Einleitung
VL 9: Marxismus
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Geschichte der Philosophiehistorie(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)EinleitungThemen:Begriffliches: Perspektivität | Philosophiebegriff | Systematisch vs. historisch Thesen zum Gegenstand: Historizität
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Empirizität |
Reflexivität
Gattungen, Beschreibungsformen, Funktionen:
Wenn wir uns mit der Geschichte der Geschichtsschreibung der Philosophie befassen, so ist es nicht nur nützlich, sondern notwendig, vorweg einige begriffliche Überlegungen darüber anzustellen, was mit den einzelnen Ausdrücken bezeichnet werden soll, also mit "Philosophie", mit deren "Geschichte" und mit der Beschreibung dieser Geschichte. Wir haben es hier mit einer akademisch-wissenschaftlichen Disziplin zu tun und wollen wissen: ist diese historische Disziplin, deren Gegenstand die Geschichte oder Abschnitte aus der Geschichte der Philosophie sind, überhaupt eine Wissenschaft? Wenn ja, was macht sie dazu, das heißt: aufgrund welcher Daten, Erklärungen oder Theorien bringt sie Erkenntnisse und wie zuverlässig sind diese? Aufgrund welcher Probleme und Fragestellungen befassen wir uns mit der Geschichte der Philosophie, wozu hat man sich in anderen Epochen damit befaßt, in ähnlicher oder auch in anderer Weise als in der Gegenwart? Derartige Fragen stehen hinter den einleitenden methodologischen Überlegungen, auf deren Hintergrund wir uns mit einigen wichtigen Stationen in der Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung befassen werden. Es gibt zunächst einmal die Möglichkeit, da von einer historiographischen Disziplin die Rede ist, diese mit anderen ähnlichen Disziplinen zu vergleichen. Eine ganze Reihe davon könnte in Frage kommen: die Geschichte der Literatur, der Wissenschaft, der Kunst, die Sozialgeschichte, Religionsgeschichte, aber vielleicht auch die Staatsgeschichte oder die Geschichte der Lebensformen bis hin zur Geschichte der Arten. Insgesamt sind diese und andere einschlägige Disziplinen sowohl in der Gegenwart als auch in ihren historischen Entwicklungen so weitreichend voneinander verschieden, daß sie nicht nur in der Verwaltungspraxis von Universitäten oft getrennt sind, sondern auch in ihren Terminologien, ihren Theorieansätzen und Gegenstandsbestimmungen wenig Gemeinsamkeiten aufweisen. Wenn das so ist: können oder sollen wir die Philosophiehistorie dann überhaupt mit einer dieser Disziplinen vergleichen? Ist es nicht vielleicht so, daß diese Disziplin einen ganz eigenartigen Gegenstand, eine besondere Terminologie und eigene Fragestellungen hat, die für die anderen historischen Disziplinen so nicht gegeben sind? Oder anders gefragt: sollte die Geschichtsschreibung der Philosophie sich denn überhaupt mit Fragen befassen, wie sie etwa von der Geschichte der Kunst, der Architektur, der Literatur oder auch der Politik behandelt und zu klären gesucht werden? Sollte sie womöglich auch die Geschichte der Kulturformen oder der biologischen Arten berücksichtigen? Ist nicht der Entwicklungsgang der Philosophie von all diesen Gegenständen so unabhängig, daß seine Geschichte gleichsam in einer autonomen Weise beschrieben werden muß? Zumindest ein Sachverhalt spricht gegen ein derart autonomistisches Verständnis der Geschichte des philosophischen Denkens, nämlich der Umstand, daß dieses Denken stets mit den Mitteln einer Zeit, Kultur, Sprache vor sich geht und sich nicht anders äußern kann als mit solchen besonderen Mitteln. Es ist aber auch auffallend, daß immer wieder so etwas wie Familienähnlichkeiten zwischen den Ausdrucksformen der Philosophie und denjenigen anderer geistiger Tätigkeiten, etwa der Musik, der Architektur, der Literatur, oder auch der Kochkunst vorkommen - sodaß es nicht einfach absurd klingt, von einer byzantinischen oder chinesischen Küche und Dichtkunst ebenso zu sprechen wie von einer byzantinischen oder chinesischen Philosophie. Ein zweiter Umstand zwingt uns außerdem noch dazu, ein allzu autonomistisches Verständnis von "Philosophie" und deren "Geschichte" abzulehnen: es sind nicht einfach nur die Ausdrucksmittel des Denkens verschieden - das könnte man vielleicht noch als Frage des Stils für nebensächlich halten -, sondern auch dessen Objekte, dasjenige, worauf sich die Aufmerksamkeit des Denkens gerichtet, was es überhaupt als aufklärungsbedürftig, als problematisch erfaßt hat. Nicht nur das: es gibt durchaus auch Unterschiede darin, was jeweils als selbstverständlich und unproblematisch angesehen wird. In diesem Sinn könnte man sagen, daß es so etwas wie byzantinische und chinesische philosophische Fragestellungen oder Probleme gibt, die etwa von den US-amerikanischen oder afrikanischen philosophischen Fragestellungen der Gegenwart verschieden sind. |
Befassen wir uns etwas näher mit den literarischen Formen jener Arbeiten, die Titel tragen wie "Geschichte der Philosophie" oder ähnliche, und beschränken wir uns dabei nicht auf die unmittelbare Gegenwart und auch nicht nur auf die europäische Tradition, so werden wir bald bemerken, daß die Versuche von Philologen, Philosophen usw., "die" Geschichte "der" Philosophie zu beschreiben, ganz und gar nicht einheitlich sind: sie grenzen ihren Gegenstand auf sehr verschiedene Weise von anderen Gegenständen ab; sie verwenden unterschiedliche Erklärungsmuster und Begriffe, um ihn zu erfassen; immer wieder ändern sich die Namen, aber auch die Abgrenzungen für Perioden, Schulrichtungen oder auch für spezielle Bereiche der Philosophie, sodaß man nicht ein für allemal von ihnen erfahren kann, ob etwa die Ausführungen von Christian Wolff über die menschliche Seele in die Geschichte der speziellen Metaphysik, der Theologie oder in diejenige der Psychologie gehören; oder ob Oswald Spenglers Darlegungen darüber, wie der Mann Geschichte macht und das Weib Geschichte ist, ein Stück aus der Geschichte der Geschichtsphilosophie sei oder bloß aus der Geschichte der patriarchalischen Psychopathologie. Da solcherlei nicht bloß eine Frage des Sprachgebrauchs ist, sondern das Verständnis der Problemformulierung wie der formulierten Theorien, und letztlich das Verständnis davon betrifft, welcher Art Probleme die Philosophie lösen soll oder kann, ist es notwendig, sich über einen Begriff von Philosophie zu verständigen, der aus der Geschichte - oder zumindest aus der Geschichtsschreibung - dieser Disziplin nicht zu gewinnen ist, jedenfalls dann nicht, wenn man der Regel nicht folgt, die Mephisto dem Schüler bezüglich des Theologiestudiums gibt: "Am besten ist's auch hier, wenn Ihr nur einen hört, Und auf des Meisters Worte schwört."
Damit nicht der Eindruck entsteht, ich hätte hier bewußt abseitige Beispiele gewählt und die Normalität sei doch recht plausibel, möchte ich einen Fall erwähnen, der zeigt, was einem Schüler zustoßen kann, wenn er mehr als einen "Meister" liest: es kann ihm buchstäblich zweifelhaft werden, ob sich hinter dem Namen "Immanuel Kant" nicht doch vielleicht mehrere Personen verbergen. Ich nehme an, der "Schüler" liest nicht Kants eigene Arbeiten, sondern orientiert sich in vier verschiedenen Darstellungen: in Russells "Philosophie des Abendlandes", in der "Geschichte der Philosophie" der Akademie der UdSSR, in dem von Haering herausgegebenen Band "Das Deutsche in der Deutschen Philosophie" und schließlich in Coplestons "A History of Philosophy". Mir als Leser zumindest erscheint nach dieser Lektüre Kant nicht mehr als gefestigte Denkpersönlichkeit, aber es ist mir auch nicht mehr klar, was eigentlich den Philosophen Kant ausmacht. Russell schildert mir "Kant" als einen großen Erkenntnistheoretiker. Sein Hauptwerk sei die "Kritik der reinen Vernunft", das vorkritische Werk sei Vorbereitung dafür, die späten Arbeiten seien nicht mehr ernstzunehmen. Nach Auffassung der Akademie hatte "Kant" seine großen Leistungen in der vorkritischen Periode als Theoretiker der Naturwissenschaften. Später verstrickte er sich mehr und mehr in Widersprüche, spiegelte damit die Situation des deutschen Bürgertums im Feudalstaat; diese Widersprüche waren fundamental und für "Kant" nicht zu lösen: zwischen dem Ding an sich und der Erfahrungswelt, zwischen der Unmöglichkeit einer natürlichen Theologie und der notwendigerweise vorausgesetzten Existenz Gottes, usw. Das Spätwerk sei ein Rückfall in die Metaphysik. Der deutsche "Kant" wiederum habe die Vernunftkritik zwar anstellen müssen aus der "Artung" des Deutschen heraus, überall bis an die Grenze zu gehen, aber er sei, als preußisch-protestantischer Heros, dem damit verbundenen französischen Zeitgeist doch nicht auf Dauer verfallen. Sein Denken laufe auf die "Kritik der Urteilskraft" hinaus, das Alterswerk sei die Krönung, wofür die "Kritik der reinen Vernunft" lediglich eine später entbehrliche Vorstufe war. Ein wieder anderer "Kant" begegnet mir bei Copleston: nun steht doch wieder die "Kritik der reinen Vernunft" als das zentrale Werk da, aber es ist weniger eine Theorie der Erkenntnis, als vielmehr der mißglückte, weil verkürzte Versuch einer Metaphysik. "Kants" Unklarheiten und Widersprüche (hier ganz ähnlich wie von der Akademie aufgezählt) seien auf seine Unkenntnis der philosophischen Tradition zurückzuführen.
