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Geschichte der Philosophiehistorie

(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)

Philosophiehistorie in Österreich ca 1750 - ca 1830

Themen: Aufnahmen;  Wolffianismus; Kantianismus
 

Autoren: Baumeister;  Karpe; Bendavid;  Klaus; Gmeiner;  Wenzel;
 

Auszugehen ist bei der Untersuchung der Frage nach der Eigenart philosophischer Tradition im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in Österreich, und insbesondere bei deren historiographischer Tätigkeit, von der Vermutung, daß in den damals habsburgischen Gebieten eine stärkere philosophische Produktion auch in diesem Zeitraum vorliegt, als das generelle Schweigen der Literatur darüber vermuten läßt. Inwiefern diese Vermutung berechtigt war, wird sich zeigen, es werden auch Gründe sichtbar zu machen sein, warum das diesbezügliche Schweigen so generell ist. Die Schweigsamkeit betrifft dabei sowohl Darstellungen der Philosophiegeschichte im allgemeinen, wobei Österreich im fraglichen Zeitraum kaum je genannt, geschweige denn einer Beschreibung gewürdigt wird. Sie betrifft aber auch Untersuchungen über die Kultur- und Geistesgeschichte Österreichs seit der Barockzeit, wobei wiederum das philosophische Leben (vor Bolzano, der hier einen intuitiven Nullpunkt markiert) selten genug und wenn, dann nur als sehr periphere Erscheinung erwähnt wird.[1]

Den Ausdruck Peripherie verwende ich hier in dem Sinn, wie er in der Beschreibung der Geschichte der Weltwirtschaft vor allem von Braudel und Wallerstein eingeführt wurde, und wie ihn Galtung auch zur Beschreibung intellektueller Stile in der gegenwärtigen Wissenschaftsproduktion der Sozialwissenschaften anwendet.[2] Wallerstein folgend, könnte man die Peripherie auch noch von der Außenarena unterscheiden, und dies sollte bei der Darstellung globaler philosophiehistorischer Zusammenhänge auch geschehen. Da es jedoch hier nur um ein innereuropäisches Thema zu tun ist, das Verhältnis des Philosophierens in Österreich zu anderen geistigen Traditionen Europas, kann diese Unterscheidung außer acht gelassen werden.

Meine bisherige Lektüre scheint mir das Urteil, im Fall der österreichischen Philosophie vor 1850 und deren Geschichtsschreibung handle es sich um Erscheinungsformen einer intellektuellen Peripherie, durchaus zu bestätigen. Es handelt sich dabei sogar um ein peripheres Phänomen in doppelter Hinsicht.

Es scheint zunächst, daß eine derartige Sachlage kein großes Interesse an der Rekonstruktion von Geschichte motivieren könne. Die Geschichte wird, nach einem alten Wort, stets von den Siegern geschrieben, und das gilt wohl auch für die Philosophiegeschichte. Tatsächlich kann uns heute auch nicht mehr das patriotische Interesse leiten, das zu den ersten österreichischen, böhmischen und siebenbürgischen Gelehrten- und Wissenschaftsgeschichten im 18. Jahrhundert geführt hat, und das auch in den Darstellungen des 19. Jahrhunderts vorherrschend geblieben ist. Auch der Tenor der Debatte des frühen 20. Jahrhunderts, nämlich herauszustellen, daß das philosophische Denken in Österreich, insbesondere in Wien, um 1800 doch so peripher nicht gewesen sei, daß man vielmehr auch wackere Selbstdenker und tiefschürfende Kantianer hatte, leitet mich nicht.

Ich denke vielmehr, gerade die Untersuchung peripherer Entwicklungen in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte vermag Bedingungen der Produktion, des Austauschs und der Verwertung, insbesondere auch der Behinderung von Entwicklung klarzumachen, die zwar auf jeder Ebene der Wissenschaftsentwicklung gegeben sind, die jedoch in den jeweiligen Zentren gewöhnlich von der isoliert betrachteten Problem- und Theoriengeschichte verdeckt sind. Solche Bedingungen sollen daher in der folgenden Skizze deutlich werden.

Die frühe Geschichtsschreibung über den fraglichen Zeitraum in der Entwicklung Österreichs, bzw. über die österreichische Philosophie muß dabei selbst einer kritischen Durchsicht unterzogen werden. Insbesondere sind jene Topoi klarzumachen, die auf ein Bewußtsein von verspäteter oder peripherer Existenz schließen lassen. Ich möchte bei der diesbezüglichen Skizze von den Wissenschaftshistorikern der damaligen Gegenwart ausgehen und einige Stationen dieses Beschreibens durch Zeitgenossen jener Epoche in Österreich markieren, als die Philosophie in diesem Land noch keineswegs erkennen ließ, daß etwas davon einmal auf internationales Interesse stoßen würde. Die Entwicklungen im Habsburgerstaat haben ja, wie etwa Kann dies sehr klar ausgedrückt hat, in unseren Jahrzehnten ein sehr deutliches, aber eindeutig obliques Interesse erweckt: als mögliche Muster im positiven wie im negativen Sinn, wie ein multinationales politisches Gebilde entwickelt werden könne.[4] Daß der Philosophie hierbei eine Bedeutung zukäme, die mit der Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte Österreichs vergleichbar wäre, möchte ich keineswegs behaupten. Sie jedoch gar nicht in den Untersuchungsbereich einzubeziehen, wenn von der Entwicklung und den inneren Gegensätzen des Habsburgerstaates die Rede ist, scheint mir gleicherweise unangemessen. Gerade die Gegenwart kennt, außerhalb wie innerhalb Europas eine Reihe von intellektuellen Peripherien, für welche die Kenntnis dieser ehemals innereuropäischen Peripherie von Interesse sein kann.

Den Beginn der Wissenschaftsgeschichtsschreibung in Österreich kennzeichnet ein patriotisch-heroisches Wir auch| Constantin Florian von Khauz (auch: Kauz) schreibt 1755 in seinem Versuch einer Geschichte der österreichischen Gelehrten:

In folgendem Zeitraume (d.h. nach 1630, F.W.) kann man nicht läugnen, daß Gelahrtheit und Wissenschaften in hiesigen Landen etwas seltsam und dünn geworden. Aber, was machete es? Einige Unerfahrene werden hier etwa die Schuld auf die Nachläßigkeit der nachkommenden Kaiser schieben wollen. Allein, diese betrügen sich sehr. Denn es ist dem allerdurchlauchtigsten Hause Oesterreich eigen, allezeit solche Kaiser hervorzubringen, die nicht nur im Regieren, sondern auch in Beschützung und Beförderung guter Künste vortrefflich, das heißt, Kaiser von beyden Seiten (ex utroque) sind. Die Ursache ist daher in dem Schicksale, in der Verwirrung, in der kriegerischen Unruhe nachgefolgter Zeiten zu suchen, bey welchen die guten Künste nicht wohl haben bestehen können, und gelehrte Leute in ihrem Fleiße merklich sind gehindert worden.[5]
In der Tat: einer dieser Unerfahrenen ist der bayrische Bibliothekar Gumposch, der 100 Jahre nach diesem Urteil des Hofrats Khauz immer noch Grund zur Feststellung zu haben glaubt, den Verantwortlichen für die Wissenschaftspolitik in Österreich im 18. Jahrhundert sei es nicht ernstlich um Qualität zu tun gewesen:
Man würde sich ... täuschen, wenn man eine Hochschätzung der wirklichen, speculativen Tiefe an Modernen vermuthete. Nicht Leibnitz, nicht Lessing wird mit Ernst angeworben, sondern Fr. Just Riedel...[6]
Franz Martin Pelzel, der Chronist der böhmischen und mährischen Gelehrten, beklagt 1773 den Zustand der philosophischen Studien an der alten Prager Hochschule (auch F. Prochaska sieht diese Situation noch 1782 sehr negativ), aber diese Zustände seien nun gottlob doch überwunden. Und Pelzel findet doch auch unter den Älteren solche Autoren, die
ihre Logischen, Physischen und Ethischen Vorlesungen mehr zur Aufklärung des Verstandes, und zum Gebrauch im menschlichen Leben, als zu Auskramung einer eiteln und unnützen Gelehrsamkeit eingerichtet haben. ... Alle diese aber übertraf unser Marcus Marci, dessen philosophische Erfindungen, und durchdringender Scharfsinn den Entdeckungen der neueren und ältern Philosophen vielleicht gleich kömmt. Mehrere behaupten so gar, Cartesius sey durch unsers Marcus Schriften und Beobachtungen veranlasset worden, sein System zu erbauen, und habe zu dessen Ausführung nicht wenig daraus entlehnt, welches man bey einer sorgfältigen Vergleichung der Werke dieser beyden gelehrten Männer leicht wahrnehmen kann.[7]
Dies nun ist gewiß ein Topos der Geschichtsschreibung peripherer Wissenschaftsentwicklungen: daß sie den größten Namen des Zentrums ihre eigenen Namen gegenüberstellen können, ja sogar, daß die Weltberühmten von den Vergessenen entlehnt haben, daß die Denker der Peripherie also zu Unrecht vergessen sind.

Aufnahmen

Philosophisches Denken ist von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten nicht ausgenommen, denen menschliches Produzieren und die Verbreitung und Verwertung von Produkten unterliegt. Es geht durch die Anwendung von differenzierten Denk- und Kommunikationsfähigkeiten vor sich, bedient sich der jeweils in einer Kultur gegebenen Medien der Begriffsbildung und -verwendung, um Verbreitung zu erlangen, es wird in jeweils hochgeschätzten Sprachformen entwickelt und vermittelt, und es hat zugleich ausschließende und gruppenbildende Funktionen. All dies ist kulturgeschichtlich jeweils in seiner Form und weitgehend auch in seinem Inhalt nach bestimmt durch die Eigenart der Organisation einer Gesellschaft oder gesellschaftlicher Klassen in einer bestimmten Zeit, die hinsichtlich ihres Selbst- und Weltverständnisses in bestimmtem Verhältnis zu anderen Gesellschaften stehen, und zwar sowohl zu früheren, als auch zu gleichzeitigen.

Die relative Kompetenz ist dabei stets ungleich verteilt: es gibt Zentren, Epizentren und Peripherien. Es gibt solche Peripherien, die sich nach nur einem Zentrum orientieren und solche, die von mehreren Zentren her bestimmt sind. Es gibt schließlich auch das, was Wirtschaftshistoriker eine Außenarena nennen: den "anderen Kulturraum" - und dieser spielt für das Selbstverständnis von Philosophen und von Philosophiehistorikern keine unbedeutende Rolle. All das wird in zunehmendem Maße dann interessant, wenn, wie in der europäischen Neuzeit, viel Wissen um die "anderen" (innerhalb wie außerhalb Europas) vorhanden und verfügbar ist und wo, wie etwa im Fall der österreichischen Geistesgeschichte, starke Ausschließungserscheinungen auftreten. Eine eigentümliche Situation hat in solchen Fällen also der Historiker der Philosophie vor sich: er befaßt sich mit einer auf wissenschaftlichem oder auch nur auf philosophischem Gebiet als peripher einzustufenden geistigen Entwicklung, wobei diese Peripherie auch noch ein Zentrum für andere Peripherien darstellen kann (und dies in unserem Fall auch tut), woraus sich interessante und zugleich schwer zu beschreibende Interferenzen ergeben. Im gegenständlichen Fall ist eine der Konsequenzen wohl, daß sich die formalen Gesichtspunkte und Methoden in auffallend starkem Maß entwickeln, was für die Erklärung späterer Erscheinungen auf dem Gebiet der Philosophie in Österreich aufschlußreich ist.

Schon im letzten Jahrzehnt der Regierung Theresens wurde in den österreichischen Schulen eine geläuterte Philosophie gelehrt. Scherffer, Mako, Horvath, Storchenau, Biwald haben ihre Schüler sowohl durch ihre Schriften, als auch den mündlichen Unterricht mit der leibnitzischen, wolfischen, newtonianischen und boskovichischen Philosophie ziemlich bekannt gemacht.[8]
So wiederholt der bayrische Chronist Philipp Gumposch um 1850 den ersten Geschichtsschreiber der Philosophie in deutscher Sprache, den Österreich aufzuweisen hat, den Grazer Professor (am k.k. Lyzeum, denn die dortige Universität war wie andere Universitäten alten Typs unter Josef II. aufgehoben worden) für Kirchengeschichte, Franz Xaver Gmeiner.

