das Vor­lau­fen erschließt der Existenz als äußerste Möglichkeit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf die je erreichte Existenz. Der Tod als unbezügliche Möglichkeit verein­zelt als unüberholbare das Dasein als Mit-sein verstehend zu machen für das Sein­können der an­de­ren. Darin liegt die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Da­s­eins, d.h. die Möglichkeit als ganzes Seinkönnen zu existieren.

Das Für-wahr-halten des Todes zeigt eine andere Art und ist ursprünglicher als Gewißheit be­züglich eines innerweltlich begegnenden Seienden oder der formalen Gegenstände. Im Vor­lau­fen zum unbestimmt gewissen Tode öffnet sich das Dasein für eine ständige Bedro­hung. Al­les Verstehen ist befindliches. Die Stimmung bringt das Dasein vor die Geworfen­heit sei­nes »daß-es-da-ist«. Die Geworfenheit in den Tod enthüllt sich dem Dasein ur­sprüng­lich und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst. Das Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst, das Worum dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin. Furcht vor dem Ableben ist nicht Angst vor dem Tode. Die Angst ist keine beliebige, zu­fäl­lige, »schwa­che« Stimmung des Einzelnen, sondern als Grundbefind­lich­keit des Daseins die Erschlos­sen­heit davon, daß das Dasein als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert. In der Angst be­fin­det sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Un­möglichkeit seiner Exi­stenz. Die Angst ängstet sich um das Seinkönnen des so be­stimmten Sei­enden und erschließt so die äußerste Mög­lichkeit. Durch die Vereinzelung des Vor­lau­fens wird das Dasein selbst der Ganzheit sei­nes Seinkönnens gewiß. Das Sein zum Tode ist we­sen­haft Angst.[ccxcix]

 

“Die Charakteristik des existenzial entworfenen Seins zum Tode läßt sich dergestalt zu­sam­menfassen: Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode.”[ccc]

 

Die Möglichkeit eines eigentlichen Ganzseinkönnens ist nur eine ontologische Möglich­keit. Diese bedeutet so lange nichts als nicht das entsprechende ontische Seinkönnen aus dem Da­sein selbst erwiesen ist.

Die Bezeugung soll ein eigentliches Selbstseinkönnen zu verstehen geben. Eine solche Be­zeu­gung ist der alltäglichen Selbstauslegung des Daseins als Stimme des Gewissens gege­ben. Das Gewissen gibt »etwas« zu verstehen, es erschließt. Die eindringliche Analyse des Gewis­sens enthüllt sich als Ruf. Das Rufen ist ein Modus der Rede. Der Gewissensruf hat den Cha­rak­ter des Anrufs des Daseins auf sein eigenstes Selbstseinkönnen, und das in  der Weise  des Auf­rufs zum eigensten Schuldigsein. Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst.

Die Entschlossenheit wird charakterisiert als das sich-Angst-zumutende, verschwiegene Si­ch­entwerfen auf das eigenste Schuldigsein. Das Zu-Ende-sein des Daseins besagt jedoch exi­sten­zial: Sein zum Ende. Das eigentliche »Denken an den Tod« ist das existenziell durch­sich­tig gewordene Gewissen-haben-wollen. Die vorlaufende Entschlossenheit ist kein Aus­weg, er­fun­den, um den Tod zu »überwinden«, sondern das dem Gewissensruf folgende Ver­stehen, das dem Tode die Möglichkeit freigibt, der Existenz des Daseins mächtig zu wer­den und jede flüchtige Selbstverdeckung im Grunde zu zerstreuen. Ent­schlossenheit ent­springt dem nüch­ter­nen Verstehen faktischer Grundmöglichkeiten des Daseins.

“Mit der nüchternen Angst, die vor das vereinzelte Seinkönnen bringt, geht die gerüstete Freu­de an diese Möglichkeit zusammen. In ihr wird das Dasein frei von den »Zufällig­kei­ten« des Unterhaltenwerdens, die sich die geschäftige Neugier primär aus den Weltbege­benheiten ver­schafft.”[ccci]

Der Seinssinn des Daseins ist nicht »außerhalb« seiner selbst, sondern das sich verstehende Dasein selbst. Wenn zum Sein des Daseins das eigentliche bzw. uneigentliche Sein zum Tode gehört, dann ist dieses nur möglich als zukünftiges. Zukunft meint hier nicht ein Jetzt, das nicht wirklich geworden erst einmal sein wird, sondern die Kunft, in der das Da­sein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt. Die Zukunft und Gegenwart der Angst zei­gen sich aus einem ursprünglichen Gewesensein im Sinne des Zurückbringens auf die Wie­derhol­bar­keit. Eigentlich kann die Angst aber nur aufsteigen in einem ent­schlos­senen Da­sein. Die Ana­ly­se des eigentlichen Ganzseinkönnens enthüllt den in der Sorge verwurzelten gleich­ur­sprüng­lichen Zusammenhang von Tod, Schuld und Gewissen. Erst das Seiende »zwischen« Ge­burt und Tod stellt das gesuchte Ganze dar. Je eigentlicher sich das Dasein entschließt, d.h. un­zweideutig aus seiner eigensten ausgezeichneten Mög­lich­keit im Vorlau­fen in den Tod sich versteht, umso eindeutiger und unzufälliger ist das wählende Finden der Möglichkeit seiner Existenz. Nur das Vorlaufen in den Tod treibt jede zufällige und »vorläufige« Möglichkeit aus. Die ergriffene Endlichkeit der Existenz bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schick­sals. Schicksal verlangt als ontologische Bedingung seiner Möglichkeit die Seins­ver­fassung der Sorge, d.h. die Zeitlichkeit. Nur wenn im Sein eines Seienden Tod, Schuld, Ge­wissen, Freiheit und Endlichkeit dergestalt gleichursprünglich zu­sammen wohnen wie in der Sorge kann es im Modus des Schicksals existieren, d.h. im Grunde seiner Existenz geschicht­lich sein. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, d.h. eigentliche Geschichtlichkeit möglich. Die auf sich zurückkommende sich überliefernde Ent­schlossenheit wird dann zur Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit. Das eigentliche Sein zum Tode, d.h. die Endlichkeit der Zeitlichkeit ist der verborgene Grund der Ge­schichtlichkeit des Daseins. Das Dasein ist als zeitliches geschichtlich. Es kann sich wiederholend in seiner Ge­schichte übernehmen. Das Dasein kennt die flüchtige Zeit aus dem flüch­tigen Wissen um seinen Tod und weil der Tod sogar an der Rede vom Vergehen der Zeit verdeckt blei­ben kann, zeigt sich die Zeit als ein Vergehen an sich.

 

Der hohe Stellenwert des Todes bei Heidegger wird durch den Horizont der Zeitlichkeit des Daseins bestimmt. Durch das Wissen um seine Endlichkeit werden für das Dasein die exi­sten­zialen Bedingungen eines Vergehens jeglichen Seins konstituiert, wodurch eine Tran­s­zendenz eines “diesseitigen” Seins in eine “jenseitige” Welt auch im Entwurf unmög­lich wird. Das Da­sein Heideggers wird in seiner Geworfenheit mit dieser Welt kon­fron­tiert. Jeg­liche Flucht vor diesem Sein endet in einer Form von Verfallenheit, wodurch es - nach Hei­degger - seinem ei­gen­sten Sein, d.h. seinem Selbst, entfremdet wird. Eutha­nasie oder Suizid werden von Hei­deg­ger nicht explizit thematisiert. Seine Freiheit zum Tode ist als Freiheit in der Wieder­ho­lung existentieller Möglichkeiten aufgrund geänderter Ent­wurfmöglichkeiten zu inter­pre­tie­ren. Die Konfrontation mit dem Tod und der Möglich­keit des Todes läßt kein De­legieren des Problems, d.h. keine Stellvertretung zu. Durch diese Faktizität wird der Mensch in die Unaus­weichlichkeit des eigenen Tod und damit in die Unvertretbarkeit der eigenen Existenz gewor­fen.  In seinem existentiellen Sein wird dem Menschen sein Selbst bewußt, d.h. seine eigene, subjektive Identität eines in-der-Welt-sei­enden Individuums wird ihm als Wahrheit, im Sinne von é-lÆyeia bewußt.

Die Kritik Sartres an der Heideggerschen Thanatologie, daß auch Gemütsbewegungen nicht durch je­mand anderen empfunden werden können,[cccii] ist zwar richtig - Gemütsbe­we­gun­gen kön­nen je­doch wiederholt werden. Auch Adorno verfehlt den Ansatz Heideg­gers mit seinem Vor­wurf, daß Heidegger eine Theo­dizee des Todes schreiben wollte.[ccciii] Hei­degger wollte nicht eine Apologie des Todes schrei­ben. Er stieß lediglich in seiner Seins­analyse auf das Fak­tum des herausragenden Stel­len­wer­tes des Todes in der mensch­lichen Existenz und sah da­rin die existenzielle Möglichkeit des Men­schen zu sich selbst zu fin­den.

Eine Hermeneutik der “Freiheit zum Tode” legt jedoch aufgrund der etymologischen Wur­zel auch eine weitere Interpretationsmöglichkeit nahe: Das mittelhochdeutsche vrïheit und das alt­hochdeutsche frïheit hatten die Bedeutung des freien Sinns bzw. des verliehenen Vor­rechts. Im Kontext mit der Existenzialität des Todes ergibt sich die Interpretations­mög­lich­keit eines Vorrechts, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu wählen. Heidegger versteht unter dem Terminus Sinn ein Existenzial des Daseins und nicht eine Eigenschaft, welche an einem Sei­enden haftet. “Sinn bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her etwas als das, was ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden kann.”[ccciv] Aus der Charakte­ristik des exi­sten­zial entworfenen Seins zum Tode ergibt sich deshalb nicht nur die Möglich­keit des Ge­win­nens der eigenen Existenz, sondern auch die Freiheit, den eigenen Tod zu wählen, d.h. den Zeitpunkt des Endes der eigenen Existenz selbst in einem Wil­lens­akt her­beizuführen.[cccv] Auf­grund der wertfreien Struktur der existenzial-ontolo­gi­schen Analyse kann kein moralisches Ar­gu­ment gegen den Freitod vorgebracht werden. Heideggers Fest­stellung, daß das Sein zum To­de nicht den Charakter des besorgenden Aus-seins auf seine Verwirklichung habe,[cccvi] läßt eine Interpretation nur im existenzialen Horizont, nicht jedoch im moralischen Kontext zu.