Ich will mit diesem (gewiß sehr verkürzten) Exzerpt zum Thema "Kant" aus vier Meistern keineswegs sagen, daß ich meinerseits klar wisse und sagen könne, was Kant gedacht hat und was daran warum wichtig und bleibend ist. Worauf ich aufmerksam machen wollte, ist nur: das Ergebnis dessen, was Philosophiehistorie tut, ist jeweils eine "story". Auch meine story ist (nur) eine story. Selbst wenn manche dieser stories so gut erzählt sind, daß es den Zeitgenossen fast unmöglich erscheint, sie anders zu erzählen, so relativiert sich auch dieses Vertrauen in die story-teller mit gewissem zeitlichem Abstand. Für zahlreiche stories über die Philosophie des Mittelalters, wie sie uns aus der frühen Neuzeit und der Aufklärung überliefert sind, kann als ein (heute sicher für die meisten unplausibel klingendes) Beispiel die Darstellung des Abbé Batteux stehen, der in einem Absatz von der Spätantike zu Descartes übergeht, wobei es etwa heißt:
"Oder sollten wir uns lange bey den Scholastikern aufhalten, die bloß der Philosophie der Kirchenväter eine barbarische Gestalt gegeben, und einen Haufen unnützer, oft lächerlicher Fragen hinzugethan haben? Der Leser wird uns vielmehr Dank wissen, wenn wir ihn auf einmal in die glücklichen Zeiten versetzen, in welchen der menschliche Geist, nach einer Unwissenheit von zwölf Jahrhunderten, gleichsam von vorne wieder angefangen und frey von vorgefaßten Meyungen eine ganz neue Philosophie auf die Bahn gebracht hat." (Geschichte der Meinungen der Philosophen von den ersten Grundursachen der Dinge, dt. 1774)Es wäre zu wenig, wenn einem ein solches Urteil oder eine solche story unplausibel erscheint, nur zu sagen: wir wissen es heute besser. Es ist wichtiger, danach zu fragen, was wir heute wissen wollen und warum. Die Texte des Thomas von Aquin oder des Wilhelm von Ockham und vieler anderer wären auch Batteux und seinen Zeitgenossen zugänglich gewesen, und wenn sie es nicht waren, hätten die Philologen sie edieren können, wenn sie daran interessiert gewesen wären.
Ich treffe nun zuerst eine sprachliche Festlegung, die schon bisher verwendet wurde: es gibt eine historiographische Disziplin, die ich "Philosophiehistorie" nenne; deren Gegenstand ist (ein Teil der) "Geschichte der Philosophie" bzw. der "Philosophiegeschichte". Dieses Skriptum konzentriert sich auf einige historische Erscheinungsformen der Philosophiehistorie.
Die getroffene Unterscheidung hat ihre Parallelen bei anderen Geschichtswissenschaften: die Kriegsgeschichtsschreibung ist nicht selbst eo ipso ein kriegerisches Unternehmen, die Wirtschaftsgeschichte ist nicht ein Zweig der Wirtschaft, die Kunstgeschichte muß nicht selbst Kunst produzieren usw. In der Philosophiegeschichte und bei ihrer Historiographie könnte ähnliches zutreffen: einerseits gibt es da die Philosophie, sie hat ihr Entstehen, Sich-Verändern, Einflußnehmen, Vergehen, wie alles, was in der Zeit ist. Dieses Sich-Verändernde interessiert nun den Historiker, und wenn er dann interpretiert, übersetzt, zusammenfaßt, erklärt, was da im Denken von Philosophen vor sich gegangen ist, so philosophiert er damit selbst noch nicht. Gegen diese einfache und scheinbar auf der Hand liegende Unterscheidung ist ein Einwand von einem Autor vorgebracht worden, der auf beiden Gebieten, in der Philosophie wie in deren Historiographie, außergewöhnlich schöpferisch war. Hegel sagt am Beginn seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie:
"Der Gedanke, der uns bei einer Geschichte der Philosophie zunächst entgegen kommen kann, ist, daß sogleich dieser Gegenstand einen inneren Widerstreit enthalte. Denn die Philosophie beabsichtigt das zu erkennen, was unveränderlich, ewig, an und für sich ist. Ihr Ziel ist die Wahrheit. Die Geschichte aber erzählt solches, was zu einer Zeit gewesen, zu einer anderen aber verschwunden, und durch Anderes verdrängt worden ist. Gehen wir davon aus, daß die Wahrheit ewig ist: so fällt sie nicht in die Sphäre des Vorübergehenden, und hat keine Geschichte. Wenn sie aber eine Geschichte hat, und indem die Geschichte dieß ist, uns nur eine Reihe vergangener Gestalten der Erkenntniß darzustellen: so ist in ihr die Wahrheit nicht zu finden; denn die Wahrheit ist nicht ein Vergangenes." (Hegel, Begriff der Geschichte der Philosophie = Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Einleitung)Daß Hegel hier seine Lösung des Dilemmas schon andeutet, die darin bestehen wird, daß er in der Geschichte des Denkens eben nicht "nur eine Reihe vergangener Gestalten der Erkenntniß" sieht, wird uns später beschäftigen. Hier steht einmal nur die Behauptung, von einer "Geschichte" der "Philosophie" zu reden, sei so, als wolle man von einem "viereckigen Kreis" reden. Es wäre dem gegenüber zu einfach, darauf zu verweisen, daß es doch immerhin ein Entstehen und Vergehen von Schulen und Terminologien, Methoden und Problemformulierungen gebe, daß es förderliche und hinderliche Bedingungen für das Philosophieren gebe usw. All das sieht Hegel so gut wie jeder und sagt, daß das "zu interessanten Fragen Veranlassung" gibt. Aber er bleibt dabei, daß von all dem - von der Sprachgeschichte, der Soziologie, der Untersuchung politischer oder weltanschaulicher Bedingungen - doch nur die "äußerliche", nicht die "innere" Geschichte der Philosophie betroffen sei.
Wir brauchen nicht zu behaupten, es gebe so etwas wie eine "innere" Geschichte der Philosophie, um aus der "äußerlichen" Geschichte der Philosophiehistorie etwas zu lernen über die Voreingenommenheiten jedes Blicks auf die Geschichte; auch zu lernen, daß mit dem Wort "Voreingenommenheit" - wie mit dem älteren "Vorurteil", das die Aufklärung gern verwendet hat - zwar etwas Wertendes, aber nicht eindeutig die Richtung der Wertung gegeben ist. Man kann zu Unrecht voreingenommen sein: dann wird man enttäuscht oder bleibt in der Illusion. Man kann zu Recht voreingenommen sein: dann bemerkt man mehr und genauer.
Wir müssen als Voraussetzung jeder Analyse, auch der bloßen historischen Darstellung philosophiehistorischer Richtungen, etwas über den Begriff dessen sagen, wovon die Philosophiehistorie handelt. Wir können diesen Begriff nicht aus der Philosophiehistorie gewinnen, sonst befänden wir uns in einem Zirkel. Woher wissen wir, was unter "Philosophie" zu Recht verstanden werden soll?
Ein einfacher Weg liegt darin: Nennen wir all das und nur das "Philosophie", was unter dieser Bezeichnung an Universitäten derzeit unterrichtet wird. - Das ist leider nur dem Wortlaut, nicht der Sache nach einfach, denn darunter fällt Unvereinbares, Widersprüchliches, und zwar auch dann, wenn wir nur die Universitäten eines Landes vergleichen, aber erst recht, wenn wir unterschiedliche Epochen ansehen. Obwohl es sich also um eine sicher unbrauchbare Regel handelt, wenn wir uns den Begriff der "Philosophie" klarmachen wollen, so entspricht faktisch die Situation von Studierenden häufig weitgehend dieser Regel.