 Gmeiner hatte 1788/89 eine zweibändige, umfangreiche Litterargeschichte des Ursprungs und des Fortgangs der Philosophie vorgelegt. Gmeiner selbst weist auf die einflußreiche Stellung des Hofrats Martini hin, dessen Lehrkanzel an der juridischen Fakultät zwar ein aufgeklärtes Naturrecht repräsentierte, aber eben nicht der philosophischen Schule eingegliedert war, und so blieb nach Gmeiner

in den österreichischen philosophischen Schulen die Sittenlehre bis in das Jahr 1773, das ist, bis zur Aufhebung der Jesuiten, in ihrer vorigen wilden Gestalt; als aber im Jahre 1774 die Jesuiten von den Lehrkanzeln der praktischen Philosophie entfernt wurden, ist von der Hofstudienkommission befohlen worden, daß der Lehrer der Logik und Metaphysik zugleich die Moralphilosophie nach dem Lehrbuche des Frid. Christian Baumeister, das ist, nach dem wolfischen Sisteme lehren solle.[9]
Nach Gmeiners Geschmack scheint diese Reform doch noch nicht ganz gewesen zu sein, denn es
spukte damal noch in vielen Klöstern der Schatten eines Skotus, Thomas und andrer mönchischer Philosophen, die die Klosterlektoren als Götzen verehrten, herum; allein seit der große Joseph alle Klosterschulen vernichtet hat, sind mit denselben auch diese Gespenster verschwunden.[10]
Weder in Gumposchs Referat, noch im Text Gmeiners finden wir den Topos bei der Besprechung der maria-theresianischen Studienreform, der bei den Chronisten der Metropole, bei den Autoren der National-Encyklopädie ebenso wie bei dem gelehrten Wurzbach hierzu stereotyp vorkommt: der verantwortliche Hofbeamte, er wäre heute wohl Wissenschaftsminister, Hofrat Martini habe "die philosophischen Lehrkanzeln" nach der Aufhebung des Jesuitenordens "mit weltlichen und vornehmlich solchen Candidaten zu besetzen" gesucht, "welche die Rechte gehört hatten."[11] Ein solcher "Candidat" war Franz Samuel Karpe, 1747 zu Laibach geboren, der von Martini im Oktober 1774 zum Professor der Philosophie in Olmütz ernannt wurde. In eben diesem Jahr sind in Olmütz die Institutiones Philosophiae rationalis von Friedrich Christian Baumeister neuerlich aufgelegt worden. Karpe war, so wird uns berichtet, eben durch den Hofrat Martini mit der wolffischen Philosophie bekannt gemacht worden. 1773/74 stellt also das Datum dar, zu dem die moral- und rechtsphilosophische Auffassung der juridischen Fakultät sich auch an der philosophischen Fakultät durchsetzte und zugleich festgelegt wurde, in welcher Richtung die Logik (und Erkenntnistheorie), sowie die Metaphysik zu lehren sei.

Wir kennen aber Karpe auch aus seiner Zeit als Wiener Professor (1786 bis 1806) als einen distanzierten Kommentator Kants, etwa aus Grillparzers Zeugnis. Einer von Karpes Hörern dürfte wohl Gottfried Immanuel Wenzel gewesen sein, gewiß der fruchtbarste unter den philosophischen Schriftstellern Österreichs zu dieser Zeit, dessen hauptsächliche Werke (dem Inhalt und dem Umfang, nicht der Zahl nach) allerdings nicht in Wien, sondern in der Provinz (nämlich in Graz und Linz) erschienen sind. Wurzbach, der schon genannte Biograph des Kaiserstaats für den Zeitraum von 1750 bis 1850 nennt Wenzel

eine der eigenartigsten Persönlichkeiten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und als Schriftsteller im Josephinischen Oesterreich, wo alles im Werden und Wachsen begriffen war, weit einflußreicher, als man bisher geneigt war, ihn anzusehen. Er war Pädagog, Philanthrop, Philosoph, ja wohl der erste selbständige philosophische Schriftsteller in Oesterreich...[12]
Wenn es darum geht, die Präsenz kantischen Denkens in Österreich, insbesondere in Wien zu beschreiben, so ist auf eine Reihe von Vortragenden hinzuweisen, die teilweise in Lehrsälen, teils auch in privaten Salons Vorträge darüber in den 1780-er und 90-er Jahren gehalten haben.[13] Ich möchte hier vor allem auf Lazarus Bendavid aus Berlin hinweisen, wobei mit der Stellungnahme der Universitätsphilosophen zu Bendavid einerseits und dessen Einfluß im Kreis um den unter Leopold II. frühzeitig als Beamter resignierten Karl Borromäus von Harrach andererseits eine Verknotung von philosophischem Denken und Politik sichtbar wird, die eben zu einer Trennung dessen führt, was Philosophen wie Wenzel gerne verbunden hätten: der Philosophie der Schule von der Philosophie der Welt. Es ist die "Philosophie im Schulbegriff", so teilt uns Wenzel 1801 in seinem Kommentar zur Logik Kants mit,
nichts anders, als ein System von Vernunfterkenntnissen aus Begriffen. ... aber es gibt auch eine für die Welt, nämlich: Philosophie ist die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft.[14]
Wenzel war seit 1800 Professor für Philosophie (und Universalgeschichte) am k.k. Lyzeum in Linz. 1809 stirbt er, verhältnismäßig jung und aus der Mitte einer großangelegten Arbeit. Ich beschränke mich daher in diesem Abschnitt auf die Zeit zwischen 1774 und 1809. Das erste Datum bezeichnet die offizielle Einführung des wolffianischen Lehrbuches in den Erblanden, das zweite das Todesjahr Wenzels, dessen für den Zeitgeist sehr typischer Mann von Welt noch lange Zeit gelesen werden sollte, als seine philosophischen Schriften schon längst nicht mehr bekannt waren.

Ich kann bei dieser zeitlichen Abgrenzung nicht unerwähnt lassen, daß das Studium dessen, was wir mit der ,Philosophie` zu assoziieren gewohnt sind, erstens in diesem Zeitraum nur in den sogenannten philosophischen (Grund-)Studien des Studienplans des jüngeren van Swieten verankert war, und daß auch hier die kombinierten Studien (der Geschichte und der schönen Literatur und Rhetorik vor allem) eine vergleichsweise nicht geringere Rolle spielten. "Was aber", so schreibt Gmeiner 1788,

die österreichische Philosophie der Epoche machenden Regierung Josephs vorzüglich zu danken hat, ist dieses: daß sie erstens mit mehreren Lehrstühlen bereichert, und zweitens, so zu sagen, aus der Sphäre der Katheder in die Sphäre des Lebens versetzet wurde; eine Verfügung, die wir nächst dem Monarchen dem alles umfassenden Geiste des Freiherrn Van-Swieten zu verdanken haben.
Er hat sie "nicht mehr in das Kleid Laziens eingehüllet, sondern in deutscher Tracht" auftreten lassen.[15] und dasselbe auch für die juridischen und medizinischen Kollegien angeordnet.
Das vorzüglichste Verdienst aber, so sich dieser würdige Sohn seines unsterblichen Vaters um die Philosophie erwarb, ist: daß auf den österreichischen Universitäten der philosophische Kurs auf drei Jahre ausgedehnet, und mit neuen Lehrgegenständen, als mit der Diplomatik, Universalgeschichte u.s.w. versehen wurde.[16]
Allerdings, so schränkt der Historiker ein, galt dies nur für die kaiserlichen Universitäten,
denn auf den Lizäen ist der philosophische Kurs noch bis itzt auf zwei Jahre eingeschränket. Auffallend ist es (für Gmeiner, der an einem solchen Lyceum lehrt, F.W.), daß noch vor 30 oder höchstens 40 Jahren, wo noch die Philosophie ganz peripatetisch war, und folglich aus blossen leeren Wortkrämmereien bestand, dennoch für ihr Studium auf allen österreichischen Schulen drei Jahre bestimmet waren. Sobald man sie aber etwas zu reinigen und zu verbessern anfieng, und also sich mehr der Mühe gelohnet hätte, diese Zeit auf sie zu verwenden, so fieng man an nur zwei Jahre über sie zu lesen.[17]
Vielleicht ist es gerade die von Gmeiner so hervorgehobene Lebens- und Praxisnähe der philosophischen Studien, was eine vergleichsweise kurze Beschäftigung damit angemessener erscheinen ließ. Dies zumindest legt sich aus folgendem Datum nahe, das zeitlich mit der Aussage Gmeiners genau zusammenfällt.

Im Jahre 1788 hielt der damalige Dekan der philosophischen Universität Wien, Georg Ignaz Freyherr von Mezburg in Anwesenheit eines Vertreters des Kaisers eine festliche Rede über die neue Einrichtung des philosophischen Studiums und den Nutzen desselben, die bald darauf im Druck erschienen ist.[18] Hier definiert der Redner Philosophie als "die Wissenschaft allgemeiner Vernunft- und Naturwahrheiten", führt den allgemeinbildenden Charakter dieses Studiums aus, und stellt diese Wissenschaft eindeutig als eine propädeutische Disziplin vor.

Es sind eigentlich nur drey Wege, auf denen man durch Gelehrsamkeit zum Besten des gemeinen Wesens, das ist, zur Beförderung der zeitlichen, der körperlichen und der ewigen Glückseligkeit der Mitmenschen etwas beytragen kann; den ersten gehet der Rechtsgelehrte, den zweyten der Arzt, den dritten der Seelsorger und Theologe.[19]
Es handelt sich also um eine Philosophie als ancilla (jurisprudentiae, medicinae, theologiae), und dies wirkt möglicherweise noch bis in die Zeit des Liberalismus und ins 20. Jahrhundert weiter, wo in Österreich eine Philosophie als ancilla scientiae von hohem Rang entwickelt wurde. Ich wüßte in diesem Zusammenhang gerne, was es mit Jadot de Ville-Isseys Entwurf von 1755 auf sich hat, der in ein achsialsymmetrisches, riesenhaftes Architekturmodell einen großen achteckigen Platz für Paraden und andere Demonstrationen militärisch-staatlicher Macht einzeichnet, in dessen Zentrum das Standbild des Fürsten zu Pferde steht. An den westlichen und östlichen Begrenzungen dieses Platzes befinden sich die Kirchen der beiden (?) Religionen, zur Demonstration und Verstärkung der geistlichen Macht. Dahinter jeweils ein weitläufiger Gefängnisbau, einer für Frauen, einer für Männer. Die vier Diagonalachsen weisen jeweils ins Zentrum einer der vier Fakultäten, den Brennpunkten der geistigen Macht. Bedenkt man, wie viele sinnige Umstände der Natur- und Geschichtsentwicklung zusammenspielen mußten (etwa die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, der Augsburger Religionsfriede und andere Ereignisse der Natur- und Menschengeschichte), um einen derartigen Kosmos natürlich oder wenigstens plausibel erscheinen zu lassen, so kann man sich daraus wohl einen Begriff machen, was "aufgeklärter Absolutismus" sein konnte.

Die großen Manifestationen des absoluten Staates sind hier in einem Riesenprojekt zusammengebracht: Beherrschung der Armee, des Gesetzes, des Glaubens und des Wissens. Rückbrods Bemerkung hierzu bleibt eher kryptisch: "Es ist nicht bekannt, ob vielleicht umfangreichere Bauabsichten des österreichischen Kaiserhofs Jadot zu dieser Planung veranlaßt haben."[20]

Die Studienreform jedenfalls, auf die der Dekan Mezburg sich bezog, datierte er in das Jahr 1756. Dem Philosophen oder dem "Selbstdenker" blieb in Mezburgs Vorstellung die Rolle des moderaten Skeptikers zugewiesen, der bei all seiner Kenntnis der Naturgesetze und -sachverhalte doch auch

von der Beschränkung seines Verstandes ... überzeugt (ist) und erkennet also denselben für kein hinlängliches Werkzeug zur Richtschnur seines Glaubens.[21]
Das "Bürgerrecht der leibniz-wolffischen Schule", von dem Gmeiner uns also in dem selben Jahr berichtet, in dem der Wiener Dekan die Philosophie deutlich in ihre dienenden Schranken weist, und in dem im fernen Königsberg die Kritik der reinen Vernunft ihre zweite Auflage erfährt, es ist ein wohlgeregeltes, abgezirkeltes Bürgerrecht, wobei den Zirkel zu führen nicht der Vernunft oder der Philosophie zukommt, sondern dem Repräsentanten des Gemeinwohls. Ich kann daher das Thema hier nur in der Einschränkung besprechen, die es auch von den Zeitgenossen erfuhr. Die Historiographie der Philosophie muß aber auch in einer solchen Beschränkung etwas grundlegend Interessantes sehen. Denn dem Historiker der Philosophie kann nicht nur um das zu tun sein, was gedacht, geschrieben, gesagt worden ist, sondern ebensosehr darum, unter welchen Bedingungen dies geschah. 

