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Versuch 2: Verfremdung

Betrachtet genau das Verhalten dieser Leute:
Findet es befremdend, wenn auch nicht fremd
Unerklärlich, wenn auch gewöhnlich
Unverständlich, wenn auch die Regel.
Selbst die kleinste Handlung, scheinbar einfach
Betrachtet mit Mißtrauen! Untersucht, ob es nötig ist
Besonders das Übliche!
Wir bitten euch ausdrücklich, findet
Das immerfort Vorkommende nicht natürlich!
Denn nichts werde natürlich genannt
In solcher Zeit blutiger Verwirrung
Verordneter Unordnung, planmäßiger Willkür
Entmenschter Menschheit, damit nichts
Unveränderlich gelte.

Bertolt Brecht (2/793)

Und diese Fremdheit war es, über die wir die Menschen nachdenken lassen wollten, weil wir recht gut wußten, daß unsere Welt immer fremder wurde und nicht gerade beruhigender.

Pablo Picasso (1)

Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.

G.W.F. Hegel (2)

 


Ich gebe es zu, ich habe Schwierigkeiten gehabt, den Übergang vom Einverständnis zur Verfremdung zu finden: und die obige Stelle bei Duerr, der ich den rasanten Hexenritt des Übergangs verdanke, ist mehr als ein glücklicher Fund.

Jetzt müssen wir uns hier ein wenig aufhalten, um mögliche Mißverständnisse zu zerstreuen. Daß es nicht zu weit hergeholt ist, in der Einsicht, daß man seine Welt verlassen muß, um sie erkennen zu können, einen Beitrag zum Thema Verfremdung zu sehen, ist, glaube ich, evident, ohne es lange zu erörtern.

In einem guten Doppelsinn für bedenklich kann der Zusammenhang gehalten werden, in dem diese Erkenntnis auftaucht: Anrüchig mag er jenen erscheinen, die schon im Hinweis auf die "Großen Mütter" im Zusammenhang mit Brecht die Gefahr wittern, ich liefere Brecht vollends dem Irrationalismus aus, nachdem ich ihn schon zum Nietzscheschüler gemacht habe.

Bedenkenswert ist er aber gerade für die Herauslösung der Kategorie Verfremdung aus einem bloß technisch-praktischen Zusammenhang innerhalb der Theatertheorie Brechts. Verfremden wäre so als eine ursprüngliche, vielleicht die ursprüngliche bewußte Praxis der Heraustretens aus einem gewohnten Zusammenhang, als das Sich-selbst-von-außen-Sehen als Distanzierung des unmittelbaren Handelns ganz generell zu bestimmen; als Distanzierung schlechthin.

Aber eskamotieren wir nicht allzu schnell den Zusammenhang bei Duerr, in dem sich diese Stellen finden. Ausgehend von den Beschreibungen der Praktiken der (durchaus geduldeten) mittelalterlichen Nachtfahrenden, die erst am Anfang der Neuzeit in die von Teufeln besessenen Hexen verwandelt werden, die über zwei Jahrhunderte lang einer auf den Holocaust vorweisenden Verfolgung ausgesetzt werden, mitten im sogenannten Zeitalter der Vernunft, fragt Duerr, die europäischen Dokumente mit ethnologischen Daten konfrontierend, nach dem eigentlichen Sinn dieser Veranstaltungen, der in den Verhörprotokollen immer schon durchs ideologische Raster des Christentums verdunkelt wird, und er zeigt den Zusammenhang mit schamanischen Praktiken (etwa auch der Zauberei des Don Juan Matus des Carlos Casteneda) auf: und diese Zusammenhänge führen nicht auf die Erkenntnis "eine(r) andere(n) Wirklichkeit", (wie der mißverständliche Titel eines Buchs von Castaneda lautet (3)), sondern auf die beschriebene Grenzerfahrung: das Heraustreten aus der gewohnten Alltagswirklichkeit, um etwas über sie, nicht über anderes, zu erfahren. Dennoch ist auch das Heraustreten nicht beliebig, sondern weist immer die Richtung auf die frühesten überlieferten weiblichen Fruchtbarkeitskulte, eben die "Großen Mütter", in denen Mutterschoß und Erdenschoß in einem zusammenfallen, die als vor allen Trennungen liegend, eben für die immer tieferen Trennungen der Kultur entsühnt werden müssen, deren Einfluß nur langsam schwindet und erst durch eine immer wahlloser zuschlagende Mordmaschinerie in Europa getilgt wurde.

Die moderne "westliche Zivilisation" hat damit aber auch erstmals unter allen beobachteten Kulturen sich den Zugang zur "anderen Seite" ihrer selbst abgeschnitten, die Erfahrung des Heraustretens aus der einen Wirklichkeit ausgesperrt. Was bei allen Naturvölkern und noch bei den Griechen als Anwesenheit von Göttern interpretiert wurde, das Reden in "Zungen" – auch der biblischen Propheten, ist erst in der europäischen Neuzeit als Fremdes abgewiesen, verfolgt und schließlich als Geisteskrankheit domestiziert und eingeteilt worden und wird heute mit Pharmachemie mundtot gemacht und Elektroschocks: wo einst ein Gott sich offenbarte, fungiert heute der Blitzeschleuderer im weißen Kittel.

Vor diesem Hintergrund den Zusammenhang von Einverständnis – als eben der Bewegung des sich in seiner Be-sonderung Aufgebens, mit Verfremdung – den Akt des Heraustretens aus der vertrauten Wirklichkeit, um sie erkennen zu können, herstellen zu wollen, heißt das nicht, Brechts Gebrauch dieser Begriffe völlig zu entstellen, den erklärten Intentionen Brechts entgegen, gerade den kultischen Charakter theatralischer Veranstaltungen restaurieren zu wollen, ja Brecht gerade für eine magische, irrationalistische Deutung zuzurichten. – Mitnichten.

Man sollte aufhören, in der Ver-rückung der Grenzen von Vernunft, d.h. auch im Bewußtmachen der Grenzen immer die Preisgabe der Vernunft, ihre Abdankung, oder Zerstörung zu wittern. (Diese sehr verkürzte Zusammenfassung erhebt nicht den Anspruch, die Ausführungen Duerrs adäquat zu referieren; und die so bruchlos anschließenden Bemerkungen zum Wahnsinn sind durch die Lektüre Duerrs aufgestiegene Assoziationen, die sich der Lektüre von Michel Foucaults Büchern, insbesondere Wahnsinn und Gesellschaft verdanken.)

Über die konkreten Bedingungen künstlerischer wie philosophischer Produktion ist unser Wissen doch trotz wissenschaftlicher Bemühung, die ja doch zumeist im Aufsammeln von Resultaten, Endprodukten besteht, beschämend gering.

Wenn Benjamin "das Werk die Totenmaske der Konzeption" (4) nennt, so spricht er diese Erfahrung aus. Und von der Totenmaske her versuchen wir den Organismus zu erforschen. Ähnlich Brecht in der "(vermutlichen) Antwort des Malers" (Michelangelo, auf eine "Kritik an seiner ‘Weltschöpfung")

Was ihr von mir Totem bekommt, ist das
Was er dem Irrtum abpreßte, um es
Dem Irrtum zu hinterlassen. Den zehnten Teil von dem
Was ich wollte
Habe ich gemalt, zehnmal so viel als ich sah
Ihr
Seht den hundertsten davon. (9/615)

Wenn ich also im Versuch, dem Philosophen Brecht auf die Spur zu kommen, bei ihm auf wirklich archaische, oder archaisch anmutende Zusammenhänge stoße , so glaube ich, damit an Produktionsbedingungen seiner Arbeit zu rühren, ohne diese in einem gesellschaftlichen Kausalnexus begründen, d.h. auflösen zu können. Dieses Unauflösbare muß nun aber nicht gleich als irrational fixiert werden:

Dann erwuchs ein Gerücht.
Er sei nicht gestorben, da er nicht sterblich gewesen sei, hieß es.
Geheimnis umgab ihn. Es wurde für möglich gehalten
Daß außer Irdischem anderes sei, daß der Lauf des Menschlichen
Abzuändern sei für den einzelnen: solches Geschwätz kam auf.
Aber zu dieser Zeit ward dann sein Schuh gefunden, der aus Leder
Der greifbare, abgetragene, der irdische! Hinterlegt für jene, die
Wenn sie nicht sehen, sogleich mit dem glauben beginnen. (9/657)

Kommen wir nun zu Begriffsbestimmungen der Verfremdung bei Brecht: Bestimmte Vorgänge des Stückes sollten ... als in sich geschlossene Szenen aus dem Bezirk des Alltäglichen, Selbstverständlichen, Erwarteten gehoben (verfremdet) werden. (17/1087)

So schaut der Gebrauch aus, den Brecht vom Begriff Verfremdung macht, wo er zum ersten Mal auftaucht (Ende 1936). (5)

Es ist vielleicht gut, bei diesem eher spezifischen Gebrauch, zuerst zu bleiben, nachdem ich verführt durch die erhellenden Hinweise bei Duerr gleich bei einer allumfassenden Deutung gelandet bin.

Da Brecht 1935 die UdSSR besucht hatte, sind einige Brechtforscher (so jedenfalls nach Knopf’) auf den Gedanken verfallen, Brecht habe den Terminus von den russischen Formalisten übernommen. Viktor Shklowsky hatte schon 1919 den Begriff Verfremdung, oder vielmehr "Sonderbarmachen" eingeführt, ihn aber zu einem konstituierenden Merkmal jedes Kunstwerks erklärt und ihn an allen möglichen Beispielen aus verschiedenen Epochen demonstriert. Brecht gebraucht nun den Begriff Verfremdung noch bis Anfang der Vierziger Jahre abwechselnd mit dem der Entfremdung, dieser Gebrauch wiederum läßt sich aber schon 1930 nachweisen:

"im zuschauer (soll) nicht an das gefühl appelliert werden das ihm erlauben würde (sich) ästhetisch abzureagieren sondern an seine ration die schauspieler müssen dem zuschauer figuren und vorgänge entfremden so dass sie ihm auffallen der zuschauer muß partei ergreifen statt sich zu identifizieren." (6)

Ich zitiere hier nach Jan Knopf, der eine äußerst sorgfältige und ausführliche Darstellung der Gesamtproblematik bringt; völlig zu Recht behandelt Knopf >Verfremdung< als den übergreifenden Begriff von Brechts Theatertheorie, innerhalb dessen Episierung, Historisierung, Gestik bis hin zur Bühne und Theater Musik behandelt werden.

Das Auftauchen des Begriffs 1930 "entfremden im Sinn von auffällig machen" fällt in die Zeit, wo Brecht "seinen Lehrer" Sergei Tretjakow in Berlin kennenlernte.

Für damals, die Zeit vor dem 1. Allrussischen Schriftstellerkongreß, der den Sozialistischen Realismus Shdanowscher Prägung verbindlich machte, ist eine solche Übermittlung eines Theoriestücks Shklowskys, der mit Tretjakow gemeinsam in der neuen LEF (7) arbeitete, wesentlich wahrscheinlicher anzunehmen als für 1935. Mitte der Dreißigerjahre wird Brecht bereits (wie etwa die Gespräche mit Benjamin ausweisen) die gespenstische Atmosphäre der Schauprozesse in Moskau verspürt haben:

So am "1. Juli 1938: Sehr skeptische Antworten erfolgen, so oft ich russische Verhältnisse berühre. Als ich mich neulich erkundigte, ob Ottwald noch sitzt, kam die Antwort: ‘Wenn der noch sitzen kann, sitzt er.’ Gestern meinte die Steffin, Tretjakov sei wohl nicht mehr am Leben."

"29.7.38 ... Da er mir gleichzeitig erzählt, Lukacs habe derzeit ‘drüben’ eine große Stellung, so sage ich ihm, ich könne ihm keinen Rat geben. ‘Hier handelt es sich um Machtfragen. Dazu müßte sich jemand von drüben äußern. Sie haben doch Freunde dort.’ Brecht: ‘Eigentlich habe ich dort keine Freunde. Und die Moskauer selber haben auch keine – wie die Toten." (8)

Es muß also weder die erste noch die zweite Rußlandreise von Brecht herangezogen werden, um eine mögliche Verbindung anzunehmen. Umgekehrt legt der schwankende Gebrauch über Jahre hinweg doch die von Knopf vertretene These der Herkunft aus der philosophischen Tradition Hegel-Marx nahe, wobei die offensichtlichen Unterschiede zum Marx’schen Entfremdungsbegriff schließlich zur Fixierung des Verfremdungsbegriffs im Sinne des Hegelschen "Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt" geführt haben mag. (9)

Knopf hat nun eine Hegelstelle gefunden, die den Sachverhalt noch genauer bezeichnet, und den Terminus Entfremdung enthält:

Um aber zum Gegenstand zu werden, muß die Substanz der Natur und des Geistes gegenüber getreten seyn, sie muß die Gestalt von etwas Fremdartigen erhalten haben – Unglücklich der, dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird, – denn dies heißt nichts anderes, als daß die individuelle Bande, die das Gemüt und den Gedanken heilig mit dem Leben befreunden Glauben, Liebe und Vertrauen ihm zerrissen wird! – Für die Entfremdung, welche Bedingung der theoretischen Bildung ist, fordert diese nicht diesen sittlichen Schmerz, nicht das Leiden des Herzens, sondern den leichten Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwa der Erinnerung, dem Gedächtnis und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen. (10)

In ihrer Fortsetzung führt die Stelle bei Hegel direkt auf den gleichen Gedanken, den wir bei Duerr formuliert gefunden haben:

Diese Forderung der Trennung aber ist so notwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb (!) in uns äußert. Das Fremd-artige, das Ferne führt das anziehende Interesse mit sich, das uns zur Beschäftigung und Bemühung lockt, und das Begehrenswerthe steht im umgekehrten Verhältnisse mit der Nähe, in der es steht und gemein mit uns ist. Die Jugend stellt es sich als ein Glück vor, aus dem Einheimischen weg zu kommen und mit Robinson eine ferne Insel zu bewohnen. Es ist eine notwendige Täuschung, das Tiefe zuerst in der Gestalt der Entfernung machen zu müssen, aber die Tiefe und Kraft, die wir erlangen, kann nur durch die Weite gemessen werden, in die wir von dem Mittelpunkte hinwegflohen, in welchen wir uns zuerst versenkt befanden, und dem wir wieder zustreben. (11)

Schon bei Hegel wird, wenigstens im Bild der Reise des Jünglings von der gleichen Erfahrung im Zusammenhang mit Verfremdung gesprochen, von der wir mit Duerrs Betrachtungen über den Sinn von Grenzerfahrungen ausgegangen sind.