Ein zweiter Weg läge darin, daß man sich auf bestimmte Traditionen stützt. Am auffallendsten ist das dann, wenn Eigennamen eine Richtung der Philosophie bezeichnen - wie z.B. Platonismus, Aristotelismus, Konfuzianismus, Thomismus, Kantianismus, Hegelianismus, Marxismus etc. Der springende Punkt bei einer derartigen Zuordnung liegt darin, daß die jeweils eigene Option als die eigentlich einzig richtige angesehen wird. Das hat für einen historischen Vergleich dann den Nachteil, daß alle anderen Richtungen entweder als Vorstufen oder als Abirrungen qualifiziert werden müssen. Es hat den Vorteil, daß jeweils ein verhältnismäßig einheitliches und entwickeltes begriffliches und terminologisches System zur Behandlung aller Probleme zur Verfügung steht. Der entscheidende Nachteil dieser Option liegt jedoch darin, daß in jedem Fall ein außer Frage stehender Kanon von Problemen und Begriffen angenommen werden muß, ohne daß doch irgendeiner davon jemals außer Frage gestanden wäre.
Ein dritter Weg wäre es daher, formale oder methodologische Kriterien zur Abgrenzung von Philosophie und Nicht-Philosophie anzulegen. In der akademischen Praxis scheint ein solches formales Kriterium etwa darin zu liegen, daß bestimmte Formen gedanklicher Äußerung nicht akzeptabel sind, wenn etwas als "Philosophie" gelten soll. Beispielsweise sind ein Lied, ein allegorisches Bild, eine architektonische Struktur für gewöhnlich keine Kandidaten für die Kategorie "philosophische Werke", hingegen können Textinterpretationen dann darunter fallen, wenn die Verfasser der interpretierten Texte ihrerseits als Philosophen anerkannt sind. Im allgemeinen ist die Voraussetzung unwidersprochen, daß ein "philosophisches Werk" jedenfalls etwas Schriftliches sein müsse. Wie die Diskussion Platons über die Rolle des Schreibens beim Philosophieren, oder auch der Streit um die sogenannte Ethnophilosophie unter afrikanischen Philosophen der Gegenwart zeigen, ist diese Voraussetzung nur scheinbar unbezweifelt.
Viertens ließe sich philosophisches von nichtphilosophischem Denken auch noch auf eine kulturtheoretische oder rassistische Weise unterscheiden. Man könnte etwa sagen (und hat das auch gesagt): "Philosophie" im eigentlichen (oder "strengen") Sinn des Wortes sei die Errungenschaft (oder auch: das "Geschick") einer einzigen Kultur (der "abendländischen") oder einer einzigen Rasse (der "arischen"). Ob dies dann als Bürde (wie von Heidegger), als wertneutrales Merkmal (wie von Rorty) oder als Vorzug (wie von den meisten Rassentheoretikern und Eurozentrikern) angesehen wird, macht wenig Unterschied für die jeweils anderen, die damit jedenfalls aus der Philosophie hinauskomplimentiert sind, was immer sie denken mögen.
Keiner der vier genannten Wege orientiert sich in der Bestimmung des Begriffes der Philosophie an einer Sachfrage: der erste am Stand von Bildungsinstitutionen, der zweite an einer Art von heiligen Büchern, der dritte an der Form von Äußerungen und der vierte an der Zugehörigkeit von Individuen zu bestimmten Kollektiven. Könnte man denn aber auch nach Sachfragen abgrenzen? Gibt es Fragen, die nur die "Philosophie", wenn überhaupt eine Disziplin, behandeln, vielleicht lösen kann? Das würde man am leichtesten dann erfahren, wenn eine Frage, von der dies angenommen wird, endgültig und mit solchen Mitteln entschieden wäre, die aus keiner anderen Disziplin stammen als der Philosophie. Derartige Fragen scheint es nicht zu geben. Es wäre aber auch schon ausreichend, wenn es sich um Fragen handelt, die zwar nicht endgültig gelöst sind, die jedoch nur mit philosophischen Mitteln zu behandeln sind. Nehmen wir an, um die Möglichkeit des Bestimmens des Philosophiebegriffs an einer Sachfrage zu zeigen, die folgende Frage sei von dieser Art: Was ist Wahrheit? Um eine im Deutschen mögliche sprachliche Fixierung auf das Substantiv zu vermeiden, formulieren wir so: Was muß der Fall sein, damit ein wahrer Satz wahr ist? Es geht um den Begriff "wahrer Satz", nicht um die Kriterien, aufgrund deren wir feststellen können, ob ein bestimmter Satz "wahr" ist oder nicht.
Wir werden ausschließen können, daß etwa eine empirische Wissenschaft diese Frage mit ihren eigenen Mitteln zu beantworten sucht. Wenn es empirisches Wissen in dem Sinn gibt, daß wahre Sätze gewußt werden, so sagt uns das nichts über die Bedeutung von "wahr" in der Aussage: "Dieser Satz ist wahr." Ob nun die eine, die andere oder gar keine der bisher in dieser Frage von Philosophen vorgeschlagenen Antworten - nennen wir sie die Adäquationstheorie, die Kohärenztheorie, die Konsenstheorie u.a. - eine befriedigende Antwort auf die Frage ist, braucht uns bei Untersuchung der Geschichte nicht zu bekümmern. Als definitorisches Abgrenzungsmittel können wir diese Frage immerhin verwenden, indem wir sagen: Philosophie sucht Antworten auf (zumindest eine) Grundfrage(n), welche das Verhältnis von Wissen und dessen Gegenständen betrifft (betreffen). Nennen wir diese Gegenstände in ihrer Gesamtheit wirklich, so wäre daher das Suchen nach der Erkennbarkeit der Wirklichkeit (und die Ergebnisse dieser Suche) ein Fall von "Philosophie", wo immer und in welcher Form immer es auftritt.
Ein anderer Vorschlag, eine "Grundfrage" der Philosophie zu formulieren, stammt von Friedrich Engels, wobei er sagt, es handle sich um "die" Grundfrage. Ich greife von seinen mehrfachen Formulierungen diese heraus: Was ist primär, die Materie oder der Geist? Zwar scheint auch diese Frage unlösbar zu sein, doch taucht sie tatsächlich immer wieder in den verschiedenen Kulturen auf. Was darin zum Ausdruck kommt, ist das Suchen nach der Grundstruktur (eines Bereiches) der Wirklichkeit, das wir mithin ebenfalls als "Philosophie" bezeichnen können.
Immanuel Kant, der in einer klassischen Stelle seine Grundfragen knapp formuliert, hat einer dritten Frage viel Aufmerksamkeit gewidmet: Was soll ich tun? Das ist die Frage nach der Begründbarkeit von Normen, wobei uns auch hier wieder nicht zu interessieren braucht, ob der kantische oder ein anderer Lösungsvorschlag völlig überzeugend ist. Allgemein können wir sagen: die Suche bzw. die Ergebnisse der Suche nach der Begründbarkeit von Normen ist "Philosophie".
In den Begriffen der Tradition gesprochen, haben wir damit die Erkenntnistheorie, die Ontologie oder Metaphysik, und die Ethik oder Moraltheorie an Hand von drei Sachfragen zur Definition eines groben und weiten Begriffes von "Philosophie" gebraucht, der uns genügen sollte, um den Gegenstand zu erkennen, um dessen Beschreibungen oder Erklärungen es Philosophiehistorikern insoweit zu tun ist, als sie solche Beschreibungen und Erklärungen bei anderen vorfinden.
Der Gegenstand der Philosophiehistorie selbst ist nicht die Grundstruktur der Wirklichkeit, deren Erkennbarkeit, oder die Begründbarkeit von Normen, sondern das, was andere zu solchen Fragen gedacht haben oder denken. In welcher Weise und mit welchen Mitteln diese anderen sich dazu geäußert haben, ist damit allerdings keineswegs festgelegt, aber die Unterscheidung von systematisch-philosophischem Denken einerseits und dem Interpretieren der Gedankenausdrücke anderer ist grundlegend. Dies kommt in einer kürzlich berichteten Episode aus einem gemeinsamen Seminar eines Philosophen und eines Philologen schön zum Ausdruck: die Professoren Haitsch (klassische Philologie) und Kutschera (Philosophie) diskutieren Platons Parmenides.
Haitsch: "... vielleicht dürfen wir nicht fragen, ob das logisch in Ordnung ist, sondern, worauf will er denn hinaus? Es geht nicht darum, ob das nun richtig ist." ... Kutschera: "Ja, das ist nun natürlich ein hartes Stück!" (Auf die Frage des Interviewers, ob man denn Plato und die anderen antiken Texte in der Philosophie heute überhaupt noch brauche, wird Kutschera weiter zitiert:) "Irgendwo ist es eben doch interessant. ... Man entdeckt ja immer etwas Neues. Aber brauchen? Eigentlich natürlich nicht."(Reiner Luyken: Abstieg vom Olymp, in: Die ZEIT, 11.3. 1994, S. 19)Das Ziel der Philosophiehistorie kann nicht darin liegen, Aussagen über die Grundstruktur der Wirklichkeit, über erkenntnistheoretische oder ethische Probleme zu begründen, sie ist keine systematisch philosophische Disziplin. Wo immer sie in die Richtung geht, systematische Fragen lösen zu wollen, finden erkenntnisbehindernde Ausschließungen ganzer Traditionsstränge immer wieder statt. Es ist jedoch keineswegs einfach, eine Abstinenz von systematischen Fragestellungen in historischen Arbeiten durchzuführen. Ein Beispiel soll das verdeutlichen.