Ein Lehrbuch der wolffischen Schule in Österreich

Die Darstellung Baumeisters bei Zedler dürfte wohl weitgehend auf eine Selbstdarstellung zurückgehen. Hier erfahren wir von seinem Studium in Jena bei Budde und Walch, den Anhängern des Christian Thomasius und Gegnern Wolffs, und auch bei den Wolffianern Köhler, Reusch und Carpov, und wir lesen auch, daß er
durch eigenes Nachforschen (fand), daß man Wolfen Irrthümer angedichtet, an die er nicht gedacht. Und so ist Herr Baumeister heute noch gesinnet.[22]
1729, im Alter von 20 Jahren verließ der junge Wolffianer auf Geheiß seiner Förderer, die gegen Wolff eingestellt waren, Jena wieder, um nach Wittenberg zu gehen. Dort beeinflußte ihn vor allem der "Hofrath Berger und dessen Adjunkt Schloßer". Ab 1731 las Baumeister in Wittenberg selbständig über Philosophie, 1734 wurde er als Adjunkt in die Fakultät aufgenommen, was etwa der heutigen Dozentur entspricht. Als Lehrer war er beliebt, denn als er 1736 das Rektorat des Görlitzer Gymnasiums übernahm, verabschiedeten ihn "seine gewesenen Zuhörer mit einer feyerlichen Musick am hellen Tage."[23] Hier blieb er bis zu seinem Tod 1785, "indem er Berufungen nach Wittenberg, Erlangen etc. ausschlug."[24]

Die Lehrbücher der Schule Wolffs sind, nach Wundts Zeugnis, in einem Punkte ähnlich: sie bringen Kurzfassungen eines Denkgebäudes, nämlich desjenigen von Wolff, das selbst nicht eigentlich das ist, was wir ein System in der Philosophie zu nennen gewohnt sind. Viel eher ist diese Philosophie ein synthetisches Gebilde von Lehrsätzen, Meinungen und traditionellen Autoritäten, aus dem die einzelnen Nachfolger dann wieder das eine oder andere herausgreifen. Diese Thesen, Begriffe, Erläuterungen usw. werden in den einzelnen Lehrbüchern dann mehr (in denen für die Welt) oder weniger (in denen für die Schule) mit Beispielen aus dem Leben, aus der Literatur, aus der Geschichte usw. angereichert.[25] Für uns ist von besonderem Interesse, welche Themen Baumeister insbesondere behandelt und in welcher Weise er sie mit Beispielen dem Leser nahebringen will. Vorab sei gesagt, daß die Geschichte der Philosophie scheinbar keine wichtige Rolle spielt (was sie für die nicht-wolffische Partei der deutschen Philosophen vom älteren Thomasius, dem Lehrer Leibniz`, bis zu Brucker und später in exzellenter Weise getan hat), daß also in Baumeisters Corrolarien kaum Erwähnungen älterer oder auch zeitgenössischer Philosophen vorkommen.

Es wird hier jedoch sehr intensiv zitiert: Terenz, Seneca, Livius, Horaz und andere, die allesamt nicht als Philosophen im engeren Sinn, wohl aber als Welt- und Lebensgelehrte angesehen werden, sind unter Baumeisters Autoritäten häufig angeführt.

Ich will das Thema der Lehre vom Menschen in Baumeisters Elementa herausgreifen, um die Lehrart dieses Buches zu untersuchen. Der Autor behandelt die Frage unter dem Titel "Pneumatologie, Psychologie und natürliche Theologie" (S. 235ff.) Die Kapitelüberschriften seien hier in Übersetzung angeführt[26]:

Über den Geist; über die menschliche Seele; über die Erkenntnisfähigkeit und deren niedrigeren Teil; über Sinneswahrnehmung; über die Vorstellungskraft; über Gedächtnis und Erinnerung; über die Erkenntnisfähigkeit und deren höheren Teil und vor allem über die Fähigkeit der Aufmerksamkeit und der Reflexion; über Intellekt, Begabung und Vernunft; über Begehrensfähigkeit und deren niedrigeren Teil; über die Gefühle; über den Vernunfttrieb oder den Willen und dessen Freiheit; über das Verhältnis von Seele und Leib; über die Unsterblichkeit der Seele; über die Seelen der Tiere.
Wird der Geist ("spiritus") bestimmt als ,einfaches, unstoffliches Seiendes, das mit Intellekt und Willen begabt ist` (vgl. 235), so haben wir Menschen die Sinneswahrnehmung ganz mit den Tieren gemein (240), was auch von der Vorstellungskraft und von der Erinnerung gilt. Die Sinneswahrnehmung richtet sich auf Existierendes, ist daher eng mit der Erinnerung verknüpft, sie produziert "phantasmata", die aber doch auch einer Wirklichkeit entsprechen: "nihil nobis possumus imaginari, nisi quod antea sensibus percepimus" (244) Diese bemerkenswerte Sprachregelung wird lediglich durch den Hinweis auf geltenden Sprachgebrauch begründet. Die Träume werden ebenfalls hier subsumiert, und Baumeister stellt dazu fest: "multo fortius operatur imaginatio sola, cum sensus externi quiescunt." (246)

Der Bereich der Vorstellungskraft wird in den der Erfindungskraft hinein überschritten, wenn Fiktionen in folgender Weise gekennzeichnet werden: "...plura phantasmata animo coniungimus..." (248) Diese Fiktionen werden in mögliche und chimärische unterschieden. Drachen fallen wohl in die zweite Kategorie, die Saurier sind noch nicht bekannt, überhaupt ist das "Mögliche" von den Kenntnissen der Geschichte und Gegenwart bestimmt, doch ist dies immer nur in einer späteren Zeit auffallend. Wenngleich also den Träumen insgesamt die Fiktionen zugeordnet werden, ist die Feststellung über deren Entstehen doch ganz empiristisch, eine kollektive oder phylogenetische Erinnerung scheint auch der Idee nach noch gar nicht im Blick: "nihil menti in somnio oberrare potest, nisi, quod antea sensibus percepisti." (249)

Es scheint klar, daß unter solchen Begriffen die Gedächtniskraft von ganz außerordentlicher Bedeutung ist, was deren Definition auch deutlich macht:

Sensatio res praesentes percipit ..., phantasia rerum iam olim perceptarum imaginem instaurat et renovat..., at memoria agnoscit, ideas, quas imaginatio denuo producit, easdem esse, quas iam olim habuimus. (252)
Die "memoria" stellt also Ähnlichkeit, Verschiedenheit, Gleichheit, Identität fest, sie ist die kritische Instanz der Vorstellungskraft. Die Erinnerung ("reminiscentia") schließlich wird als diejenige Fähigkeit vorgestellt, die vergangene Sinneswahrnehmungen wachzurufen "obscuras ideas commutandi in claras" imstande ist. Denken wir an die eindeutige Abweisung des Gedächtnisses in dieser Funktion, wie sie Descartes in den Regeln formuliert hatte, so ist die durch die Aufklärung vollzogene Wendung zur Geschichte klar. Aufgrund dieser Bedeutung der Erinnerung, sagt Baumeister, haben wir im Deutschen die vieldeutige Formel "Ich besinne mich." (252) Die wolffianischen "ideae clarae" sind also ein Ergebnis von Sinneswahrnehmung (in der Vergangenheit) und vergleichender Erinnerung.

Als nächstes wird die höhere Erkenntnisfähigkeit geschildert, die den Menschen vom Tier unterscheide (253). Verschiedene Naturkräfte werden hier angeführt. Die erste "vis et natura" nennen wir heute Konzentration, Baumeister spricht von "attentio". Dies ist der Akt, in dem wir "unius rei magis simus conscii, quam ceterarum, quae simul existunt". (253)

Nun wird der "intellectus" definiert als die Fähigkeit, "res distincte repraesentandi" (256). Der vollkommenste Intellekt wäre unter diesen Begriffen mit der Fähigkeit identisch, alles Mögliche ganz distinkt in einem Akt und zugleich sich vorzustellen (vgl. 256) - was begreiflicherweise dem Menschen (wie natürlich auch dem Tier) abgesprochen wird. Der Mensch, ein unvollkommen intelligentes Wesen, muß stets von der Erfahrung, von einer "intuitiven" Erkenntnis ausgehen und steigt erst dann durch die Anwendung von Universalien in die "symbolische" Erkenntnis auf. (vgl. 257 f.)

"Ingenium (Witz)" wird bestimmt als die Fähigkeit, "rerum similitudinem observandi" (258) und all dies wird schließlich der edelsten menschlichen Geistesfähigkeit zugeordnet, der "ratio", durch welche der Mensch das Tier überrage, und die in der Fähigkeit bestehe, "nexum veritatum universalium distincte perspiciendi". (260) Nachdem noch mehrere Unterscheidungen eingeführt sind ("ratio obiectiva vs. subiectiva; pura vs. impura; rationi conforme vs. difforme") wird der Einwand abgewehrt, die paulinische Kritik an der antiken Philosophie und Wissenschaft (in 2 Korinther X,5) und an anderen Stellen der Bibel sprächen gegen die Autorität der "ratio". An diesen Stellen, sagt Baumeister, sei nicht von "logos" die Rede, was eben "ratio" bezeichne, sondern von "logismos et dianoia" - und diesbezüglich stimmt Baumeister durchaus dem Apostel zu, daß "multis erroribus corruptelisque mentem irretiri posse" (263) Der in früherem Zusammenhang genannte Wiener Dekan Mezburg hat dem, so meine ich, nur aus vollem Herzen zustimmen können.

In derselben Weise wird im weiteren Text dieses Abschnitts die Frage nach dem Willen, die Affektenlehre, die Ethik usw. abgehandelt. Es ist auf weite Strecken nichts als Worterklärung, was hier geboten wird, die Hinweise auf Phänomene äußerer oder innerer Wahrnehmung sind im Vergleich zu philologischen Argumenten selten.

Was der österreichische Philosophiestudent also hier gegen Ende des 18. Jahrhunderts als Standard-Lehrbuch vorgesetzt bekommt, steht in vielerlei Hinsicht hinter den methodologischen, auch den naturwissenschaftlichen Leistungen der Zeit zurück. Es ist jedoch, wie Sauer[27] betont, hier immer zu fragen, wieweit diese Art von Rückständigkeit auch die meisten anderen Universitäten des Reiches (ein paar berühmte Orte ausgenommen) betroffen hat. Doch auch wenn dies berücksichtigt wird, ist zumindest zu sagen, daß es "in den Erblanden" nicht eine wegen ihrer philosophischen Lehrer berühmte Universität zu dieser Zeit gegeben hat, daß also die Einführung eines zumindest recht alten Lehrbuches durchaus in den intellektuellen Rahmen gepaßt zu haben scheint. 

Der Jesuit - Michael Klaus (1757)

Im Jahr nach der Universitätsreform van Swietens und ein gutes Dutzend Jahre nach Bruckers Historia Critica begegnet uns in Wien eine offenbar für den Schulgebrauch geschriebene Einführung in die Philosophie in systematischer und historischer Hinsicht. Autor ist der Jesuit Michael Klaus.[28]

Der erste, systematische Teil des Buches ist dabei wesentlich kürzer als der zweite; behandelt werden zunächst

"Prolegomena: Philosophiae & nomen & notio (3-5); Partitio Philosophiae (5-7); Ratio Philosophandi (7-10); Finis et Fructus (11-18)".
Dann folgt die "Historia Philosophiae", unterteilt in "Origo et Progressus (19-23); Philosophia antiquissima (23-37); Antiqua Graeca Philosophia (37-69); Philosophia Media, ac Moderna (69-123)"

Von dem Umstand abgesehen, daß hier ganz selbstverständlich Latein geschrieben wird (was der Rektor der Wiener Universität bei der Jubelfeier mehr als hundert Jahre später es ebenso noch praktizierte und damit, denn er war Anatom und hatte nicht das Argument, klassischer Philologe zu sein, seine kleindeutsch-nationalen Zeitgenossen verärgerte[29]), abgesehen auch davon, daß wir hier eine viel ausführlichere Darstellung der mittelalterlichen Philosophie vorfinden als etwa beim gleichzeitig schreibenden Abbé Batteux,[30]  scheint mir vor allem die Antwort, die Klaus auf die Frage nach dem Ursprung der Philosophie gibt, besonders erwähnenswert.