 

b) Dasein und Personalität

 

Die Emphase der Daseinsbewältigung liegt auf dem Existieren: “Das »Wesen« des Das­eins liegt in seiner Exi­stenz.”[cccvii] Dem Dasein geht es in seinem Sein gemäß dem Charakter der Je­mei­nig­keit um sein Selbst. Zur Seinsverfassung des Daseins gehören wesen­haft Er­schlos­sen­heit, Geworfenheit, Entwurf und Verfallen. Im Begriff der Existen­zialität wird der Zu­sam­men­hang der konstituierenden Strukturen von Existenz erfaßt, wo­bei sich Be­findlich­keit und Ver­stehen als fundamentale Existenzialien erweisen. Im Ver­fal­len verliert sich das Da­sein an das Besorgen und die Geschäftigkeit der alltäglichen Welt, an das In-der-Welt-sein, wodurch es seinem Selbst, der eigensten eigentlichen Existenz entfremdet und dadurch unei­gentlich wird. Heidegger drückt damit keine negative Bewertung aus. Verfallen wird eben­so wie Fak­ti­zi­tät und Existenzialität als ontologische Umgrenzung der Ganzheit des Struk­tur­ganzen des Daseins bezeichnet. Trotz dieser expressis verbis wert­neutralen Haltung impli­ziert der hohe exi­stenziale Stel­len­wert des Todes eine positive Wertung. Die Wert­neutralität der Heidegger­schen Analyse kann keine absolute Gleichgül­tigkeit ausdrücken, da in diesem Fall so­gar das Aus­arbeiten dieser Analyse widersinnig wäre. Gegen eine Interpretation in Rich­tung existen­ziel­len Fatalismus spricht auch die Priorität von Sinn für das Dasein in der Zeit­lich­keit, wobei es primär um das eigenste Seinkönnen geht und welche im Sich-vorweg-sein des Daseins in der Zukunft grün­det. Wenn innerweltlich Seiendes mit dem Sein des Da­seins ent­deckt, d.h. zu Ver­ständnis ge­kommen ist, hat es Sinn. Im Sinn liegt die Verständ­lichkeit von et­was - das, was im ver­stehenden Erschließen artikulierbar ist. Sinn wird aus dem durch Vor­ha­be, Vor­sicht und Vorgriff strukturierten Woraufhin des Entwurfs verständ­lich. Nur Da­sein kann sinn­voll oder sinnlos sein. Sinn bedeutet streng genommen das Wo­raufhin des pri­mä­ren Ent­wurfs des Verstehens von Sein. Der Begriff des Sinns wird nicht auf die Bedeutung »Urteils­ge­halt« re­stringiert, sondern ist als existenziales Phänomen zu verstehen, darin das formale Gerüst des im Verstehen Erschließbaren und in der Auslegung Artikulierbare über­haupt sichtbar wird. Der Sinn des Daseins liegt in der Sorge, der diese in ihrer Kon­stitution er­möglicht und macht ur­sprünglich das Sein des Seinkönnens aus.

“Der Seinssinn des Daseins ist nicht ein freischwebendes Anderes und »Außerhalb« seiner selbst, sondern das sich ver­steh­ende Dasein selbst.”[cccviii]

Aus dieser wertfreien existenzial-ontologische Analyse Heideggers ergibt das Sosein des Da­seins in einem axiologischen Schema den Menschen als Selbstzweck bzw. höchsten Wert. Der Sinn von Dasein ist Selbstsein als verstehendes In-der-Welt-sein.

 

Diese Seinsanalyse steht als Metaphysik nicht im Gegensatz zur Ethik Singers. Im Gegen­teil - Singers Versuch einer universalen Ethik kann durchaus als empiristische Er­gänzung, als In­halt zu dieser leeren, formalen Seinsanalyse verstanden werden. Nicht Wider­spruch, son­dern Kom­plementarität als Interpretationsmöglichkeit zeigen Parallelen auf.

So kann im präferenz­utilitaristischen Personalitätskriterium das ontologische Dasein Hei­deg­gers auf einer empi­ri­stischen Betrachtungsebene wiedererkannt werden.

Singer stellt die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens[cccix] und beantwortet sie, indem er eine ethische Betrachtungs- und Lebensweise (ethical point of view) als lebenslang un­er­schöpf­liches Betätigungsfeld (meaning and purpose) proponiert.

Bei Heidegger wird dieselbe Frage auf einer tieferen, inhaltsleeren und strukturellen Ebene unter­sucht, ohne sie mit einer posi­ti­ven Antwort zu versehen.

 

c) Der Sinn von Tod - der Wert von Euthanasie

 

Das katastrophische Todesverständnis trifft auf den Tod zu, welcher einen Menschen aus der Blüte seines Schaffens herausreißt. Von kranken und alten Menschen, welche keine Zu­kunfts­perspektive haben, wird der Tod erwartet und begrüßt. Der Tod ist nicht mehr eine Katastro­phe, sondern eine Erlösung.[cccx]

Die existenziale Analyse des Daseins zeigt in einer wertfreien Form den Sinn von Existenz in einem verstehenden Existieren in dieser Welt. Das Seinkönnen und die herausragende Be­deu­t­ung des Todes wurde als neuerliches Entwerfen der Seinsmöglichkeiten des Das­eins  heraus­ge­arbeitet. Aus dieser Analyse ergibt sich die Sinnlosigkeit eines Daseins, wel­ches sich in ei­nem verstehenden Sein nicht mehr verstehend verwirklichen kann. Ein Exi­stieren, welches nur mehr Qua­len für den Rest des verbleibenden Lebens bedeutet und keine Aus-sicht auf ein trans­zen­den­tes, “jenseitiges” Sein hat, kann weder von dem Betrof­fenen, noch von einer an­deren Per­son verstanden werden. Der Tod, unter normalen Um­ständen emo­tio­nal ge­fürchtet, hat als Beendigung eines unerträglichen Daseins plötzlich Sinn.

Der exi­sten­ziale Entwurf auf den Tod i.S. der Verwirklichung wird unter pathologischen Be­din­gungen rational be­gründ- und verstehbar. Das willkürliche Herbeiführen des Todes stellt kei­nen Wider­sinn dar.

Heidegger verknüpft den Wertbegriff in Sein und Zeit mit Dinglichkeit: “Werte sind vor­han­dene Bestimmtheiten eines Dinges.”[cccxi] Der Tod als Nicht-mehr-dasein kann nicht als Ding bezeichnet werden, jedoch für terminal Kranke und Alte re­prä­sen­tiert er den existen­tiel­len Wert, daß mit dem Ende des Lebens auch das Ende des Leiden erreicht wird.

 

Genuine eÈyanas€a als Modus der kollektiven Bewältigung des Todes repräsentiert den exi­stentiellen Wert einer gemeinschaftliche Lebensbewältigung, welcher den Moribunden das  Ster­ben erleichtert und den Lebenden aufgrund der Zukunftsperspektive eines mög­li­chen Flucht­weges aus aussichtslosen Situationen das Leben ermöglichen kann.

 

 

 

d) Conclusio

 

Die Möglichkeit einer willkürlichen Beendigung menschlichen Lebens wird aufgrund der sich bereits abzeichnenden potentiellen Entartung der medizi­nischen Entwicklung immer vi­rulenter, wes­halb sich verändernde Rahmenbedingungen  ein Überdenken der ethischen Grund­lagen in be­zug auf Leben und Tod erforderlich machen. Das Problem zu negieren, ist keine Lösung. Bei einer wie oben konzipierten Begründungsstruktur wird die Möglich­keit einer Instru­men­ta­­li­sie­rung menschlicher Existenz - auch die einer ungewollten wie bei der Singerschen Fun­die­rung ethischer Prinzipien - a priori ausge­schlossen. Aus den vorge­legten Argumenten wird er­sichtlich, daß unser Denken in bezug auf Töten mit Fehlern be­haftet ist. Nichtsdestoweniger darf nicht übersehen werden, daß Moralität im Töten nur als exceptio einer in principio rich­tigen Regel - dem Tötungsverbot - angenommen werden kann und eine Freizügigkeit in diesem Bereich die Gefahr einer moralischen Entwurzelung als allgemeine, ethische Orien­tierungs­losigkeit im sozi­alen Gefüge in sich birgt. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß bei einer Auflösung des Tötungstabus aus schick­sals­bedingten Not­wendigkeiten als gemein­same Bewältigung des Todes Ge­mein­schaft för­dern und damit exi­stentielle Möglichkeiten eröffnen kann

 

 

IV. KAPITEL: Warum Euthanasie? - Resümee

 

Als der Verfasser dieser Arbeit begann, sich mit der Euthanasieproblematik zu beschäfti­gen, setzte er sich das Ziel, die Thematik vorurteilsfrei und voraussetzungslos zu untersu­chen. Das Thema nach philosophischen Kriterien zu untersuchen schien nahe­liegend, da sich Eu­thanasie als Problem von derartiger Komplexität erwies, daß eine einzel­wissen­schaftliche Unter­su­chung aufgrund des restriktiv ausgelegten methodischen Ansatzes nur unzureichende Ergeb­nisse zeitigen konnte. Nur von einer philosophische Ana­lyse war zu erwarten, Eutha­na­sie in ihrer gesamten Phänomenalität aufzeigen zu können.

 

Bei der Beobachtung des dzt. weltweit stattfindenden Euthanasiediskurses war festzu­stel­len, daß sich die Diskussionen vorwiegend auf der Ebene des Rechts und der Medizin ab­spielten. Die philosophischen Beiträge hatten offensichtlich nur Randbedeutung.

 

Die bedingungslose Ablehnung von Euthanasie schien sich auf die Angst for dem eigenen Tod bei den Kritikern zu reduzieren. Offensichtlich verhinderte die allgemeine Angst vor dem Tod eine rationale Untersuchung nicht nur nach Kriterien der Utilität, sondern auch nach Kri­te­rien ethischer Normen, da der Tod und die damit verbundene willkürliche Ver­fü­gung als Ta­bu angesehen wurde.

 

Die Medizin, welcher aufgrund ihrer fachspezifischen Kennt­nisse eine herausragende Stel­lung eingeräumt wird, verleugnet den Tod, da er eine Niederlage re­prä­sentiert. In Ge­sprä­chen mit alten Menschen zeigte sich die Angst, daß man ihnen das Ster­ben verwehren könnte, und die­se Angst ist nicht unbegründet. Bei Diskussionen mit Ärzten konn­te fest­ge­stellt werden, daß diese Verwehrung des eigenen Sterbens durch die Medizin aufgrund ih­rer techno­lo­gi­schen Mitteln praktiziert wird, obwohl den Ärzten die Sinnlosigkeit dieses Tun bewußt ist, sie aber aufgrund juristischer Bestimmungen immer Gefahr laufen, selbst straf­fällig zu werden, wenn sie nicht alle Möglichkeiten der Lebensverlängerung bis zum Exzeß ausschöpfen.  Für eine Akzeptanz des un­vermeidlichen Todes ist in unserer Gesell­schaft an­scheinend kein Raum.