Gewöhnlich werden in der europäischen Tradition der Philosophiehistorie Richtungen dichotomisch unterschieden (wie es in der nach Engels angeführten Formulierung einer einzigen "Grundfrage" der Fall ist), für welche gängige Namen vorliegen, wie z.B. "Materialismus" versus "Idealismus", "Empirismus" versus "Rationalismus", "Theorie" versus "Praxis", "empirische" versus "spekulative" Theorien etc. Ein Anlaß für alle diese Zweiteilungen, für die sich in den Darstellungen und Einteilungen der Philosophiehistoriker zahlreiche Belege finden, liegt darin, daß deren Blick meist ausschließlich auf die Geschichte des europäischen philosophischen Denkens gerichtet war, und daß in dieser Tradition der erkenntnistheoretische Streitpunkt grob gesprochen stets darin gesehen wurde, ob eine von zwei möglichen Wissensquellen die letztgültige sei, nämlich die Sinneswahrnehmung oder die Vernunfttätigkeit. Das ist der Anlaß für die meisten Historiker philosophischen Denkens gewesen, auch ihren Einteilungen und Darstellungen ein dichotomisches Muster zu unterlegen. Hatten sie dafür aber gute Gründe? Ist die Auffassung, Wissen könne nur aus zwei (oder einer) möglichen Quelle stammen, zwingend und allgemein anerkannt? Würde sich für die Darstellungen und Erklärungen der Geschichte des philosophischen Denkens etwas ändern, wenn dem nicht so wäre, wenn z.B. in einer entwickelten philosophischen Tradition einer nichteuropäischen Tradition eine differenziertere Theorie der Wissensquellen leitend gewesen wäre? Dann würde zumindest die Selbstverständlichkeit der dichotomischen Einteilungen fallen, es würde sich aber auch die Frage aufdrängen, ob diese differenziertere Theorie zu genaueren Einteilungen des historischen Stoffes fähig sei.
Die indische Tradition unterscheidet sechs Quellen des Wissens oder der Erkenntnis; danach, welche davon als gültig akzeptiert werden, unterscheiden sich die sechs klassischen Schulen der indischen Philosophie. Die Schwierigkeit der Theorie-Abstinenz des Historikers zeigt sich an diesem Fall: er kann nicht einfach sagen, die größere Zahl der indischen Unterscheidung sei natürlich vorzuziehen. Er würde sonst argumentieren wie ein japanischer Theoretiker des frühen 18. Jahrhunderts es angesichts der damaligen europäischen Elementenlehre getan hat, den Shigeru Nakayama (1984, 88) so zitiert:
"I do not know much about the Four Elements and the Four Properties of the West, but in this part of the world we have the Five-fold Cycle (of the primary elements as they successively produce and destroy one another) and the Six Atmospheric Influences. Since altogether we have eleven as against their eight, are we not more knowledgeable in these things than they?"Wer so argumentiert, würde wohl auch sagen müssen, polytheistische Religionen hätten natürlich mehr Kenntnis vom Göttlichen als monotheistische, oder: wenn jemand drei Theorien zur Erklärung eines Sachverhalts anführen kann, so wisse er natürlich mehr über die Sache als jemand, der dafür nur eine Theorie kennt, und dies wäre eine absurde Haltung. "Mehr" und "weniger" sind hier keine brauchbaren Maßstäbe, und so ist es verständlich, wenn die Reaktion europäischer Philosophen auf so etwas wie die sechs Erkenntnisquellen, die die Inder unterschieden haben, in der Regel so lautet: Mag sein, daß dies für das Denken der Inder charakteristisch war, aber die eigentliche (die wirkliche, die natürliche, die wesentliche etc.) Frage ist doch die nach dem Vorrang oder dem Verhältnis von Sinneswahrnehmung und Vernunft - also werden auch diese sechs Unterscheidungen letztlich wieder auf zwei reduzierbar sein.
Der Historiker, der so denkt, würde als systematisch bewiesen voraussetzen, was er historisch erst untersuchen will, er würde der einen begriffsgeschichtlichen Tradition den unbezweifelten Vorrang vor der anderen geben. Er muß das nicht tun: er kann die differenziertere indische Tradition hinsichtlich der Erkenntnisquellen als heuristisches Hilfsmittel nehmen, um mit dessen Hilfe detailliertere Darstellungen und Beschreibungen von philosophischen Argumenten oder Thesen geben zu können.
Das angeführte Beispiel sollte einen Fall zeigen, bei dem es naheliegt, daß historische Kategorien und Theorien einer einzigen kulturellen Tradition auch die Kategorien und Begriffe der Philosophiehistorie leiten, ohne daß dies von der Sache her zwingend wäre, sogar ohne daß innerhalb der Zunft dafür gute Gründe angegeben werden müßten. Wenn die Philosophiehistorie sich darüber selbst aufklären will, so wird das nur dann möglich sein, wenn möglichst viele Kulturtraditionen in diesen Diskurs einbezogen werden.
Das Beispiel macht aber auch das Problem deutlich, das mit einer Unterscheidung von systematischen und historischen Fragestellungen in der Philosophie stets gegeben ist: die Historiographie der Philosophie ist nie unabhängig von einer Tradition, in der systematische Begriffe entwickelt worden sind. Insofern ist lediglich ein Anlaß vorhanden, eine Art pluralistischer Vorsicht gegen jede "Orthodoxie" walten zu lassen, wie dies um 1790 der Philosophiehistoriker Dietrich Tiedemann (Geist der spekulativen Philosophie von Thales bis Berkeley, 6 Bde., 1791-97) gegen die erste Generation von Kantianern formuliert hat, indem er sich gegen den Vorwurf verteidigte, er habe seinem Werk nicht den einzig möglichen Gesichtspunkt, nämlich den der kantischen Philosophie zugrundegelegt:
"So lange die kritische Philosophie sich als die einzig Wahre noch nicht gültig gemacht hat, ist es immer Anmaaßung und Meynungs-Despotismus, wenn man jedem Bürger im Reiche der Philosophie diese, als Constitution aufdringen; von Jedem bey Strafe des litterarischen Prangers begehren will, von ihr Gebrauch zu machen."
These 1) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind vergangene Sachverhalte.
Diese erste Festsetzung mag trivial erscheinen, es ist jedoch nützlich, sich ihrer bewußt zu sein, denn durch sie werden grundsätzlich systematische von historischen Arbeiten unterscheidbar. Es werden in der Philosophiehistorie wie in jeder anderen historischen Disziplin beschreibende Aussagen gesucht und begründet, wobei die beschriebenen Ereignisse und Sachverhalte zeitlich vor der Beschreibung liegen.
An dieser Stelle müssen wir uns nochmals fragen, ob etwas, das vergangen und vergänglich ist, überhaupt je zum Bestand der Philosophie gehört hat. Das war Hegels Ausgangsfrage in der schon zitierten Vorlesung. Es war aber auch die Frage vieler anderer Denker, wofür sich in den Debatten der Aufklärung besonders deutliche Beispiele finden. Eines davon möchte ich anführen. Der Zusammenhang ist dabei nicht die Unterscheidung von Philosophie und Nicht-Philosophie, sondern von (richtigem) Glauben und Aberglauben, doch ist das ein sehr verwandtes Problem. Charles de Montesquieu hat in diesem Zusammenhang in seinen Tagebüchern gerne die antike Geschichte vom Gastmahl der Phryne erzählt: man spielt das Spiel, daß alle am Tisch der Reihe nach etwas befehlen, was alle Anwesenden ausführen müssen. Phryne läßt Wasser bringen und befiehlt, daß alle sich das Gesicht waschen. Außer Phryne waren alle Frauen geschminkt, sodaß sie als die einzige Schöne übrigbleibt.
Montesquieu liebt diese Geschichte als Bild dafür, daß Kritik dem wahren Glauben nichts anhaben könne, sondern nur den Aberglauben beseitige, der ohnedies nie wahrer Glaube war, auch zuvor nicht, als noch niemand ihm die Schminke abgewaschen hatte.