Wir haben also als erstes Resultat einen sehr allgemeinen, umfassenden Sinn von Verfremdung, dem aber noch die Prägnanz der Konkretisierung fehlt, wie sie etwa Karl Valentin mit der Klärung der Frage: "Was sind eigentlich Fremde unter Fremden? erreicht hat: "Fremde unter Fremden sind: wenn Fremde über eine Brücke fahren und unter der Brücke fährt ein Eisenbahnzugmit Fremden durch, so sind die durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Lehrer, vielleicht so schnell gar nicht begreifen werden. – Oho!" (12)

Ich möchte aber die Diskussion über Herkunft und Gebrauch des Terminus nicht weiter ausdehnen und verweise hier pauschal auf die erschöpfenden Auskünfte, die sich in Jan Knopfs Brecht-Handbuch am Beginn der Erörterung der Theatertheorie Brechts finden lassen.

(13)

Auf die Differenz zwischen dem Hegelschen und Marx’schen Gebrauch des Terminus Entfremdung ist allerdings noch einzugehen:

Ich versuche kurz zusammenzufassen. Entfremden bei Hegel im Zusammenhang und abwechselnd gebraucht mit entäußern beschreibt das sich Objektivieren des Subjekts und den Zustand des Sich-im-Objekt-verloren-Habens: Daher auch die Welt der Bildung als der der entfremdete Geist in der Phänomenologie auftritt. Sich als dies Verobjektivierte zu erkennen, oder das Objekt als Objekt aufzulösen, es als Geist von seinem Geist begreifen, bedeutet die Rückkehr des Subjekts aus der Entfremdung. Hier setzt die Marx’sche Kritik und ökonomische Differenzierung ein. Dies Sich-im-entäußern-verlustig-Gehen und die Wiederaneignung im Gedanken wird als Verkehrung durchschaut und berichtigt: nicht in der Entäußerung geschieht Entfremdung, sondern dadurch, daß die Aneignung des Entäußerten nicht dem Produzenten (dessen, der sich entäußert hat) zufällt, sondern einem andern (Privateigentum wird), was nichts anderes heißt als Verhinderung der allgemeinen An-eignung des auch in der Entäußerung immer schon Eigenen. Daher die spätere Ersetzung des Begriffs Entfremdung durch Lohnarbeit bei Marx. (Nur noch, um Philosophen verständlich zu sein, wird der ursprünglich gebrauchte Terminus nochmals verwendet.)

(14)

Mit dieser scheinbar nur geringfügigen Eingrenzung des Entfremdungsbegriffs sind weitreichende Folgerungen verbunden. In einem Fall ist Entfremdung so etwas wie eine Grundbedingung menschlicher Existenz: das Heraustreten aus der Natur als ursprüngliche Entfremdung, die sich auf höherer Stufe reproduziert und potenziert, Aufhebung der Entfremdung grundsätzlich nur als Bewußtseinsakt – im Geiste möglich. Bei Marx statt dessen Vergegenständlichung jene anthropologische Voraussetzung der Gattung Mensch, Entfremdung aber erst durch die Klassenspaltung auftretend, und mit der Aufhebung dieses Antagonismus auch aufhebbar.

Ohne dies weiter verfolgen zu können, wird klar, daß dies nicht der Entfremdungsbegriff ist, den Brecht abwechselnd mit Verfremdung gebraucht. Sowohl Ver- als auch Ent-fremdung heißt bei ihm das aktive Etwas-Fremdmachen zum Zwecke des Erkennens, wie es mit dem Hegelsatz aus der Vorrede der Phänomenologie "das Bekannte ist, weil es bekannt, noch nicht erkannt" (15) angesprochen, in der obigen Hegelstelle eben als Vorgang des Fremdmachens auch beschrieben wird. Erst in einer späteren Erläuterung des Verfremdungsbegriffs stellt Brecht den Zusammenhang zwischen Verfremdung und Entfremdung (im Marx’schen Sinn) dar als dialektische Bewegung:

Verfremdung als ein Verstehen (verstehen = unmittelbar Vertrautes, Gefühltes, Hingenommenes, "Natürliches") – nicht verstehen ("fremd" machen, das heißt: aufmerken auf die Tatsache der "Entfremdung" – zugleich fürs Subjekt: entfremdeter Zustand) – verstehen (neues Verständnis, Durchschauen der "Entfremdung", Abschluß des Verfremdungsprozesses: Voraussetzung für praktisches Eingreifen, "Bewußtsein", Negation der Negation = Entfremdung der "Entfremdung"). (16)

Verfremdung wird also als Mittel zur Aufdeckung von Entfremdung und damit möglicher Einsicht und von daher als Motor zur Überwindung von Entfremdung durch Eingreifen in die Wirklichkeit verstanden. Damit ist auch schon der Rahmen abgesteckt, in dem sich die weitere Erörterung bewegen kann, ohne auf die Beschreibung von V-Effekten eingeschränkt zu werden. Es tut also wirklich nichts zur Sache, ob der russische Formalismus (Shklowsky über Tretjakow) oder Hegel, wie hier angenommen (und Marx als Hegelinterpret) den Begriff bereitstellten, den Brecht ins Zentrum seiner Theatertheorie stellte.

Wichtig ist vorerst nur festzuhalten, daß Verfremdung einiges mehr umfaßt als nur die V-Effekte, mehr ist als ein terminus technicus (wenn auch ein zentraler). Und so ist es auch vom Aufbau dieser Untersuchung zu legitimeren, daß in diesem Versuch über Verfremdung nicht nur von Theatertheorie die Rede sein wird, sondern Brechts Marxismus hier zentral zur Sprache kommt. Zunächst soll aber nach Methoden der Verfremdung, des Fremdmachens bei Brecht gefragt werden, die sich lange vor der Verwendung des Begriffs auffinden lassen. Von der Sache selbst hatte er längst ein genaues Bewußtsein, wie eine Tagebuchnotiz belegt, wo Brecht einerseits von Distanz, andererseits von der ästhetischen Qualität des Verwunderlichen, des Staunens spricht. Bereits 1922 notiert Brecht:

Einen großen Fehler sonstiger Kunst hoffe ich im ‘Baal’ und ‘Dickicht’ vermieden zu haben: ihre Bemühung, mizureissen. Instinktiv lasse ich hier Abstände und sorge, daß meine Effekte (poetischer und philosophischer Art) auf die Bühne begrenzt bleiben. Die ‘splendid isolation’ des Zuschauers wird nicht angetastet, es ist nicht sua res, quae agitur, er wird nicht beruhigt dadurch, daß er eingeladen wird mitzuempfinden, sich im Helden zu inkarnieren und, indem er sich gleichzeitig betrachtet in zwei Exemplaren, unausrottbar und bedeutsam aufzutreten. Es gibt eine höhere Art von Interesse: das am Gleichnis, das am Andern, Unübersehbaren, Verwunderlichen.(15/62)

Dies, an die Stelle des Mitgerissenwerdens die Distanz, das Staunen zu setzen, ist ein uraltes philosophisches Prinzip, in dem schon die Griechen den Anfang der Weisheit, oder die Voraussetzung der Philosophie sahen. (Und als der ganz späte Brecht seinen oft überkandidelten Schülern von der ästhetischen Kategorie des Naiven spricht, ist wieder vom Gleichen die Rede). Damit bekennt sich schon der junge Brecht als der "Philosoph auf dem Theater", der im Messingkauf dann die Umwälzung und Umfunktionierung des überlieferten Apparats für seine Zwecke fordern wird. Die Frage ist nun, wie und womit Brecht schon in den frühen Stücken das erreicht, was er als Vorzug seiner Stücke anerkennt (bei sonst hellsichtiger Selbstkritik gegenüber ihren Schwächen). Es ist das Ergebnis einer radikalen Sprachkritik. (Dies eine Basis, an der Brecht auch während seiner philosophischen Studien festhalten wird: Erkenntnistheorie muß vor allem Sprachkritik sein (20/140), wird er später formulieren.)

A) Der Krieg der Wörter mit den Kehlkopfschreien

"Gestern träumte ich vom Tod der Wörter", sage ich.
Carola starrte mich an: "Sooo?"
"Jaa", sage ich glatt:
"Es waren einmal die Wörter, die führten Krieg
mit den Kehlkopfschreien ..."

Robert Schindel: "Kluge Kinder sterben früh"

Diese Sätze stehen am Ende einer Prosa von Robert Schindel über die Aporien der Neuen Linken nach 1968, einer Prosa, die kenntlich macht, wie man produktiv von Brecht lernen kann, ohne ihn nachzuahmen; und da Schindel Wiener ist, treffen sich bei ihm Brecht und Nestroy, Karl Kraus und Freud mit Godard, Celan und Biermann, in einer Durchdringung, die gerichtet auf die Erfassung einer komplizierten Realität, von überall her nimmt, was brauchbar für diese schwierige Unternehmung. Die obigen Sätze bezeichnen ein Bewußtsein von der Situation der Sprache in einem Zustand der Sprachlosigkeit, wo sich das unaufhörliche Reden der Menschen abgelöst hat vom handeln, von ihrem Tun und daher fast aufhört, Mittel der Verständigung, der Kommunikation zu sein in seiner beliebigen Auswechselbarkeit.

Karl Kraus hat sich bekanntlich als Lebensaufgabe die Kritik an der Verschluderung der Sprache gewählt und der Presse und dem, was in ihr der Sprache angetan wird, die Schuld gegeben am Weltuntergang (in: "Die letzten Tage der Menschheit", einer grandiosen Montage aus Zeitungsnotizen, Kriegsberichten und Reflexionen des Nörglers dazwischen). Brecht hat sein Absolutsetzen der Sprachkritik in der Keunergeschichte über Herrn Wirr aufs Korn genommen und seiner Forderung nach Abschaffung der Presse die Forderung nach besseren Zeitungen entgegengestellt.

In dieser Keunergeschichte findet sich ein Hinweis auf Brechts spezifischen Humanismus:

Herr Wirr hielt den Menschen für hoch und die Zeitungen für unverbesserbar, Herr Keuner hingegen hielt den Menschen für niedrig und die Zeitungen für verbesserbar. "Alles kann besser werden", sagte Herr Keuner, "außer dem Menschen." (12/403)

(Ich weiß, man soll Kunstfiguren nicht leichtfertig mit ihrem Autor identifizieren.)

Aber grundsätzlich stimmte er der Intention dieses "Gewissens der Sprache" zu. Ein anderer Lehrer von Brecht, Karl Valentin, baut seine ganz Komik auf dem hilflosen, grotesken Stolpern über die bürokratisierte, formalisierte, zerbrochene Sprache auf, die, je länger ein Dialog dauert, immer mehr Mißverständnisse, Verständnisbarrieren aufbaut, aus denen es kein Entrinnen mehr gibt, so oft er auch in den in sich unendlichen Streitgesprächen mit seiner kongenialen Partnerin Lisl Karlstadt aus ihnen auszubrechen versucht. Hier eine signifikante Probe:

Es freut mich ungemein, daß Sie, wie Sie, wenn sie hätten, widrigenfalls ohne direkt, oder besser gesagt, inwiefern, nachdem naturgemäß es ganz gleichwertig erscheint, ob so oder so, im Falle, es könnte oder es ist, wie erklärlicherweise in Anbetracht oder vielmehr, warum es so gekommen sein kann oder muß, es ist, kurz gesagt, kein Beweis vorhanden ... (17)

Gegenüber diesem in sich verstrickten Wortsalat, den das Eindringen der "Schreibe" in die Alltagssprache ergibt, steht die esoterische Stilisierung der Schreibe als reine Kunstsprache, ein sich esoterisch gebärdendes Flüchten aus der Wirklichkeit etwa Rilkes oder Georges, nicht zu reden von den ekstatischen Schreiben und Wortfetzen der Expressionisten. Diese Sprachformen hatten den Zusammenhang mit der gesprochenen Sprache verloren – bzw. sich absichtsvoll distanziert davon, mit dem Resultat, für welches Brecht ironisch den Terminus "Druckkunst" prägte: als Zusammenfassung von Im- und Ex-Pressionismus mit dem schönen Doppelsinn von Druck, der sowohl auf die bloß geschriebene, gedruckte Kunst verweist, wie auf die Anstrengung und Künstlichkeit dieser Produktionen. (18/55)

Im Me-ti findet sich eine Beschreibung der Neuerungen, die Brecht vornahm, in einer rückblickenden Reflexion auf die eigene Ausgangssituation, d.h. die des Dichters Kin-jeh:

"Er (Kin-jeh, Brecht) fand zwei Sprachweisen vor: Eine stilisierte, welche gespreizt und geschrieben klang und nirgends im Volk, bei der Erledigung der Geschäfte oder bei anderen Gelegenheiten, gesprochen wurde, und eine überall gesprochene, welche eine bloße Imitation des alltäglichen Redens und nicht stilisiert war. Er wandte eine Sprachweise an, die zugleich stilisiert und natürlich war. Dies erreichte er, indem er auf die Haltungen achtete, die den Sätzen zugrunde liegen: Er brachte nur Haltungen in Sätze und ließ durch die Sätze die Haltungen immer durchscheinen. Eine solche Sprache nannte er gestisch, weil sie nur ein Ausdruck für die Gesten der Menschen war. Man kann seine Sätze am besten lesen, wenn man dabei gewisse körperliche Bewegungen vollführt, die dazu passen, Bewegungen, welche Höflichkeit oder Zorn oder Überredung oder Spotten oder Memorieren oder Überrumpeln oder Warnen oder Furchtbekommen oder Furchteinflößen bedeuten. Oft kommen innerhalb eines bestimmten Gestus (wie Trauer) noch viele anderen Gesten vor (wie Alle-zu-Zeugen-Aufrufen, Sich-zurückhalten, Ungerechtwerden usw.). Der Dichter Kin (Brecht) erkannte die Sprache als ein Werkzeug des Handelns und wußte, daß einer auch dann mit andern spricht, wenn er mit sich spricht. (12/459)

Hier hat Brecht nicht nur bereits längst seine Sprache gefunden, sondern verfügt über eine metasprachliche Ebene der theoretischen Beschreibung dessen, was die Neuerungen seiner Sprache ausmacht.