"Ortum Philosophiae suum ad mundi exordium refert, & primum hominem, primum sui cultorem censet"[31] Als Autoritäten für diese These, die wir schon bei Brucker als erledigt nur mehr halbherzig diskutiert fanden - die uns aber zu Ende des Jahrhunderts bei Gmeiner als immerhin ernstzunehmen noch im österreichischen Diskurs begegnen wird -, führt der Autor Stenchus und Platon an. Klaus argumentiert:

Et certe sine sapientia fieri non potuisse vel Plato (in Cratylo) existimavit, ut omne, quod vocavit Adam, animae viventis, ipsum sit nomen ejus (Genes. Cap. II, v.19)[32]
Die angeführte Genesisstelle lautet in einer neueren Übersetzung:
So bildete Gott der Herr aus der Erde allerlei Tiere des Feldes und alle Vögel der Luft und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie benennen würde: eben danach sollte ihr Name sein.
Es scheint mir für einen heutigen Leser schwer nachzuvollziehen, was in diesem sogenannten zweiten Schöpfungsbericht auf den Ursprung der Philosophie hindeuten konnte.

Klaus unterteilt die "Philosophia antiquissima" ferner folgerichtig in zwei Richtungen: "Sacra et Barbara". Die heilige Philosophie umfaßt das Denken der Patriarchen des Alten Testaments, des Moses, der Könige von Juda und Israel, der Hebräer, der Kabbalisten. Exotisch klingt die Einteilung der barbarischen Philosophie der ältesten Zeit, wie sie Klaus vornimmt:

Orientalium prima, est Chaldaeorum, seu Astronomorum. Duplex partitio Chaldaeorum. Persarum seu Magorum. Indorum. Sinensium Triplex periodus. Malabarica. Siamensium. Sabaeorum. Phoenicum. Meridionalium, speciatim Aegyptiorum. In Mauretania Atlanticorum. Lybicorum. Occidentalium Philosophiae: Celtarum cum primis. Celebres ist-hic Druidae. Bardi. Huc revocandi Tyrrheni. Hyperboreum Philosophia ad Thraces. Scythasque porrigitur. Veterum Chemica Secta[33]
Wir sind mit all diesen Hinweisen immer noch nicht bei der Philosophie der Griechen angelangt, Klaus spricht also durchaus ausführlich von dem, was Brucker unter dem Titel der vorsintflutlichen und der Philosophie der Patriarchenzeit abgehandelt hatte. Ein für heutige Leser sicher wirr erscheinendes Gemisch von Völkern und Kulturen ist in der zitierten Liste versammelt. Ich möchte zwei Punkte dabei hervorheben: erstens ist das Bild der Vor- und Frühgeschichte, wie es sich in den Werken des 18. Jahrhunderts findet, noch gänzlich unbeeinflußt von den archäologischen und paläontologischen Funden, die seither gemacht worden sind; zweitens aber gibt es bis heute zumindest ein Relikt aus diesem Geschichtsbild, das sich (auch) bei Klaus findet, dem wir aber immer noch begegnen können - ich meine die Gewohnheit, chinesische (und auch indische) Philosophie im Kontext der alten Kulturen abzuhandeln. Diese Gewohnheit hatte im Geschichtsbild des 18. Jahrhunderts eine Rechtfertigung, die uns inzwischen abhanden gekommen ist, was jedoch an unserer Gewohnheit, etwa moderne Philosophie der Chinesen mit chinesischer Philosophie nicht zu assoziieren, kaum etwas geändert hat. Das Geschichtsbild der Zeit hat Solé folgendermaßen gekennzeichnet:
Die germanische Reformation wurde ... von einer intensiven intellektuellen Anstrengung begleitet, einen Mythos über die deutschen Ursprünge aufzubauen ... Die Wiederentdeckung des Tacitus vereinte sich mit dem Mythos von den Kindern des Noah, um Europa vom Norden her zu bevölkern. ... Sie lehrt ihre Leser die Gründung Trojas durch den ersten Deutschen und die Priorität Augsburgs gegenüber Rom. Als Lieblingssöhne von Japhet versetzten die Goten Alexander in Furcht. Sie waren Anbeter der Venus, woher Magdeburg seinen Namen hatte, und Attila war ihr König.[34]
Der Hamburger Schulrektor Johann Hübner hat in seinen Kurtzen Fragen aus der Politischen HISTORIA Biß auf gegenwärtige Zeit [35] immerhin noch 1703 den Ursprung der Deutschen in folgender Weise seinen Schülern und Lesern nahegebracht:
Von den drey Söhnen Noae hat JAPHET Europam besetzet / dessen Sohn ist GOMER, und dessen Enkel ASCANES gewesen.
Dieser ASCANES ist auch TUISCON genennet worden / und von dem haben die Deutschen ihren Ursprung.
Wie läßt sich die Deutsche Historie am besten eintheilen?
In drey grosse Haupt-periodos.
Der I. Periodos gehet von der Sündfluth biß auf die Geburt Christi.
Der II. Periodos gehet von der Geburt Christi biß auf CAROLUM M.
Der III. Periodos gehet von CAROLO M. biß auff den den heutigen Tag.[36]
Noch in der Philosophiehistorie Werdermanns37 zu Ende des Jahrhunderts, in der sich nichts mehr von einer adamitischen Philosophie findet, wird wie selbstverständlich die Philosophie vor Christi Geburt nach dem Jahr der Welt datiert - sodaß die vorsokratische Philosophie etwa im Zeitraum von 3400 bis 3550 J.d.W. angesetzt wird.[38]

Was den zweiten Punkt betrifft, nämlich die Gewohnheit, die chinesische Philosophie jedenfalls unter den Alten abzuhandeln, so gab es dafür im 18. Jahrhundert eine etwas andere Theorie, als wir sie aus dem 19. (von Hegels Stagnationsthese überzeugt) übernommen haben. Dafür sei der Verfasser eines populären Lehrbuches der wolffischen Philosophie, der Literatur- und Sprachtheoretiker Gottsched ein Zeuge. Er schreibt:

nichts ist wahrscheinlicher, als daß Noah eben der erste Monarch und Stammvater der Chineser gewesen ist... Weil diese Meinung in Deutschland nicht sehr bekannt ist, so will ich doch einige Gründe derselben anführen. ... sind auch die Lehren der Weisheit vor Alters nirgends in solcher Vollkommenheit bekannt gewesen, als in China. Ihre Geschichte sind weit richtiger, ihre politische Regierungsforme weit dauerhafter und ordentlicher gewesen, als der anderer Völker ihre: welches ohne Zweifel der grössern Weisheit des Noah, vor seiner Söhne ihrer, zuzuschreiben ist.[39]
Bei Klaus findet diese These sich zwar nicht, es gibt jedoch gerade in seinem Orden eine alte Tradition, die Geschichte Chinas in dieser Weise zu interpretieren.

Drei Formen der Philosophie sieht Klaus erst bei den Griechen voll entwickelt: die mythologische, politische und erwachsene Philosophie.

Mythologicam consectari sunt Prometheus, Linus, Orpheus, Musaeus etc.; Politicam septem sapientes excoluerunt; Adulta jam apud Graecos Philosophie trifariam spectatur universe: Italica, Jonica, Eclectica.[40]
Diese kleine Philosophiegeschichte von Klaus ist in erwartbarer Weise traditionell und konservativ in dem Sinn, daß sie einen Philosophie- und Wissenschaftsbegriff vermittelt, für den die biblische Offenbarung (und nicht etwa eine Offenbarung in der Natur) sowohl den systematischen, als auch den historischen Grund abgeben. Sie ist hierin (vom Gesichtspunkt des späteren Lesers aus) im Vergleich zu gleichzeitigen Entwicklungen im Protestantismus retardiert. Dies muß jedenfalls bemerkt werden, denn die zahlreiche Präsenz alter Exemplare der westeuropäischen und deutschen Philosophiegeschichten[41] läßt die Erklärung, man wäre aus Unkenntnis der Literatur von neueren Diskussionen abgeschnitten gewesen, nicht zu. Ich möchte daher zusammenfassend zu Klaus` Arbeit sagen, daß sie retardiert, aber konsistent, ein traditionelles Philosophieverständnis zu befördern suchte.

Der Josephiner - Franz Xaver Gmeiner (1788-89)

Das erste große Werk über die Geschichte der Philosophie, das einen österreichischen Professor zum Autor hat, ist die Litterargeschichte Gmeiners. Mit dem Motto des ersten Bandes schließt er unmittelbar an den unter van Swieten und Martini etablierten Wolffianismus an, es sei darum hier wiedergegeben:
Historiae litterariae, in qua vel fata scientiarum & librorum, vel vitae & fata eruditorum enumerari debent, is vel imprimis finis est, ut cognitio veritatum a veteribus in medium prolatarum inde acquiratur, itemque subsidia suppeditentur, quibus ars heuristica, sive inveniendi possit collocupletari. Opus itaque est, ut in historia litteraria recenseantur scripta, eorumque argumenta, item methodus in iisdem adhibita, quave ratione & occasione haec, illave veritas fuerit investigata, opus est, ut describantur vitae eruditorum accurate, omniaque ea tradantur fideliter, quae ad cujusvis eruditi merita & fata plenius intelligenda spectant.[42]
Franz Xaver Gmeiner ist 1752 zu Studenitz in der Steiermark geboren, erlangte in Graz die philosophische und die theologische Doktorwürde, war ab 1784 Professor für Kirchengeschichte in Graz und wurde 1816 ebendort zum Direktor der philosophischen Studien am Lyceum bestellt. 1824 ist er in Graz gestorben.[43]

Gmeiners Lehrtätigkeit bezog sich in erster Linie auf Kirchenrecht und Kirchengeschichte, und auf diesen beiden Gebieten hat er auch am meisten veröffentlicht. Er befaßte sich jedoch auch mit deutscher (Gegenwarts-) Literatur, sowie mit steirischer, also regionaler Geschichte. Die hier zu besprechende Litterargeschichte ist in der bibliographischen Liste, die Wurzbach gibt, die einzige Arbeit über Philosophie bzw. über deren Geschichte. Der vollständige Titel des Werks mutet einigermaßen seltsam an:

Litterargeschichte des Ursprungs und Fortganges der Philosophie, wie auch aller philosophischen Sekten und Systemen (sic|).
Erster Band: Von den Schicksalen der Philosophie vor Christi Geburt.
Zweiter Band: Von den Schicksalen der Philosophie nach Christi Geburt.
Zunächst: wozu schreibt Gmeiner sein Buch? Es ist eine Geschichte des Verfalls und des Wiederaufstiegs, die Gmeiner in der Geschichte der Philosophie sieht, und innerhalb derer er an einer wichtigen Stelle steht: Aufschwung ist möglich, notwendig, aber er muß befördert werden. Es ist also ein patriotisch-pädagogisches Buch, das Gmeiner hier vorlegen will, nicht in erster Linie ein heuristisch-systematisches innerhalb des philosophischen Diskurses seiner Gegenwart.