Läßt sich das Bild auf die Philosophie übertragen, sodaß wir den Weg kennen, auf dem sich unterscheiden läßt, was die Gesichtswäsche der Kritik überstanden hat und was an den Thesen von Philosophen immer schon vergänglich war? Sokrates, Kant, Hegel, Marx, Wittgenstein, oder wer immer den Part der Phryne in der Philosophie übernehmen wollte, traf stets auf andere, konkurrierende und gleicherweise umfassende Theorien. Vollends unmöglich scheint die Sache zu werden, wenn wir die mannigfaltigen Denkformen in Betracht ziehen, die sich in den verschiedenen Kulturen entfaltet haben - und warum sollten wir das nicht tun? Denn vielleicht hat Phryne doch eine Schminke verwendet, die ihr erst durch das Wasser einer chinesischen, afrikanischen oder indischen Phryne abzuwaschen ist? Wir können darüber wohl nur in wenigen Fragen der Philosophie jemals ganz sicher sein.
Was an der Philosophie gehört aber sicher der Vergangenheit an? Vergangen sind die Akte, Ereignisse, Reflexionstätigkeiten, Kontroversen, die zur Formulierung und Veröffentlichung (als Rede, Text, Bild oder in welchem Medium immer) einer These geführt haben. Vergangen sind auch die Lese-, Aufnahme-, Verstehensakte, die Argumentationssituationen, all das, was zum Betrieb des Philosophierens gehört.
Sind aber auch die Theorien, Thesen, ihr Inhalt, ihre Implikationen vergangen? Im strengen Sinn kann man das wohl nur dort sagen, wo solche Thesen eindeutig widerlegt worden sind, wo also ihr Inhalt, wie die Schönheit von Phrynes Tischgenossinnen, zu keinem Zeitpunkt das war, was er schien. Eine so schlagende Aufklärung ist nicht der Normalfall in der Philosophie. Der übliche Fall ist vielmehr, daß Thesen, Sprechweisen, Themen nach und nach aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, daß ihre Neuinterpretationen nicht mehr überzeugen; daß wesentliche Teile einer Position aufgegeben, diese dem Namen nach aber noch immer vertreten wird; daß Thesen nur noch in archivierter Form, zum Zweck und in Form von Kommentaren weitergegeben werden. Da philosophische Thesen und Autoren gewöhnlich ihrer Klasse oder ihrem Volk nicht nur ideologische Hilfsmittel zur Orientierung des Lebens, sondern auch eine gewisse Reputation verschaffen, ist das Verschwinden oder das Weiterbestehen von philosophischen Richtungen in jeder Epoche von ziemlicher Unregelmäßigkeit: es ist von allzu vielen Faktoren bedingt.
Das Vergangene an den vergangenen philosophischen Theorien ist ihr Entstandensein, ihr Fortwirken in einem gesellschaftlichen, historischen Zusammenhang; und genau in diesem Sinn bilden sie der Gegenstand der Philosophiehistorie: insofern eine These, die überhaupt inhaltlich zum Bereich der Philosophie gehört, nicht in aktueller Diskussion entwickelt oder vertreten wird, gilt sie als vergangen und kann Gegenstand philosophiehistorischer Forschung werden.
These 2) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind durch gegenwärtige Zeugnisse, d.h. durch empirische Belege oder Daten erschließbar.
Diese Festsetzung besagt zweierlei:
Wie in allen historischen Wissenschaften haben wir es auch hier mit der Schwierigkeit zu tun, daß das empirische Material auf mehreren Ebenen der Subjektivität der Forscher ausgesetzt ist. Die wichtigsten Sachverhalte in dieser Hinsicht sind die Notwendigkeit der Auswahl bei Autoren wie bei Problemen, was beides bereits Wertungen voraussetzt, und die Angemessenheit der Interpretation des Materials. Wir werden diesen Schwierigkeiten aber überall begegnen, wo wir geistige Äußerungen anderer Menschen aufnehmen oder darstellen wollen, es ist keine Problematik, die für die Philosophiehistorie spezifisch wäre.
These 3) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind Sachverhalte, deren Vorhandensein auf menschliche Denktätigkeiten zurückzuführen ist.
Hätten wir nur die beiden zuvor genannten Merkmale im Auge, wonach Gegenstand der Philosophiehistorie ein aus vorhandenen Zeugnissen rekonstruierbares Vergangenes ist, so wäre damit der Bereich der Naturgeschichte noch nicht ausgeschlossen, der Begriff wäre also viel zu weit. Die nun vorgeschlagene Bestimmung grenzt den Gegenstand in zweifacher Weise ein: erstens schließt sie all das aus, was mit Sicherheit oder mit Wahrscheinlichkeit (oder nach dem Verständnis etwa eines Autors) nicht durch menschliche Tätigkeit entstanden ist; und zweitens schließt sie aus, was einer anderen menschlichen Tätigkeit als der des Denkens zu verdanken ist.
Was nicht menschlicher Tätigkeit zugeschrieben wird, kann durch zwei Klassen von Handelnden erklärt werden: durch unter- oder durch übermenschliche Akteure. Es scheint mir nicht unwichtig, diese Denkmöglichkeiten im Auge zu behalten, da sie historisch immer wieder in Auffassungen über den Verlauf der Philosophiegeschichte eine Rolle gespielt haben. Nehmen wir zuerst die Möglichkeit an, die Philosophie oder zumindest Teile der Philosophie seien durch untermenschliche Faktoren produziert, so bieten sich hierfür solche Kandidaten an wie die "Natur", die "Stammesgeschichte", die "Rasse", das "Volk", die "Sprache" und ähnliches. Bei einer derartigen Auffassung wird grundsätzlich das Entstehen einer These mit irgendeiner "naturgegebenen" Bedingung verknüpft, von der man annimmt, daß sie für dieses Entstehen notwendig, aber auch hinreichend ist. Die philosophische These selbst ist damit einer rational-diskursiven Begründung, Diskussion und auch Kritik grundsätzlich entzogen.
Diese Voraussetzung kommt nicht so selten vor, wie man glauben sollte. Sie findet sich in den Hinweisen der nationalsozialistischen Lehrbücher auf die "jüdische" Denkweise von Philosophen wie Spinoza, Cohen oder Husserl ganz selbstverständlich. Es ist für die Leser/innen dieser erklärtermaßen rassistischen Beschreibungen ganz klar, was sie von solchen Leuten zu erwarten haben: ein wurzelloses, formalistisches, analysierendes Denken, das nur zerlegt, was andere gedacht haben.
Es ist aber auch in weniger deutlich rassistischen Kennzeichnungen dieselbe Voraussetzung anzunehmen, wenn etwa ganzen Kulturen und Regionen eine lediglich "kollektive" und unbewußte "Philosophie" zugesprochen wird, was am deutlichsten im Fall Afrikas regelmäßig vorkommt. In der sogenannten Ethnophilosophie ist nicht von bewußten und verantworteten Denkleistungen die Rede, sondern von kollektiven Mentalitäten (der Mythologie eines "Stammes", den Sprachstrukturen von "Primitiven" u.dgl.), von lauter Dingen also, die es überall in der Menschenwelt gibt, die aber im Fall des neuzeitlichen Europa sicher nicht als dessen "Philosophie" gelten würden. Auch hier kommt es übrigens vor, daß in (oft schwärmerischen) Schilderungen einer "afrikanischen Philosophie" der "schwarzen Rasse" Denkweisen, Welterklärungen und eine bestimmte Art der Logik zugeschrieben werden, die gleichsam naturbedingt gegeben sei. Ob sich ein solches Bild auf eine Rassentheorie stützt - es gibt einen "schwarzen Rassismus" ebenso wie einen "arischen" - oder auf Volksweisheiten, Sprichwörter oder linguistische Strukturen, spielt keine große Rolle: in jedem Fall handelt es sich um ein Denken ohne einzelne Denker, um etwas, das wir im Ernst sicher nicht Philosophie nennen.
In anderer Weise drückt sich dieselbe Voraussetzung bei marxistischen Autoren aus, wenn der Klassenstandpunkt als die alles entscheidende Erkenntnisinstanz angesehen wird. Auf die damit verbundene Methodologie werden wir später noch genauer einzugehen haben.
Was ist das Problem mit den Sichtweisen, in denen etwas Kollektives, Anonymes, ein Allgemeines dem Einzelnen vorgeordnet und zum eigentlichen Produzenten von Gedanken, Vorstellungen, Begriffen erklärt wird?
Eine These kann zwar in genau gleichlautender Weise formuliert werden, ob sie nun als Naturprodukt im geschilderten Sinn vorgestellt wird, das nur durchgesetzt, nicht aber diskutiert werden kann, oder ob sie als etwas Kritisierbares, einer Diskussion Unterworfenes vorgestellt wird. Als Naturprodukt bleibt es jedoch unaufgeklärte Ideologie. Für die kritisierbare These übernimmt jemand die Verantwortung aufgrund von Denk- und Urteilshandlungen, nicht aufgrund von Herkunft und Gruppenzugehörigkeit oder einem kollektiven Wollen - und wer sie vertritt, muß daher auch bereit sein, sie aufzugeben, wenn sie anderen diskursiven Denk- und Urteilshandlungen nicht standhält. Hat die Philosophiehistorie mit kollektiven Denkweisen dann überhaupt etwas zu tun? Oder ist es nicht vielmehr eine Illusion, von solcher denkender Unabhängigkeit einzelner Menschen gegenüber ihrer Herkunft, ihrer Gesellschaft, ihrer Zeit und Sprache zu träumen? Ist die bloße Idee, es gebe souverän denkende einzelne, nicht doch bloß ein Überbleibsel aus der Romantik oder einer anderen Tradition, die den Kult des einsamen Genies betrieb?