Für den jungen Brecht um 1920 stellt sich die Aufgabe direkter, unmittelbarer, tatsächlich als "Krieg der Wörter mit dem Kehlkopfschreien":

"Viele Dinge sind erstarrt, die Haut hat sich ihnen verdickt, sie haben Schilde vor, das sind die Wörter... Wir haben von den Dingen nichts als Zeitungsberichte in uns, wir sehen die Geschehnisse nur mit den Augen von Reportern, die nur bemerken, was interessieren könnte, was verstanden wird. Das Schlimmste, wenn die Dinge sich verkrusten in Wörtern, hart werden, wehtun beim Schmeißen, tot herumliegen." (18)

Damals fehlte Brecht eine andere Methode als diejenige der radikalen Sprachkritik, um der Dinge in ihrer vielfältigen Erscheinung und ständigen Veränderung habhaft zu werden; er greift die abgestumpften Wörter heftig an:

"Sie müssen aufgestachelt werden, enthäutet, bösgemacht, man muß sie füttern und herauslocken unter der Schale, ihnen pfeifen, sie streicheln und schlagen, im Taschentuch herumtragen, abrichten. Man hat seine eigene Wäsche, man wäscht sie mitunter. Man hat nicht seine eigenen Wörter, und man wäscht sie nie. Im Anfang war nicht das Wort. Das Wort ist am Ende. Es ist die Leiche des Dinges ..." (19)

In den Berichten von Augsburger Jugendfreunden (20) Brechts finden sich Hinweise darauf, wo und wie Brecht sein Material sammelte, Wörter und Redewendungen notierte, ausprobierte, auf dem Markt, bei den Fuhrleuten (wie sie im Baal vorkommen), auf dem Plärrer (einer Art Jahrmarkt in Augsburg), den Ausrufern "ihre wirksamsten Gesten stahl". (8/81)

Ebenso finden sich Selbstzeugnisse:

28.8.1920: Ich merke, daß ich schwach im Zeitwort bin. Auf dem Zeitwort baut sich aber das Drama auf. Ich lege ein Vokabularium an, schaue drauf wie auf rollende Kugeln beim Roulette. Ich muß mich bessern darin. (21)

Brecht nahm also schon früh die Aufgabe wörtlich, "dem Volke aufs Maul schauen." Damit fällt das Stichwort Luther. Bekannt ist Brechts Antwort auf die Frage nach der Lektüre, die den stärksten Eindruck auf ihn gemacht habe, sein schnoddriges: "Sie werden lachen, die Bibel."

Tatsächlich schöpfte er aus der Lutherschen Bibelübersetzung wohl die meisten Anregungen bei der Arbeit, die deutsche Sprache und besonders die der Literatur so zu verändern, daß mit ihrer Hilfe die sich vollziehenden gesellschaftlichen Umwälzungen wiedergegeben werden konnten. Die deutsche Sprache hatte für ihn seit der Reformation unter den Zuständen der "deutschen Misere" gelitten, war zu einer Bedienten- und Kanzlistensprache herabgesunken und hatte schließlich in der Literatur den Anspruch aufgegeben, der Mitteilung zu dienen, sondern mußte dazu herhalten, die Gefühle schöner Seelen auszudrücken. In den Versuchen der Expressionisten, eine neue Sprache zu schaffen, sah er nur die andere Seite der gleichen Wirklichkeitsfremdheit.

Die Sprache der Lutherbibel mußte sich aus mehreren Gründen für eine Neugestaltung der Sprache besonders eignen. Einmal übernahm Brecht die Luthersche Forderung, dem Volks aufs Maul zu schaun; ging es ihm darum, das gestische Element, das in der vulgären Sprache am stärksten sich durchsetzt, für die Literatur fruchtbar zu machen; zum anderen war die Teutsche Bibel Luthers in einer Zeit entstanden, in der die revolutionären Hoffnungen der sich gerade aus mittelalterlicher Enge befreienden bürgerlichen Klasse in Deutschland erfüllbar schienen, daher sich in ihrer Sprache Elemente des Rebellischen, der Aufsässigkeit und der Gehorsamsverweigerung gegenüber der Obrigkeit finden. Andererseits ist sie aber auch eine Fundgrube für Elemente der "Sklavensprache", die sich im gesamten Werk Brechts nachweisen lassen.

Die Stellen, wo Nietzsche für sich das Verdienst in Anspruch nimmt, die Sprache Luthers wieder entdeckt zu haben für die Literatur, habe ich schon im ersten Teil dieser Arbeit zitiert. Brecht hat es aus auch schon erörterten mutmaßlichen Gründen nie für notwendig gehalten, auf eine Vermittlerrolle Nietzsches in diesem Zusammenhang zu sprechen zu kommen und die Entdeckung der gestischen Sprache Luthers durchaus für sich in Anspruch genommen. Und bekanntlich figuriert als Exempel zur Erläuterung dessen, was die gestische Formulierung eines Satzes ausmacht, eine Stelle aus Luthers Bibelübersetzung: "Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus". (15/482)

Die direkten und indirekten Zitate, Anspielungen, Umkehrungen und Abwandlungen von Bibelstellen in Brechts Werk sind Legion (ich glaube, Thomas O. Brandt hat in seinem Buch über die Vieldeutigkeit Brechts versucht, die wichtigsten Belegstellen aufzulisten(22)). Wenn aber Brecht mit der Entdeckung der Luthersprache auch Nietzsche "beerbt" hat, so ist auch festzuhalten, daß er im Aufgreifen dieses Fundes zugleich auch weit über Nietzsche hinausgegangen ist, nicht nur in der theoretischen Begründung (soweit ich sehe, findet sich der Terminus "Gestus" bei Nietzsche nicht; an einigen Stellen spricht Nietzsche allerdings in ähnlichem Sinn wie Brecht von Gestus von Gebärden), sondern auch im Ausmaß bzw. der Konsequenz der Säkularisierung. Besonders im Zarathustra wird deutlich, wieviel quasi religiöser Gehalt, prophetische Gebärde von Nietzsche mit übernommen wird, während Brecht das "Dem Volk aufs Maul schauen" noch um die Wendung des "Einnehmens der plebejischen Perspektive" ernster nimmt und mit dem Blick von unten auch die Religionskritik des niederen Materialismus konsequent entfaltet.

Was Brecht besonders beeindrucken mußte, war die Tatsache, daß die Sprache der Bibel in ihrem Gestus stets schon ein Publikum einschloß als Überlieferung, Bericht und Prophezeiung an eine Gemeinde, in einer nie unterbrochenen Dialogsituation sich wendete. Schon der frühe Brecht erzielte dadurch, lange bevor er den Ausdruck prägte, einen Verfremdungseffekt, daß er die Auseinandersetzung mit einer neuen Wirklichkeit so darbot, als handelte es sich um Vertrautes und Bekanntes, dem aber plötzlich der Boden unter den Füßen entzogen wird. Gerade dadurch war der Abstand zwischen den neuen Bedingungen menschlicher Existenz und den dahinter zurückbleibenden Denkformen und Lebensgewohnheiten deutlich zu machen.

Mögen bei Brecht zunächst wie bei Nietzsche ästhetische Gründe für den Rückgriff auf Luther maßgeblich gewesen sein (Nietzsche stellt seine Entdeckung ja als Stil- bzw. Geschmacksfrage dar), so geht es Brecht um die Herstellung eines Traditionszusammenhangs, den er in der deutschen Literatur weitgehend vermißt. Man vergleiche die Eintragung im Arbeitsjournal vom Februar 1940(23), worin Brecht die englische Literatur um die Kontinuität ihrer Entwicklung beneidet. Brecht muß sich seine Tradition "zusammensuchen" und zu Wedekind, Villon und Rimband für die frühen Balladen treten dann von den Deutschen neben Luther, Grimmelshausen und Johann Peter Hebel, Büchner und Lenz, und die Klassik aussparend nur die "gescheiterten Außenseiter" zwischen Klassik und Romantik: Hölderlin und Kleist. Die Aussparung der Weimarer Klassik hängt zusammen mit der gehobenen Kanzleisprache Goethes, an die – wie Eisler im Gespräch mit Bunge bemerkt – , unmöglich angeschlossen werden konnte. Anläßlich der Lektüre des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe spricht Brecht von einer "hochgesinnten" Verschwörung gegen das Publikum, in der der deutschen Bourgeoisie eine Nationalliteratur aufgezwungen wurde "wie sein bürgerliches Gesetzbuch". (24)

Für diese Isolierung der Weimarer – der eigentliche Grund ihrer Selbststilisierung als Olympier wie überhaupt für das Fehlen einer literarischen Tradition in Deutschland – findet Brecht die Ursache in der verfehlten bürgerlichen Entwicklung Deutschlands, der "Deutschen Misere", dem Resultat des Bündnisses Luthers mit dem Feudaladel gegen die Bauern, mit dem Dreißigjährigen Krieg und der Kleinstaaterei nach dem Westfälischen Frieden im Gefolge, – mit den verheerenden Auswirkungen auf den deutschen Charakter (Knechtseligkeit, Barbarei ...) und die geistige Entwicklung in Deutschland.

Die Erörterung des Einflusses der Lutherbibel auf Brechts Sprache hat, scheint es, recht weit abgeführt von der hier interessierenden Problematik der Verfremdung. Ging es nicht schon Luther mit der Bibelübersetzung um ein Nahebringen eines früher fremden (fremdsprachigen) und damit entrückten, verfremdeten Bereichs, um ein vertraut Machen, allgemein Machen eines vorher nur wenigen zugänglichen Wissen? Und ging es nicht auch dem jungen Brecht mit dem Aufstacheln, Bösmachen der verkrusteten Wörter darum, fremd- und gleichgültig Gewordenes wieder nahezubringen, – rede ich also vom Gegenteil dessen, was ich angekündigt habe? Hat die Sprachkritik Brechts gar nichts mit Verfremdung zu tun?

Dieser Schein entsteht, wenn man vergißt, daß Verfremdung als "Fremdmachen eines Bekannten, um es erkennen zu können", sich auf Wirklichkeit bezieht, auf die wir uns mittels Sprache beziehen. Je abgetrennter die Sprache vom Handeln, desto eher passiert eben das, daß das bloß Bekannte schon fürs Erkannte genommen wird. Wir meinen dann bloß von Wirklichkeit zu sprechen und nehmen die Differenz gar nicht mehr wahr.

Jeder, der nur gelegentlich versucht hat, einen Vorfall, eine Situation zu beschreiben, hat die Erfahrung machen müssen, daß es eine unmittelbare Abschilderung nicht gibt, nicht gegen kann, daß die Wirklichkeit, die man mit Händen greifen zu können meinte, zwischen den Worten entweicht und man kennt die Öde, die unendliche Langeweile von Versuchen, in positivistischem Vertrauen auf die Faktizität immer noch präzisere Beschreibungen zu geben: sie geraten in die schlechte Unendlichkeit der Aufreihung von Einzelheiten, in denen die Dinge, die festgehalten werden sollten, sich auflösen.

Sprache ist eben nicht ein neutraler Spiegel oder das indifferente Medium der Mitteilung, sondern ein Konstrukt, durch welches eine bestimmte Wirklichkeit konstruiert wird. In diesem Sinn gilt auch Brechts schon erwähntes Diktum: Erkenntniskritik ist Sprachkritik. Dies ist nun nicht im Sinne eines Agnostizismus ein Argument der Leugnung objektiver Wirklichkeit oder mißzuverstehen im Sinne der Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein, da Sprache eben nie nur Konvention, gelegentliche Übereinkunft, sondern historisch vermittelte Intersubjektivität, auf Handeln bezogen und auf dieses einwirkend. Die Entdeckung der gestischen Sprache bedeutet die Freilegung eines verschütteten Zusammenhangs zwischen Sprache und Handlung. Oder nicht Sprache ist das Konstrukt, in dem eine Wirklichkeit konstituiert wird, sondern gesellschaftlich handelnd konstituieren die Menschen ihre Wirklichkeit und ihr Sprechen gehört dazu, die Trennung zwischen Sprache und Handeln ist so eigentlich Abstraktion (die nun aber auch in der Wirklichkeit der fortschreitenden Arbeitsteilung und Spezialisierung fundiert ist.)

Daher ist das Herausarbeiten des dem jeweiligen Sprechen zugrundeliegenden Gestus ein Mittel des Auffälligmachens dieses Zusammenhangs, damit Voraussetzung fürs verändernde Eingreifen in die Wirklichkeit.

Aber noch in einem andern Zusammenhang betreibt Brecht Sprachkritik als Erkenntniskritik:

Philosophen werden meist sehr böse, wenn man ihre Sätze aus dem Zusammenhang reißt. Me-ti empfahl es. Er sagte: Sätze von Systemen hängen aneinander wie Mitglieder von Verbrecherbanden. Einzeln überwältigt man sie leichter. Man muß sie also voneinander trennen. Man muß sie einzeln der Wirklichkeit gegenüberstellen, damit sie erkannt werden. Alle zusammen hat man vielleicht nur bei einem Verbrechen gesehen, jeden Einzelnen aber schon bei verschiedenen." (12/471)

Der sicher nicht schmeichelhafte Vergleich der philosophischen Sätze mit Mitgliedern einer Verbrecherbande stachelt das Mißtrauen gegen die Versuche der Philosophen an, der Welt jeweils ihr System als die einzig gültige Weltsicht aufzuzwingen. Daher empfiehlt Brecht in diesem Zusammenhang auch, den Philosophen weniger bei der Darlegung ihres Systems zu folgen, sondern ihnen dort zuzuschauen, wo sie ihre Kollegen kritisieren:

"Dann nämlich beschreiben sie dieselben als ziemlich skrupellose und voreilige Konstrukteure, nicht als Finder, sondern als Erfinder, und ein appetitmachender Slang von Werkzeug, terminus technicus, technischen Griffen macht sich breit:
Man sieht Handwerker an der Arbeit..." (20/142)

Einem Philosophieren, welches auf Eingriffe in die Wirklichkeit zielt, statt fertige Weltinterpretationen liefern zu wollen, ist daher auch eine Art der Darstellung angemessen, die Platz läßt zwischen den Sätzen – den Raum fürs Handeln, der Praxis – deutlich sichtbar ausspart.