 

Euthanasie zeigt sich nicht nur auf ethische Problematik reduziert, sondern stellt sich als Phäno­men des To­des dar. Nur in diesem Kontext kann ein Euthanasiediskurs hinreichend er­ör­tert werden. Aus dem philosophiehistorischen Beitrag[cccxii] ist ersichtlich, daß der Tod von den Philosophen schon im­mer auf diese oder jene Weise rational bewältigt werden konnte, wes­halb sich das philoso­phi­sche Denken als Form von effizienter Todesbe­wäl­ti­gung anbie­tet, und zwar als Modus der Todesbewältigung, welche auch ohne religiöse, d.h. transzen­dente, An­nah­men auskommt; m.a.W.: Es zeigt sich keine Notwendigkeit einer ar­gumenta­tiven Be­grün­dung ex petitionibus principiorum.

Offensichtlich wurde mit der Ablösung des Mythos durch den Logos im antiken Griechen­land eine Entwicklung initiiert, welche in der Auseinandersetzung mit dem Tod eine Form von Lebensbewältigung in die Wege leitete. Einerseits wurde die Methode eines transzen­den­ten Seins angewendet, wie bei den Pythagoreern und bei Platon, andererseits aber wurde eine An­nahme von Unsterblichkeit schlichtweg abgelehnt, wie dies aus der  atomi­stischen und aristo­te­li­schen Tradition hervorgeht. Die Ablehnung eines transzendenten Seins erwies sich in kei­ner Wei­se als defizienter Modus, wenn auch in der Folge die christliche Philoso­phie ein per­sön­li­ches Weiterleben nach dem Tode lehrte und mit der Prämisse des morali­schen Wohlver­hal­tens im christlichen Sinne verknüpfte.

Aus dem von Ariès zusammengetragenen Material läßt sich die wechselnde Beziehung des Menschen zum Tod über die Jahrtausende erkennen: Der “gezähmte Tod”, welcher schon in der Antike das Leben bestimmte und welcher vom Christentum ursprünglich über­nom­men wurde, wandelte sich im Laufe der Zeit. Aus einem kollektiven Ereignis, dem ge­mein­schaft­lichen Tod, wurde durch die persönliche Biographie der individuelle Tod. Das Neben­einan­der von Leben und Tod, sehr schön veranschaulicht durch den mittel­alterlichen Friedhof, welcher als Stätte des Todes gleichzeitig als Markt, d.h. als Stätte des Lebens und der Fröh­lichkeit dien­te und durch seine Asylfunktion das Weiterleben in dieser Welt bedingte, fand ein Ende. Der Mensch wurde nicht mehr als homo totus angesehen und in der Ent­ste­hung des Dua­lismus von Leib und Seele wurde eine Dichotomie einge­leitet, welche bis in unsere Zeit an­hält. Das Weltge­richt, ursprünglich im vertrauensvollen Glau­ben an Gott in keiner Weise ein Grund für Be­fürch­tungen, wurde eine Quelle existen­tieller Angst, welche von der Geist­lich­keit weidlich zur Machtakkumu­la­tion aus­genützt und ver­größert wurde. Die Angst vor den Höl­lenqualen der Seele führte zu einer Furcht vor dem Sterben. Die Zer­ris­sen­heit zwi­schen dem Verfall, dem Makabren, der Häßlichkeit der Lei­che, und der Sehnsucht nach dem Schönen ließ sogar Phantasien von sexuellen Bezie­hun­gen zu den Verstorbenen entste­hen bevor der Tod von der Vergänglichkeit des Daseins zum Nichts wurde. Verfolgen läßt sich die Hilflosigkeit der Geistlichkeit und der Medizin gegen diese Angst. Der unbedingte Fort­schritts­gedanke in der Medizin konnte nicht ver­hindern, daß der Tod stärker war und sich nicht besiegen ließ. Der Kampf der Ärzte war aussichtslos. Als im 20. Jahrhundert der Mega­tod die Bühne der Geschichte betrat, war es das einfachste - den Tod zu negieren. Der Ster­ben­de wurde ganz einfach “abgeschoben” und in seinem Sterben allein gelassen. Hatte man das Unglück bei einem Sterbeprozeß dabei­sein zu müssen, redete man dem Sterbenden eben ein, daß alles gut werden würde - er mußte ja nicht sterben, er würde noch lange wei­terleben. In diesen Ausreden schwingt die Konnotation, daß man ewig leben würde. Jede Form von Lo­gik wird radikal verleug­net, nur um ja nicht das Faktum des Todes akzeptieren zu müssen. Daß in der heutigen Zeit Sterbebegleitung erlernt werden muß, ist wohl das mar­kanteste Zei­chen des Ver­lusts einer Todes- und Sterbekultur. In der Regel wird nicht er­kannt, daß der Ver­lust des Todes - wenn auch nur in Form der Verleugnung - immer einen Verlust des Lebens nach sich zieht. Wäre der Horizont des Lebensablaufes unendlich, wür­den die Deter­mi­nanten dieses Le­bens völlig anders sein als bei einem beschränkten[cccxiii] Da­sein.

In der herausragendsten Thanatologie des 20. Jahrhunderts, derjenigen Heideggers, wird der Tod als solcher erfaßt. Die historische Entwicklung der Todeseinstellungen, welche von der Vergänglichkeit menschlichen Seins zum Nichts führte, mündet bei Heidegger als Philo­so­phem in Form einer Analyse des Seins. Diese Analyse, welche von Heidegger als exi­stenzial-ontologische bezeichnet wird und womit der Bezug des Menschen zu seiner Welt ausgedrückt wird, stellt den Tod als individuelles Sterben dar und untersucht dieses in seiner Phänomena­lität. Heideggers Philosophie ist eine atheistische, die Analyse bewegt sich im Horizont der Zeit, im “Diesseits”. Jede Form von Transzendenz auf ein “Jenseits” wird ex­pressis verbis zu­rück­gewiesen. Heidegger setzt damit die erkenntnistheoretische Position des philosophischen Mate­rialismus fort, wenn sich auch seine Sprache und seine Be­griff­lichkeit nicht in dieser Tradi­tion bewegt. Aufgrund der radikalen Ablehnung jeg­li­cher Form irgendeines “Weiter­lebens” gelangt er in seiner Analyse des menschlichen Da­seins in dieser Welt zur Schluß­fol­ge­rung, daß der Tod einen besonderen Stellenwert im menschlichen Le­ben darstellt. Es lag nicht in seinen Intentionen, eine Theodizee des Todes zu schreiben, wie von manchen Kriti­kern behauptet wurde[cccxiv], sondern aufgrund seines Un­ter­suchungshori­zontes war die Konklu­sion, daß der Tod für das menschliche Leben von außer­ordentlicher Bedeutung ist, unver­meid­lich. Nach Heidegger läßt die Endgültigkeit des Todes, diese un­widerrufliche Finalität, diese apodiktische Gewißheit der ei­genen Ver­gäng­lichkeit, den Men­schen seine Endlichkeit in Zeit und Raum erkennen und da­mit zu sich selbst finden - d.h. sich seiner Beschränkung auf die­ses endliche Dasein bewußt zu werden. Durch diese Er­kenntnis kann der Mensch die Möglich­keiten er­greifen, welche sich in seinem beschränkten Dasein anbieten; Möglichkeiten, welche ihm an­sonst verbor­gen geblieben und deshalb ent­glitten wären. Der Tod wird damit ein As­pekt von persönli­cher Freiheit. Die emotionale Angst, welche in der historischen Entwicklung zur Ver­leug­nung des Todes geführt hat, wird bei Heidegger als Befindlichkeit zum Initiator des Er­ken­nens seiner selbst. Nur wenn der Mensch bereit ist, diese furchtbare Angst vor dem eige­nen Ende auf sich zu nehmen, kann er den Tod als solchen akzeptieren und damit sein Le­ben “in seine Hand nehmen”, d.h. die Möglichkeiten seiner Existenz ergreifen. Der Sinn von Sein, d.h. der Sinn menschlichen Existierens, kann nur in diesen Grenzen gefunden wer­den.

Die Heideggersche Analyse bietet sich deshalb in ihrer Sinnexplikation als tiefstliegende Be­gründungsebene für einen Euthanasiediskurs an. Dies Frage nach dem Sinn von Sein muß bei einer nichttranszendenten Daseinsform anders gestellt und beantwortet werden als im re­ligi­ösen Horizont, in welchem das transzendente Fortbestehen einen essentiellen Be­standteil der Begründungsmodi darstellt. Auch die Frage nach dem Sinn von Leid ergibt eine völlig andere Struk­tur. Während Leiden im religiösen Horizont nur eine vorüber­ge­hende Episode zur Er­lan­gung ewiger Freuden spielt, wird Leid in einem nichttranszen­den­ten Leben zum In­begriff der Sinn­losigkeit, wenn es unerträglich, nicht terminierbar und nicht reduzierbar ist.

Der Tod ist in einem leidvollen Leben ein Bedürfnis.[cccxv] Aus den Beiträgen zum Suizid[cccxvi] ist er­sichtlich, daß die Selbsttötung schon in der europäischen Antike mit ver­schiedenen Ein­stel­lungen betrachtet und im weiteren Verlauf der Ge­schich­te durch das Christentum so ver­teu­felt wurde, daß Repressalien von unmenschlicher Grausam­keit gegen Suizidanten und ih­ren Angehörigen ausgeübt wurden. Es läßt sich annehmen, daß diese Tradition für die heu­tige un­reflektierte Verdammung von Euthanasie maßgebend ist. Aufgrund der im Laufe der Ge­schich­te entstandenen religiös  fundierten Argumentationsformen vollzieht sich auch in der heu­tigen Zeit nach Verlust dieses religiösen Glaubens das Denken noch immer in den glei­chen Strukturen. Töten ist ein Tabu, ohne nach dem Sinn von Leben und Tod zu fragen, wäh­rend diese Frage in der Philosophie schon seit erdenklichen Zeiten thematisiert wurde. Diese Denk­strukturen haben auch auf andere Kulturen übergegriffen, wie die Opposition ge­gen Eu­tha­nasie in Japan zeigt. Obwohl in der japanischen Krieger­ge­sell­schaft der Tod durch eigene Hand als ehrenvoll angesehen wurde, ja sogar oft die ein­zige Möglichkeit darstellte,  seine Ehre zu bewahren und seine Auf­richtigkeit zu zeigen und obwohl diese Tradition auch in unserem Jahrhundert noch lebendig ist, wurde Eutha­nasie nicht durch einen legislativen, son­dern erst durch einen judikativen Akt mög­lich. Darin zeigt sich eine Verweigerung des offe­nen Bekennens zu diesem Akt, welche eine Parallele zur niederländischen Gesetzgebung auf­weist, die Euthanasie nicht als er­laubt, sondern nur als straffrei deklariert.

