Meister ist nicht, wer eine hörige Gefolgschaft sucht.

Ein wahrer Meister sucht Schüler, um Meister zu gebären.

 

 

 

 

 

 

Meditationsphilosophie

als

akademische Disziplin

 

Thesen über die Möglichkeit der Introduktion

von Meditation in die Philosophie und den philosophischen Wissenschaftsbetrieb

 

Zweiter Zwischenbericht eines philosophischen Forschungsprojektes

 

von

Robert Hammer

© 2007

 

 

 

 

Der Verfasser erlernte im Jahr 1969 das Autogene Training nach Schultz, welches er ca. 20 Jahre lang praktizierte.

Seit dem Jahr 1987 beschäftigt er sich mit Meditationstechniken, welche aus der chinesischen Kampfkunsttradition stammen und vermutlich auf den Chan-Buddhismus und den Taoismus zurückgehen.

Schon die ersten Versuche mit Meditation führten zur Idee, Philosophie und Meditation zu verbinden, da darin nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein existentielles Entwicklungspotential zu erkennen war. In der Folge führten die positiven Erfahrungen der Synthese von Philosophie und Meditation - folgend „Meditationsphilosophie“ genannt - zu dem Entschluß, diese Kenntnisse an Schüler weiter­zugeben und seit dem Jahr 2000 betreut er im Rahmen eines  philosophischen For­schungs­projektes Schüler.

Die erste Schülergeneration umfaßte 6 Schüler, die zweite (seit 2006) ist noch im Aufbau begriffen und umfaßt dzt. 2 Schüler.

Ein Schüler der ersten Generation hat sich vom Projekt gelöst und mit dem Meditieren aufgehört.

Außerhalb des Projekts betreut der Verfasser einen Schüler, welcher einen Kampfkunstweg beschreitet.

Zwei Kampfkunstschüler haben sich gelöst und gehen eigene Wege. Der eine hat das Kampfkunsttraining aufgegeben und sich für den Zen-Weg entschieden, der zweite trainiert Tai-Chi und hat sich damit (auch meditativ) für den taoistischen Weg entschieden. Zu beiden Schülern besteht ein freundschaftlicher Kontakt.

 

Gegenstand des Projektes:

Untersucht wird, welche Auswirkungen Meditation  auf das philosophische Denken hat und welche existentiellen Konsekutivwirkungen entstehen.

Zugrunde liegt nicht eine naturwissenschaftliche Forschungsmethodik, wie experimentelle Versuchsschemata oder begrenzte Untersuchungszeiten, sondern dem holistischen Ansatz philosophischer Denkweisen entsprechend bildet die Existenz den Horizont des Entwurfs, m.a.W.: es gibt keine zeitliche Limitierung oder existentielle bzw. thematische Eingrenzung.

 

Ablauf des Projekts:

Die Meditationstechniken werden immer getrennt im individuell auf den jeweiligen Schüler abgestimmten Einzelunterricht vermittelt.

Gemeinsame Meditationen finden erst nach einigen Jahren Meditationspraxis der Schüler statt.

Einmal pro Semester findet ein „klassisches“ philosophisches Blockseminar statt, methodisch den philosophischen Seminaren im universitären Lehrbetrieb entsprechend. Es gibt keine Präferenz bestimmter philosophischer Richtungen oder bestimmter Philosophen, wenn auch der westlichen Philosophie eine gewisse Priorität eingeräumt wird.

Die Festlegung der Themen wird vom jeweilig aktuellen Interesse der Teilnehmer geleitet.

 

Ausgangspunkt bildet die These, daß bei einer getrennten Praxis von Philosophie und Meditation eine Form von unbewußter Synthese mit Synergieeffekten stattfindet.

 

Basis des Projekts:

Die Rückbesinnung auf die Wurzeln unserer philosophischen Tradition, in der die PHILIA die Basis des Umgangs zwischen philosophischem Lehrer und seinen Schülern bildete, hat sich auch bei einer meditationsphilosophischen Lehr-/Lerntätigkeit als ideale Basis erwiesen.