Wenn hier Sprachkritik als erste Stufe der Arbeit des Problems der Verfremdung dargestellt wurde, ist damit nicht unterstellt, daß es sich um ein frühes Verfahren bei Brecht handelt, welches später durch andere entwickeltere Techniken der Schauspiel- bzw. Bühnenkunst abgelöst worden wäre. Sprachkritik bleibt vielmehr die Grundlage aller Kritik und zieht sich durchs gesamte Werk von Brecht.

So beschreibt Brecht in dem schon mehrfach zitierten Rückblick bei Durchsicht seiner ersten Stücke die Arbeit an der Sprache bei der Entstehung von "Im Dickicht der Städte".

Schwäne schwammen in dem teichartigen Wasser. Die Kastanien warfen ihr gelbes Laub ab. ... Ich stellte Wortmischungen zusammen wie scharfe Getränke, ganze Szenen in sinnlich empfindbaren Wörtern bestimmter Stofflichkeit und Farbe. Kirschkern, Revolver, Hosentasche, Papiergott: Mischungen von der Art. – Selbstverständlich arbeitete ich gleichzeitig an der Fabel, an den Charakteren, an meinen Meinungen über menschliches Verhalten und seine Wirksamkeit, und vielleicht habe ich das Formale ein wenig übertrieben. (17/950)

Und ganz ähnlich die Arbeit am Cäsarroman, nun beschrieben mit Blick auf die Formalismusanklagen der Lukacse:

Während ich .. .einen bestimmten Sachverhalt zu ergründen suche, voll von Skepsis ..., habe ich Farben, Vorstellungen vager Art im Hinterkopf, Eindrücke bestimmter Jahreszeiten, höre Tonfälle ohne Worte, sehe Gesten ohne Sinn, denke an wünschbare Gruppierungen von nichtbenamten Gestalten ... der Formalist" in mir arbeitet.

Während mir langsam die Bedeutung der Sterbekassenvereine des Clodius aufgeht und mich eine gewisse Entdeckerfreude erfaßt, denke ich: wenn man einmal ein sehr langes, durchsichtig geschriebenes, herbstliches, glasklares Kapitel schreiben könnte, mit einer unregelmäßigen Kurve einer Art roter Wellenlinie die durchgeht! ... Ich bin in einem frühen Stadium meiner Arbeit. (19/300)

Immer geht in die Arbeit an der Sprache Verfremdung als Mittel der Erkenntnis, als Mittel für die Herstellung von praktikablen Abbildern der Wirklichkeit ein, wobei deutlich wird, daß die Betonung des Artistischen, das ästhetische Interesse nicht bloß als kleines "erlaubtes" Nachlassen der Erkenntnisinteressen gelten kann, sondern von Brecht als gleich wichtiges Element des Erkenntnisprozesses verstanden wird.

In diesem Zusammenhang sei auf den Aufsatz von Dieter Thiele verwiesen: "Brecht als TUI?". (25) Der Autor interpretiert dort die von mir schon in der Einleitung zitierte Stelle aus Benjamins Gesprächen mit Brecht, wo Brecht sich vor einem fiktiven Tribunal verantwortet und an das Eingeständnis: Ganz ernst ist es mir nicht, die "noch wichtigere Behauptung" anschließt: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist. Zitat Thiele:

Und womit ist es Brecht eigentlich nicht ganz ernst? Nehmen wir den krassesten Fall: mit seinem politischen Engagement. Dann entspräche dieses Nicht-ganz-ernst-Sein genau dem, was Lenins hypothetische Romanschreiberei bedeuten würde: eine politische Betätigung des großen Revolutionärs mit falschen Mitteln; ein für ihn ‘nicht würdiges Verhalten’, an dessen Ernst und ‘Durchschlagskraft’ man zweifeln müßte. Damit ist aber nicht der Ernst literarischer Betätigung und ihre Bedeutung für die politische Praxis geleugnet, noch kann man davon sprechen, daß der Ernst der politischen Aktion und die Realitätsdistanz der ästhetischen Sphäre in Widerspruch stehen. Vielmehr läßt sich die Passage aus Benjamins Tagebucheintragung so verstehen, daß Brecht, indem er betont, daß das Romanschreiben des Politikers Lenin als ‘unstatthaft’ empfunden werden würde, gerade die politische Sphäre als dessen eigentliches Aufgabenfeld hervorhebt und durch sein eigenes vor dem fiktiven Tribunal geäußertes Bekenntnis ‘ganz ernst ist es mir nicht’ in umgekehrter Weise die ästhetische Sphäre, die Literatur und das Theater, als sein Aufgabenfeld verdeutlichen will." (26)

Einen weiteren Beleg für diese Argumentationsrichtung stellt die Geschichte: Me-ti über den Tod des Tu (12/577) dar.

Leider bin ich weit von dem Idealzustand entfernt, dieses Buch aus 90 % Zitaten montieren zu können, wie ich es Brechts Vorschlag folgend gerne möchte; aber der Zwischentext schwillt doch zu sehr an:

Originalität
"Heute", beklagte sich Herr K., "gibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Infolgedessen werden Gedanken nur in eigener Werkstatt hergestellt, indem sich der faul vorkommt, der nicht genug davon fertigbringt. Freilich gibt es dann auch keinen Gedanken, der übernommen werden, und auch keine Formulierung eines Gedankens, die zitiert werden könnte ..." (12/379)

B) Der einzige Zuschauer für meine Stücke ...

Als ich ‘Das Kapital’ von Marx las, verstand ich meine Stücke. Man wird verstehen, daß ich eine ausgiebige Verbreitung dieses Buches wünsche. Ich entdeckte natürlich nicht, daß ich einen ganzen Haufen marxistischer Stücke geschrieben hatte, ohne eine Ahnung zu haben. Aber dieser Marx war der einzige Zuschauer für meine Stücke, den ich je gesehen hatte. Denn einen Mann mit solchen Interessen mußten gerade diese Stücke interessieren. Nicht wegen ihrer Intelligenz, sondern wegen der seinigen. Es war Anschauungsmaterial für ihn. Das kam, weil ich so wenig Ansichten besaß wie Geld und weil ich über Ansichten die gleiche Ansicht hatte wie über Geld: Man muß sie haben zum Ausgeben; nicht zum Behalten. (15/129)

Wenn man der Frage nachgeht, wie Brecht zum Marxismus gekommen ist, – um dann das Spezifische seiner Marxrezeption zu untersuchen –, dann fällt auf, wie sehr Brecht betont, daß es im Zusammenhang mit seiner Theaterarbeit geschehen ist. Das Zeugnis, er sei "auf kaltem Weg zum Marxismus gekommen", haben wir schon erwähnt. Aber man könnte hinzufügen: Brecht konnte ihn brauchen. 1935 beschreibt er seinen Zugang zum Marxismus als eine Art Betriebsunfall seiner Theaterarbeit:

Für ein bestimmtes Theaterstück brauchte ich als Hintergrund die Weizenbörse Chicagos. Ich dachte, durch einige Umfragen bei Spezialisten und Praktikern mir rasch die nötigen Kenntnisse verschaffen zu können. Die Sache kam anders. Niemand, weder einige bekannte Wirtschaftsschriftsteller noch Geschäftsleute ..., niemand konnte mir die Vorgänge an der Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, daß diese Vorgänge schlechthin unerklärlich, d.h. von der Vernunft nicht faßbar, und das heißt wieder einfach unvernünftig waren. Die Art, wie das Getreide der Welt verteilt wurde, war schlechthin unbegreiflich. Von jedem Standpunkt aus außer demjenigen einer Handvoll Spekulanten war der Getreidemarkt ein einziger Sumpf. Das geplante Drama wurde nicht geschrieben. Statt dessen begann ich Marx zu lesen, und da, jetzt erst las ich Marx. Jetzt erst wurden meine eigenen zerstreuten praktischen Erfahrungen und Eindrücke richtig lebendig... (27)

Brecht galt in den Zwanziger Jahren als fortschrittlicher Dichter, als "heimatloser Linker" ohne festen politischen Standort. Er konnte, aus einem Vortrag über das neue Rußland kommend, notieren:

Mir graut nicht vor der tatsächlich erreichten Unordnung dort, sondern vor der tatsächlich angestrebten Ordnung. Ich bin jetzt sehr gegen den Bolschewismus: Allgemeine Dienstpflicht, Lebensmittelrationierung, Kontrolle, Durchstecherei, Günstlingswirtschaft. Außerdem, im günstigsten Fall: Balance, Umformierung, Kompromiß. Ich danke für Obst und bitte um ein Auto... (28)

aber sich ebenso darüber aufregen, wenn sein Vater über den Kommunismus schimpfte:

Mittags redet Papa Unsinn über den Kommunismus. Zwei Äpfel im Garten sind gestohlen, ich verteidige den Dieb: Was Bäume machen, gehört niemand. Hierauf schreit Papa ... soweit sei es mit Deutschland wegen Leuten wie uns gekommen... (29)

Der Kommunismus oder der Marxismus war für Brecht eine Ansichtssache, die ihn nur peripher interessierte. (20/16) Aber schon Anfang 1922 notiert er auch im Zusammenhang mit Theater sein Bedürfnis "nach einer starken und gleichmäßigen Philosophie":

Gelingt es einem von uns, das Drama zum Spiel zu machen, ohne es zu schwächen, wozu vielleicht weniger eine heroische Religion wie zu den großen mythischen Tragödien gehört, als eine starke und gleichmäßige Philosophie; dann werden wir durch ein Feixen dem Gelächter entgehen. (30)

Daß Brecht sich hier mutmaßlich mit Nietzsches "Geburt der Tragödie" auseinandersetzt, sei nur wieder einmal angemerkt. Wenn ich weiter oben salopp formuliert habe: Er konnte ihn brauchen (Brecht den Marxismus), wird jetzt schon in zweierlei Hinsicht deutlicher, wozu. Einerseits, um die eigenen Eindrücke von der Wirklichkeit besser zu ordnen, in einen theoretischen Zusammenhang stellen zu können und durchsichtig zu machen, andererseits als theoretische Grundlage für sein Theater. In diesem Sinn kann man der Meinung Hans Mayers zustimmen, daß die These, "daß es das gesellschaftliche Sein sei, welches das Bewußtsein bestimme, als philosophisch-materialistische Grundeinsicht vom Primat der Basis gegenüber der – angeblich sekundären Rolle des Überbaus in fast allen Werken Brechts paraphrasiert werde." (31)

Aber auch nur in diesem Sinn. Denn gerade dabei dürfte es sich nicht um eine "kritische Erleuchtung", wie Mayer formuliert, sondern eben um die Konkretisierung einer frühen Brecht-eigenen Grundeinsicht handeln, die er bei Marx theoretisch ausformuliert fand.

Was aber nicht geht (aber Mayer tut) ist, einerseits die auf Lenin zurückgehende Dreiteilung des Marxismus in dialektischen und historischen Materialismus, Politische Ökonomie und Geschichte der Arbeiterbewegung als formell zu kritisieren, aber dann Brechts Beitrag zum Marxismus auf die Abteilung "Diamat" zu beschränken. (32)

Die philosophische Bedeutung Brechts liegt gerade darin, daß er innerhalb des Marxismus nicht nur eine eigenständige Nuance entwickelte (wie etwa Korsch oder Bloch), sondern daß er den Bruch, der in der Konzeption vom Praktischwerden der Philosophie lag, auch theoretisch und praktisch vollzog: zum Ausgangspunkt seiner philosophischen Bemühungen machte.

Es war ihm ernst damit, den Marxismus nicht als eine von vielen möglichen Ansichten über die Welt – als Weltanschauung – anzuerkennen, sondern als eine Methode zu begreifen, handelnd in die Wirklichkeit einzugreifen, wobei er zu diesem Handeln auch das Theatermachen zählte.

Ich habe in der Einleitung festgestellt, daß die paradoxe Situation besteht, daß gerade Brechts Bekenntnis zum Marxismus eins der Hindernisse darstellte, ihn als Philosophen ernst zu nehmen. Auf der anderen Seite beginnt sich doch die Überzeugung durchzusetzen, daß Brechts theoretisches Werk mehr Gewicht hat, als bloßer Kommentar zu den literarischen Werken zu sein (so noch der Herausgeber Werner Hecht im Nachwort zu Band 20 der Werkausgabe Suhrkamp (33)), und es wird seit einigen Jahren versucht, den marxistischen Theoretiker Brecht ins Licht zu rücken. Allerdings ist unübersehbar, daß dabei (etwa von Werner Mittenzwei, der den Me-ti-Fundus systematisch geordnet herausgebracht hat) der Versuch unternommen wird, die Differenzen zum offiziellen Marxismus wegzuretuschieren.