Mit dieser Frage sind wir im Kern des Problems, das Hegel als einen inneren Widerspruch formuliert hat. Einerseits kennen wir Denkakte nur als Akte jeweils einzelner Menschen. Das, worauf sich dieses Denken richtet, sollte wohl von allen Menschen her zugänglich sein, wenn sie sich nur eben demselben Gegenstand zuwenden. Andererseits steht jeder einzelne, auch in jedem einzelnen Denkakt, nicht voraussetzungslos einem Gegenstand gegenüber, sondern fußt jedenfalls auf Traditionen und einer Sprache, mit deren Hilfe der Gegenstand in einer jeweils historisch bestimmten Weise zum Ausdruck kommt.
Muß man einerseits den Gegenstand der Philosophiehistorie als ein Produkt kennzeichnen, welches erst auf der Stufe diskursiven Denkens entsteht, sodaß es verfehlt wäre, diesen Gegenständen irgendwelchen untermenschlichen Kräften zuzuschreiben, so wäre es andererseits ebenso verfehlt, solche Gegenstände dem Bereich der Philosophie zuzuordnen, als deren Produzenten man übermenschliche Denkende anzunehmen bereit wäre. In idealistisch-religiösen Geschichtstheorien ist jedoch dieser Fehler bis heute zuweilen vorzufinden.
Etwas wie eine "Offenbarungswahrheit" gehört eindeutig nicht zum Gegenstand der Philosophiehistorie. Das wurde jedoch schon implizit gesagt, denn für eine Offenbarung kann es keine den Historikern verfügbaren empirischen Belege geben.
Damit soll natürlich keineswegs behauptet werden, daß religiöse Schriften, theologische Reflexionen u.ä. für die Geschichtsschreibung der Philosophie nicht von Interesse wären. Ob und in welchem Grad sie aber von Interesse sind, hängt von den allgemeinen Bedingungen ab, unter denen sie formuliert wurden und auch davon, in welcher Weise sie im weiteren Verlauf der Denkgeschichte wirksam werden. Es wäre ein arger Verlust für die Kenntnis der menschlichen Denkgeschichte, wenn man aus irgendeinem (vielleicht "wissenschaftlichen") Purismus heraus solche Begriffe, Probleme, Thesen aus dem Gegenstandsbereich der Philosophiehistorie ausschließen wollte, die im Zusammenhang mit religiösen Lehren oder als Ausdruck religiöser Überzeugungen entstanden sind - das beträfe in christlich-abendländischer Tradition etwa die Fragen, die mit der Personalität oder der Willensfreiheit zusammenhängen, aber noch eine Reihe anderer -, aber das bedeutet nicht, daß der Verlust geringer wäre, wenn irgendeine bestimmte Glaubensauffassung (religiös oder ideologisch) von vornherein als wahr angenommen und philosophische Reflexionen ihr grundsätzlich untergeordnet würden. Beide Fehlhaltungen wurden in der Geschichte der Philosophiehistorie praktiziert.
These 4) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind Sachverhalte, in denen Auffassungen über die Grundstruktur der Wirklichkeit und/oder über deren Erkennbarkeit und/oder über Werte oder Normen zum Ausdruck kommen.
Diese Festsetzung soll entsprechend dem oben gegebenen Begriff von Philosophie eine Menge von Produktionen menschlicher Denktätigkeit ausschließen, die bei Zugrundelegung der bisherigen Bestimmungen noch nicht ausgeschlossen gewesen wären (z.B. solche Dinge wie Kochrezepte oder wissenschaftliche Erklärungshypothesen u.v.m.). Die zuletzt genannte Festsetzung führt insofern zu einer Klärung und Abgrenzung des Gegenstandsbereiches, sie führt aber auch zu einigen Schwierigkeiten, von denen mir die wichtigsten folgende scheinen:
a) Ist mit den genannten drei Themenbereichen ein zutreffendes Bild von Philosophie zu geben, sind andere Themenbereiche (bzw. philosophische Disziplinen) jeweils durch Thesen über einen dieser drei oder über alle diese drei Fragebereiche hinreichend bestimmt? Dies mag insbesondere im interkulturellen Diskurs als Schwierigkeit erscheinen, wobei man vielleicht geneigt ist, hier einen methodologischen Eurozentrismus zu vermuten.
b) Ist eindeutig, welche Arten von Sachverhalten fähig sind, derartige Auffassungen zum Ausdruck zu bringen? Handelt es sich letztlich doch nur um Texte oder kommen auch andere Sachverhalte in Frage?
c) Reicht die gegebene Festsetzung denn hin, um "Philosophie" etwa von "Wissenschaft" abzugrenzen? Kommen nicht auch in Thesen der Physik (etc.) Auffassungen über die Grundstruktur der Wirklichkeit, in Thesen der Sinnesphysiologie solche über deren Erkennbarkeit durch den Menschen, in Thesen der Ethnologie solche über Werte und Normen vor? Ist darum diese zuletzt gegebene Festsetzung leer und unfähig, ihren Zweck als Orientierungshilfe bei der Abgrenzung von Philosophie und Nichtphilosophie zu erfüllen?
Gattungen der Philosophiehistorie
Die folgende Unterscheidung von Gattungen oder Typen der Philosophiehistorie geht von Typen aus, die sich bereits in der griechisch-antiken Literatur vorfinden, und bringt demgegenüber lediglich eine gewisse Systematisierung und (wie im Fall der Institutionengeschichte) Ergänzung.
Es ist festzustellen, daß reine Fälle nur sehr selten (streng genommen wohl nur bei der Gattung der Bibliographie) vorkommen, daß wir in der Regel also auf Mischformen treffen. Dennoch will ich eine Unterscheidung solcher Gattungen versuchen, weil sich anhand dessen verhältnismäßig leicht über die Funktionen, die Vorzüge und die Schwächen der einzelnen literarischen Möglichkeiten sprechen läßt, Philosophiegeschichte zu beschreiben.
Ich unterscheide drei Gruppen von Gattungen nach der Art der Gegenstandsbestimmung, nach der Form der Darstellung und nach der intendierten oder der tatsächlichen Funktion.
(1) Gattungen, die sich in ihrer Gegenstandsauffassung unterscheiden:
Bibliographie
Doxographie
Problemgeschichte
Biographie
Institutionengeschichte
(2) Gattungen, sofern sie sich in der Form der Darstellung ihres Gegenstandes
unterscheiden:
chronologische
entwicklungsmäßige
kanonische und
systematische Darstellung.
(3) Gattungen, sofern sie sich nach ihren Funktionen unterscheiden:
Traditionsbildung
Wissenschaftsplanung
Heuristik
Wertorientierung.
(A) Gegenstandsbestimmung
(1) Bibliographie
Gegenstand der Bibliographie sind Texteinheiten (Bücher, Aufsätze, Vorlesungen u.dgl.), die dem Bereich der Philosophie zugeordnet werden. Dabei wird das vorgegebene Material in einer funktional bestimmten Weise ausgewählt (z.B. als Literatur zu einem Problem, zu einer Schule, zu einem Autor, über eine philosophische Disziplin, u.ä.) und geordnet oder klassifiziert. Die Bibliographie hat stets schon einige theoretische oder systematische Voraussetzungen als Grundlage.
Erstens wird relativ zu einem als wichtig beurteilten Thema eine Bibliographie erstellt; dies trifft bei einer Bibliographie über die Frage der Unsterblichkeit ebenso zu wie bei einer über österreichische Philosophen der Gegenwart: der Autor (oder das intendierte Publikum) der Bibliographie hält sein Auswahlthema für wichtig (und sollte dies mit noch anderen Gründen rechtfertigen können als damit, daß es darüber bislang keine oder nur eine weit zurückliegende Bibliographie gab).
Zweitens ist entweder vorausgesetzt, daß die schriftlichen, d.h. die veröffentlichten oder zumindest fixierten Auffassungen zu einem Thema auch die wichtigsten (gewichtigsten) vorfindbaren historischen Quellen zu diesem Thema sind, oder - stärker formuliert -, daß die wichtigsten Äußerungen zu einem Thema der Philosophie eben auch schriftlich veröffentlicht oder zumindest fixiert sind.