In der Vorrede zum ersten Band lesen wir:

die Künste und Wissenschaften haben, gleich den Staaten und Nationen, eine nach der andern ihre glänzenden und ruhmvollen Perioden, in welchen sie mehr als jemals die Aufmerksamkeit der menschen auf sich ziehen, in einem glänzendern Licht als sonst erscheinen und das Lieblingsstudium des Zeitalters werden; aber bald sind diese Perioden vorüber, und die wenigen Jahre des Glanzes und Ruhmes verlieren sich oft in Jahrhunderte der Vergessenheit. So gieng es auch der Philosophie...
Diese sei, so schreibt er an anderer Stelle,
so weit ausgeartet, daß sie nicht mehr die edle Führerinn des menschlichen Verstandes war, nein| eine Tirannin junger Köpfe war sie, der (sic|) das menschliche Gefühl ersticket, und dennoch jauchzten die Schulweisen ganze 2000 Jahre mit diesen Hirngespinsten.[44]
So ist es vielleicht nicht nur das patriotische Gefühl den "Herren Protestanten" (ebd., 97) gegenüber, was Gmeiner dazu bringt, die rührende Geschichte von Wolffs Sterbebett zu erzählen. Sie läßt sich zumindest so lesen, daß sie mit dem zusammenstimmt, was auch sonst im damaligen Österreich ein beliebter Gedanke gewesen zu sein scheint: daß von wirklicher Weisheit, wirklicher Philosophie erst dort die Rede sein kann, wo die Weisheit mit der angenehmen Form, die Reflexion mit dem Alltagsdenken zusammenfällt. Die Geschichte lautet bei Gmeiner:
Man erzählt, ... daß Wolf einige Tage vor seinem Tode von einigen seiner vertrautesten Zuhörer besuchet wurde. (F.W.: er habe ihnen eine Mahnrede gehalten und dann gefragt:) ,Welchen unter allen alten und neuen Philosophen und unter allen, welche sie glauben, daß noch kommen werden, halten sie für den größten?` (F.W.: die Antworten seien vielfältig gewesen: Platon, Aristoteles, Leibniz, Konfuzius, Wolf selbst, etc.) Endlich vereinigten sie sich alle, daß er es selbst wäre. Keiner von allen diesen, antwortete Wolf. Der Pater Abraham a St. Klara ist es. (NB. Er war ein barfüssiger Augustinermönch, und zu seiner Zeit ein berühmter geistlicher Lustigmacher.) Stellen sie das Lachen ein, meine Herren. Nicht war, sie halten den für den größten Philosophen, der die meisten Definizionen im Leibe hat? (F.W.: alle hätten bejaht.) Wohlan ... der P. Abraham ist der einzige, der unter allen Gelehrten, die die Welt belehret haben, die richtigsten Begriffe von den Sachen erfunden, und durch dieses Mittel die abstraktesten Wahrheiten ad notiones communes gebracht hat. Ist ihnen so viel von mir, oder einem andern bewußt?[45]
Auffallend ist an dieser Geschichte unter anderem, daß der Österreicher Gmeiner seinen Lesern erklären muß, wer dieser von Wolff so gelobte Mönch war. Von sich aus hätte der aufgeklärte Katholik und Anhänger der Reformen Josefs II. sich wohl eher vom barocken Hofprediger distanziert, und er konnte wohl auch nicht als selbstverständlich voraussetzen, daß seine Leser diesem in ihrem Bildungsgang bereits begegnet seien - was sich mit größerem Abstand vom Barock längst geändert hat. Wichtiger ist aber folgendes. Gmeiners Ziel ist die "Verbindung des guten Geschmacks mit der Philosophie", und dies nicht nur aus didaktischen Gründen. Er vertritt die Auffassung, daß nur dort, wo dies geschieht, beides zur Entfaltung kommen könne:
Der Gegenstand der Philosophie ist das Wahre und Nützliche, und der Gegenstand der Musen ist das Schöne und Angenehme. Das Schöne, damit es uns rühre, setzt die Wahrheit voraus, die Philosophie muß also die Wahrheiten erfinden und beweisen; sie muß für das Richtige des Schönen sorgen, und obgleich die Poesie sich hauptsächlich von Erdichtungen nähret, so darf sie doch die Gesetze des Wahrscheinlichen nicht überschreiten. Der gute Geschmack hingegen benimmt der ernsthaften Wahrheit ihre finstre Miene, streuet Rosen über ihre Lehren, um die Rauhigkeit zu verbergen, indem es ihr nur in dieser Gestalt gelingt, die Menschen zu unterrichten und zu bessern.[46]
Die Aufgabe der Rhetorik ist hier unübersehbar.[47]

 Dies zeigt schon der Aufbau des Werkes

Band I:
1. Abt.: Von der alten Weltweisheit verschiedener Völker

1. Von dem historischen Ursprunge der Weltweisheit
2. Von der khaldäischen Philosophie
3. Von den Sabäern, und den übrigen Weltweisen der Phönizier, Syrer und Hebräer
4. Von der eklektischen Schule, und andern philosophischen Sekten der Aegyptier
5. Von den indianischen Brachmanen oder Gymnosophisten
6. Vom Konfuzius, und der khinesischen Philosophie
7. Von den Druiden der Deutschen und Gallier
2. Abt.: Von der griechischen und italischen Philosophie
1. Von dem Ursprunge der griechischen Philosophie
2. Von den übrigen Weisen Griechenlands
3. Von der jonischen Sekte
4. Vom Pythagoras, dem Urheber der italischen Sekte
5. Von den Schülern und Nachfolgern des Pythagoras
6. Vom Heraklitus und seiner Sekte
7. Von der eleatischen Sekte


3. Abt.: Von den Akademikern

1. Von dem Ursprunge der Akademiker
2. Von dem Sokrates
3. Von den Sokratikern
4. Vom Plato
5. Von der alten Akademie, und den Nachfolgern des Plato in derselben
6. Von den Urhebern der mittlern und neuern Akademie
7. Vom Aristoteles
8. Von den Nachfolgern des Aristoteles
9. Von der zyrenäischen, hegesischen, anizerischen und theodorischen Sekte
10. Von der megarischen, oder eristischen, und dialektischen Sekte
11. Von der eliazischen und eretrischen Sekte
12. Von der szeptischen oder pyrrhonischen Sekte
13. Von den Zynikern
14. Von den Stoikern
15. Von der epikurischen Sekte
Anhang: Von einigen mathematischen Erfindungen vor Christi Geburt

Band II:

1. Abt.: (Ohne Titel)
Einleitung (1-110)

1. Von den Uiberbleibseln der Pithagoräer, wie auch von der Sekte der Kabbalisten
2. Von den letztern Zinikern, Epikuräern und Stoikern
3. Von den neuern Szeptikern
4. Von der weitern Fortpflanzung der platonischen und eklektischen Philosophie
5. Von den weitern Schicksalen der aristotelischen Philosophie
2. Abt.: (Ohne Titel)
1. Von den ältern Naturkündigen
2. Von den neuern Naturkündigen
3. Abt.: (Ohne Titel)
1. Von den Skolastikern überhaupt, und insbesondre von den Realisten und Nominalen
2. Von den Thomisten und Skotisten
3. Von den Anti-Skolastikern oder Novatoren
4. Von den chimischen Philosophen
5. Von der kartesianischen Philosophie
6. Vom Spinozismus oder Pantheismus
7. Von der leibnitzisch-wolfischen Philosophie
8. Von der newtonianisch-boskovichischen Philosophie
9. Von den Reformatoren der praktischen Philosophie, und der philosophischen Rechtsgelehrsamkeit
10. Von dem Zustande der Philosophie ausser Europa
11. Von den philosophischen Gesellschaften oder Akademien
Anhang: Von einigen mathematischen Erfindungen nach Christi Geburt.

Gmeiner beginnt (Einleitung zu Band I, SS 1) mit der Feststellung: "Die Hauptquelle und der Ursprung aller Künste, und Wissenschaften war das Bedürfniß". Er zitiert dazu Ramlers Darstellung der Urgeschichte bei Batteux[48], und stellt nicht nur im allgemeinen fest, daß der Mangel an Sicherheit und Komfort zur Entwicklung von Technik und Kultur geführt habe, sondern daß sich aus dem relativen Mangel, wie er in unterschiedlichen Klimaten beobachtbar sei, auch die unterschiedliche Höhe der jeweils entwickelten Kultur ergebe:

man weiß, daß die nordischen Völker überhaupt fleißiger waren, als die mittäglichen, weil sie den Fleiß weniger entbehren können, als wenn die Natur alle Dinge hätte gleich machen wollen, und daher sie den Verstand fruchtbar seyn lassen, wo es die Erde nicht ist. (S.2.)[49]
Damit ergibt sich für Gmeiner aber eine allgemeine Theorie der Kultur- und Wissenschaftsentwicklung: die Mittel zur Befriedigung unserer "Bedürfnisse im engsten Verstand" machten die "mechanischen Künste" verfügbar; diese fanden sich folgerichtigerweise zuerst. Dann wurde "die Bequemlichkeit selbst ein Bedürfniß im weiteren Verstande", und da war nur noch ein Schritt zum "Angenehmen, ... welches eine dritte Klasse von Bedürfnissen für die feinen Seelen ist" - es gab den "schönen, oder sanften Künsten" ihre Berechtigung (S. 3).

Es wird nun die Entstehung der Gesellschaft (aus der mangelnden Kraft der Individuen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen) und der Sprache (als Mittel zum selben Zweck, wobei den lautmalenden Bestandteilen der "Stammsprachen" besondere Aufmerksamkeit gezollt wird) besprochen. Schließlich seien von diesen und jenen Sachverhalten auch"philosophische" (= Ursachen-) Kenntnisse vorhanden gewesen, aber auch das war noch nicht "Philosophie im strengen Verstande",

denn zur Wesenheit der Philosophie gehöret eine Fertigkeit oder Leichtigkeit die Grundursachen der Dinge, und den Zusammenhang mehrerer Wahrheiten einzusehen, und beweisen zu können. ... eine ganze Reihe von Wahrheiten durch Vernunftschlüsse zusammenzuketten, und sie so unterzuordnen, daß eine aus der andern ununterbrochen hergeleitet werden konnte. Solche Verkettungen der Wahrheiten nennen wir Systeme oder Lehrgebäude. Auf diese Art erhob sich der menschliche Verstand zu der Weltweisheit, dieß ist: Zu einer Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind.[50]
Den Abschluß dieser systematischen Beschreibung der Entstehung von Philosophie bildet die Geschichte des Wortes "Philosophie", also die bekannte Anekdote über Pythagoras; es werden aber auch andere parallele Benennungen für die ,Weisen` bei anderen Völkern genannt.

Diese Übernahme der Kulturentstehungstheorie von Batteux wirkt beim ersten Lesen ausgesprochen modern und wissenschaftsorientiert. Sie ist jedoch, bei aller wörtlichen Eindeutigkeit, für Gmeiner nicht wirklich verbindlich geworden. Wir sehen, daß er diese Hypothese, derzufolge die Entstehung der Wissenschaften in der Menschengeschichte etwas ziemlich Spätes, und das zuletzt Erreichte erst die Philosophie sein sollte, sogleich wieder aufgibt, sobald er auf die "historische Entstehung" der Philosophie zu sprechen kommt. Hier repetiert er unversehens ein altes Thema und macht damit seine Auffassungen über den "systematischen" und den "historischen" Ursprung der Philosophie ganz inkonsistent. Ähnlich ergeht es ihm mit der großzügigen und weitreichenden Verurteilung der mittelalterlichen Geistesdunkelheit. Auch dieses Urteil steht in einem schlechten Verhältnis zu der verhältnismäßig ausführlichen und nicht immer abträglichen Schilderung der scholastischen Philosophie, die Gmeiner dann tatsächlich gibt. Sehen wir uns jedoch den ersten Fall, die Repetition der adamitischen Philosophie, als Beleg der These, daß hier Modernität nicht wirklich Platz greift, sondern eine (vielleicht unbewußte) Alibifunktion hat, etwas näher an.

Das erste Kapitel der ersten Abteilung enthält nun die historische Darstellung des Entstehens von Philosophie. Unvermittelt setzt Gmeiner an:

In Rücksicht nun des historischen Ursprunges der Weltweisheit machen viele unsern Stammvater Adam zum Urheber derselben, und beruffen sich deshalb auf die Erzählung des Moses, allein es ist noch nicht außer allem Zweifel gesetzet: ob man in diesem Punkte aus der heiligen Geschichte etwas Zuverläßiges schöpfen könne.[51]
Wirklich auffallend ist nicht so sehr das Thema, wir finden es auch sonst noch im 18. Jahrhundert, wenngleich bei protestantischen Autoren nach 1744, also nach dem Erscheinen von Bruckers Historia Critica kaum mehr davon die Rede ist. Wenn das Thema seither auftaucht, so doch eben in der Weise, daß ,noch nicht außer allem Zweifel gesetzt` sei, daß Adam nicht der erste Philosoph gewesen sei - hier aber lesen wir gerade das Gegenteil. Wirklich auffallend ist also die Unentschiedenheit, mit der Gmeiner dieses Thema bespricht. Zunächst scheint er die These des paradiesischen Ursprungs der Philosophie eher abzulehnen. Und es wäre in seiner eigenen Kulturtheorie ja auch nicht sehr überzeugend, da doch Adam im Paradies war, als er, was hier immer als entscheidende Tat der Reflexion angeführt wurde, den Tieren ihre Namen gab - und im Paradies doch gewiß nicht jener Zustand des Mangels angenommen werden konnte, der den Menschen zwang, Technik, Kunst und Philosophie zu entwickeln. Dies aber ist nicht sein Argument. Er stützt sich vielmehr auf eine philologische Regel, wenn er feststellt:
Da ... aus der Erzählung Mosis sich nicht schließen läßt, daß Adam eine solche Fertigkeit gehabt habe, so ist bei den ersten Menschen keine Philosophie im strengen Verstande zu suchen.[52]
Indessen kann man unsern Stammältern, und ihren Enkeln eine natürliche Vernunftlehre keineswegs absprechen, auch würde man ihnen zu wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man nicht zugeben wollte, daß sie ein undeutliches Kenntniß der ersten Grundwahrheiten hatten, aber von einer deutlichen Einsicht in dieselben zeigt sich nicht die geringste Spur.[53]
Sehr viel weniger unentschieden ist Gmeiner in der Beurteilung anderer mythologischer Kulturgründer: der Orpheus der Thraker, der Musäus der Athener, der Trismegist der Ägypter - sie alle sind, "wo nicht ganz, doch größtentheils eine Geburt der Dichter" und gehören in die "Fabelgeschichte".