Nachdem schon Hanns Eisler in den Gesprächen mit Hans Bunge auf die eminente Bedeutung Lenins für Brecht verwiesen hat, sieht Mittenzwei im Me-ti "Brechts Lenin-Poem, einen Dialog, den er in der dritten Person über Lenin führt, über den Dialektiker, den Revolutionär, über Lenin, den Listigen, den Weisen." (34)

Anders als der offizielle Marxismus-Leninismus, der den Beitrag Lenins im wesentlichen additiv bzw. selektiv zu dem von Marx und Engels versteht (d.h. einerseits vom Marxismus das aufnimmt, was und wie Lenin Marx rezipiert hat, andererseits dem Marxismus die Imperialismustheorie Lenins oder sein Parteiaufbaukonzept hinzufügt), kann Brecht als einer der wenigen authentischen Leninisten bezeichnet werden, d.h. als einer, dessen gesamte Marxrezeption durch seine Leninrezeption als Katalysator tingiert ist:

Von Mi-en-leh (Lenin) sagten viele, er sei ein großer Praktiker gewesen, Le-peh (Plechanow) aber ein großer Philosoph. Me-ti sagte: Le-pehs Praxis bewies, daß er kein großer Philosoph war, Mi-en-lehs Praxis bewies, daß er ein großer Philosoph war. Mi-en-leh war in der Philosophie praktisch und in der Praxis philosophisch.
... Während andere das Leben betrachten auf seine Ausbeute für Meinungen hin, beschäftigte sich Mi-en-leh mit Meinungen um des Lebens willen. Nur wenn man annimmt, der Philosoph lebe um der Philosophie willen, war Mi-en-leh kein Philosoph, aber so etwas anzunehmen, schien ihm selber nicht philosophisch." So heißt es in einer Notiz im Me-ti unter der Überschrift: Vorsicht bei der Verwahrung von Erfahrungen. (12/451)

Ich kann mir nicht ersparen, in diesem Zusammenhang auch auf die schon leidige Korsch-Debatte in der Brechtforschung einzugehen, die ganz im Zeichen der Inanspruchnahme Brechts für oder gegen den offiziellen Marxismus steht.

Seit Wolfdietrich Rasch bereits 1963 Karl Korsch als den "marxistischen Lehrer Brechts" entdeckt hat, ist der Anteil von Korsch an Brechts marxistischer Ausbildung beliebter Zankapfel der Brechtforschung. Während die einen (Rasch und Brüggemann) Brechts Marxismus mit dem von Korsch weitgehend identifizieren, weisen andere (Mittenzwei vor allem) den Einfluß von Korsch weitgehend in den Bereich der Legende.

Ich vermeide es, hier die ganze Korsch-Debatte auszubreiten, zu der dann noch die eingehende Auseinandersetzung mit dem Einfluß Sternbergs, Tretjakows, Benjamins und Eislers treten müßte, ganz zu schweigen (wie es die Brechtforschung weitgehend tut,[eine Anmerkung von 1981!; heute kann man von der Brechtforschung eher das Gegenteil behaupten; nach Fuegi heißt der große deutsche Dichter eigentlich Elisabeth Hauptmann und nur ihr Expropriateur Brecht!]) vom Einfluß der Frauen um Brecht, die bereits vor ihm den Marxismus anhingen: Asja Lacis, die er bei der Inszenierung von "Leben Eduard des Zweiten" bereits 1923/24 in München kennengelernt hatte (welchen Einfluß etwa sie auf Benjamins Marxismuszuwendung üben sollte, belegt seine Widmung an sie in der "Einbahnstraße" (35)), Helene Weigel, deren Einfluß auf Brecht in den Zwanziger Jahren sicherlich nicht nur ein auf die kongeniale Schauspielerin eingegrenzter war, wie Klaus Völker hervorhebt,(36) und schließlich Margarete Steffin, der "Kleine Soldat der Revolution", Brechts Freundin und proletarische Lehrerin seit Beginn der Dreißiger Jahre. Wie weit Elisabeth Hauptmann früher als Brecht zum Marxismus kam, entzieht sich meiner Kenntnis. All dies ist, finde ich, im einzelnen nicht so wichtig: Es hilft nur, die identifizierenden Vorstellungen zu relativieren, wenn einmal Korsch allein zum Lehrer Brechts gemacht wird oder anderswo Brecht nur als Lehrer von Benjamin (quasi als sein "ideologischer Verführer") dargestellt wird (wie von Scholem oder Adorno).

Allerdings kann der Einfluß von Korsch auf Brecht auch nicht als bloße "Korsch-Legende" einer antikommunistisch interessierten westlichen Brechtforschung einfach abgetan werden, wie Mittenzwei dies tut. Dazu kommt bei ihm, daß seine apodiktischen Urteile über Korsch ihre Schlagkraft hauptsächlich daraus beziehen, daß normalen DDR-Lesern, die Mittenzweis Verdikte im Nachwort zu Brechts Me-ti-Buch der Wendungen erstehen können, kaum in der Lage sind [waren! 1998, Šubik], an einen authentischen Korschtext heran zu kommen. (37)

Im wesentlichen wird aber der zusammenfassenden Darstellung bei Knopf gefolgt werden dürfen, der zwar die Absolutierung von Korschs Einfluß auf Brecht zurückweist, aber doch einen solchen zugesteht: "nach den vorliegenden Zeugnissen hat Brecht offenbar eine ganze Menge von Korsch gelernt." (38)

Knopf verweist vor allem richtig darauf, daß Lehren und Lernen von Brecht in einer dialektischen Verschränkung begriffen wird – ganz allgemein – und nicht als bloße Identifikation mit dem Lehrer. Vieles an der Korsch-Debatte erübrigte sich, wenn man die Brechtsche Grundhaltung seinen Lehrern gegenüber mitreflektiert hätte, – weniger die Dialektik ständig im Mund führte, als willens oder imstande zu sein, dialektisch zu denken.

Es mag ja bedauerlich sein, daß Brecht lieber und mehr von einem "Häretiker" lernte, als von den offiziellen Parteiphilosophen, aber diese hätten es doch Sieg ihrer Lehre verbuchen können, daß Brecht im Resultat trotzdem so ganz andere Konsequenzen zog als sein Lehrer Korsch: ihm war die Erfahrung im praktischen Experiment (dem des Aufbaus in der Sowjetunion) trotz Verkümmerung der Theorie, Verflachung der Dialektik wichtiger als die vorschnelle Resignation und das Sich-Abwenden von der Praxis um der Reinheit der Theorie willen, wie er es Korsch vorwarf:

Über meinen Lehrer
Mein Lehrer ist ein enttäuschter Mann. Die Dinge, an denen er Anteil nahm, sind nicht so gegangen, wie er es sich vorgestellt hatte. Jetzt beschuldigt er nicht seine Vorstellungen, sondern die Dinge, die anders gegangen sind. Allerdings ist er sehr mißtrauisch geworden. Mit scharfem Auge sieht er überall die Keime zukünftiger enttäuschender Entwicklungen.
Er glaubt fest an das Neue...
So glaubt er auch an das Proletariat. Manchmal scheint es mir, daß er sich verpflichtet fühlte, mehr zu tun, wenn er weniger daran glaubte.
Mein Lehrer dient der Sache der Freiheit. Er hat sich selber ziemlich frei gemacht von allerlei unangenehmen Aufgaben.
>Manchmal scheint es mir daher, daß er, bestünde er weniger auf seiner eigenen Freiheit, mehr für die Sache der Freiheit tun könnte.
Seine Hilfe bei meinen Arbeiten ist unschätzbar. Er entdeckt alle Schwächen. Und er macht sogleich Vorschläge. Er weiß viel. Ihm zuzuhören ist schwierig. Seine Sätze sind sehr lang. So bringt er mir Geduld bei.
Er hat viele Pläne, die er selten ausführt. Ein heftiger Wunsch, Vollkommenes zu geben, hält ihn vom Geben meist ab.
...
Er ist sehr für den Kampf, aber er selber kämpft eigentlich nicht.
...
Auch beim Proletariat wäre er wohl nur ein Gast. Man weiß nicht, wann er abreist. Seine Koffer stehen immer gepackt.
Mein Lehrer ist sehr ungeduldig. Er will alles oder nichts. Oft denke ich: auf diese Forderung antwortet die Welt gerne mit: nichts. (20/66)

Das sollte nicht mit einer Abrechnung verwechselt werden. Ich habe aus dem Text so ausführlich zitiert, weil hier ein Stück konkreter TUI-Kritik von exemplarischem Charakter vorliegt (nicht zu vergessen Brechts selbstkritische Bemerkungen), in dem der Leser durchaus auch zur Selbstkritik aufgefordert ist.

Um aber nicht völlig in metatheoretischer Erörterung zu versinken, ein Hinweis auf den zentralen Punkt des Einflusses von Korsch, um den die Diskussion geht:

"So wenig durch die ökonomische Aktion der revolutionären Klasse die politische Aktion überflüssig gemacht wird, so wenig wird auch durch die ökonomische und politische Aktion zusammen die geistige Aktion überflüssig gemacht. Sie muß vielmehr, als revolutionäre wissenschaftliche Kritik und agitatorische Arbeit vor der Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat, und als organisierende wissenschaftliche Arbeit und ideologische Diktatur nach der Ergreifung der Staatsgewalt ebenfalls theoretisch und praktisch bis zu Ende durchgeführt werden." (39)

Die von Korsch geforderte "geistige Aktion", die neben der ökonomischen und der politischen Aktion in gewissem Sinn als selbständig vorgestellt wird, findet bei Brecht ihr Gegenstück in der Formulierung des "eingreifenden Denkens", und hier werden einerseits oft die Unterschiede übersehen oder verwischt (40) oder es wird schlechthin geleugnet, daß Brecht diese Position je eingenommen hat (Mittenzwei), während Knopf eine Entwicklung von einer Sein und Bewußtsein zusammenfallen lassenden frühen Position zu einer eindeutigen Klarstellung der den wirklichen Eingriff in die Realität vorbereitenden Rolle des eingreifenden Denkens bei Brecht aufzeigt. (41)

Wesentlicher aber, als das hier aus dem Zusammenhang gerissene Theoriestück "Geistige Aktion" selbst, das auf Brecht gerade darin eine Faszination ausüben mußte, daß es seiner Tätigkeit als Stückeschreiber wie intellektueller Tätigkeit überhaupt eine wichtige Funktion im Prozeß der Revolution zuwies, erweist sich, daß Korsch damit Brecht auf Lenin als Philosophen, als konsequenten Fortsetzer des wissenschaftlichen Sozialismus verwiesen hat. Noch einmal Korsch:

Theoretische Kritik und praktische Umwälzung, und zwar diese beiden als untrennbar zusammenhängende Aktionen begriffen und beide als Aktionen nicht in irgendeiner abstrakten Bedeutung des Wortes, sondern als konkrete, wirkliche Veränderung der konkreten, wirklichen Welt der bürgerlichen Gesellschaft – in diesem Wort ist das Prinzip der neuen, materialistisch-dialektischen Methode des wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels in der präzisesten Form ausgesprochen. (42)

Solche Erkenntnisse bildeten für Brecht den Schlüssel zur Entdeckung des Philosophen Lenin, und mit fortschreitendem Leninstudium wandte er sich gegen Korsch, der ihm (etwa in seinem Marxbuch) im Vergleich zu Lenin zu "formalistisch" erschien.

(43)

Nichtsdestoweniger blieb Korsch für Brecht die "anerkannte Autorität in Fragen des Marxismus", und ein Hüter des Zweifels in bezug auf die Entwicklungen in der SU. Jedenfalls war er weit entfernt von Beurteilungen wie sie etwa jüngst Manfred Voigts formulierte:

Das Urteil von 1932, daß der leninsche Marxismus ‘die ideologische Form für den materiellen Kampf um die Durchsetzung der kapitalistischen Entwicklung im zaristisch feudalistischen Rußland’ war, zeigt Korschs Unfähigkeit, die Widersprüche der politischen Praxis und die daraus resultierenden Widersprüche der Theorie zu erklären." (44)

Enthalten wir uns Spekulationen darüber, ob Brecht heute Korsch zustimmen würde, es ist jedenfalls borniert und stellt dem Rezensenten von 1976 ein testimonium pauperum eigener ideologischer Engstirnigkeit aus, in der von Korsch vorgetragenen These nicht zumindest eine heute diskutable Einschätzung anerkennen zu wollen.

Mag Korsch 1932 eine sich erst anbahnende (enttäuschende) Entwicklung bereits als Resultat vorweggenommen haben, so ist es 1980 ohne ideologische Scheuklappen nicht einmal mehr möglich, Brechts Haltung, wie er sie Benjamin gegenüber 1938 formulierte, einzunehmen:

In Rußland herrscht eine Diktatur über das Proletariat. Es ist so lange zu vermeiden, sich von ihr loszusagen, als diese Diktatur noch praktische Arbeit für das Proletariat leistet – d.h. als sie zu einem Ausgleich zwischen Proletariat und Bauernschaft unter vorherrschender Wahrnehmung der proletarischen Interessen beiträgt.

Einige Tage später sprach Brecht von einer ‘Arbeitermonarchie’ und ich verglich diesen Organismus mit den grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehörnten Fisches oder anderer Ungeheuer aus der Tiefsee gefördert werden. (45)

Zu solchen verwirrenden "Naturspielen" gehört denn auch das aktuelle Anschauungsmaterial darüber, wie dadurch, daß Marxisten, Geheimpolizei und russische Panzer die Theorie so auf den Hund gebracht haben, die selbständige Organisierung des polnischen Proletariats heute unter Papstbildern und mit Belegschaftsmessen sich abspielt. – dies als ein Stück Nachhilfeunterricht in historischer Dialektik für allzu mechanisch Denkende, wie sie sich bei Brecht schon anläßlich des Hitler-Stalin-Paktes, des Finnlandkrieges und schließlich anläßlich des 17. Juni 1953 in Brechts Arbeitsjournal finden:

"Der 17. Juni hat die ganze existenz verfremdet. in aller ihrer richtungslosigkeit und jämmerlicher hilflosigkeit zeigen die demonstrationen der arbeiterschaft immer noch, daß hier die aufsteidende klasse ist. nicht die kleinbürger handeln, sondern die arbeiter.

... ihre losungen sind verworren und kraftlos, eingeschleust durch den klassenfeind, und es zeigt isch keinerlei kraft der organisation, es entstehen keine räte, es formt sich kein plan. Und doch hatten wir hier die klasse vor uns, in ihrem depraviertesten zustand, aber die klasse.

... das war der kontakt. er kam nicht in der form der umarmung, sondern in form des faustschlags aber es war doch der kontakt. Die partei hatte zu erschrecken, aber sie brauchte nicht zu verzweifeln ... aber nun, als große ungelegenheit, kam die große gelegenheit, die arbeiter zu gewinnen. deshalb empfand ich den schrecklichen 17. Juni nicht einfach als negativ ... in dem augenblick, wo ich das proletariat – nichts kann mich bewegen, da schlaue, beruhigende abstriche zu machen – wiederum ausgeliefert dem klassenfeind sah, dem wieder erstarkenden kapitalismus der faschistischen ära, sah ich die einzige kraft, die mit ihr fertig werden konnte." (46)

Wieder eine ganz und gar unlösbare Frage:
Wie hätte Brecht den Danziger Sommer 1980 kommentiert?