 

 

 

Exposition:

Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Forschung, welche durch Quantifizieren, Messen und Experimentieren ihre Theorien und Thesen überprüfen kann, ist der philosophisch forschende Geist auf das rationale Denken  angewiesen - ohne „objektive“ Verifizierungs- bzw. Falsifizierungskriterien.

Wenn sich der philosophische Geist der Meditation zuwendet, begibt er sich sogar seiner intellektuellen Ressourcen, da Rationalität in der Meditation versagt. Sprache, das Medium der Philosophie, wird eine lästige Bürde; das kritische Hinterfragen ein unnötiger Ballast, da dem meditativen Akt eine andere Erkenntnisdynamik zugrunde liegt. Fast könnte man von einer Verkehrung der erkenntnistheoretischen Wertigkeit sprechen.  In der Philosophie wird versucht, durch rationales Denken das Sein zu erkennen, in der Meditation jedoch wird das „Nicht-Denken“[1] angestrebt, um Erkenntnis zu erlangen.

Kurioserweise erweist sich das Aufsuchen der „Leere“ im meditativen Akt als erkenntnisreiche Fülle im außermeditativen Zustand, d.h. im Lebens­kontext, weshalb die Beschäftigung eines Philosophen westlicher Provenienz mit östlicher Meditation gar nicht so außerhalb seines „Geschäftes“ liegt, wie allgemein angenommen wird.

 

Es kann davon ausgegangen werden, daß die Auseinandersetzung der Naturwissenschaften mit Meditation inadäquat ist, weil quanti­fizierende Untersuchungsmethoden nicht geeignet sind, das Wesen von Meditation zu erfassen. Das Messen von somatischen Vorgängen oder neuronalen Prozessen beim Meditieren kann nur Hinweise liefern, daß im meditativen Akt etwas passiert, das Was bleibt aber verborgen. Das Positive an den naturwissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen, insbesonders der neurowissenschaftlichen, liegt aber  darin, daß sie aufgrund der nachgewiesenen physischen Reaktionen  den  objektiven Nachweis erbringen, daß Meditation nicht das  psychopathologische Hirngespinst  einiger realitätsfremder Phantasten  oder unbelehrbarer Metaphysiker ist.

 

 

 

 

 

 

Nachfolgende Thesen mögen aus philosophischer Sicht als Postulate einer erfolgreichen meditationsphilosophischen Praxis gelten:

 

These Nr. 1:         Nicht die meditative Technik, sondern der praktizierende Geist  ist entscheidend.

 

Argument:       In den östlichen Traditionen war die Essenz der meditativen Praktiken eine metaphysische Orientierung. Man meditierte, um eine Vereinigung mit dem Göttlichen zu erlangen. So strebten die Inder nach einer Vereinigung mit dem Brahman, die Chinesen beschritten das Tao, um zum Taiji, dem allerhöchsten Prinzip, zu gelangen. Die Buddhisten suchten Erleuchtung, um dem Rad der Wiedergeburt, der Reinkarnation, zu entfliehen. Die Vertreter dieser Traditionen verfolgen diese Ziele auch noch in unserer Zeit.

Für einen Angehörigen der westlichen Kultur wäre m.E. eine solche Zielsetzung verfehlt, weil er dadurch seine kulturelle Identität aufgeben und damit sich selbst entfremdet würde.

 

Hypothese: Philosophie als geistige Tradition des Westens kann die östlichen Zielsetzungen vollwertig ersetzen. Aufgrund der philosophischen Entwicklungsfähigkeit ist die verwendete meditative Technik von sekundärer Bedeutung.

 

These Nr. 2:         Philosophie hat beim Meditieren eine seelenhygienische Funktion.