Gmeiner nimmt bezüglich des historischen Ursprungs der Philosophie also keine ganz eindeutige Stellung ein (zumal er auch m.W. nirgends festsetzt, er habe sich als Historiker nur darüber zu äußern, worüber es ausdrückliche Zeugnisse gibt; solche Festsetzungen waren in der Tradition der Philosophiehistorie bekanntermaßen üblich). "Im strengen Verstande genommen", sei "bis auf die Zeiten des Thales"54 Philosophie nicht anzutreffen - aber die Gründe für die Urheberschaft Adams stehen doch auch nicht außer jedem Zweifel... 

Der Kantianer - Gottfried Immanuel Wenzel (1805)

Über Gottfried Immanuel Wenzels (1754 - 1809) Lebensumstände und Werk wurde bereits oben einiges angemerkt. Ein kurzer Ausschnitt aus seiner Festrede von 1806, worin Wenzel seine Schule kennzeichnet, möge den Anspruch an Modernität verdeutlichen, der hier erhoben wird:
Interea tamen, Auditores optimi, nolite credere, quod Kantius, aut Fichtius aut Schellingius - duo nomina ex recentissimis post Kantium ubique nota - mihi infallibilis sit; infallibilis mihi sub sole mortalium nullus. ... Opera Kantii, asseclarum et adversariorum ejus ... opera quoque illorum, qui post Kantium inter Philosophos jure merito referuntur, dabunt Philosophiae nostrae existentiam. ... Nolo porro, ut pendeatis ab ore magistri; utamini intellectus proprio, propria ratione; ,autos epha` odium vobis pariat![55]
Hier ist seine kurze Darstellung der Geschichte der Philosophie zu besprechen, die er als letzten Abschnitt der Introductio in Philosophiam universam vorlegt.[56]

Der einleitende § 45 handelt von Nutzen und Methode der Philosophiehistorie: "Fructus, quos studium historiae Philosophiae fert, varii sunt", aber es setzt auch eine Menge von Kenntnissen voraus: "Critica, Philologia, Archaeologia et Historia universalis" sind hilfreiche Disziplinen. Wenzel hat sich auf all diesen Gebieten auch tatsächlich betätigt, wir erinnern uns, daß seine Lehrverpflichtung am Linzer Lyceum die Universalgeschichte mit umfaßte.

In der Kennzeichnung der (vor allem philologischen) Methode erinnert der Abschnitt an die "cautelae" in Bruckers Dissertatio praeliminaris:

oportet, fontes ipsos adire, quodlibet systema ex ipsa ejus natura dijudicare, et deficientibus fontibus scriptores coaetanos consulere, omne praejudicium omnemque praedilectionem respectu hujus vel illius opinionis deponere, veritatem solam et sinceritatem in theorematum dijudicatione et commentatione prae oculis habere. (S.53)
Dies ist nun tatsächlich, zum Schulgebrauch geschrieben, eine lupenreine Formulierung aufklärerischen Denkens: das "praejudicium pestilentissimum", der Autoritätsglaube, vor dem Brucker so eindringlich gewarnt hatte, scheint der Idee nach überwunden. In dem grundsätzlich und in allen Bereichen der Tradition verpflichteten katholischen österreichischen Denken eine überraschende Erscheinung, wenn es ernst gemeint ist.

Beim Lesen dieses oder ähnlicher Abschnitte mag sich der Gedanke aufdrängen, daß Nyiri mit seiner Interpretation des österreichischen philosophischen Denkens als traditionalistisch-konservativ zumindest nur für einen Hauptstrom dieses Denkens recht haben könnte, dem Wenzel auf den ersten Blick nicht zuzugehören scheint. Eine genauere Lektüre könnte jedoch zutage bringen, was im Zusammenhang mit Wenzels Kant-Rezeption oben schon angedeutet wurde, daß wir es hier doch vielleicht nur mit einem Lippenbekenntnis zu tun haben, die Praxis des Denkens ganz anders ist. Halten wir immerhin fest: der Historiker der Philosophie, wie Wenzel ihn vorstellt, scheint einem unparteilich-philologischen Wahrheitsbegriff verpflichtet zu sein, wie er am ehesten in dieser Zeit von Tiedemann, aber schon nicht mehr von den Kantianern der ersten Generation (Heydenreich, Grohmann, Goess, Reinhold u.a.) vertreten wird. Wenn diese Lesart zutrifft, so ist Wenzel in dieser Hinsicht zumindest ein eigenartiger Kantianer: er sucht das philologisch-unparteiliche Objektivitätsideal auf einen umfassenden Gegenstand anzuwenden, indem (wie bei den genannten Kantianern) alle Äußerungen der menschlichen Vernunft darunter fallen:

Non igitur solis Philosophiae limitibus clauditur, sed extendit se in vastum illum campum, qui intellectui humano cogitanti apertus est. (S. 54)
Hierbei aber bleibt, um Kants Ausdruck zu gebrauchen, der Historiker nach Wenzels Auffassung, doch ein "Zyklop", dessen eines, empirisches, auf Datenwahrnehmung gerichtetes Auge nicht durch ein anderes, systematisches und theoriegeleitetes ergänzt wird, da Wenzel sich auf der Suche nach Zuverlässigkeit zuerst - und in diesem Text ausschließlich - auf jenes Allheilmittel zyklopischer Historiker, die Chronologie, stützen will:
Prout in qualibet historia, sic etiam in hac ordo chronologicus in enarrandis mutationibus Philosophiae observari debet...(ebd.)
Hier findet sich nichts von dem Programm einer systematisch gedachten Philosophiehistorie, wie es etwa in Grohmanns Bemerkung (vgl. VL 7) seinen Ausdruck gefunden hatte, es habe die geschichtliche Ordnung der philosophischen Dinge doch wohl auf eine vernünftigere Rekonstruktion Anspruch, als es die Chronologie sei.

Der nun folgende § 46 (S. 46-66), bei weitem der umfangreichste dieses Abrisses der Philosophiegeschichte, bringt eine gedrängte Darstellung bis zur Neuzeit (§ 47 behandelt Descartes).

Hier setzt Wenzel, wie dies auch Gmeiner (1788) getan hatte, mit einer systematischen Erklärung des Entstehens von Philosophie ein. Im Unterschied zu Gmeiner verweist er aber nicht auf die realen Mängel und Lebensbedürfnisse, die zu deren Entwicklung geführt hätten, sondern lediglich auf die Eigenart menschlicher Denkfähigkeiten: "Est instinctus in homine, quo, serius aut citius, ad cogitandum impellitur." (S. 54) Das heißt, die abstrakt-moderne Erklärung der Kulturentstehung, wie sie uns bei Gmeiner, unvermittelt und ohne ernsthafte Folgen für das Ganze, begegnet war, ist hier bereits wieder aufgegeben oder gar nicht erst rezipiert. Die Konzentration auf die reinen Vermögen des Verstandes und der Vernunft mag durchaus ein willkommenner Ausweg aus dem Dilemma zwischen dem immer noch herrschenden Christenglauben und dem beginnenden Wissen um die Vorgeschichte gewesen sein. Kant selbst hat in seinem Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte betont:

ich betrachte (das erste Paar) nur, nachdem es schon einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit getan hat, sich seiner Kräfte zu bedienen, und fange also nicht von der gänzlichen Rohigkeit seiner Natur an; denn es könnten der Mutmaßungen für den Leser leicht zu viel, der Wahrscheinlichkeiten aber zu wenig werden, wenn ich diese Lücke, die vermutlich einen großen Zeitraum begreift, auszufüllen unternehmen wollte.[57]
Kants Bedenken hier sollten uns weniger überraschen als die schnelle Hypthese des Abbé Batteux. Noch in heutigen populären Darstellungen der Evolutions- und frühen Menschheitsgeschichte (wie etwa in der in den 80-er Jahren für Kinder hergestellten TV-Serie Es war einmal der Mensch) bringt man die Epochen der Vorstaatlichkeit mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit hinter sich. Der horror vacui temporum macht sich hierin bemerkbar - man weiß zwar theoretisch, daß diese Entwicklungen ungeheuer langwierig waren, sie aber auch so vorzustellen, wäre zumindest langweilig.

Wenzel jedenfalls setzt, ebenso wie Kant, bei einem schon entwickelten "Instinkt" an. Dieser "instinctus" führe uns dazu, nicht nur klare Begriffe von den Phänomenen, Gesetzmäßigkeiten von deren Stattfinden, sondern zuletzt sogar "principia et veritates universales" zu abstrahieren.(S. 55) Dieser Instinkt unterscheide den Menschen vom Tier.

Instinctus hic in statu activo consideratus, est illud magnum supremi Numinis donum - Ratio, quae nos ex animalitate elevat... (S. 55)
Keine Herrschaft über die Tiere, keine Tugend, keine Moralität wäre möglich ohne diese "ratio". Folgerichtigerweise ist die Entwicklung der "ratio", das Ablegen der "vincula sensualitatis" Aufgabe und Ziel des philosophischen Studiums. Schon bei den ältesten Völkern, stellt Wenzel fest, war diese Entwicklung der "ratio" vorhanden: "cujus objecta Deus, mundus et natura fuerunt". Allerdings waren diese Vorstellungen noch verstreut, fern jeder systematischen Ordnung - und sind uns, zum Leidwesen einer philologisch orientierten Historie, "solum per serotinam traditionem communicatae" (S. 55).

Hier lesen wir kein Wort mehr von einer adamitischen Philosophie, die für Gmeiner noch keinesfalls außerhalb jedes Historikerzweifels stand, und die für Klaus, allerdings viel früher, noch durchaus real gewesen war. Wenzel setzt bei den frühen Völkern (seines Verständnisses von Geschichte) an, bei den Vorläufern der Griechen auf dem Gebiet der Philosophie, deren Denken, so wenig Sicheres wir auch davon wissen, doch "notatu dignissima" seien: den Hebräern, Chaldäern, Persern, Arabern, Ägyptern, Indern, Chinesen, Phönikern, Skythen und Kelten (vgl. S. 56) Die Griechen hätten weitergeführt, was ihnen von diesen Völkern überkommen war:

Licet Philosophia Graeco sub sole non nata sit, sed ab aliis populis notiones philosophicae successive pervenerint ad Graecos, tamen natio haec prima est, quae eas, ambabus ut ita dicam manibus, amplexa est, et in ordinem systematicum redegit. (S. 55)[58]
Die erste Form des Philosophierens unter den Griechen war, wie es denn nicht anders sein könne, poetisch - mit Orpheus als Zeugen. Die Begründung dafür sieht Wenzel, wie Heumann, in der Natur des Menschen: "homo, quo rudior est, eo magis symbola et allegorias amet ... quia totus sensualitas est." (S.56)[59] In jenen frühen Zeiten, als das Denken noch "lento pede" dahinschritt, war der Sinn für das Schöne nicht entwickelt, die "imaginatio" herrschte vor, keinerlei Regeln wurden beachtet, die materielle und spirituelle Welt wurden nicht getrennt betrachtet, alles als beseelt gedacht - eine Zeit der Wahrsager und Zauberer, der Auguren und Visionäre. Die Moral sei korrupt, die Götter seien käuflich gewesen. "Sic se olim habuit Philosophia." (S. 57 Alte Kulturen bieten dieses klägliche Bild des Denkens: die "Chaldäer" weissagten aus den Sternen, die Perser hingen einem Dualismus an, bei den Ägyptern gab es die Verehrung von Tieren und die Chinesen hatten eine Moral ohne Religion.