Es kann berechtigterweise angenommen werden, daß ein Mensch nicht einen natürlichen Trieb besitzt, um den Tod zu suchen. Eine derartige Theorie, wie von Metchinkoff und Freud ver­treten, wird von der Fachwelt zurückgewiesen, weshalb der Suizid immer als eine Flucht vor unerträglichen, existentiellen Bedingungen angesehen werden kann, wenn nicht sogar eine pathologische Kausalität vorliegt. Die allgemeine Ächtung des Suizids, welche in con­cre­to oft nicht rational begründbar ist, läßt den Suizidanten einen einsamen Tod sterben - eine To­desform, welche anscheinend dem natürlichen Bedürfnis des Indivi­duums entgegen­steht. Der gemeinschaftlich getragene Tod wäre nicht nur für die Leben­den, son­dern auch für den Ster­benden in seinem Sterben eine Erleichterung. Diese Dyna­mik ist aus den Fallbei­spielen im psycho­thanatologischen Bei­trag[cccxvii] ersichtlich. Maßnah­men, welche der Suizidant trifft, um doch noch gerettet zu werden, können als Hilfeschrei interpretiert wer­den.

Legalisierte Euthanasie wäre m.E. eine Möglichkeit, einem in existentiellen Nöten befind­li­chen Menschen, welcher sich vielleicht in einer nur für ihn selbst subjektiv empfundenen aus­sichts­losen Situation befindet, zu helfen. Gemeinschaftlich lassen sich oft Lösungen zu Pro­blemen finden, welche von einem Individuum allein nicht gefunden werden können. Der Ein­zel­ne wird aber ein Problem nicht an die Gemeinschaft herantragen, wenn er weiß, daß das Pro­blem unlösbar ist, der Tod den einzigen Ausweg bietet, dieser aber ein gemein­schaft­liches Tabu darstellt. Es bleibt ihm nur die einsame Entscheidung zum Suizid. Unter Um­ständen lie­ße sich mit einem legalisierten Euthanasieverfahren sogar die Suizidrate senken, wenn der Sui­zidant wüßte, daß ihm bei tatsächlicher Aussichtslosigkeit beim Ster­ben gehol­fen werden würde. Durch eine gemeinschaftliche Entscheidung wäre die Verant­wortung verteilt und der Sui­zidant würde nicht die ganze Last - d.h. die ganze Verantwor­tung - seines eigenen Todes tra­gen, weshalb das Gewissen beruhigt wä­re[cccxviii] und das Ster­ben leichter fiele.

 

Dies wirft die Frage auf, ob das Töten von Menschen in jedem Fall moralisch verwerflich ist. Peter Singer beantwortete diese Frage auf Grundlage seiner Ethik mit einem entschie­denen Nein. Auch andere Philosophen hinterfragen das Tötungstabu, kommen aber nicht zu den ra­dikalen und kompro­miß­losen Schlüssen Singers. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, auf einer konsequen­tia­listischen Basis die logischen Inkonsistenzen der Singer­schen Ethik in der Anwendung auf die Praxis aufzuzeigen. Es erwies sich, daß diese Ethik in Hinblick auf die Prakti­kabilität starke Schwächen aufweist und daß Interesse und Per­so­nalität als ethische Kriterien mehr zukünftige (ethische) Gefahren für die Menschheit auf­wer­fen, denn ethische Pro­blem­e lösen. Es ist jedoch der Verdienst Singers, daß er in seiner Ra­dikalität die kon­tem­po­rä­ren Ethiker aus ihrem dogmatischen Schlummer aufrüt­telte.

Auch wenn die Ethik Singers nicht als Begründungsbasis verwendet wird, muß doch die Frage aufgeworfen werden, ob von einem Menschen verlangt werden kann, daß er sein Le­ben auf natürliche Weise beenden muß, d.h. daß er auf seinen Tod warten muß bis dieser “von selbst” kommt - auch wenn dieses “Warten” nur Schmerz und Leid bedeutet?

Ist der Wunsch, sein Leben zu beenden, unmoralisch?

Ist die Handlung, d.h. das Töten eines Menschen, in jedem möglichen Fall als Verstoß ge­gen universal geltenden, ethischen Normen zu klassifizieren?

Bei den Naturvölkern, wie den Buschmännern in der Kalahari oder den Eskimos, gingen die Alten genauso wie auf der antiken Insel Keos freiwillig in den Tod, um das Fortbe­ste­hen ih­rer Gruppe, d.h. der Gemeinschaft, zu gewährleisten. So ließ man bei den Busch­männern die Alten mit Proviant zum Sterben zurück, wenn sie nicht mehr die Kraft hatten, bis zur nächsten Wasserstelle zu kommen, und eine Rücksichtnahme der Gemeinschaft auf ihre Schwäche den Unter­gang der gesamten Gruppe bedeutet hätte. Eine solche Vorgangs­weise ist insofern be­denklich, da hierin die Gefahr einer Instrumentalisierung des indivi­duel­len Menschen für die Zwecke der Gemeinschaft liegt[cccxix], aber in der obigen Situation hatte die Vorgangsweise der Busch­männer ihre Be­rech­tigung, da auf diese Weise das Fortbestehen der Gruppe gewähr­leistet war und bezüglich dieses Vorgehens ein all­gemei­ner Konsens be­stand.

Die Problematik des heutigen Euthanasiediskurses hat jedoch nicht diese Dimension: Es geht nicht um das Wohl oder das Fortbestehen der Gemeinschaft, sondern um das Wohl des Ein­zelnen - auch wenn dieses “Wohl” im Tod liegt. Die ethische Problemstruktur  liegt nicht in der Zweckfrage, wie kann das Wohl der Gemeinschaft, d.h. der anderen, gesteigert oder be­wahrt werden, sondern wie kann das Übel (einer unerträglichen Existenz) abge­wendet wer­den.

Da wir jedoch nicht in einer idealen Gesellschaft mit altruistischen Gesinnungstendenzen le­ben, kann die Gefährlichkeit einer Auseinandersetzung mit der Euthanasiethematik nicht hoch genug veranschlagt werden[cccxx]. Bei einem Rückblick in die jüngere Geschichte, in das Dritte Reich, in dem “Euthanasie” betrieben wurde, was aber tatsächlich rassenselektiver und euge­nisch motivierter Mord war und damit den antiken Begriff in Verruf brachte, zeigt, daß auch in einer solchen destruktiven Gesellschaftsform Euphemisierungen unter den verant­wort­lichen und exekutierenden Nazis notwendig waren, um die Mordorgien zu bemänteln. Diese Euphemisierungen sind ein Indiz dafür, daß auch die Verantwortlichen Strategien entwickeln mußten, um die Morde vor ihrem eigenen Gewissen zu rechtferti­gen. Daß pein­lichst genaue Auf­lagen erfüllt werden mußten, um die “Euthanasie­verfahren” nicht in das öf­fentliche Be­wußt­sein gelangen zu lassen, deutet auf eine allge­meine Ableh­nung solcher Praktiken, d.h. es wi­derspricht der menschlichen Natur, Menschen in großem Stil abzu­schlachten, auch wenn sie einer anderen Rasse angehören.

Nichtsdestoweniger steht der Satz Kants, daß es in der Welt nichts Gutes gäbe als den guten Willen allein, nicht zufälligerweise zu Beginn dieser Arbeit: Bei einer Hinterfragung der ethi­schen Begründungsstruktur von Handlungen, welche anderen Menschen den Tod bringen, kann die Frage von Moralität nur in dem Horizont gestellt werden, ob der Tod für den Be­trof­fenen gut ist. Fehlt dieser gute Wille, wird das Ergebnis sowohl bei einer theore­tischen Unter­suchung, als auch in der praktischen Durchführung in ein Desaster für den Einzelnen und für die Gemeinschaft führen: für den Einzelnen, weil es seine Vernichtung bedeutet; für die Ge­meinschaft, weil die Kohäsion der gemeinschaftlichen Strukturen ver­loren geht und die Ge­meinschaft damit auseinanderbricht. Euthanasie kann in der genuinen Bedeutung des Wortes nur in einer reifen Gesellschaft funk­tionieren.

Die Untersuchung der derzeitig gängigen ethischen Argumente hat gezeigt[cccxxi], daß ein ab­so­lu­tes Tötungsverbot in konkreten Situationen zu ethischen Antinomien führen kann. Die ethi­sche Eindeutigkeit des moralischen Handelns i.S. eines moralischen Gutes ist nicht mehr ge­geben. Die Fragwürdigkeit der bedingungslosen Akzeptanz des Tö­tungstabus wird nicht nur auf­grund präferenzutilitaristischer Kritik sichtbar, sondern auch aus dem Hori­zont der Sinn­frage menschlicher Existenz heraus. Leid als Selbstzweck kann nicht als Ba­sis ethischer Axio­matik verwendet werden. Jede Moral mit Leid als existentielles Ziel wäre für jedes Le­be­wesen und jede Gemeinschaft selbstzerstörerisch. Das Argu­ment der Gegner von Eutha­nasie und der Verfechter der These der Heiligkeit des (mensch­lichen) Le­bens, daß der Mensch am Leid wächst und reift, ist zwar richtig - jedoch nur dann, wenn es eine Mög­lich­keit gibt, das Leid abzuwenden und wenn man nicht daran zerbricht.

In Kontext mit unbezwingbarem Übel zeigt sich der Schritt in den Tod als exi­stentielle Frei­heit - das Übel hat ein Ende. Dieser letzte Schritt ist schwie­rig und man darf nicht die tha­na­to­logische Autonomie des Philosophen im allgemeinen erwarten. Nicht je­der­mann steht die Be­wältigung der Todesfurcht durch Reflexion offen. Bei denjenigen, welche die­sen letzten Schritt kategorisch verdammen, ist aber eher eine Gleichgültigkeit gegen­über fremdem Leid denn ein besonderes, moralisches Bewußtsein anzunehmen. Der Suizid wird nach den ge­schicht­lichen Erfahrungen heute nicht mehr moralisch verurteilt. Eutha­nasie zu verdam­men und den Suizid zuzulassen, bedeutet jedoch eine logische Inkonsis­tenz, welche einer ratio­na­len Überprüfung nicht standhält.