 

Argument:       Meditation kann zu einem Verlust  bzw. einer Veränderung des Realitätsbewußtseins - nicht nur im meditativen Akt, sondern als Folge von Meditation auch im „normalen“ Leben führen. Im meditativen Akt werden die unbewußten Sphären der eigenen Seele zugänglich bzw. kommen unbewußte, seelische Inhalte „an die Oberfläche“. Diese Inhalte sind oft sehr irrational. Jemand, der beim Erlernen des Meditierens nicht gelernt hat, diese Irrationalität zu kontrollieren, kann durchaus „metaphysische“ bzw. „mystische“ Weltein­stellungen  entwickeln. Solche Folgen sind aber in der Regel eher als Fehler beim Erlernen der Technik zu bewerten oder auf eine verfehlte Weltorientierung zurück­zuführen.

 

Die philosophische Reflexion (m.a.W.: die Auseinandersetzung mit philo­sophischen Texten bzw. der philosophische Diskurs) scheint in diesem Kontext zu stabilisieren. Die Besinnung auf die eigene (originär europäische[2]) philosophische Tradition ermöglicht durch die ihr immanente Neuorientierung von Welt eine andere meditative Ordnung. Der apodiktische Anspruch der östlichen Traditionen mit einer metaphysisch-transzendenten Orientierung als  Conditio sine qua non von Meditation verliert seine Gültigkeit . Welt wird eine „neue Ordnung von Sein“. Es obliegt dem Meditanten[3] dieser Welt seine Ordnung zu geben.

 

These Nr. 3:         Philosophie hat eine neue Aufgabe - eine meditationsphilosophische Weltorien­tierung zu entwickeln.

Argument:       Es kann davon ausgegangen werden, daß durch die (westliche) Philosophie das Wichtigste der alten, meditativen Traditionen -  das religiös spirituelle Element - vollwertig ersetzt werden kann.

Der philosophische Geist hat vor zweieinhalb Jahrtausenden den Mythos durch das wissenschaft­liche Denken ersetzt, er sollte eigentlich auch heute noch in der Lage sein, schöpferisch tätig zu werden und die heute sich noch im Mythos befindliche Meditation in geistiger Hinsicht weiterzuentwickeln.

 

Anmerkung: Vor dem Hintergrund einer mehrtausendjährigen Kulturentwicklung  und einem halben Jahrtausend neuzeitlicher Naturwissenschaft besteht im 21. Jahrhundert aufgrund eines prosperierenden Informationszeitalters für uns die Möglichkeit, den „Geist“ von Meditation nach neuen Kriterien zu erforschen.

 

These Nr. 4:         Meditationsphilosophie ist ein Potential.

 

Argument:       Ob durch Meditation ein neues Denken entstehen wird, mag dahin gestellt bleiben. Wahrscheinlich ist die persönliche Begabung für philosophische Kreativität von primärer Bedeutung, während Meditation eher nur ein auslösender oder fördernder Faktor sein kann.

 

Was sich aber erwarten läßt: eine neue Qualität des Philosophierens, was auf die durch Meditation initiierten mentalen Prozesse zurückzuführen ist. Meditieren heißt, bewußt werden[4]. Wohin dies führen mag, kann derzeit noch niemand sagen. Es könnte ein Jahrhunderte dauernder Prozeß werden[5] bis sich das Potential von Meditations­philosophie zeigt. Man soll nicht vergessen, daß die östlichen Traditionen auf eine Geschichte von einigen Jahrtausenden zurückblicken. Es darf nicht erwartet werden, daß die Geburt von Meditationsphilosophie - also einer westlichen, meditativen Tradition mit philosophischer Geistigkeit als HYPOKEIMENON - leicht und schnell vor sich gehen wird.

 

These Nr. 5:         Meditationsphilosophie zeigt neue Wege auf.

 

Argument:       Erwartet werden darf etwas Neues, weil Philosophie nicht an die Grenzen der mythischen Weltsicht gebunden ist. Die Freiheit des philosophischen Geistes könnte sich hier als äußerst fruchtbar erweisen.

 

These Nr. 6:         Die richtige „Lehre“ von Meditationsphilosophie ist Mäeutik .