Die Griechen erst brachten System in die Probleme: ihre theoretische Philosophie umfaßte die Theogonie, die Kosmogonie und die Physik; Politik und Gesetzeskunde bildeten die praktische Philosophie. Aufgrund des Meinungsstreits über diese Dinge spalteten sie sich alsbald in mehrere "Sekten" auf.[60] Thales habe um 600 v.Chr.[61] die "scholam jonicam" begründet. Aus dieser Periode hätten wir leider keine verläßlichen Texte der Philosophen; "aut nil scribebant, aut scripta non ad nos usque pervenerunt" (ebd., 57) Erst die Schule des Sokrates habe wirklichen Nachruhm erlangt und viele Richtungen hervorgebracht; einige davon hätten noch unter den Römern weitergewirkt.

Nach dieser allgemeinen Übersicht geht Wenzel ins einzelne. Von den Joniern wird nochmals Thales genannt, und zwar als der erste, "qui cognitiones rationales qua tales propagare studuit" (ebd., 58). Daran unmittelbar schließt sich Xenophanes an, dessen These etwas ausführlicher diskutiert wird; sie sei nicht ganz unrichtig, da ja die Sinne für sich allein wirklich nur den Schein abgäben, weswegen ein Wahrheitskriterium auch gewiß erforderlich sei. Allerdings gelte das nicht für den Alltag: "Cognitio solummodo sensualis in vita communi duntaxat sufficere potest, ubi non tam severe quaeritur, quid verum per se sit, quam quid communiter pro vero habeatur." (ebd., 58) Nun kommen die "Eleaten" oder auch "Dialektiker" daran, deren Meister Zenon gewesen und die die Kunst der Disputation entwickelt hätten, worauf sich die Sophistik stütze.

"Major Zenone erat Pythagoras." (ebd., 58) Die Lehre "de immortalitate animae" wird genannt; in Italien habe er einen philosophischen Orden "strictissimae observantiae" begründet; sein Aussehen und sein Antlitz wird gerühmt. "Imaginatio ejus pictor fortis et elegans, intellectus sagacissimus, ratio purissima". (ebd., 59). Seine Schüler hätten, an ein Schweigegebot gebunden, zum Ziel gehabt, "veram Dei cognitionem, humanitatem et justitiam inter homines introducere".[62]

Nun wird Sokrates dargestellt, den moderne Autoren den Philosophen des gesunden Menschenverstands nennen ("Philosophum sani intellectus nominare recentioribus placet", ebd., 59). Solche Beinamen finden wir bei Wenzel noch öfter: Platon sei der Philosoph der Vernunft ("Philosophus rationis"), Aristoteles der Verstandesphilosoph ("Philosophus intellectus"). Neben Sokrates wird Platon sehr positiv dargestellt: er ist der "Pythagoras temporis sui", wogegen der ihm an Wissen überlegene Aristoteles merklich schwächer davonkommt, alles, selbst die Poetik einem Regelwerk unterworfen habe und überdies keinen guten griechischen Stil schreibe. Werden von Sokrates und Platon jeweils die fünf wichtigsten Thesen aufgezählt, die sich vornehmlich auf die Existenz Gottes und die Aufgaben des Menschen beziehen, so wird bei Aristoteles vermerkt, niemand habe so viele Definitionen und Termini gefunden wie er.

Die folgende Darstellung über Epikur und die Stoiker ist lapidar; eine ausführlichere Darstellung wird für den Abschnitt über praktische Philosophie in Aussicht gestellt.

Nachdem noch die skeptische und die alexandrinische Schule kurz geschildert werden, nennt Wenzel, bevor er zu den Römern überleitet, die drei Philosophenschulen der Juden zu dieser Zeit: die Pharisäer, Essener und Sadduzäer. Ganz unangemessen ("valde improprie sic dicta", 63) sei die Bezeichnung des gnostischen und neuplatonischen Denkens als einer "Philosophia orientalis" gewesen.

Ich übergehe weitere Einzelheiten; die Philosophie der Scholastik wird in gewohnter Abfälligkeit gekennzeichnet: "Regnante hac aetate ignorantia, nil aliud inde evenire poterat, quam abominabile aggregatum conceptuum obscurorum, idearum confusarum, terminologiarum, quarum numerus legio, quaestionum disputabilium, et subtilitatum nullius usus fructusque.", ebd., S.65. All dem habe die Philologie im Verein mit der Reformation glücklich abgeholfen, sodaß nun die großen Denker der Neuzeit zu Wort kommen. "A Cartesio ad Kantium usque ad Fichteum - non ignoramus Jacobi et plures alios - quanta gravissimorum virorum series|", ebd., S. 66.

Es genügt, scheint mir, nun noch die Überschriften der weiteren Abschnitte dieser kurzen Geschichte der Philosophie aufzuzählen, die freilich kürzer sind, als der erste, in dem alles bisher Referierte zu lesen war. Die Paragraphen 47 - 69 tragen also die Titel: Cartesius, Malebranche, Berkeleyus, Spinoza, Leibnitzius, Wolfius, Lockius, Hume, Montaigne et Mandeville, Philosophia Morum Philosopho-Theologorum, Grotius, Hobbesius, Puffendorfius, Clarke et Wollaston, Shaftesbury, Rochefoucault, Hutcheson, Ferguson, Smith, Philosophia Moralis Wolfii, Platnerus, Garveus, Kantius.

Auch an dieser Auswahl kann bemerkt werden, was bei anderer Gelegenheit schon gesagt wurde: die Präsenz der politischen (und auch ökonomischen) Theoretiker ist auffallend stark. Der Streit der Fakultäten scheint im damaligen Österreich immer wieder für die juridische Fakultät entschieden worden zu sein.

Selbst die epochale Stellung Kants wird hier letztlich nur in seiner Handlungstheorie gesehen: "Ante Kantium Summum in homine scientia putabatur; Kantius Summum in homine modum agendi statuit." (S. 86)

Der Titel des Werkes, das diese Philosophiehistorie enthält, ist gewiß nicht mehr scholastisch (wie Klaus` "Introductio"), sondern gibt sich kantischen Anstrich bei gleichzeitiger Beibehaltung wolffischer Ausdrucksweise: erinnern die Elementa philosophiae eklatant an den Titel von Baumeisters Schulbuch, das Wenzel wohl ersetzen wollte, so zeigt der Zusatz methodo critica adornata den kantischen Einfluß an. Freilich klingt mir das Ganze nicht sehr klar: im Sinn des Kantianismus konnte es wohl nicht liegen, einzelne "Elementa" ordentlich, aber ohne deduktiven Zusammenhang aufzuführen.

Die Uneinheitlichkeit, die das ganze Werk kennzeichnet, trifft auch auf die Historie zu. Vertritt Wenzel explizit die Einsicht des Subjekts als höchster Instanz, so schildert er andererseits Pythagoras gerade wegen dessen exoterischer Lehre, nicht-öffentlicher Wissenschaft und Disziplin.

Ich sehe in Wenzel einen Autor, der die damalige Moderne, also vor allem die kantische Philosophie, in einer solchen Art aufgenommen und verbreitet hat, daß sie in eine eklektische, grundsätzlich pragmatische Denkform passen konnte. Daher kann ich hier auch nicht von einem Retardieren sprechen. Wenzel ist aktuell, er spricht von der neuesten Philosophie. Es liegt, auch im Vergleich zu anderen ähnlichen Schulen in Deutschland, keine verzögerte Rezeption vor. Was aber doch auch hier eigentümlich ist, ist wieder die repetierende Aufnahmeform: das Neue wird in das Alte so integriert, daß es zwar nicht ganz konsistent damit wird, jedoch gerade dadurch ermöglicht, bei offensichtlicher Modernität die alten Themen und Problemstellungen weitgehend beizubehalten.


ANMERKUNGEN

[1]Belege für diese Schweigsamkeit sind Legion. Neuere Arbeiten, die eine Ausnahme dazu bilden, wurden vor allem von Haller und Nyiri unternommen. Eine bis in antike Traditionen zurückgreifende Darstellung, wie sie etwa Kampits vorgelegt hat, kann keinen überzeugenden Beleg für eine innere Einheit einer so weit gefaßten österreichischen Tradition erbringen, sondern bleibt auf die Einheit des Ortes reduziert. Dies wäre allerdings in kultur- und geistesgeschichtlichen Rekonstruktionen gewiß unzulänglich - man könnte mit dieser Methode den sicher unplausiblen Versuch machen, Poppers Offene Gesellschaft, weil der Text in Neuseeland entstanden sei, mit dem Denken der Maori zu verknüpfen.

[2]Vgl. Galtung 1983, Wallerstein 1979, sowie die kritischen Berichte über die Frage des Kulturimperialismus anläßlich des 1985 in Mexico abgehaltenen InterAmerican Congress of Philosophy in: Proceedings and Addresses of The American Philosophical Association, Vol.59, No.5, June 1986, 753-59

[3]Vgl. dazu: Kurt R. Fischer, Hg.: Das goldene Zeitalter der österreichischen Philosophie. Wien: WUV 1995

[4]Vgl. Kann 1962

[5]Kauz 1755, S. b4. Zur Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte Österreichs für die fragliche Zeit vgl. insbesondere Cikan 1812, Kalina 1819, Luca 1776-78, Pelzel 1773-75, 1786, Prochaska 1782, Sartori 1820, Schersnik 1810, Schlegel 1815, Seivert 1785, Voigt-Born-Pelzel 1773-75, Winckler 1810. Diese Werke sind zum Thema in habsburgischen Ländern in deutscher (bzw. lateinischer) Sprache geschrieben worden. Zur Wissenschaftsgeschichte Ungarns vgl. Steindler 1988.

[6]Gumposch 1851, 262; die "Anwerbung" Riedels ist, nach Wurzbachs Darstellung, wohl weniger auf die für die österreichische Wissenschaftspolitik Verantwortlichen, als vielmehr auf die Vermengung privaten Mäzenatentums und öffentlicher Akademiepolitik im theresianischen Zeitalter zurückzuführen. Traurig, und wohl auch symptomatisch ist die Berufung Riedels dennoch.

[7]Pelzel 1773, XXIII

[8]Gumposch 1851, 261f.

[9]Gmeiner 1789, Bd.2, 664f. Gmeiner ist hier im Datum nicht ganz zuverlässig, da er S. 95 schreibt: "Als im Jahre 1773. die Mitglieder des erloschenen Jesuitenordens von den Lehrstühlen ... entfernt wurden..." Mehr Wahrscheinlichkeit hat wohl 1774, da der Orden ja erst 1773 aufgehoben wurde. Zudem stellt er (Bd. II, 601) fest: "Auch die Jesuiten in den österreichischen Erbländern haben in dem letzten Jahrzehend vor ihrer Aufhebung auf den ihnen anvertrauten Schulen nach der wolfischen Logik und Metaphisik gelehret; doch haben sie die beßte Welt, und die vorherbestimmte Harmonie, wie auch seine Erklärung der Freiheit der Seele, und seine Moralphilosophie beständig geleugnet."

[10]Gmeiner ebd., 96

[11]Wurzbach 1864, 11. Teil, S.14

[12]Wurzbach 1887, 55. Teil, S.13

[13]Vgl. dazu Sauer, 1982

[14]Wenzel, Canonik, 1801, 79

[15]Gmeiner diskutiert (ebd., 98-102, hier:102) bei dieser Gelegenheit auch das Für und Wider der lateinischen Gelehrtensprache, bzw. die Problematik einer übernationalen oder universalen Sprache überhaupt. Für die Lebensanforderungen, stellt er fest, sei es allemal besser, in der Volkssprache ausgebildet zu sein. Das im 19. Jahrhundert und bis heute auftretende Problem, daß es sich hierbei um die deutsche Volkssprache handelt, bereitet ihm noch kein großes Kopfzerbrechen: "Was endlich die Bemerkung betrift, daß fast in keiner österreichischen Provinz die deutsche Sprache durchaus die Volkssprache sei, so hat dieser Unbequemlichkeit die seit einigen Jahren durchaus eingeführte Normalschule schon größtentheils abgeholfen."