 

Der Tod, unter normalen Umständen gefürchtet und gemieden, stellt für einen unheilbar schwerst Erkrankten die Erlösung dar. Diesen Tod als moralisch böse zu klassifizieren, wäre ab­surd. Eine phänomenale Analyse des Todes zeigt seine janusköpfige Natur: einer­seits ein Übel, an­dererseits eine Wohltat. Den Tod zu akzeptieren[cccxxii], bedeutet nicht unbe­dingt Welt­flucht. Diese Akzeptanz kann auch dazu führen, daß dem Individuum durch das Bewußtsein sei­ner ei­ge­nen Vergänglichkeit dieses Leben gelingt.

 

In der Euthanasie als potentielle Freiheit gegenüber dem Tod liegt ein positiver Aspekt: Wäh­rend der Suizid in der Regel einen Akt der Verzweiflung darstellt, kann Euthanasie als Akt der Todesbewältigung die gemeinschaftlichen Strukturen stärken - so wie beim Hara­kiri nicht der Feind den Delinquenten köpft, sondern der teuerste Freund.[cccxxiii]

 

Nicht der böse Wille führt zur Euthanasie, sondern nur der gute - der böse führt aus­schließ­lich in den Mord.


 

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Lebenslauf

 

 

 

 

 

 

 

Zur Person:

 

 

Name des Autors:                            Robert Hammer

 

Geburtsort:                                       Willendorf-Strelzhof

 

Geburtsdatum:                                 25.9.1951

 

Staatsbürgerschaft:                           Österreich

 

 

 

 

Ausbildung:

 

 

Volksschule Willendorf                                                                          1957 - 1961

 

Hauptschule Winzendorf                                                                        1961 - 1965

 

Kaufmännische Lehre mit Abschluß                                                       1965 - 1968

 

 

Externistenreifeprüfung (naturwissenschaftliches Realgymnasium)       1981

 

 

Studium der Philosophie an der Universität Wien                                  1981 ad finem vitae

 

 

Der durch diese Arbeit intendierte Abschluß:                          Doktor der Philosophie (1998)

 



[i]Zugrundegelegt wurde die Originale, Practical Ethics, Ausgaben der Cambridge University Press 1979 und 1993 unter Hinzuziehung der Reclamausgaben Praktische Ethik - Auflage 1984 in der Übersetzung von Jean-Claude Wolf; Auflage 1994 in der Übersetzung von Oscar Bischoff, Jean-Claude Wolf und Dietrich Klose. Seitenangaben und Zitate mit dem Zusatz “A” beziehen sich auf die 1. Ausgabe der Cambridge University Press 1979. Der Zusatz “B” bezieht sich auf die 2. Ausgabe der Cambridge University Press 1993. Seitenangaben mit Zusatz “RA” beziehen sich auf die Reclamausgabe 1984, mit Zusatz “RB” auf die Reclamausgabe 1994.

 

[ii] ”Ethics, though not consciously created, is a product of social life which has the function of promoting values common to the members of the society.” (A 209)

 

[iii]”It is redundant to ask why I should, morally, do the action that I morally should do.” (A 203)

 

[iv]“We do not normally say that people ought to do, or that it is their duty to do, whatever gives them the greatest plea­sure, for most people are sufficiently motivated to do this anyway.” ( A 210)

 

[v]”Most reflective people, at some time or other, want their life to have some kind of meaning.” (A 216)

 

[vi]”Now we begin to see where ethics comes into the problem of living a meaningful life. If we are looking for a purpose broader than our own interests, something which will allow us to see our lives as possessing significance beyond the narrow confines of our own conscious states, one obvious solution is to take up the ethical point of view. The ethical point of view does, as we have seen, require us to go beyond a personal point of view to the standpoint of an impartial spectator. Thus looking at things ethically is a way of transcending our inward-looking concerns and identifying ourselves with the most objective point of view possible - with, as Sidgwick put it, ‘the point of view to the universe‘.” (A 218f)

 

[vii]”… I am now suggesting that rationality, in the broad sense which includes self-awareness and reflection on the nature and point of our own existence, may push us towards concerns broader than the quality of our own existence; but the process is not a necessary one and those who do not take part in it - or, in taking par, do not follow it all the way to the ethical point of view- are not irrational or in error.” (A 219)

 

[viii]“Interests are interests, and ought to be given equal consideration whether they are the interests of human or nonhuman animals, self-conscious or non-self-conscious animals.” (A 65)

In der Reclamausgabe wurde “animals” mit “Lebewesen” übersetzt, wodurch die Schärfe der Singerschen Argumentation verloren ging.

 

[ix]“Ethics takes a universal point of view.” (A 11)

 

[x]d..h aktuelle, aktualisierte

 

[xi]Die Bezeichnung “Interessensabwägung” entspricht dem Denken Singers aufgrund der Metapher des Abwägens von Interessen auf einer Waage eher als die korrekte Übersetzung “Interessenserwägung”.

Wittmann verweist allerdings auf die Differenz von Interessenser- zur -abwägung.

 

[xii] “We can then say that euthanasia is only justifiable if those killed either: … or have the capacity to choose between their own continued life or death and make an informed, voluntary and settled decision to die.” (A 147)

 

[xiii]Wahrheit und Methode, S. 388

 

[xiv]Ebd. S. 389

 

[xv]Ebd. S. 390

 

[xvi]Winau-Rosemeier, S. 28

 

[xvii]”For the Nazis were concerned only for the welfare of members of the ‘Aryan‘ race, and the sufferings of Jews, Gypsies and Slavs were of no concern to them.” (A 20/B 22)

 

[xviii]”Some doctors closely connected with children suffering from severe spina bifida believe that the lives of some of these children are so miserable that it is wrong to resort to surgery to keep them alive. This implies that their lives are not worth living. Published descriptions of the lives of these children support this judgment. If this is correct, utilitarian principles suggest that it is right to kill such children.” (A 133, RA 181; kursiv durch R.H.)

 

[xix]Metaethische Überlegungen zu dem ethischen Diskurs über P.Singers »Praktische Ethik«, in Hegsel­mann/Merkel, S. 265f.

 

[xx]”Would euthanasia be the first step on to a slippery slope? In the absence of prominent moral footholds to check our descent, would we slide all the way down into the abyss of state terror and mass murder?” (A 154)

 

[xxi]Mir leuchtet nicht ein, wie man so Werte bewahren will - Peter Singer im Gespräch mit Christoph Fehige und Georg Meggle in: Hegselmann/Merkel, S. 153ff

 

[xxii]Hans Schuh, Läßt sich Euthanasie ethisch begründen?, in: Bastian, S. 121f

 

[xxiii]Singer, Bioethik und akademische Freiheit, in Hegselmann/Merkel, S. 324

 

[xxiv]Ebd. S. 322

 

[xxv]In Bastian, Denken, Schreiben, Töten: Spaemann, S. 8; Bastian, S. 11; Dörner, S. 24, S. 27, S. 35; Rost S. 40, S. 48, S. 53; Bastian/Rost, S. 75f.

 

[xxvi]Ebd., Dörner, S. 23. In Stössel, Tüchtig oder tot: Spaemann, S. 141. In Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie: Birnbacher, S.40; Wittmann, S. 255.

 

[xxvii]In der Auseinandersetzung tauchte ein angebliches Zitat Singers, welches einen hohen Dis­kreditierungswert hat und Nähe der Singerschen Euthanasie zur Nazi-Ideologie indiziert. Der Satz, welcher weder von Singer, noch von Kuhse stammte, lautet: “Im Rahmen dieser Ethik ist es möglich und notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu ve­r­nichten.” (Hegselmann/Annette Strelow, Wie macht man Monster? - Zur Geschichte eines angeblichen Zitats, in Hegselmann/Merkel, S. 214ff.

 

Ebd., Fengler, S. 18f; Dörner, S. 28, S. 32; Rost, S. 40, S. 47f, S. 50f, S. 52; Matthias Bröckers (in “taz” vom 13.12.1990), S. 139.

 

[xxviii]Ebd., Bastian, S. 12f; Dörner, S. 24, S. 33; Rost, S. 39, S. 41, S. 46, S. 48f, S. 51, 53, 57; Bastian/Rost S. 73, S. 76. In Stössel, Tüchtig oder tot: Jantzen, S.151. In Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie: Wittmann, S. 252f.

 

[xxix]Ebd., Fengler, S. 20f; Dörner, S. 33; Bastian/Rost, S. 80; Rost S. 38, S. 45. In Stössel, Tüchtig oder tot: Jantzen, S. 148.

 

[xxx]Ebd., Bastian, S. 13; Fengler, S. 15f; Bastian/Rost, S. 76f

 

[xxxi]Ebd., Fengler S. 21; Rost S. 49, S.53.

 

[xxxii]Ebd., Rost S. 49, S. 53; Bastian/Rost S. 68f, S. 72f, S. 76

 

[xxxiii]Vorwort, B X

 

[xxxiv] Vide Singer, Embryo Experimentation, S. 41

 

[xxxv]Ebd., S. 41

 

[xxxvi]Stössel, S. 153

 

[xxxvii] Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, S. 61

 

[xxxviii] Dieses Kapitel fehlt in der ersten Ausgabe.

 

[xxxix] ”Though popular, this view is not self-evidently morally sound.” (B 252)

 

[xl] Sendung David gegen Goliath; Reportage des ZDF vom 15.3.1996

 

[xli]Bastian und Rost werfen Singer vor, daß er sich von außerwissenschaftlichen Methoden leiten lasse, weil er das Paradigma der unbestechlich quantifizierenden Waage wählte. In: Bastian, Denken - Schreiben - Töten, S. 76.

Stenzel bezeichnet das quantitative Argument als die Absurdität, die in der ganzen Theorie Singers liegt, welche mit dem Prinzip der gleichen Interessenserwägung eng verschränkt ist und dieses zu einem ökonomischen Prinzip macht. Stenzel, Kein Recht auf Leben, S.33.

 

[xlii] Kein Recht auf Leben, S. 30ff

 

[xliii]Ebd. S. 36

 

[xliv]Ebd. S. 32f

 

[xlv]Singer greift in der ersten Ausgabe Schweitzer wegen dessen Hochschätzung jeglichen Lebens an. Schweitzer habe im Laufe seiner Forschungstätigkeit viele Bazillen und Parasiten vernichtet, um menschliches Leben zu retten. Singer entwickelt die Idee einer hierarchischen Wertordnung, in welcher das Leben ohne bewußter Erfahrung keinen intrinsischen Wert besitzt (A 92). In der zweiten Ausgabe weist er den Aussagen Schweitzers met­a­phorischen Stellenwert zu. Er wirft Schweitzer Irreführung vor, wenn dieser Ausdrücke wie “sehnen, exal­tieren, Vergnügen und Furcht” im Konnex mit Pflanzen verwende.  (B 279f).

 

[xlvi]Singer verwendet beide Interpretationsformen in einer semantisch undifferenzierten Weise.