Die Regierung als Dialektikum
Ken-jeh (meistens vereinheitlicht in Kin-jeh, aber in unedierten Manuskripten findet sich öfters die Form Ken-jeh) sagte: Wenn wir einen vergänglichen starken Staat bauen wollen, d.h. einen Staat, der schwindet je mehr seine Funktion schwindet, d.h. einen Staat, den sein Erfolg erledigt, müssen wir die Regierung als ein Dialektikum bauen, d.h. einen guten Konflikt schaffen. Es sollte den Staatsapparat geben, in dem die Befehle von oben nach unten laufen; und den Gewerkschaftsapparat, in dem sie von unten nach oben laufen. Die Regierung besteht dann aus einem Ausschuß, in dem die wichtigen Fragen mit Zweidrittelmehrheit entschieden werden." (12/500)

Ähnliche Vorschläge Brechts nach der Rückkehr in den östlichen Teil Deutschlands finden sich im Arbeitsjournal:

die arbeiter klagen, höre ich, über die scharfe unterdrückung der kleinen hamsterer, die 10 pfund kartoffeln vom land hereinschleppen, während kartoffeln im großen verschoben werden und überall auf dem schwarzen markt kaufbar sind. in solchen zeiten müßte es vielleicht immer doppelorganisationen geben, so daß etwas willkür und parteilichkeit in die maßnahmen kommt. so könnten arbeiterfrauen in organisierten trupps die polizeikontrolle kontrollieren, die überwachung der lastwägen verschärfen, die der kleinen leute mildernd. es muß ein augenzwinkern in die kontrolle hineinkommen, und die massen müssen sehen, daß es ihr kampf gegen die schieber ist. küchendialektik. (47)

Nach dieser die Aktualität Brechts betreffenden Abschweifungen noch einmal zurück zur spezifischen Art von Brechts Marxismus: Es ist ganz zweifellos falsch, in Brechts theoretischer Arbeit nur Beiträge zur Dialektik erblicken zu wollen, obwohl für ihn die Wichtigkeit des dialektischen Denkens außer Frage steht und die unaufhörliche Bemühung, das dialektische Denken zu entwickeln, zweifellos zu den Grundanliegen von Brechts Marxismus gehören. Wie aber eben ausgeführt, hat Brecht auch gezeigt bzw. sich darum bemüht zu zeigen, wie aktuelle Probleme der Arbeiterbewegung dialektisch analysiert werden müssen. Ganz zentral sind dabei seine Auseinandersetzungen über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion unter dem Titel "Über die Große Ordnung" und an anderen Orten, und die Faschismusanalysen, die tiefer gehen als alles, was die offizielle marxistisch-leninistische wie auch die bürgerliche Faschismusforschung geleistet haben.

Hans Mayer wirft Brecht vor, dort, wo er die Revolution auf die Bühne stellt, nur zurückzublicken "auf Vorformen und Frühformen der proletarischen Revolution: Paris 1871 und Russische Revolution von 1905. Ihn fasziniert die Niederlage von 1871 und die zunächst gleichfalls gescheiterte Vorrevolution offensichtlich stärker als die siegreiche proletarische Erhebung vom 7. November 1917."

(48)

Aber erweist sich nicht Brecht auch da als der bessere Marxist (jetzt einmal abgesehen davon, daß Mayer die Auseinandersetzungen Brechts mit den aktuellen Revolutionen im Me-ti und in anderen theoretischen Schriften und in "Turandot" ausspart):

Proletarische Revolutionen dagegen ... kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam – gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichtet, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse selbst rufen:

Hic Rhodos, hic salta!
Hier ist die Rose, hier tanze!"

So schrieb Marx im "18. Brumaire des Lou Bonaparte" über die Französische Revolution von 1848. (49)

Brechts Stücke ("Die Mutter" nach Gorki und "Die Tage der Commune") sind in keiner Weise historische Dramen im herkömmlichen Sinn, sondern Umfunktionierungen des tradierten Genres der bürgerlichen Literatur zu aktuellen Zwecken. Das gleiche gilt auch für Brechts historischen Roman "Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar", über dessen Verhältnis zur überlieferten Gattung die ausgezeichnete Untersuchung von Herbert Claas erschöpfend Auskunft gibt.(50)

Einen historischen Roman schreiben hieß für Brecht zugleich, das vorgegebene Schema in Frage zu stellen, es ‘umzufunktionieren’ und den historischen Roman selbst in den Dienst des Kampfes der Unterdrückten um ihre Befreiung zu stellen.(51)

Solange die Revolution in Deutschland ausstand, war es klar, daß Brecht den unvollendeten, nicht zu Ende geführten Erhebungen mehr Interesse abgewinnen mußte als den erfolgreichen. "Die Mutter" stellt eine "Gestentafel" revolutionären Handelns dar und ist von Brecht nicht zufällig – über die Vorlage von Gorki hinaus – bis an den Vorabend von 1917 weitergeführt worden, zu einer Zeit, als er auch für Deutschland eine zweite, erfolgreiche Revolution erwartete (nach der gescheiterten von 1918). Die "Tage der Commune" bringen in einer Zeit, wo im Zeichen des Antifaschismus die Taktik der organisierten Arbeiterbewegung nur auf Wiederherstellung der bürgerlichen Demokratie ausgerichtet blieb, die eigentlichen revolutionären Ziele der proletarischen Revolution wieder in Erinnerung – beide Male durchaus keinerlei Historismus, sondern bewußte Aktualisierungen, Eingriffe in die aktuelle Situation. Ganz zu schweigen von "Turandot" oder "Der Kongreß der Weißwäscher", wo die revolutionäre Gegenfigur, die im Hintergrund des TUI-Kongresses steht, Kai Ho, unmißverständlich den chinesischen Revolutionären um Mao Tse Tung nachgebildet ist, die von den Dörfern aus die Revolution in die Städte hinein trugen.

Jetzt sind wir über einige Umwege wieder beim "Zuschauer für meine Stücke", der Marx für Brecht war, angelangt.

Um noch einmal zusammenzufassen: die wichtigste Einsicht, die Brecht Marx verdankt, die in den Mechanismus des gesellschaftlichen Zusammenhangs als ökonomischer Bedingtheit, präzisierte und verschärfte bereits vorher intuitiv eingenommene Haltungen Brechts. Der Marxismus, indem er die Probleme des menschlichen Zusammenlebens als Klassenfragen auffaßt, verlangt ebenso einen Blick von außen, wie ihn Brecht in Widerspruch zum psychologisierenden Theater seiner Vorgänger von Anfang an zu erreichen versucht hatte.

"Denn wissen, was seine ‘menschliche Seite’ ist, das vermag (der Einzelne) nur, wenn er zumal weiß, was sie nicht ist, oder anders ausgedrückt, wenn sie ‘verfremdet’ ist, wenn er sie gesehen und das heißt, von außen gesehen hat." (52)

Um das aber – anders als über halluzigene Drogen als persönliche Grenzerfahrung – darstellbar zu machen, sind Kenntnisse über die unmittelbar vorliegende, entfremdete Wirklichkeit notwendig.

Beispielhaft könnte dies gezeigt werden an der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe", und den Interpretationen, die das Stück erfahren hat. Besonders an der von Manfred Voigts, der die frühere Bedeutung Käthe Rülicke-Weilers, hier habe Brecht den Krisenzyklus gemäß des zweiten und dritten Bandes des "Kapitals" auf die Bühne zu bringen versucht, zurückweist, und der in sehr minutiöser Darstellung die Widersprüche zwischen der ökonomischen Analyse und der individuellen Entwicklung der Hauptfiguren Johanna und Pierpont Mauler herausgearbeitet hat.

Ohne insgesamt auf den Rahmen seiner Erörterungen eingehen zu können (sie betreffen die Widersprüche zwischen Theater als soziologischem Experiment und dem "Rückfall" Brechts in eine der bürgerlichen Ästhetik verhaftet bleibende Darstellung von Einzelschicksalen), sind doch einige Anmerkungen angebracht:

Bei der Abtrennung der "Individualfabeln" von der ökonomischen Fabel (die als in sich widersprüchlich und durchaus nicht als "wie es im Buch, sprich ‘Kapital’ steht" erwiesen wird) zum Zwecke der Analyse unterläuft dem Interpreten ein folgenschwerer Fehler: Er übersieht, was die innere Widersprüchlichkeit der Figuren bei Brecht begründet, nämlich daß sie nicht als Individuen, sondern im Marx‘schen Sinn als agierende "Charaktermasken" gezeigt werden, daß sie also gar nicht als kontinuierlich individuell aufgefaßt werden dürfen. Voigts berichtigt Brecht, der notierte, "Johanna mache einen Erkenntnisprozeß durch":

denn wenn hier jemanden durch die Erkenntnis der Prozeß gemacht wird, dann nur der Johanna selber", völlig zu Recht und in Brechts Sinn, um sich sofort wieder von dieser Erkenntnis zu entfernen: "Der Erkenntnisprozeß ist keiner über die gesellschaftliche Realität, sondern einer über die eigenen Illusionen; die Individualität der Johanna als ‘guten Menschen’ läßt die soziale Erkenntnis zur einfachen Selbsterhellung verkommen: Die Geschichte der Johanna ist die Geschichte einer aufklärerischen ‘Erhellung eines Geistes’ über sich selbst. (53)

Voigts übersieht, daß Brecht nicht einfach zur vorher überwundenen Individualität zurückkehrt, sondern daß er gerade, indem er in der Johanna "die heutige Entwicklungsstufe des faustischen Menschen" zeigen will, das große bürgerliche Individuum nicht nur als ramponiert, sondern eben als "Charaktermaske" statt als Charakter zeigen muß:

Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchprobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß darstellt. (20/62)

Und wenn Voigts als zweite Fehlinterpretation des Stückes (neben der "ökonomischen" von Rülicke-Weiler) eine angreift, die das Stück zu einer Ideologiekritik verkürzt, so ist ihm zuzustimmen, soweit diese angeblich darin bestehe, daß Johanna zeige, "wie Ideologie entsteht und wirkt, die die Aufhebung der Ausbeutung verhindert." (54)

Die Ideologiekritik Brechts setzt tiefer an (deshalb spricht Brecht auch zur besseren Unterscheidung von Ideologiezertrümmerung, worauf wir noch zurückkommen werden). Nicht diese oder jene Ideologie (als Meinung oder Weltanschauung) in Konkurrenz mit einer anderen wird angegriffen, sondern Ideologieproduktion überhaupt als das notwendige falsche Bewußtsein, das in der Verdunklung über den gesellschaftlichen Charakter der menschlichen Produktion seine wesentliche Wurzel hat. Damit wird der Individuumsbegriff als zentrales Stück bürgerlicher Ideologie angegriffen:

Das Bürgertum hat keine Vorstellung von der Masse. Es teilt immer nur Masse und Individuum, aber selbst dem Individuum gegenüber ist die Masse wieder sehr teilbar: Sie enthält wieder Individuen, welche ... unterscheidbar wichtig sind. Also steht das Individuum nicht nur der Masse, sondern Gruppen innerhalb der Masse gegenüber. Es spricht zu Gruppen, und diese Gruppen erst sprechen zur Masse. Wer dies weiß, weiß die Voraussetzung zu jeder Art von Organisation. Er begreift den kollektiven Apparat, der keine Demokratie ist. Der Kollektivist setzt nicht seinen Gruppenapparat gegen die Masse, sondern in die Masse hinein. Die Menschen wirken aufeinander. Die Masse besteht nur aus Agenten. Der Kollektivist sieht die Menschheit als einen Apparat, der erst teilweise organisiert ist. (20/60)

Wenn ihr beisammen bleibt
Werden sie euch niederschlachten
Wir raten euch, beisammen zu bleiben!
Wenn ihr kämpft
Werden ihre Tanks euch zermalmen (2/753)

Bis jetzt habe ich Brechts Wendung zum Marxismus sehr von außen, um nicht zu sagen, nur äußerlich behandelt, d.h. mehr von Brechts Beweggründen bzw. bestimmten Einflüssen auf seine Marxstudien gesprochen und gerade erst nur die Frage klären können, inwieweit Brecht von Marx als einzigem Zuschauer seiner Stücke sprechen durfte. Interessanterweise spielt letztere Frage ja auch eine gewisse Rolle in der Diskussion über die Aktualität Brechts, nämlich in der Wendung, ob sich nicht Brecht über die Wirkungsmöglichkeiten seiner Stücke bzw. seines Theaters insofern Illusionen machte, als er mit Zuschauern wie Marx rechnete, und seine Vereinnahmung ins bürgerliche Theaterrepertoire gerade dadurch ermöglichte. Aber dies sei nur am Rande angemerkt und sonst unerörtert gelassen.

Die Frage, die sich im Zusammenhang des bisher Dargestellten aufdrängt, ist die, ob die Wendung Brechts zum Marxismus den, wie ich hoffe, nachgewiesenen frühen Einfluß von Nietzsche einfach ablöste, verdrängte, einfach an dessen Stelle trat, oder ob nicht gerade die frühe Beschäftigung mit Nietzsche für Brecht den Weg zu Marx bahnte? Ohne sie so explizit gestellt zu haben, ist die Antwort, der ich zuneige, bereits im ersten Teil gegeben, dort, wo ich den fortwirkenden Einfluß von Nietzsche aufgelistet habe.

Nietzsche als Ausgangspunkt bewahrte Brecht einmal davor, aus dem Sozialismus eine ethische Angelegenheit zu machen und/oder Marx um eine Ethik vervollständigen zu wollen, ein gerade unter Intellektuellen seiner Generation gängiges Mißverständnis bei der Zuwendung zum Marxismus.

Nietzsches radikale Kritik aller Moral hatte darin gegipfelt, alle bisherige Moral als von Interessen, von bestimmten Zwecken diktiert zu denunzieren, ohne zur Analyse dieser Interessen vorzustoßen. Daran hinderte ihn sein bürgerlicher Horizont, damit blieb er auch trotz der Wendung gegen Wagner etc. durch und durch der Romantik verhaftet.