 

Argument:       Eine Lehre im üblichen Sinne darf es, wenn das meditationsphilosophisch-existentielle Potential geweckt werden soll, nicht geben, da ein meditationsphilosophischer Lehrer seine Schüler  in ihrem existentielles Werden sehr einschränken würde. Durch eine Lehre würde er Grenzen setzen, die für seine Schüler kaum zu transzendieren wären. 

Meditationsphilosophie kann der Weg zur größtmöglichen, persönlichen Freiheit  sein, aber nur dann, wenn sie nicht durch eine Lehre determiniert, sondern gemäß der Sokratischen Mäeutik vermittelt wird.

In diesem Kontext ist die mäeutische Methode von noch größerer Bedeutung als zur Zeit des Sokrates, da meditative Prozesse tiefer in das Leben eingreifen als rein philosophische und damit die nötige Voraussetzung für eine freie Entwicklung des Lernenden gegeben ist.

 

These Nr. 7:         Meditationsphilosophie kann an Universitäten nur in beschränktem Umfang vermittelt werden.

 

Können unsere Universitäten bei der Vermittlung meditationsphilosophischen Wissens eine Rolle spielen?

 

Aufgrund des existentiellen Entwurfs von Meditationsphilosophie ist der Ansatz der antiken Philosophie, in der die Schüler den Lehrer erst mit seinem Tode verließen, angemessener  als ein universitäres Studium. Die Beschränkung eines Studiums auf einige Jahre läßt nicht die notwendige Beachtung des richtigen „Timings“ für die Vermittlung meditativer Techniken zu. In vier bis sechs Jahren kann eine gewisse rudimentäre Weitergabe meditativen Wissens stattfinden, eine „Synchronisierung“ mit der mentalen Entwicklung der Schüler ist aufgrund des zeitlichen Limits unmöglich.

 

Philosophen, welche sich mit Meditations­philosophie beschäftigen, müssen sich bewußt sein, daß sie dieses Wissen mit einigen Jahrzehnten persönlichen Praktizierens erwerben und erst dann weitergeben können: Sie müssen sich auf die antiken Wurzeln unserer eigenen, philosophischen Tradition besinnen.

 

Zum dzt. Zeitpunkt  wäre es wünschenswert, daß im philosophischen Universitätsbetrieb meditatives Wissen propädeutisch in Seminaren einer philosophischen Kritik und Analyse unterzogen wird. Dies wäre im Rahmen des philosophischen Wissenschaftsbetriebs leistbar und durch die Sensibilisierung für unsere eigene, antike Tradition mag sich der eine oder andere Absolvent in Zukunft dafür entscheiden,  meditationsphilosophischer Mäeutiker zu werden.

 

 

Zu erwarten sind von der Meditationsphilosophie neue Impulse, sowohl für die Philosophie als auch für die Meditation.

 

 

 

Bezüglich einer Kritik des traditionellen Meditationsverständnisses und der empirischen Meditationsforschung verweise ich auf das Kapitel »MEDITATIONSPHILOSOPHIE« meines Buches Philosophie des Kampfes; Veröffentlichung der latinisierten Endfassung in drei Teilen am Marburger Forum (http://www.philosophia-online.de/).

Die Urfassung kann von der Internetadresse http://sammelpunkt.philo.at:8080/ heruntergeladen werden. Bei dieser Version muß der Computer technisch für das Erkennen von altgriechischen und chinesischen Schriftzeichen ausgestattet sein.



[1] »Nicht-Denken« als simplifizierende sprachliche  Kennzeichnung der im meditativen Sprachgebrauch verwendeten »Leere«.

[2] Heute würde man dem Zeitgeist entsprechend eher „westliche“ sagen.

[3] »Meditant« als sprachliche Kennzeichnung für Menschen, welche sich einer meditativen Praxis widmen.

 

[4] In den meditativen Traditionen spielt das „Erwachen“ eine große Rolle.

[5] Ich hoffe, daß diese Zeilen den Leser nicht erschrecken und von einer Beschäftigung mit Meditationsphilosophie abhalten; man mag dies als heuristische Prognose verstehen.