 

[xlvii]Aufsatz Warum Fragen der aktiven und passiven Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich sind; in Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, S. 61

 

[xlviii]Bei Singer wird dies durch die stillschweigende Präsumption einer altruistischen Weltanschauung vorge­nommen.

 

[xlix]Bei Singer die Differenz zwischen personalen und nichtpersonalen Interessen.

 

[l]Spektrum der Wissenschaft, 5/95, S. 76ff

 

[li]Gehlen, S. 84

 

[lii]Ebd. S 149

 

[liii]Ebd. S. 157

 

[liv]Ebd. S. 80

 

[lv]Ebd. S. 341

 

[lvi]Ebd. S. 366

 

[lvii]Die Bestimmung des Menschen, S. 31

 

[lviii]Dieses Argument soll in keiner Weise quälende Tierexperimente oder eine inadäquate Tierhaltung recht­fertigen. Auch wenn der Mensch als Spitze der terrestrischen Evolution als einzige, personale Lebensform zu betrachten ist, haben andere Lebensformen ihren berechtigten Platz. Anderen Lebensformen unnötige Qualen zu­zu­fügen, kann nicht  mit dem Argument der Personalität ethisch hinreichend begründet werden.

 

[lix]Aufsatz, Sind alle Menschen Personen?, in: Stössel, S. 134

 

[lx]Ebd. S. 22

 

[lxi]Ebd. S. 136

 

[lxii]S. 22, Einleitung

 

[lxiii]“A self-conscious being is aware of itself as a distinct entity, with a past and future.” (B 90)

 

[lxiv]Der Singersche Präferenzbegriff entspricht damit der ersten semantischen Interessensinterpretation, wobei das Interesse auf die eigene, individuelle Zukunft gerichtet ist.

 

[lxv]Singer verwendet die Begriffe “Interesse” und “Präferenz” weitgehend synonym.

 

[lxvi]Aufsatz Metaethische Überlegungen zu dem ethischen Diskurs über P.Singers »Praktische Ethik«, in Hegselmann/Merkel, S. 258

 

[lxvii]Anstötz, S. 78-82; paraphrasiert und gekürzt dargestellt.

 

[lxviii]Ebd. S. 82

 

[lxix]Ebd. S. 74-78

 

[lxx]Aufsatz IVF Technology and the Argument from the Potential, in: Embryoexperimentation, S. 76 - 89

 

[lxxi]“logical and physical possibility”

 

[lxxii]Leist, S. 107 - 131

 

[lxxiii]Ebd. S. 107

 

[lxxiv]Ebd. S 129

 

[lxxv]Leist, S. 182f

 

[lxxvi]   C: kausaler Prozeß, der zu E führt.

    E: einzig moralisch bedeutsame Folge

    A: Handlung, die C auslöst

    B: Handlung, die minimalen Energieaufwand umfaßt, der C beendet bevor E eintritt.

    Prinzip der moralischen Symmetrie, formalisiert dargestellt: (AÙB) ® C « E

 

[lxxvii]Ebd. S.187

 

[lxxviii]”When we come to pronounce on the condition of human infancy, and to separate childhood, or non-age, from a state of maturity, we can scarce trace one useful or salutary consequence it is calculated to produce in society. In this view children seem less adapted to serve any special or important end, than even beetles, gnats, or flies. Experience, however, has long convinced the world of their present inestimable value from their future destination. And were a legislator, from the plausible pretext of their being a burden to the state, to exterminate the race of mankind in the insignificant stage of infancy, his decree, like that of a certain monster recorded in the gospel, would shock the sentiments of every nation under heaven, in whom there remained only the dregs of humanity.” S. 48

 

[lxxix]”In this respect Bentham was right to describe infanticide as ‘of   a nature not to give the slightest inquietude to the most timid imagination‘. Once we are old enough to comprehend the policy, we are too old to be threatened by it.” (B 171)

 

[lxxx]Anstötz, S 118

 

[lxxxi]Winau, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, in: Winau-Rosemeier, S. 32f

 

[lxxxii]Leist, S. 42, S. 230, S. 243

 

[lxxxiii]Während beim Infantizid die reflektierenden Philosophen nicht betroffen sind, können die drei anderen o.a. Punkte auf alle Erwachsenen zutreffen und es stellt sich die Frage, ob die verfochtenen Argumente auf philo­sophische Grundlagen oder auf psychische Rationalisierungsmotive zurückzuführen sind.

 

[lxxxiv]Leist, S. 164

 

[lxxxv]Ebd. S. 190

 

[lxxxvi]”…beings who cannot see themselves as entities with a future cannot have any preferences about their own future existence.” B 95

 

[lxxxvii]Kritik der praktischen Vernunft, BA 65

 

[lxxxviii]BA 82, kursiv durch R.H.

Diese strenge Form des Personalitätskriteriums wäre treffend gegen Singers Hypothesen einer Personen­haftigkeit bei anderen Gattungen ins Feld zu führen, da mit Sicherheit gesagt werden kann, daß keine einzige Tiergattung - auch keine einzelnen, herausragend intelligente Mitglieder wie Koko - diesen Anforderungen ent­sprechen kann.

 

[lxxxix]Die Metaphysik der Sitten, AB 22

 

[xc]B 318

 

[xci]Metaphysik der Sitten, Einleitung, AB 22

 

[xcii]Ebd., Tugendlehre, Von der Kriecherei, A 93

 

Aus dieser Position lassen sich keine Erwägungen ableiten, die es zuließen, andere Menschen aus irgend­welchen “Unzumutbarkeitsgründen”, wie z.B. familiäre Belastungen wegen einer Behinderung, zu ver­stoßen, in Stich zu lassen oder zu töten.

 

[xciii]Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, A 79

 

[xciv]Die Mitglieder der Warnock-Kommission vertraten die Meinung, daß es einer “Rechtfertigung” bedürfte, die eigene Spezies einer anderen nicht vorzu­ziehen. (Mary Warnock, Aufsatz Haben menschliche Zellen Rechte, in Leist, S. 227)

 

[xcv]In einem Interview der “Zeit” vom 16.6.1989 erklärt Singer, daß Infantizid nur in bestimmten Grenz­situationen erlaubt sei, und zwar dann, wenn das Leben des Kindes so miserabel verlaufen würde, daß wir selbst unter diesen Umständen nicht leben wollen würden. Diese Position ist nach seiner Ethik nicht haltbar. Aufgrund fehlender Personalität kann jedes Kind nach der Geburt getötet werden. Auch die o.a. Massenmorde an neugeborenen Mädchen aus gesellschaftlichen oder ökonomischen Gründen haben nicht die geringste moralische Relevanz.

 

[xcvi]Dzt. ist jede Forschungsanstrengung, die auf die Modifikation von Keimbahnzellen abzielt, strengstens verboten. (Jeantine E. Lunshof, Aufsatz Ethische Probleme der Gentechnologie im Bereich der angewandten Humangenetik, in: Kampits, S. 215)

 

[xcvii]”A self-conscious being is aware of itself as a distinct entity, with a past and a future.” (B 90)

 

[xcviii]Aufsatz Abtreibung und Kindstötung,  in Leist S. 166f

 

[xcix]Rolle der Ethiker nach Lunshof, in Kampits S. 211

 

[c]Bei einer stringenten und konsistenten Auslegung des Personenarguments könnten z.B. auch bei einem kurzzeitig Bewußtlosen während der Bewußtlosigkeit Organe zwecks Transplantation entnommen werden.

 

[ci]Glück und Wohlwollen, S. 153

 

[cii]Aufgrund der modernen technologischen Entwicklung besteht heute jedoch die Möglichkeit durch pränatale Eingriffe diese Form der Würde zu verletzen.

 

[ciii]i.S. einer auf dem Personenstatus fundierten Ethik

 

Als Grundlage für die geschichtliche Entwicklung des Euthanasiebegriffs wurde primär Winau, Aufsatz Die Freigabe der Vernichtung lebensunswerten Lebens, in Winau-Rosemeier, S. 27 - 51 und Leist, Aufsatz Diskussionen um Leben und Tod, S. 9 - 75, verwendet.

 

[cv]Die Parallelen zur Singerschen Ethik sind nicht zu übersehen:

“A life of physical suffering, unredeemed by any form of pleasure or by a minimal level of self-consciousness, is not worth living. Surveys undertaken by health care economists in which people are asked how much they value being alive in certain states of health, regularly find that people give some states a negative value - that is, they indicate that they would prefer to be dead than to survive in that condition.” (B 214)

“All of this is not to deny that departing from the traditional sanctity-of-life ethic carries with it a very small but nevertheless finite risk of unwanted consequences. Against this risk we must balance the tangible harm to which the traditional ethic give rise - harm to those whose misery is needlessly prolonged.” (B 217)

 

[cvi]Winau, S. 35

 

[cvii]Ebd. S. 36

 

[cviii]Ebd. S.  37

 

[cix]Ebd. S. 38

 

[cx]Winau, S. 40

 

[cxi]Die Rolle Amerikas auf dem Gebiet der eugenischen Euthanasie ist wenig bekannt. Der Arzt Harry J. Haiselden proponierte 1915 den Tod mißgebildeter Kinder (defective infants) und erhielt weite öffentliche Unterstützung.

Martin S. Pernick: The Black Stork: Eugenics and the Death of Defective Babies in American Medicine and Motion Pictures Since 1915

 

[cxii]Bemerkenswert ist eine statistische Zahl, welche durch eine Anfrage der damals noch in Bonn vertretenen Grünen im Jahre 1990 ans Licht kam: Die Bundesregierung teilte mit, daß in Deutschland (West) jährlich mehr als 1.000 schwachsinnige Frauen sterilisiert werden. Die tatsächliche Anzahl der Eingriffe könne wesentlich höher sein. Die bis dahin fehlende, rechtliche Grundlage wurde in der vereinten Republik noch durch die alten Abgeordneten als Betreuungsgesetz geschaffen, wodurch insbesondere weibliche Menschen ohne ihre Ein­wil­ligung unfruchtbar gemacht werden können. Stössel, S. 12

 

[cxiii]S. 44

 

[cxiv]Beobachtungszeitraum März 1995 bis Mai 1997

 

[cxv]Wilhelm Kamlah, Meditatio mortis, in: Ebeling,  S. 217

 

[cxvi]Ebd. S 216

 

[cxvii]Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd.II, S. 393ff

 

[cxviii]Herodot, Neun Bücher der Geschichte, I/30, 31

 

[cxix]Burckhardt, Bd. 2, S. 381ff

 

[cxx]Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, S. 211; Übers. Apelt

 

[cxxi]Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5. Buch, Z.29.