Diese beiden Voraussetzungen sind jedoch nicht für alle Kulturen in gleicher Weise zutreffend. Mag die erste noch für weite Bereiche des Philosophierens in unserer Tradition zutreffen - obgleich es auch in Europa wichtige geistige (eben auch philosophische) Strömungen gab und gibt, die kaum im offiziell-wissenschaftlichen Publikationswesen dokumentiert sind -, so ist die zweitgenannte Voraussetzung dazu angetan, die Sicht auf das geistige Erbe solcher Kulturen vollends zu verstellen, deren Medium nicht in einem vergleichsweise hohen Maß die Schrift war. Insbesondere sollte durch eine solche Voraussetzung nicht die Annahme gerechtfertigt werden, es sei in jenen Kulturen, aus deren Produzieren selbst die aufwendigste Bibliographie nur wenige (in absoluten Zahlen) Werke etwa zur Metaphysik oder zur Ethik verzeichnen kann, nichts an wesentlicher oder gewichtiger metaphysischer Reflexion oder an ethischen Maximen zum Gedankengut der Menschheit beigetragen worden. Da die Beherrschung der Schrift nicht nur als eine Steigerung der Kommunikations- und Reflexionsfähigkeit, sondern auch als eine Steigerung der Herrschaftsfähigkeit anzusehen ist, sind die weniger schriftintensiven oder weitgehend schriftlosen Kulturen als qualitative Minderheiten einzustufen; was diese denken, kann sehr trefflich sein, Gehör verschaffen sie sich nur schwer oder gar nicht. Die Bibliographie schließt sie eher aus, als daß sie ihr Denken erschließt: sie erfaßt nur schriftliche Produkte.
(2) Doxographie
Den Gegenstand der Doxographie bilden überlieferte Formulierungen von Philosophen, wobei diese sowohl unkommentiert wiedergegeben werden können (wie dies vor allem in den sogenannten Florilegien der Fall war, vgl. den Abschnitt über das Mittelalter), als auch in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden (wie in Bruckers Werk, vgl. den Abschnitt über die Aufklärung). In beiden Fällen ist kennzeichnend, daß die Gliederungsgesichtspunkte der Texte sich nicht aufgrund der systematischen Reflexionen der referierten Philosophen ergeben, sondern aufgrund eines Rasters an Themen oder Meinungen, die über die überlieferten Texte gestülpt werden. Es handelt sich bei der doxographischen Erfassung philosophiehistorischer Sachverhalte also um das Anlegen von traditionellen Einteilungs- und Benennungsmustern an vorhandene Texte oder Textfragmente.
Das doxographische Interesse scheint in der Geschichte der Philosophiehistorie von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Es tritt überall dort auf, wo Philosophie sich zum Zweck der Einführung von Schülern oder der Darstellung gegenüber einem breiten Publikum auf ihre vergangenen Leistungen berufen will. Es ist daher grundsätzlich von einer appellativen, auf Zustimmung hin ausgerichteten Haltung gekennzeichnet. Die Gedanken der Philosophen werden dabei in einer interpretierenden, klassifizierenden und meist auch ausdrücklich übersetzenden Weise dargeboten, die dem vorausgesetzten Leserinteresse entspricht. In mehr oder weniger hohem Grad sind wohl alle Darstellungen der Philosophiegeschichte (zumindest auch) doxographisch.
Bei so unterschiedlichen Textgattungen wie den Gesprächen des Konfuzius und der Historia Critica Bruckers stoßen wir auf ein vorrangig doxographisches Interesse.
(3) Problemgeschichte
Als Gegenstand der Problemgeschichte sind Fragestellungen und Lösungsvorschläge anzusehen, die im Verständnis des Historikers als philosophisch zu klassifizieren sind. Es handelt sich also um eine Zugangsweise, die in erster Linie von den in den systematisch philosophischen Diskursen der jeweiligen Gegenwart leitenden Gesichtspunkten und Fragestellungen bestimmt ist. Das rekonstruierte Denken der Vergangenheit wird dabei entweder in einem Entwicklungsmodell oder im Rahmen der gegenwärtigen Forschungssituation dargestellt.
Die problemgeschichtliche Zugangsweise in der Philosophiehistorie ist vor allem für solche Traditionen kennzeichnend, die eine stark entwickelte Methodologie der Erkenntnis aufweisen, im europäisch-neuzeitlichen Kontext also etwa für den Kantianismus, den Positivismus und die Analytische Philosophie. In allen diesen Fällen treten hinsichtlich der Philosophiehistorie Tendenzen auf, in einer möglichst rein systematischen Weise die Ergebnisse, Mißergebnisse und Fragestellungen der vergangenen Philosophie zu der als einigermaßen endgültig angesehenen gegenwärtigen Philosophie in Bezug zu setzen.
(4) Biographie
Die Biographie entspringt, wenn wir einen von Rorty vorgeschlagenen Sprachgebrauch verwenden, dem "Wunsch nach Solidarität". Von den ersten Biographien der aristotelischen oder konfuzianischen Schule bis zu Erinnerungen an Wittgenstein und ähnlichen Werken der Gegenwart steht biographische Literatur immer im Dienst einer Selbstverständigung mit Hilfe der Erinnerung an (ein) Vorbild(er).
Biographien können freilich kritisch-entlarvend verfaßt sein, aber auch dann bilden sie Solidarität im rorty'schen Sinne - indem sie die jeweils andere Gruppe stärken. Ob sie freundlich oder feindlich mit den geschilderten Personen umgehen, stets streben Biographen danach, eine Einheit darzustellen und herzustellen. Gewiß ändern sich manche Gesichtspunkte dabei, auch methodische Voraussetzungen. Wenn etwa in antiken Biographien Kindheits-Begebenheiten den Rang von paradigmatischen Brennspiegeln des künftigen Lebensinhaltes erlangen (in den Erzählungen über die Kindheit von Religionsstiftern am deutlichsten, aber auch bei Gestalten wie Konfuzius oder Sokrates vorhanden), so fallen derartige Nachrichten seit der frühen Neuzeit zunehmend der quellenkritischen Analyse zum Opfer.
In der pragmatischen Erklärung aufklärerischer Philosophiehistorie hat die Biographie vorübergehend explizit systematische Züge angenommen: es ist nach Bruckers Auffassung nur aufgrund der Lebensumstände eines Denkers zu erklären, wenn er irrige Auffassungen entwickelt hat. Dieser Gedanke - überzeugend lediglich unter der Voraussetzung einer Normalvernunft, die, ungehindert angewandt, zu wahren Erkenntnissen gelangen müsse - ist jedoch implizit in vielen Phasen biographischer Beschreibungstradition vorhanden.
Die biographischen Aussagen über Konfuzius etwa sind nicht rein deskriptiv. Sie sind, deutlicher ausgedrückt, überhaupt nicht oder nicht in erster Linie als Informationen intendiert, sondern als Appelle. Wenn gesagt wird, daß Konfuzius bei bestimmten Gelegenheiten geschwiegen habe, so heißt das für den Leser, daß es bei derartigen Gelegenheiten angebracht ist, zu schweigen; schwierig mag es für ihn sein, jeweils zu wissen, welche Gelegenheiten von derselben Art sind. Der Bericht hat also erzieherische Funktion. Woher kommt ihm diese zu?
Wir haben es bei diesem "Wunsch nach Solidarität", der der Biographie ihren Sinn gibt, mit einem Autoritätsargument zu tun. Was aber ist es, das Lebensumstände und Verhaltensweisen von Philosophen autoritativ macht? Die Antwort ausschließlich im Rang oder im Wahrheitsgehalt ihres Denkens zu suchen, wäre naiv. Gelegentlich läßt sich feststellen, daß die Autoritätsvermutung bezüglich des Denkens gerade von Berichten über Handlungen und Lebensumstände getragen ist.
(5) Institutionengeschichte
Institutionen als Gegenstand der Philosophiehistorie können von unterschiedlichem Typ sein. Grundsätzlich handelt es sich jeweils um kollektive Bedingungen, unter denen Entwicklungen des philosophischen Denkens vor sich gegangen sind. Hierbei muß unterschieden werden zwischen solchen Institutionen, die den akademischen oder wissenschaftlichen Betrieb der Philosophie (in der ä lteren Literatur: der Wissenschaften) betreffen, wie z.B. die Geschichte von Akademien, Universitäten, Bibliotheken, Kommunikationsformen, Organisationsformen etc. - und anderen Institutionen, die die allgemeine gesellschaftliche Organisation einer Epoche bestimmen (wie z.B. das Rechtswesen, die Staatsorganisation, Religionen, Wirtschaftsformen, Sprachgeschichte etc.). Der Gegenstand wird in der Institutionengeschichte mit dem Ziel bearbeitet, empirisch-sozialwissenschaftliche Erklärungshypothesen für den Ablauf der Philosophiegeschichte zu finden oder Wissenschaftsplanung auf eine historische Basis zu stellen.