[16]Gmeiner ebd., S. 96 f

[17]Gmeiner, ebd., S. 102 f; :"in der Zeit von 1782 bis 1827 war die Universität (scil. Graz, F.W.) zum Lyceum degradiert." (Szép-Kroath, Durch Jesuiten und Klöster groß geworden, in: Börsenblatt 21/14.3.1986, S. 790)

[18]Mezburg 1788

[19]ebd., S.16

[20]Rückbrod 1977, 153

[21]Mezburg 1788, 19

[22]Zedler 1752, Suppl.Bd.III, Sp. 247f.

[23]ebd.

[24]Gumposch 1851, 216f.

[25]vgl. Wundt 1945 passim.

[26]Die mir vorliegende Ausgabe der Elementa (Wien 1774) hat kein Inhaltsverzeichnis, lediglich ein Sachregister, und weist einige schwer verstehbare Inkonsistenzen in der Gliederung auf. Es ist kaum einzusehen, daß ein Lehrbuch von der Qualität dieses Bandes solche Urteile wie das eingangs von Gmeiner angeführte gerechtfertigt habe, wenn man die verhältnismäßig klar aufgebauten Lehrbücher etwa von Storchenau zum Vergleich heranzieht. Die Seitenangaben in der folgenden Darstellung beziehen sich auf die genannte Ausgabe.

[27]Vgl. Sauer xxx

[28]Klaus, Brevis Introductio in philosophiam comprehendens tum doctrinam ... tum historiam philosophiae, Wien, 1757. Klaus ist, wie seine beiden Brüder, jung in den Jesuitenorden eingetreten und hat Mathematik in Ofen und Kaschau, Philosophie in Ofen und Wien (Theresian. Ritterakademie), sowie Kirchenrecht in Tyrnau und Theologie in Erlau gelehrt. Nach der Aufhebung des Ordens war er Zensor in Preßburg. Sein Nachruf findet sich in der Wiener Zeitung 1792, S. 3313; Darstellung bei Wurzbach Bd. 12, S. 22

[29]Vgl. Neue Freie Presse, 1865

[30] vgl. Abbé Batteux: Geschichte der Meinungen der Philosophen von den ersten Grundursachen der Dinge, übers. v. Engel, Mitau 1774 (zuerst frz., London 1769 - war recht populär und in mehreren Wiener Bibliotheken zu finden). Darin werden die "12 Jahrhunderte" des Mittelalters auf einer (von 346) Seite erledigt, was sich beinahe zur Gänze zitieren läßt: "Sollten wir uns in die Philosophie der Kirchenväter einlassen...? Oder sollten wir uns lange bey den Scholastikern aufhalten, die bloß der Philosophie der Kirchenväter eine barbarische Gestalt gegeben, und einen Haufen unnützer, oft lächerlicher Fragen hinzugethan haben? Der Leser wird uns vielmehr Dank wissen, wenn wir ihn auf einmal in die glücklichen Zeiten versetzen, in welchen der menschliche Geist, nach einer Unwissenheit von zwölf Jahrhunderten, gleichsam von vorne wieder angefangen und frey von vorgefaßten Meynungen eine ganz neue Philosophie auf die Bahn gebracht hat." Es scheint mir, daß das Vergessen der Scholastik in so extremer Weise in Österreich nie stattgefunden hat oder angezielt wurde. Ich sehe darin eine der Wurzeln für den starken Anklang, den Brentanos Denken in Wien und anderen österreichischen Universitäten fand, kann diesen Punkt aber noch nicht hinlänglich belegen.

[31]Klaus, ebd.

[32]Klaus, ebd.

[33]Marginalia bei Klaus ebd., 23 ff

[34]Solé, 1982, S. 110

[35]Der ganze Titel lautet: .... Zeit continuiret Und mit einer nützlichen Einleitung vor die Anfänger Und vollständigem Register versehen, Hamburg,

[36]Hübner ebd., Teil 5, 1703, S. xxx

37Werdermann xxx

[38]Der Benediktiner Gabriel Bucellinus hatte 1678 Der gantzen Universal Historia Nußkern etc. vorgelegt, worin sich unter der Jahreszahl 3414 nach der Erschaffung der Welt die Eintragung findet: "Thales der Milesier wird geboren". Dieser - mittleren unter den konkurrierenden und bis zu 1000 Jahren voneinander abweichenden - Theorie des Salianus scheint also auch noch Werdermann zugestimmt zu haben.

Der von Formey, dem Sekretär der Berliner Akademie der Wissenschaften herausgegebene Abrégé de toutes les sciences à l`usage des enfans de six ans jusqu`à douze ist in Wien 1796 verlegt worden und bringt (natürlich für die Elementarstufe) noch folgende Auskunft über die frühe Geschichte:

D. Comment divise-t-on l`histoire universelle? R. En histoire ancienne, qui comprend l`espace de tems qui s`est écoulé depuis la création jusqu`à Jesus Christ, savoir 4000 ans, et en histoire moderne depuis Jesus Christ jusqu`à nos tems. D. Que savons-nous de ce qui s`est passé dès le commencement pendant l`espace de 2500 ans? R. Rien que ce que Moïse, le plus ancien des historiens, nous rapporte dans la Bible. (S. 220)

[39]Gottsched, 1756, S. 7 ff.

[40]Klaus, ebd., S. 37

[41]In allen von mir in Österreich besuchten Bibliotheken gab es Arbeiten von Brucker, Bayle, Heumann, Meiners etc.

[42]Frid. Christ. Baumeister, Instit. philos. rational., SS 460, zit. nach Gmeiner, 1787. Wenn es sich auch nur um eine programmatische Beschreibung handelt, ist doch schon aus diesem Text, den Gmeiner zum Motto wählt, jene vergleichsweise unsystematische Behandlungsweise der Philosophiegeschichte zu erkennen, welche die etwa gleichzeitig schreibenden Kantianer so entschieden verurteilen werden. Die "fata librorum" gehören zur Geschichte der allgemeinen Kultur, die "recensio scriptorum" ist eine philologische Zielsetzung, historische und systematische Fragestellungen gehen durcheinander. Werdermann trennt die beiden Bereiche ganz deutlich, auch sein Buch erscheint in Graz. Die materialreiche und umfängliche Schrift Gmeiners aber trägt durchaus diesen uneinheitlichen Charakter, der schon im Motto zum Ausdruck kommt.

[43]Nach Wurzbach xxx

[44]Gmeiner 1788, Bd. II, 107; doch scheint dem Autor bei den "2000 Jahren" die Feder durchgegangen zu sein. Selbst wenn wir, obwohl Gmeiner die Renaissance schon mit Dante, Boccaccio und Petrarca (also im frühen 14. Jahrhundert) beginnen läßt, annehmen, erst um 1600 sei wirklich von der Neuzeit zu sprechen, so kämen wir immerhin in die Jugendzeit Platons zurück, zu der die Tyrannei der Hirngespinste begonnen habe, und das meint Gmeiner sicher nicht.

[45]Gmeiner 1788, Bd. II, S. 599

[46]Gmeiner, ebd., II, 104 f.

[47]Einen Eindruck von den rhetorischen Vorstellungen der Zeit vermitteln die Institutiones ad eloquentiam ... ad usum scholarum austriacarum, Vindobonae, Trattner, 1801

Die Seiten 443 bis 515 enthalten einen Anhang mit deutschen Texten (Lessing, Gellert, Sallust) und der langen Rede auf Marien-Theresien, ... an ihrem Geburtstage in einer feyerlichen Versammlung der deutschen Gesellschaft gehalten von J.E. von Sonnenfels. Ausdrücklich wird festgestellt, daß die "Regeln zur Beredsamkeit ... in allen Sprachen die nämlichen" seien, und daß die Geburtstagsrede von 1762 nicht aufgrund von "Vorurtheil" oder "Nationalstolz" enthalten sei, sie vielmehr "selbst von ausländischen Kunstrichtern" als "ein vorzügliches Muster der ächten deutschen Beredsamkeit ... erkannt" worden sei. Vgl. ebd., 443

[48]Vgl. dessen Einleitung in die schönen Wissenschaften

[49]Man vergleiche dazu Heumanns These von der unterschiedlichen Verteilung der philosophischen "ingenia" 1715, s.o.

[50]Ebd., S.12. Die Berufung an dieser Stelle auf Wolff ist beinahe überflüssig; auch die Beispiele für andere Definitionen von ,Philosophie`, bei antiken Schriftstellern aufzufinden, finden sich genau gleich in Baumeisters Elementa.

[51]Die bekannten Gründe und Gegengründe werden referiert, wie sie Braun (1973) nach Autoren wie Jonsius, Vossius und anderen dargestellt hat.

[52]ebd., 16 f

[53]ebd. S. 18

54ebd., S. 20

[55]Wenzel, Elementa Philosophiae, Bd. I, Lincii 1806, S. 19 f.; als einzigen österreichischen Philosophen nennt Wenzel in diesem Zusammenhang übrigens den "Professor Philosophiae Viennensis, clarissimum Karpe" mit dessen Philosophie ohne Beynahmen, ebd. 22

[56]Band I der Elementa Philosophiae Methodo critica; der Band enthält außer der Introductio noch die Logicam, Lincii: Eurich, 1806 In der Introductio werden folgende Themen behandelt: Begriff und Name der Philosophie, Verfall und Wiederherstellung, Kennzeichnung der eigenen Schule; Erkenntnisformen (objektive, empirische, historische; apriorische und aposteriorische Erkenntnis; mathematische und philosophische Erkenntnis; Teilgebiete der theoretischen, der praktischen Philosophie; Stand und Gebiete der Logik, der Metaphysik; theoretische Anthropologie; Metaphysik der Sitten oder reine Morallehre; praktische Anthropologie oder angewandte Morallehre; philosophische Rechtslehre; Klugheitsregeln; Politik, Politie und Ärarwissenschaft; Verhältnis von Theorie und Praxis; Zweck der Vernunft; Nutzen der philosophischen Studien; Verhältnis der Philosophie zu anderen Wissenschaften; Hilfswissenschaften der Philosophie; Regeln zum rechten Philosophieren; bemerkenswerteste Philosophemata; Grundprinzip der Philosophie - und, in 27 von 69 Paragraphen, Geschichte der Philosophie.

[57]Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Vermischte Schriften, Leipzig: Insel, 1912, 272

[58]Es sei hier an die Formel erinnert, die Heumann 1715 für seine Vorstellung von der Entwicklung der Philosophie gefunden hat.

[59]Zwei Erinnerungen drängen sich hier auf: Vicos Unterscheidung der drei Zeitalter gemäß der Vorherrschaft der jeweiligen Geistesfähigkeit (Fantasie, Wille, Verstand), die jedoch gerade nicht einen Vergleich ("quo rudior") dieser Art zulassen. Vico war zu dieser Zeit unbekannt.

Die andere Erinnerung mag entlegen klingen, scheint mir aber durchaus auch erwähnenswert: Sinnlichkeit wird in aller Regel der europäischen Denkgeschichte dem weiblichen Geschlecht in höherem Grad zugeschrieben, als dem männlichen. Weiningers klassische Formel, das Weib sei stets, der Mann nur intermittierend sexuell, bringt diese Zuschreibung lediglich in eine plakative Form. Wenn meine Assoziation hier richtig ist (und auch für den Autor Wenzel und seine Leser plausibel gewesen wäre), so ist die Ausgrenzung weiblicher Beiträge aus der Geschichte des Denkens (in französischer Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts durchaus nicht so selbstverständlich, wie die Schrift des Menagius beweist) hier auch kulturtheoretisch untermauert.

[60]Ich folge hier genau der Reihenfolge der Darstellung und betone dies deshalb, weil sie mir weder in chronologischer, noch in systematischer Hinsicht einleuchtend erscheint.

[61]Hier finden wir keinen Anklang mehr an eine andere Zeitrechnung. Es scheint mir ein bedeutsames Datum in der Entwicklung des historischen Denkens, wo das "Jahr der Welt" (oder auch andere Berechnungen: Olympiaden, Stadtgründungen, Stanleys "aera philosophica" etc.) außer Gebrauch kommen. Es handelt sich nun um einen Zeitpunkt, von dem aus vor und zurück gerechnet wird. Damit ist dieser scheinbar aufgewertet. Es liegt darin aber auch schon die Möglichkeit, ihn als Konvention (wie das Metermaß, für welches es, wenn man schon will, doch auch natürliche Gründe gibt) zu betrachten.

[62] ebd., 59; ich kann mich bei Wenzels Darstellung des Pythagoras des Eindrucks nicht erwehren, daß hier ein geheimbündlerisches (freimaurerisches?) Idealbild geschildert wird.