 

[cxxii]Ebd. 8. Buch, Z.47

 

[cxxiii]Buch I, Kap. 20

 

[cxxiv]Selbsttötung war ursprünglich in der Bibel nicht expressis verbis verboten. Jens/Küng, S. 71

 

[cxxv]A. Alvarez, The Savage God, S. 69

 

[cxxvi]Wilhelm Kamlah, Meditatio mortis; in: Hans Ebeling, Der Tod in der Moderne

 

[cxxvii]Dieter Birnbacher, Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht; in: Anton Leist, S. 397f

 

[cxxviii]A. Alvarez, S. 63

 

[cxxix]Dieter Birnbacher, Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht;in: Leist,  S. 401

 

[cxxx]Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, S. 512f

 

[cxxxi]Ebd. S. 515ff

 

[cxxxii]Ebd. S. 515ff

 

[cxxxiii]Schopenhauer, Über den Selbstmord, Bd. II, S. 276

 

[cxxxiv]Als Grundlage diente The Psychology of Death von Robert Kastenbaum, welches als Standardwerk der Psychothanatologie gilt.

 

[cxxxv]Ebd. S. 67

 

[cxxxvi]Ebd. S. 212

 

[cxxxvii]Ebd. S. 194ff

 

[cxxxviii]Ebd. S. 38f

 

[cxxxix]Ebd. S. 13, zit. Nach Leenaars, 1988, S. 241

 

[cxl]Ebd., A 169f

 

[cxli]Anthropologie, B 67

 

[cxlii]Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A 67f

 

[cxliii]Ebd. A 70/71

 

[cxliv]“…ein um noch so viel größerer Bewegungsgrund sein müssen, sich, ein Wesen von so großer, über die stärkste sinnliche Triebfedern gewalthabenden Obermacht, nicht zu zerstören, mithin sich des Lebens nicht zu berauben.” Ebd. A 72

 

[cxlv]Ebd. A 73

 

[cxlvi]Ebd. A 73: “Sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstümmeln), z.B. einen Zahn zu ver­schenken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines anderen zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können, u. dgl. gehört zum partialen Selbstmorde; aber nicht, ein abgestorbenes oder die Absterbung drohendes, und hiemit dem Leben nachteiliges Organ durch Amputation, oder, was zwar ein Teil, aber kein Organ des Körpers ist, z.E. die Haare, sich abnehmen zu lassen, kann zum Verbrechen an unserer eigenen Person nicht gerechnet werden; wiewohl der letztere Fall nicht ganz schuldfrei ist, wenn er zum äußeren Erwerb beabsichtigt wird.”

 

[cxlvii]Vom Begehrungsvermögen, B 213 - B 215

 

[cxlviii]B 214

 

[cxlix]Der Streit der Fakultäten, A 169f

 

[cl]Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, A 199

 

[cli]Ebd., A 204f: “Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie eine verboten Ware), so daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann, und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird, kann keine Verordnung heben.”

 

[clii]Ebd.

 

[cliii]Ebd.

 

[cliv]Darstellung aufgrund des Buches Samurai oder Von der Würde des Scheiterns des Japanologen Ivan Morris.

 

[clv]Die vulgäre Bezeichnung Harakiri wurde wie bei Morris (v. Anmerkung 50, S. 530) gegenüber der würde­vol­len Bezeichnung Seppuku beibehalten

 

[clvi]Mishima Yukio, welcher am 20.11.1970 anscheinend aus dem Streben, als Held zu sterben, Harakiri beging, hat zwischen dem Wesen des Harakiri und dem Prinzip des makoto (“Aufrichtigkeit”) einen Zusammenhang gesehen. In einer Erklärung an einen ausländischen Zeitungskorrespondenten bezweifelte er die westliche Auf­richtigkeit. Da man in der Feudalzeit glaubte, daß die Aufrichtigkeit in den Eingeweiden lebte, war es nötig, den Bauch aufzuschneiden, um die Aufrichtigkeit zu zeigen und als sichtbare Aufrichtigkeit herauszunehmen. Dieser Akt war ein Symbol der Willenskraft eines Soldaten. Jedermann wußte, daß dies  die schmerzhafteste Art zu ster­ben war. In der Wahl, auf diese entsetzliche Art zu sterben, offenbarte sich die Tapferkeit des Samurai.

 

[clvii]Der folgenden Darstellung wurde Philippe Ariès, Geschichte des Todes, zugrundegelegt.

 

[clviii]Der folgenden Darstellung wurde Georg Scherer, Das Problem des Todes in der Philosophie, zugrundegelegt.

 

[clix]So für Stössel, welcher in der Hospizbewegung eine ausreichende Betreuung Sterbender erfüllt sieht. Kübler-Ross wurde wegen ihrer diesbezüglichen Position von Singer kritisiert.

 

[clx]Aussage Maximilian L., Nachlaßverwalter in Hadamer; in: Ernst Klee, Hrsg., Dokumente zur »Euthanasie«, S. 125

 

[clxi]Der personal verstandene Tod

 

[clxii]Ebd. S. 44

 

[clxiii]Ebd. S. 45

 

[clxiv]Helga Kuhse, Die Lehre von der >Heiligkeit des Lebens<, in Leist, S. 91

 

[clxv]Leist, S. 92

 

[clxvi]Ebd. S. 93

 

[clxvii]Reinhard Merkel, Aufsatz Teilnahme am Suizid, Tötung auf Verlangen, Euthanasie, in Hegselmann/Merkel S. 72

 

[clxviii]Ebd. S. 88

 

[clxix]Aufsatz Philosophie und Öffentlichkeit, in Hegselmann/Merkel S. 183

 

[clxx]Helga Kuhse, Aufsatz Die Lehre von der >Heiligkeit des Lebens< in Leist, S. 88

 

[clxxi]Aufsatz Euthanasie, in Leist, S. 288

 

[clxxii]Ebd. S. 294

 

[clxxiii]Zur Debatte über Euthanasie, Einleitung, S. 16

 

[clxxiv]Eine solche Entscheidung wäre aber wieder zu hinterfragen, da ein gesunder Mensch in geordneten und positiv gestalteten Lebensumständen kaum ein rationales Motiv für einen Selbstmord vorbringen könnte und eine Ent­scheidung für den Tod jegliches Argument äußerst fragwürdig erscheinen läßt.

 

[clxxv]35 Noli me inuitus audire, tamquam ad te iam pertineat ista sententia, et quid dicam aestima: non relinquam senectutem, si me totum mihi reseruabit, totum autem ab illa parte meliore; at si coeperit concutere mentem, si partes eius conuellere, si mihi non uitam reliquerit, sed animam, prosiliam ex aedificio putri ac ruenti. 36 Morbum morte non fugiam, dumtaxat sanabilem nec officientem animo. Non afferam mihi manus propter dolorem : sic mori uinci est. Hunc tamen si sciero perpetuo mihi esse patiendum, exibo, non propter ispum, sed quia impedimento mihi futurus est ad omne, propter quod uiuitur. Inbecillus est et ignauus, qui propter dolorem moritur, stultus, qui doloris causa uiuit. 37 Sed in longum exeo : est praeterea materia, quae ducere diem possit : et quomodo finem inponere uitae poterit, qui epistulae non potest ? Vale ergo : quod libentius quam mortes meras lecturus es. Vale.

(Ad Lucilium epistulae morales, 58, 35-37)

 

[clxxvi]"Non afferam mihi manus propter dolorem: sic mori vinci est."

 

[clxxvii]"Morbum morte non fugiam,…"

 

[clxxviii]"…, dumtaxat sanabilem nec officientem animo."

 

[clxxix]Meditatio mortis, in Ebeling, S. 210 - 225

 

[clxxx]"Hat er aber gemordet, so muß er sterben." (Metaphysik der Sitten, B 229)

 

[clxxxi]Niederländische Ärzte, welche Euthanasie mit legal garantierter Straflosigkeit praktizieren, haben offen­sichtlich mit Gewissenskonflikten zu kämpfen.

 

[clxxxii]Aufsatz Selbstmord und Selbstmordvorsorge aus ethischer Sicht, in Leist, S. 420

 

[clxxxiii]Übersetzung durch Prof.Dr.med. Axel W. Bauer, Mitglied der Akademie für Ethik und Medizin.

 

[clxxxiv]Wie z.B. Spaemann; Sind alle Menschen Personen, in Stössel, Tüchtig oder tot, S. 146

 

[clxxxv]Kein Recht auf Leben, S. 34

 

[clxxxvi]Ebd. S. 36

 

[clxxxvii]Ebd. S. 38

 

[clxxxviii]Ebd. S. 40

 

[clxxxix]Ebd. S. 41

 

[cxc]Ebd. S. 43

 

[cxci]"Reinhard Merkel, ‘Der Streit um Leben und Tod‘, in: ‘Die Zeit‘, 23. Juni 1989."

 

[cxcii]Kein Recht auf Leben, S. 95

 

[cxciii]Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, A 302

 

[cxciv]Ebd., A 307

 

[cxcv]Ebd., A 314

 

[cxcvi]B 175

 

[cxcvii]Nikomachische Ethik, 1110a, 1 - 1110a, 13

 

[cxcviii]Ebd., 1111a 23, 24

 

[cxcix]Ebd., 1110b, 18 - 1110b, 24

 

[cc]Das Tötungsverbot aus Sicht des klassischen Utilitarismus, in Hegselmann/Merkel, S. 25-50

 

[cci]Aufsatz Ordnung, Pflicht und Tötungsbereitschaft, in Bastian, S. 15 - 21

 

[ccii]Zur Professionalisierung der ‘Sozialen Frage‘, a.a.O., S. 23 - 25

 

[cciii]Menschenwürdig sterben, in Jens/Küng, S. 61

 

[cciv]Siehe H. Begemann, Aufsatz Medizin im Widerspruch, a.a.O., S. 108

 

[ccv]Mehrere, um Diagnosefehler zu vermeiden.

 

[ccvi]Spaemann,  Glück und Wohlwollen, S. 120

 

[ccvii]Erfülltes Leben - würdiges Sterben, S. 43

 

[ccviii]A.a.O., S. 56

 

[ccix]The Psychology of Death, S. 46

 

[ccx]Ebd., S. 1 - 47

 

[ccxi]Aufsatz Euthanasia and Physician Assisted Suicide in the Netherlands, in Kampits, S. 168

 

[ccxii]Jens/Küng, S. 71f

 

[ccxiii]A.a.O., S. 73f

 

[ccxiv]d.h. dem Leiden seinen Lauf zu lassen

 

[ccxv]Im Sinne einer formallogischen Konjunktion: a Ù b Ù g

 

[ccxvi]Voraussetzung ist allerdings, daß der Entschluß auf eine vernunftbedingte Entscheidung und nicht auf Ver­zweif­lung zurückzuführen ist.