Die Geschichte des Denkens als eine Geschichte von Institutionen, eher denn als eine Geschichte von individuellen Denkleistungen aufzufassen, ist in mehrerer Hinsicht eine leitende Idee der Neuzeit geworden. Die Interpretation der Traditionen der verschiedenen Völker ging zunächst von dem für entscheidend gehaltenen Unterschied im Abstand zur geoffenbarten Wahrheit aus: die barbarischen Völker wurden in dieser Hinsicht ganz anders eingeschätzt, als dies bei antiken Autoren der Fall gewesen war. Erst die Hinwendung zu einer von der Offenbarung unabhängigen, aber ebenso endgültigen Erkenntnisinstanz in der frühen Neuzeit hat hier neue Fragerichtungen geschaffen. Damit sind jene Institutionen in den Blick gekommen, mit deren Hilfe eine überlegene Wissenschaftsplanung möglich erschien - die Akademien, Zeitschriften, Kommunikationsformen etc. Die anderen Institutionen, wie die Sitten, Sprachen, Organisation der Lebensformen u.dgl. gerieten hingegen aus dem Blick, wurden in die neuen Kulturwissenschaften ausgegliedert, in Ethnologie oder allgemeine Geschichte.
(B) Darstellungsformen
(1) Chronologie
Die Form der chronologischen Darstellung entspringt der Vorstellung, daß die Abfolge von Systemen oder Schulen in ihrer Zeitfolge einen Erkenntniswert darstelle, weil schon allein darin ein Fortschreiten der Philosophie gezeigt werden könne. Für diese Darstellungsform sind Fragen der zeitlichen Priorität von verhältnismäßig großer Bedeutung. Schon der griechischen Form der Diadochographie liegt diese Vorstellung zugrunde.
Die außerordentlich bedeutende Stellung, die von Fragen der Chronologie in der Philosophiehistorie eingenommen wurde, hängt eng mit der philologischen Orientierung dieser Disziplin zusammen. Die Datierung oder Zuschreibung eines alten Textes war und ist in sehr vielen Fällen nur mit Hilfe des geduldigen methodischen Vergleichs von Textvarianten, durch den Vergleich mit anderen Texten und sprachlichen Denkmälern möglich. Hier scheinen nun aber doch Unterschiede zwischen den verschiedenen Schriftkulturen zu bestehen. Der Disput, wie er sich in Europa bereits in der Antike entwickelt und dann in den scholastischen Traditionen weiterentwickelt hat, ist in dieser Form nicht typisch für die chinesische oder auch für andere asiatische Kulturen geworden.
Wir müssen uns bei der Chronologie, wie bei den anderen Darstellungsformen, immer auch fragen, welchem Interesse die jeweilige Form entspricht. Die Außerfragestellung einer historischen Abfolge - und das ist das Ziel jeder Chronologie - führe ich auf das Interesse an einer möglichst lückenlosen und zweifelsfreien Ahnenreihe zurück. Ein solches Interesse konnte unter den allgemeinen Denkweisen der frühen Neuzeit dazu tendieren, bis zum Anfang der Menschen- und Erdgeschichte, den Ursprüngen zurückzugehen. Es fand seine Befriedigung dann darin, daß die Ahnenreihe nicht nur lückenlos, sondern auch möglichst rein dargestellt wurde. Die Etablierung der vorsokratischen Denker als der ersten Philosophen im strengen Sinn führte hier zu einer neuen Ahnenreihe, aber auch diese wurde in den meisten Fällen möglichst lückenlos und möglichst geradlinig rekonstruiert. Dies zeigt sich selbst noch in solchen Ansätzen wie der Darstellung Deussens über die Philosophie in Indien, wobei er explizit zuweilen auf die Verwandtschaft und grundlegende Einheit deutscher mit indischer Denkweise zu sprechen kommt (mithin den "Adam" beider in einem frühen indoarischen Kulturraum ansiedelt).
(2) Entwicklungsgeschichte
Darstellung der Geschichte der Philosophie als einer Entwicklung setzt einerseits nicht unbedingt und in jeder Einzelheit die Priorität der Chronologie voraus; andererseits kann sie sicherlich nicht darauf beschränkt bleiben. In einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung ist der Gesichtspunkt wesentlich, daß es sich um etwas Identisches handelt, das sich in der Zeit fortschreitend verändert habe, sich in unterschiedlichen, aufeinander folgenden Gestalten mehr und mehr verwirklicht habe. Es muß also gezeigt werden, worin die Unterschiede bestehen, aber auch, in welcher Weise diese Unterschiede doch innerhalb eines Identischen bestehen. Entwicklungsgeschichte des Denkens besagt also, daß es ein identifizierbares Etwas gibt, den Kern des Geschehens, der als solcher unverändert bleibt; daß es ferner Unterschiede, Entgegensetzungen, Abweichungen gibt, die indessen auf das behauptete Identische zu beziehen sind. Den paradigmatischen Fall einer entwicklungsgeschichtlichen Bearbeitung stellt Hegels Rekonstruktion der Geschichte der Philosophie dar.
(3) Kanonische Darstellung
Von einer kanonischen Darstellungsweise kann in der Philosophiehistorie dann gesprochen werden, wenn entweder gemäß traditionell überkommenen Grundbegriffen oder Philosophumena kategorisiert wird (wie z.B. nach den Begriffen 'Leib-Seele', 'Unendlichkeit', 'Substanz' etc.) oder aber gemäß den Grundbegriffen einer als Bezugspunkt genommenen systematischen Position der Philosophie (oder eines Philosophen), welche der Philosophiehistoriker vertritt. Die lexikalische Behandlung der Philosophiegeschichte kann als der klarste Fall einer solchen kanonischen Darstellung angesehen werden.
(4) Systematische Darstellung
Eine systematische Darstellungsweise der Geschichte der Philosophie kann chronologischen oder entwicklungsgeschichtlichen Fragestellungen ebenso zweitrangige Bedeutung beimessen, wie sie auch traditionelle Kanones vernachlässigen kann. Sie rekonstruiert oder konstruiert mehr, als daß sie referiert. Ihre Gliederung und ihre Begriffssprache orientiert sich nach dem systematisch begründeten Stellenwert von Problemen, den sie aus einer gegenwärtigen Position oder Diskussion bezieht; dabei wird sie, was in der kanonischen Darstellung nicht geschehen muß , systematische Zusammenhänge, aber auch Argumentationslücken nachweisen, die aus dem Wortlaut des vorhandenen Materials nicht hervorgehen. Darin liegt zugleich die (heuristische) Stärke und die (historisch-erklärende) Schwäche dieser Orientierung, die wir am deutlichsten in der Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ausgeprägt finden.
(C) Funktion
(1) Funktion der Traditionsbildung
Zum Zweck der Bildung und Erhaltung von weltanschaulichen und schulphilosophischen Traditionen wird Philosophiegeschichte beschrieben, wobei vor allem die Typen der Doxographie, der Biographie und Problemgeschichte in Frage kommen; die geeignetste Darstellungsform scheint dafür eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung zu sein.
(2) Funktion der Heuristik
Die am häufigsten genannte Funktion von Philosophiehistorie ist sicherlich die heuristische. Diese Funktion wird jedenfalls von Bibliographie und Problemgeschichte, aber auch von der Doxographie angestrebt. Zwei Wege werden gewöhnlich genannt, auf denen Philosophiehistorie für die Philosophie selbst von heuristischem Wert sein könne: als Mittel zur Vermeidung von bereits einmal begangenen Irrtümern, und als Vorrat von Hypothesen, die bei der Findung von neuen Lösungsmöglichkeiten hilfreich sein können. Die entwicklungsmäßige und die systematische Darstellungsform scheinen zur Erfüllung dieser Funktion am besten geeignet.
(3) Funktion der Wissenschaftsplanung
Häufiger als dies ausdrücklich gemacht wird, sind philosophiehistorisch fundierte Orientierungen im Bereich der Wissenschaftsplanung und Wissenschaftspolitik (im Gebiet der Philosophie) wirksam. Dies kann sowohl die Begründung von Lehrplänen, als auch von Forschungsprojekten, die Berufungspolitik oder die Verlagspolitik in diesem Gebiet betreffen. Für solche Zwecke wird hauptsächlich die Problemgeschichte, aber auch die Institutionengeschichte zu verwenden sein, wobei sich wiederum eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive als geeignet anbietet.
(4) Funktion der Wertorientierung
Die Funktion der Wertorientierung geht über den rein wissenschaftlichen und akademischen Bereich des Philosophierens hinaus. Diese Funktion wird überall dort verfolgt, wo man aus dem Bildungsgut der philosophischen Tradition Anregungen für eine moralisch-weltanschauliche Orientierung angesichts lebenspraktischer Probleme zu gewinnen sucht. Die angemessenste Form, diese Funktion zu erfüllen, scheint mir in unserer Zeit eine entwicklungsmäßig betriebene Institutionengeschichte zu sein, wobei eine vergleichende Aufarbeitung der philosophischen Traditionen verschiedener Kulturen das Ziel ist. Chronologischen und kanonischen oder systematischen Untersuchungen kommt unter dieser Zielsetzung ebenfalls große Bedeutung zu.
Das folgende Literaturverzeichnis führt eher allgemeine Literatur
an, einige Angaben spezifischer Literatur zu den Themen der einzelnen Vorlesungen
werden jeweils nach dem Text der entsprechenden Abschnitte bzw. in den
Anmerkungen gegeben.
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