 

[ccxvii]Meditatio mortis, in Ebeling, S. 215

 

[ccxviii]Beide hatten für den Fall, daß seine Frau von der Gestapo interniert werden würde, eine Kapsel Zyankali auf dem Nachtisch. Dieser Fall trat nicht ein, weil das Dritte Reich eine Woche vor dem Abholtermin zusammen­brach.

 

[ccxix]Ariès, S. 726

 

[ccxx]Meditation XXVII, de la mort, Physiologie du gout

 

[ccxxi]Kein Recht auf Leben, S. 26

 

[ccxxii]Ebd., S. 39

 

[ccxxiii]B 179

 

[ccxxiv]B 200f

 

[ccxxv]B 201

 

[ccxxvi]B 84

 

[ccxxvii]Aufsatz Vom Wunschtraum zum Trauma?, in Stössel, S. 24 - 28

 

[ccxxviii]Es gibt keine rationale Begründungsmöglichkeit, Leid als teleologischen Zweck menschlichen Lebens anzu­sehen. Eine solche Betrachtungsweise läßt sich auch nicht aus theologischer Sicht vertreten. Für Johannes Brantschen sind die herrlichsten Menschen, die er kennt, diejenigen, welche durch tiefe Leiden hindurchgegan­gen sind, weil sie wahre Weisheit und weise Menschlichkeit besäßen. Trotzdem ist für ihn Leiden nicht "an sich" und automatisch etwas Gutes. Er überliefert die letzten Worte des französichen Kardinals Veuillot, Erzbischof von Paris, nach 3 Monaten Agonie im Jahre 1968 an seinen Freund, Bischof Lallier: "Wir Priester verstehen es meisterhaft, schöne Sätze übers Leiden zu machen. Auch ich habe übers Leiden in ergreifenden Worten gepre­digt. Sagen Sie den Priestern, sie sollen lieber schweigen, wir wissen nämlich nicht, was leiden heißt…"

(Aufsatz Leiden, in Stössel, S. 156 - 168)

 

[ccxxix]B 346

 

[ccxxx]Kein Recht auf Leben, S. 66

 

[ccxxxi]In Hegselmann/Merkel, S. 270f

 

[ccxxxii]Fengler, Ordnung, Pflicht und Tötungsbereitschaft, in Bastian, S. 20

 

[ccxxxiii]Zur Professionalisierung der ‘Sozialen Frage’, in Bastian, S. 29

 

[ccxxxiv]In Stössel, S. 56f

 

[ccxxxv]Ebd., S. 154f

 

[ccxxxvi]Bastian, Nachwort, S. 117; Dörner/Daub in Daub/Wunder, S. 40; Rost in Bastian, S. 51; Dörner in Bastian, S. 533f, etc.

 

[ccxxxvii]B 214

 

[ccxxxviii]B 342

 

[ccxxxix]B 22

 

[ccxl]Spaemann; in Stössel, S. 137

 

[ccxli]Löw; in Bastian, S. 89

 

[ccxlii]Löw; a.a.O.

 

[ccxliii]Rita Süssmuth; in Daub/Wunder, S. 17

 

[ccxliv]Rita Süssmuth; ebd. S. 20

 

[ccxlv]Dörner und Daub; in Wunder/Daub, S. 38

 

[ccxlvi]Detlef B. Linke und Martin Kurthen; in Hoff/in der Schmitten, S. 255

 

[ccxlvii]In Leist, S. 266

 

[ccxlviii]Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52

 

[ccxlix]A.a.O.

 

[ccl]Ebd., BA 66f

 

[ccli]Ebd., BA 66

 

[cclii]Ebd., BA 65

 

[ccliii]Ebd., BA 64

 

[ccliv]Logik, A 23

 

[cclv]Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Von der Kriecherei, A 94

 

[cclvi]A.a.O. Singer differenziert zwischen Empfindungsfähigkeit und Selbstbewußtsein.

 

[cclvii]Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,  BA 77

 

[cclviii]A.a.O.; kursiv durch R.H.

 

[cclix]Ebd., BA 78

 

[cclx]"…, weil moralische Gesetze für jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen,…" Ebd., BA 35

 

[cclxi]Wittkowski, S. 79

 

[cclxii]Ebd., S. 120ff

 

[cclxiii]A.a.O., S. 160f

 

[cclxiv]Leidzuweisung - Enteignung des Selbstseins, in Stössel, S. 170

 

[cclxv]Ebd., S. 173

 

[cclxvi]A.a.O.

 

[cclxvii]Ebd., S. 171

 

[cclxviii]Améry, S. 54

 

[cclxix]B 213

 

[cclxx]De ira, liber I.XV.2

 

[cclxxi]B 215

 

[cclxxii]B 217

 

[cclxxiii]Die Geschichte der Lebens(un)wert-Diskussion, Bruch oder Kontinuität?, in Daub/Wunder, S. 51 - 61

 

[cclxxiv]Section 3.12f

 

[cclxxv]Part 1.9(2), 4.18, 19

 

[cclxxvi]"Wer nicht schweigt, kommt ins KZ oder wird erschossen." - Zitat eines verantwortlichen Offiziers nach der Aussage eines Leichenverbrenners der Anstalt Hartheim; in Klee, Dokumente zur »Euthanasie«, S. 125

 

[cclxxvii]Bis zu 80%

 

[cclxxviii]Der nordaustralische Terminally Ill Act als erstes Euthanasie-Gesetz der Welt war vom 1.7.1996 bis 27.3.1997 in Kraft.

 

[cclxxix]Angaben nach Gerrit K. Kimsma, in Kampits, S. 161

 

[cclxxx]Mark Richartz, Euthanasie und Menschenrechte, in Daub/Wunder, S. 106

 

[cclxxxi]Ebd. S. 100

 

[cclxxxii]So bei Wunder, in Stössel, S. 100; Hagen Kühn, ebd. S. 129; Stössel, ebd. S. 17;

 

[cclxxxiii]In Daub/Wunder, S. 58

 

[cclxxxiv]Unbeschadet der moralischen Fragwürdigkeit ist die Ausgrenzung behinderter Menschen wegen ihrer Behin­derung m.E. schon aus sozialhygienischen Gründen abzulehnen: Die Art und Weise wie eine Gesellschaft mit ihren Schwachen und Kranken umgeht, ist ein Symptom für den Gemeinschaftssinn und damit ein Symptom für die geistige Gesundheit dieser Gesellschaftsform. Das Aussondern der Schwachen und Kranken dürfte die Indikation für eine schwache Gesellschaftsform ohne Bestand sein, da sie das Kränkliche und Schwäch­liche nicht ertragen kann und deshalb gezwungen ist, dieses Faktum zu negieren bzw. zu korrigieren.

 

[cclxxxv]Wenn z.B. nach einem atomaren Holocaust 5% verbliebenen Gesunde 95% Kranke gegenüberstünden.

 

[cclxxxvi]Ethik und Behinderung, S. 119f

 

[cclxxxvii]Anstötz bringt dieses Fallbeispiel, um aufzuzeigen, daß Entscheidungen, was für ein geschädigtes Neu­geborenes das Beste ist, nicht immer möglich sind und in welchem Ausmaß ethische Ent­scheidungen von wissenschaftlicher Erkenntnis und Entwicklung abhängig sind.

 

[cclxxxviii]In Daub/Wunder, S. 33

 

[cclxxxix]B 183

 

[ccxc]B 180

 

[ccxci]B 346, Appendix

 

[ccxcii]B 84

 

[ccxciii]Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 9

 

[ccxciv]Ebd., BA 11f

 

[ccxcv]B 203f

 

[ccxcvi]Zugrundegelegt wurde Sein und Zeit

 

[ccxcvii]Ebd. S. 250f

 

[ccxcviii]Ebd. S. 258f

 

[ccxcix]Anmerkung aus Heideggers Handexemplar: nicht Angst als bloße Emotion

 

[ccc]S. 266

 

[ccci]S. 310

 

[cccii]Aufsatz Mein Tod, in Ebeling, Der Tod in der Moderne, S. 83

 

[ccciii]Jargon der Eigentlichkeit, S. 111f

 

[ccciv]Sein und Zeit, S. 324

 

[cccv]Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ergäbe sich, das "Verfehlen der eigenen Existenz" als Form des Todes aus­zulegen.

 

[cccvi]Sein und Zeit, S. 261

 

[cccvii]Ebd. S. 42

 

[cccviii]Ebd. S. 325

 

[cccix]Has Life a Mea­ning? B 331 - 335

 

[cccx]Eine Studie Kastenbaums, in welcher Personifizierungsmodelle des Todes untersucht wurden, ergab vier Typen von Personifizierungen:

         1. Der Tod als der Makabre - eine kraftvolle, überwindende und abstoßende Figur.

         2. Der Tod als der sanfte Tröster - ein trostvolles, willkommenes Ereignis, oft in Person eines alten Man­nes mit weißem Haar und langem Bart dargestellt.

         3. Der Tod als fröhlicher Betrüger - eine attraktive, sinnliche Person beiderlei Geschlechts.

         4. Der Tod als Automat - ein seelenloser, gefühlloser Automat mit menschlichem Aussehen, aber ohne mensch­liche Qualitäten.

 

[cccxi]S. 99

 

[cccxii]III. Kapitel, 1. Abschnitt, § 5

 

[cccxiii] D.h. beschränkt nicht nur in den sich anbie­ten­den Verwirklichungsmöglichkeiten, sondern auch beschränkt in seinem zeitlichen Sein.

 

[cccxiv]So z.B. von Adorno, Jargon der Eigentlichkeit

 

[cccxv]Die Aussage der Großtante Brillat-Savarins verweist auch bei gesunden, alten Menschen auf dieses Be­dürfnis.

 

[cccxvi]III. Kapitel, 1. Abschnitt, § 3

 

[cccxvii]III. Kapitel., 1. Abschnitt, § 3b

 

[cccxviii]Dies kann aus dem Faktum geschlossen werden, daß bei der nordaustralischen Gesetzgebung Menschen ver­suchten, um jeden Preis legal zu sterben und nicht Suizid begingen.

 

[cccxix]Man könnte die Position vertreten, daß das einzelne Mitglied einer Gemeinschaft ausschließlich für die Zwecke des Kollektivs existiert!

 

[cccxx]Zu bedenken ist in diesem Kontext der weltweite demographische Überalterungsprozeß in den Industrie­län­dern. Man kann nicht apriori ausschließen, daß die Regierenden die Probleme der Überalterung dadurch zu be­wäl­tigen versuchen, daß man legalisierte Euthanasie als Mittel zur Bevölkerungsregulierung verwendet.

 

[cccxxi]III. Kapitel, 2. Abschnitt, § 2

 

[cccxxii]Heidegger spricht von einem Mut zur Angst vor dem Tod!

 

[cccxxiii]S. Maurice Pinguet, S. 10