Der Herdenmoral, die er im Christentum triumphieren sah, stellte er einen am Begriff der "virtu" des Renaissancemenschen, des großen Individuums, am Beginn der bürgerlichen Epoche und an den großen Individuen am Anfang der griechischen Philosophie gewonnenen Begriff entgegen: die Konzeption des Übermenschen; eine Stelle aus den Grundrissen von Marx gibt den passenden Kommentar:

Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen. (55)

Die Marx‘sche Kritik richtete sich auf das Offenlegen dieser Interessen, die er als ökonomische entlarvte, ohne sich bei Fragen der Moral allzu lang aufzuhalten, indem er den Mechanismus erforschte, wie die ökonomischen Interessen sich gesellschaftlich durchsetzen und unter anderem dazu bestimmter Moralen oder Ethiken bedurften.

Brecht konnte daher bei Marx quasi eine rationale Fundierung von Einsichten, über die er – von der anderen Seite her – gekommen war, gewinnen. Von daher erkläre ich mir auch die so bohrende, immer wieder neu gestellte Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv, die den Kern der Kategorie des Einverständnisses ausmacht und, wie ich zu zeigen versucht habe, umschlägt in die Problematik der Verfremdung. Denn als Technik der Schauspielkunst, als gesetzter V-Effekt, setzt Verfremdung den Durchgang durchs Nichts, das Bewußtsein jener "vollen Entleerung" voraus, welches das Heraustreten aus der Rolle als eigener Kommentator, das sich als in sich "Mehrerer", als Kollektiv vorzustellen erst ermöglicht. Man könnte es auch so formulieren: in der Frage nach dem Einverständnis stehen Individuum und Kollektiv sich noch als polare Gegensätze gegenüber: es geht um den Lernprozeß, durch die Bewegung des Widerspruchs im zu(m) Grundegehen die Einheit dieses Widerspruchs zu begreifen. Verfremden könnte dann als das bewußte Ausstellen des prozessierenden Widerspruchs definiert werden.

Dies betrifft einmal die Bewegung des Hereinnehmens des Kollektivs ins Individuum, gilt aber ebenso umgekehrt; es wird möglich, das Kollektiv statt als abstrakten Gegensatz zum Individuum, als bedrohende formlose Masse, als in sich gegliederten Organismus – sagen wir: als Klasse, zu begreifen. Diese Möglichkeit aber ist noch nicht wirklich, oder vorerst nur Möglichkeit, der der unbegriffene gesellschaftliche Zusammenhang entgegensteht: darin besteht die Entfremdung, die aufzuheben kein V-Effekt bewerkstelligen kann, solange gilt:

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden ... (56)

Was mittels der Technik der Verfremdung möglich ist, ist gerade dies, die geschichtliche Vermittlung jeder Handlung, die dargestellt wird, vors Bewußtsein zu bringen, was Brecht Historisieren nennt.

Über die historische Selbstbetrachtung
Me-ti fand in den Schriften der Klassiker nur wenig Fingerzeige für das Verhalten der Einzelnen. Meist wurde von den Klassen gesprochen oder andern großen Gruppen von Menschen. Dabei allerdings fand er als sehr nützlich gepriesen den historischen Gesichtspunkt. So empfahl er dem Einzelnen nach vielem Nachdenken, sich selber ebenso wie die Klassen und großen Menschengruppen historisch zu betrachten und historisch zu benehmen. Das Leben, gelebt als Stoff einer Lebensbeschreibung, gewinnt eine gewisse Wichtigkeit und kann Geschichte machen. Als der Feldherr Ju Seser seine Erinnerungen schrieb, schrieb er in der drittenPerson von sich selber.
Me-ti sagte: Man kann auch in der dritten Person leben. (12/548)

Dies als ein Beispiel bzw. ein Vorschlag, die erste Bewegung, das Hereinnehmen des Kollektivs ins Individuum betreffend; nun auch für die umgekehrte Bewegung eine "Empfehlung" aus dem Me-ti:

Staaten im Verkehr zueinander
Es ist verderblich, Staaten, was den Verkehr untereinander betrifft, mehr zu erlauben oder mehr zuzumuten, als man einzelnen Menschen im Verkehr zueinander erlauben oder zumuten kann. Durch die Aufstellung besonderer nur für sie geltender Gesetzlichkeiten oder Gesetzlosigkeiten macht man sie zu etwas Unmenschlichem, über den Menschen Stehenden.
Es hat nichts über den Menschen zu stehen.
Regierungen sagen oft, sie handelten nicht für sich, sondern für das Volk, und damit stellen sie ihre Verbrechen und ihre Verstöße gegen das Rechte als selbstlos und damit gerechtfertigt hin.
Aber Verbrechen werden nicht gute Taten dadurch, daß sie für andere begangen werden. Ein Staat, der untergeht, wenn er nicht raubt und mordet, soll untergehen. (12/511)

Hier überlegt Brecht eine "materialistische" Staatstheorie, wie sie noch nirgends in die Tat umgesetzt wurde, eine, die vor allem Prinzipien der Beurteilung der Taten von Staaten an die Hand gibt. Das: Es hat nichts über den Menschen zu stehen (wenn man so will, der kategorische Imperativ einer Gemeinschaft, wie sie aus dem Absterben des Staates hervorgehen – soll!) faßt besser die praktische Seite der Religionskritik zusammen als jede historische Propaganda. Der Witz der Sache: der Idealist und Staatsvergotter Hegel ist realistisch genug festzustellen: im Verkehr untereinander fallen diese hochorganisierten, komplexen "Geister" – die Staaten, ganz schön zurück und benehmen sich wie Individuen: zwischen den Staaten herrscht Willkür. Der materialistische Historiker schaut, welche Entwicklung das Verhalten der Individuen geschichtlich genommen hat und empfiehlt, das Waffentragen und Sich- Duellieren auch zwischen den Staaten zum alten Eisen zu werfen.

Die Köchin soll den Staat lenken können
Mi-en-leh sagte, jede Köchin müsse den Staat lenken können. Er hatte so zugleich eine Veränderung des Staates wie der Köchin im Auge. Aber man kann auch daraus die Lehre ziehen, daß es vorteilhaft ist, den Staat als eine Küche, die Küche aber als einen Staat einzurichten. (12/569)

Es ist nicht einfach, das Kapitel über Brechts Marxismus abzuschließen, so muß ich mich entschließen, einfach abzubrechen, wo es mir nicht gelingt, von vornherein entsprechend zu straffen. Wenden wir uns also etwas abrupt weiteren Implikationen von Brechts marxistischen Studien zu.

Wie der Einbrecher

Wie der Einbrecher
In der mondlosen Nacht, der sich umsieht
Ob da kein Polizist geht
So bewegt sich derjenige
Der hinter der Wahrheit her ist.

Und wie etwas Gestohlenes
Die Schulter in Furcht
Daß sich eine Hand darauf lege
trägt er die Wahrheit weg. (9/569)

C) Ein besseres Denken

Leben heißt für den Menschen: die Prozesse organisieren, denen er unterworfen ist. (20/144)

Wenn ich bedenke, wie wenig ich weiß, dann erschrecke ich. (20/126)

Es wird mir nicht einfallen, zu behaupten, der Mensch sei dazu da, zu denken. Natürlich soll das Denken einfach seine Existenz ermöglichen. Ich kann mir Zustände menschlichen Zusammenlebens vorstellen, wo nicht allzu gewaltige Denkakte nötig sind, damit der Mensch sein Leben fristen kann. (20/165)

Er dachte in andern Köpfen, und auch in seinem Kopf dachten andere. Das ist das richtige Denken. (20/166)

Brechts Beschäftigung mit anderen Philosophen als Marx und Lenin (den "Klassikern" der Großen Methode) gehört nicht nur zu dem Programm, sich eine "halbwegs komplette Kenntnis" des Marxismus zu verschaffen, zu der eben auch Hegel und Ricardo gehören, ohne das bliebe es so ein "minderwertiger Marxismus" (bemerkt Ziffel 14/1440), sondern zu der weiterreichenden Bemühung Brechts, "zu einem besseren Denken zu kommen", um sich in der Welt besser zurecht zu finden.

Auf den Rückgriff auf einen im Volk umlaufenden Begriff von Philosophen, der einen meint "der gut im Nehmen" ist, im Einstecken von Schlägen – was von seiner (des Volkes) Lage kommt, hab ich schon in der Einleitung verwiesen. Ebenso hat die Faszination für die chinesische Philosophie, für Konfuzius und das Urbild des Brechtschen Me-ti, der auch Mo-ti genannt wird, darin ihre Wurzel, daß es sich bei diesen Philosophen um Verhaltenslehrer handelt (was nicht verwechselt werden soll mit der Modeströmung der Verhaltensforscher, die vorschnell die konkreten gesellschaftlichen Verhalten der Menschen analogisierten mit dem Verhalten von Graugänsen oder Bienenvölkern und etwa die Ursachen von Kriegen in einer genetisch codierten Aggressivität als Naturanlage suchten und nicht etwa in den gesellschaftlichen Eigentumsverhältnissen) und daß ihre Vorschläge über lange Zeit hin befolgt wurden.

An der europäischen Philosophie interessierte Brecht vor allem die Frage, wieso sie zu einem "folgenlosen Denken" verkommen konnte (soweit es Philosophie blieb) oder besser, was für eine Art von Eingreifen das neuzeitliche Denken (ein Denken um seiner selbst willen hervor treiben konnte), ein Denken, das deshalb, weil es folgenlos geworden, doch auch wieder nicht funktionslos geworden ist. Im Gegenteil: seine Funktion, zur Erhaltung des Bestehenden beizutragen noch dort, wo es radikale Kritik zu üben vorgibt, ist gerade das Anstößige daran.

Also wandte sich Brecht den Anfängen des bürgerlichen Zeitalters und dem damals aufkommenden Denken zu. Auf die Beschäftigung mit Francis Bacon verweise ich einstweilen nur (wieder einmal), und werde später darauf zurückkommen. Die Auseinandersetzung mit dem englischen Lordkanzler, "der die induktive Methode in die Naturwissenschaften einführte (9/616), reicht von Gedichten und Prosa (Das Experiment 11/264) bis ins Zentrum von Brechts Theaterkonzeption und soll dort noch gewürdigt werden.

Im Zentrum der Brecht’schen Bemühungen um ein besseres Denken steht die (soweit ich sehe, von Manfred Riedel zuerst aufgegriffene(57)) Beschäftigung mit der Zweifelslehre Descartes, gerade an der Wendung vom frühen Relativismus Brechts zu seinem Marxismus, in dem der Zweifel immer lebendig erhalten blieb – aufgehoben, aber nie durch eine letzte Gewißheit ersetzt wurde:

Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln.
Ihre Verdauung ist glänzend, ihr Urteil ist unfehlbar.
Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall
Müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber
Ist unbegrenzt. Auf Argumente
Hören sie mit dem Ohr des Spitzels.

Nur Sarkasmus hat Brecht für solche Zweifelsfreien übrig, allerdings auch für solche, die nur zweifeln:

Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln
Begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln.
Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern
Um der Entscheidung auszuweichen. Ihre Köpfe
Benützen sie nur zum Schütteln. Mit besorgter Miene
Warnen sie die Insassen sinkender Schiffe vor dem Wasser ... (9/628)

Aber schon in "Mann ist Mann" findet sich ein "Lob des Zweifels" im Song der Witwe Begbick:

Ich sprach auch mit vielen Leuten und hörte
Genau zu und hörte viele Meinungen
Und hörte viele von vielen sagen: das sei ganz sicher!
Aber zurückkehrend sprachen sie anders, als sie ehedem gesprochen hatten
Und von dem andern sagten sie: das ist sicher.
Da sagte ich mir: von den sicheren Dingen
Das Sicherste ist der Zweifel. (1/340)

Brecht interessierte gerade die Zweifelslehre des Descartes, jenes methodische Zweifeln, mit dem der jüngere Zeitgenosse des Galilei der Philosophie ein unerschütterliches Fundament zu errichten hoffte. Gerade das Grundprinzip des cartesianischen Denkens, das cogito ergo sum, in welchem durch die Selbstgewißheit des Denkens die Vergewisserung des Ich und seiner Existenz geleistet schien, reizte Brecht zum Widerspruch. Und es sollte uns inzwischen nicht mehr wundern, daß Brecht auch da an seinen Lehrer Nietzsche anschloß:

Seien wir vorsichtiger als Cartesius, welcher in dem Fallstrick der Worte hängen blieb. Cogito ist freilich nur ein Wort: aber es bedeutet etwas Vielfaches (Manches ist vielfach, und wir greifen derb darauf los, im guten Glauben, daß es eines sei). In jenem berühmten cogito steckt erstens: es denkt, zweitens: ich glaube, daß ich es bin, der da denkt, drittens: aber auch angenommen, daß dieser zweite Punkt in der Schwebe bliebe, als Sache des Glaubens, so enthält auch jenes erste "es denkt" noch einen Glauben: nämlich, daß "denken" eine Tätigkeit sei, zu der ein Subjekt, zum mindesten ein "es" gedacht werden müsse: und weiter bedeutet das ergo nun nichts! Aber das ist der Glaube an die Grammatik, da werden schon "Dinge" und deren "Tätigkeiten" gesetzt, und wir sind fern von der unmittelbaren Gewißheit! (58)

Aber Nietzsche verbleibt gewissermaßen noch auf dem Boden der philosophischen Diskussion, wenn er das Fundament des cartesianischen Zweifels bezweifelt. Brecht tritt heraus und untersuchte noch die Voraussetzungen des Descartes, um Aufschluß darüber zu gewinnen, welche Veränderungen gesellschaftlicher Art dazu geführt hatten, daß der Descartes‘sche Satz nicht mehr einem maßlosen Zweifel an allem Einhalt gebieten konnte, sondern zu neuen Zweifeln Anlaß gab. Brecht stellt sich, wie er sagt, "Quer zum Denken des Descartes", indem er von außen, von den persönlichen Verhältnissen her die Bedingungen zu untersuchen anfing, unter denen Descartes zu seinem Satz gekommen war:

"Wenn ich ihn, so betrachtet, zweifeln sah an allem, dann besonders in seiner Existenz, und ihn dann im maßlosen Zweifel einhalten sah vor der Tatsache seines Denkens, beruhigt darüber, daß ihm nicht nötig war, an allem zu zweifeln, aber auch darüber beruhigt, daß es ihm möglich war, an so vielem zu zweifeln, kam mir der Gedanke, daß dieser Mensch, plump genommen, eben in einer Zeit lebte, wo er vielleicht auf keine andere Art, als durch Denken existieren konnte, aber durch Denken eben doch existieren konnte, und ich dachte sofort: Das war eine andere Zeit als die meine.
... So fragte ich mich bei der Lektüre der Grundlagen der Philosophie jetzt: ob auch ich Lust und Möglichkeit hätte, an allem zu zweifeln, was ich für wahr halte, und, wenn ja, meine Existenz in Zweifel stellte und dann annähme als unzweifelhaft, diese sei gesichert, wenn ich und da ich doch denke, und zwar das alles prüfen und entscheiden würde in ganz allgemeinen, aber meinem Sinne. (20/133)

Brecht nimmt hier die Haltung des Philosophen auf dem Theater ein, den an der Trompete nur ihr Materialwert, das Messing interessiert (Messingkauf 16/507), das meint er mit "sich quer zum Denken des Descartes stellen". Er untersucht nun die Unterschiede zwischen der Situation des Descartes und der seinen und konstatiert, daß sie sich beide, der eine am Anfang, der andre am Ende der gleichen bürgerlichen Epoche befänden, und daß von daher die Fragen des Descartes auch für ihn von Interesse sein müßten; da allerdings "der Morgen und der Abend eines einzigen Tages so sehr anders sind, fühlte ich, daß auch die Antwort auf die Fragen anders ausfallen müßte." (20/134)

Brecht merkt an, daß er sich die Sicherung seiner Existenz wie Descartes nur vom Denken erhoffen könnte, allerdings nur von einem Denken in weitestem Sinne: "aber da verstehe ich unter Denken nicht jene Tätigkeit, die alle andere Tätigkeit ausschließt, das, was von den Philosophen gemeinhin reines Denken genannt wird." Was Brecht beschäftigte und nachdenklich machte, war das Ergebnis, "daß (er), um zu existieren noch mehr als nur Gedanken haben muß(te), nämlich auch ziemlich viele Tugenden und besondere Fähigkeiten, und zwar von all dem mehr, als Descartes brauchte." (20/133 ff)

Bevor wir die Auseinandersetzung weiter verfolgen, scheint ein Hinweis angebracht, auf die Verfahrensweise, in der Brecht die Auseinandersetzung mit Descartes entwickelte. Wie in seinen Stücken die Figuren, so stellt hier Brecht selbst nicht eine individuelle, rein persönliche Auseinandersetzung dar. Auch sein Ich steht vielmehr exemplarisch für ein Kollektiv, für eine Gruppe oder Schichte innerhalb einer bestimmten historisch umrissenen gesellschaftlichen Situation. In diesem historischen Sinn stellt er auch die Situation des Descartes der seinen gegenüber: Als Descartes seine Prinzipien schrieb, verfehlte er ... nicht ... zu bemerken, daß er ein reifes Alter abgewartet habe und über ein Vermögen verfüge, so daß sein Geist von allen Sorgen frei sei. Auch erwähnt er seine wissenschaftliche Schulung und setzt diese so hoch an, daß er betont, sein Verstand sei im übrigen in keiner Beziehung vollkommener als der eines Durchschnittsmenschen. Mir fehlt die Reife des Alters, die Sorglosigkeit, die ein Vermögen verschafft, und die strenge Schulung, und doch muß ich versuchen, zu einem Denken zu kommen, das besser ist als mein bisheriges. Alles, selbst meine Lebensdauer, meine materielle Existenz und meine Möglichkeit, mich zu schulen, hängt davon ab. Während dieser Descartes und manch einer seiner Art und seiner Zeit ihre Angelegenheiten geordnet sahen, als sie zu denken begannen, beginne ich damit oder nehme mir vor, damit zu beginnen, wo sie ganz und gar ungeordnet sind und: um sie zu ordnen." (20/135 f)

Es ist mir bewußt, daß mein Versuch, Brecht als Philosophen populär zu machen, selbst noch unter einer Berufskrankheit leidet, nämlich der, die gesellschaftliche Realität, auf die sich Brechts Denken richtet, weitgehend ausgeblendet zu lassen, ja, daß es mir nicht einmal gelingt, tatsächlich die Verschränkung der theoretischen Bemühungen Brechts mit seiner spezifischen Praxis des Theatermachens deutlich zu machen: daß ich sie der Kapiteleinteilung aufopfere. Es ist also vielleicht nicht unwichtig, den Titel anzuführen, unter dem sich Brechts Auseinandersetzungen finden: es handelt sich um den Versuch einer "Darstellung des Kapitalismus als einer Existenzform, die zuviel Denken und zu viele Tugenden nötig macht." (20/133)

Dieser Gedanke ist nicht nur ein Residuum der frühen Auffassung der Welt als eines sinnlosen Chaos, nun einfach marxistisch gewendet, er ist eine Grundeinsicht, ein zentrale Lehrstück dessen, was die Aktualität von Brechts Marxismus ausmacht; ja dieser Ansatz gewinnt überhaupt erst in dem Maße an Aktualität, als sich etwa die Rolle der Sozialdemokratie als "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" wenigstens in einer Reihe von Industriestaaten als soweit erfolgreich erwiesen hat, daß mittels staatlicher Lenkungseingriffe in der Ökonomie, mittels Politik des "deficit spending" über den Kreditapparat alle Zusammenbruchstheorien, die auf ein quasi automatisches (naturgesetzlich sich vollziehendes) Ende des Kapitalismus hoffen, ab absurdum geführt werden. Dieser Ansatz erlaubt es, das scheinbar so erfolgreiche staatliche Krisenmanagement zu durchschauen als eine immer bösartigere Geschwulst verschobener Krisen mit immer größeren Gefahren eines welthistorischen letalen Ausgangs; der Kapitalismus kann, wo die Lehren der Klassiker nur als Aufschrei gegen soziale Ungerechtigkeit aufgefaßt wird, mit Recht auf seine Produktivität, den erreichten Lebensstandard (wie gesagt, in einigen Industrieländern) verweisen und von da dem Marxismus seine 100 Jahre vorhalten, ihn für veraltet erklären. Dem Argument, das ihn als zu kompliziert (wie die Ptolemäische Erklärung der Planetenbahnen) und zu anstrengend (zuviel Denken erforderlich machend) durchschaut, ist mit solchen Erklärungen nicht beizukommen. Von da her kommt Brecht schließlich auch zur Definition des Kommunismus: Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist (9/463) und zur Feststellung:

Der Kommunismus ist das Mittlere

Zum Umsturz aller bestehenden Ordnung aufzurufen
Scheint furchtbar.
Aber das Bestehende ist keine Ordnung.

Zur Gewalt seine Zuflucht nehmen
Scheint böse.
Aber da, was ständig geübt wird, Gewalt ist
Ist es nichts Besonderes.

Der Kommunismus ist nicht das Äußerste
Was nur zu einem kleinen Teil verwirklicht werden kann, sondern
Wo er nicht ganz und gar verwirklicht ist
Gibt es keinen Zustand, der
Selbst von einem Unempfindlichen ertragbar wäre.

Der Kommunismus ist wirklich die geringste Forderung
Das Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige.
Wer sich gegen ihn stellt, ist nicht ein Andersdenkender
Sondern ein Nichtdenkender oder ein nur An sich denkender

Ein Feind des Menschengeschlechts
Furchtbar
Böse
Unempfindlich
Besonders
Das Äußerste wollend, was selbst zum kleinsten Teil verwirklicht
Die ganze Menschheit ins Verderben stürzte. (9/503)

An dieser Position, eingenommen zur Zeit als der Faschismus als "anderer Ausweg" die Macht ergriff, hat Brecht auch später nie Abstriche gemacht, bei allen Zweifeln am Gelingen des sowjetischen Experiments, wofür ich schon Beispiele angeführt habe. Ja, das blieb der Anspruch, an dem für Brecht der "reale Sozialismus" (ich weiß, der Terminus ist erst Jahre nach Brechts Tod in Gebrauch gekommen) sich messen lassen mußte und eben oft genug als zu leicht befunden wurde.

Aber kehren wir jetzt nochmals zur Beschäftigung Brechts mit Descartes zurück. Brecht versuchte, indem er Denken als eine vielerlei Tätigkeit umfassende, praktische Haltung faßte, noch einmal die Aufklärung des "erkenntnistheoretischen Zirkels, um den die philosophische Entwicklung von Descartes bis Hegel gekreist war, zu vollziehen, um die für das Eingreifen in die Natur so fruchtbaren Ansätze des frühbürgerlichen Denkens auch für ihre Anwendung auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens (die mit Marx einsetzte) fruchtbar zu machen; die Methodologie, auf die Marx sich berief, wenn er seine Arbeit mit der des Physikers verglich (59) in seine (Brechts) Versuche eines experimentellen Theaters einzubringen. Darin bestand für Brecht die Aufgabe und Rechtfertigung eines Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters. So scheinen seine Notizen zur Kritik der Erkenntnistheorie stets schon als Beiträge zur Theatertheorie konzipiert:

"Beim Erkennungsvorgang hat der Intellekt außer dem Organisieren des Erfahrenen oder der (erst zu tätigenden) Erfahrung noch die Funktion des Auffälligmachens der Vorgänge, einer Konfrontation derselben mit einer gedachten Negation. Das Es-ist-so wird staunend aufgenommen als ein Es-ist-also-nicht-anders. Man bekommt also fast immer nur vergleichsweise Wahrheiten." (20/137)

Ein solcher Satz korrespondiert direkt mit der Feststellung aus einem frühen Entwurf zu einer Dramaturgie:

"Absolute Klarheit wie völlige Regelmäßigkeit zerstören die Lust am Beschauen. Das Vergnügen am Rätselraten hängt mit dem Element der Ästhetik, der Be-Wunderung innig zusammen." (15/54)

Ich habe schon am Beginn dieses Versuchs über Verfremdung auf diese Kategorie der Be- bzw. Ver-wunderung, des Staunens schon verwiesen. Sie erhält noch in den späteren Überlegungen zur Neuformulierung des "Kleinen Organons" nochmals eine theoretische Würdigung im Herausarbeiten der Kategorie des "Naiven". (60) Brechts weitere Erörterung des Cogito korrespondiert wieder sehr direkt mit der oben zitierten Nietzschekritik an Descartes: So notiert er:

Auch der Satz ‘Cogito ergo sum’ hat eine ungleiche (und vergleichsweise) Wahrheit. Es müssen noch viele Sätze dazukommen, um ihn zu stützen. Das Sein wie das Denken ist etwas Vergleichsweises und Ungleiches (Steigerbares). Der Satz ist auch nur als Grundstein eines ganzen Gebäudes gedacht. Er ist nicht durch sich selbst richtig.

Was meint er? Will er sagen: Man muß an allem zweifeln, so lang man keinen Beweis hat. Man muß mit der Bezweiflung der eigenen Person (als des noch Sichersten) beginnen. Man darf sie nur glauben, weil man sie beweisen kann. Ihr Beweis ist: sie denkt. Will er das sagen? (20/137)

Demgegenüber findet sich bei Nietzsche:

"Abgesehen von den Gouvernanten, welche auch heute noch an die Grammatik als veritas aeterna und folglich an Subjekt, Prädikat und Objekt glauben, ist niemand heute mehr so unschuldig, noch in der Art des Descartes das Subjekt "ich", als Bedingung von "denken" zu setzen. ... Das Denken ist uns kein Mittel zu "erkennen", sondern das Geschehen zu bezeichnen, zu ordnen, für unseren Gebrauch handlich zu machen: so denken wir heute über das Denken: morgen vielleicht anders. Wir begreifen nicht mehr recht, wie "Begreifen" notwendig sein sollte, noch weniger, wie es entstanden sein sollte: und ob wir schon fortwährend in die Not kommen, mit der Sprache und den Gewohnheiten des Volks-Verstandes uns behelfen müssen, so spricht der Anschein des beständigen Sich-Widersprechens noch nicht gegen die Berechtigung unseres Zweifels. Auch in Betreff der "unmittelbaren Gewißheit" sind wir nicht leicht zu befriedigen: wir finden "Realität" und "Schein" noch nicht im Gegensatz, wir würden vielmehr von Graden des Seins – und vielleicht noch lieber von Graden des Scheins – reden und jene "unmittelbare Gewißheit" (z.B. darüber, daß wir denken und daß folglich Denken Realität habe) immer noch mit dem Zweifel durchsäuern, welchen Grad dieses Sein hat; ... in summa: es ist zu bezweifeln, daß das Subjekt sich selber beweisen kann, – dazu müßte es eben außerhalb einen festen Punkt haben, und der fehlt. (61)

Wieder Brecht:

"Der Zweifel müßte unbedingt an alle Dinge zusammen gesetzt werden, denn da alle Dinge miteinander zusammenhängen, kann ich einzelne ja gar nicht abgrenzen, und im Grund zweifle ich ja auch nicht an den Dingen, sondern nur an meinen Sinnen, die sie mir vermitteln, und zwar vielleicht ungenau oder falsch. Aber in Wirklichkeit tue ich gerade das, was ich nicht tun kann: Ich zweifle an dem einen Ding mehr als an dem anderen, oder: ich weiß von dem einen Ding mehr als von dem anderen, und noch etwas: Ich weiß von ein und demselben Ding verschieden viel; ich kann nämlich mehr und mehr davon erfahren und dieses Mehr-Als und dieses Mehr-und-Mehr sind sehr wichtige Operationen oder Kategorien (Anm. von Brecht: Die Operation mit diesen Begriffen ermöglicht die Auflösung der Kant’schen Zweifel und die Fruktifizierung der Descartes’schen). Wir stimmen also im Grund überein mit Descartes, wenn er zweifelt, das Ding erkennen zu können, nämlich das substantivische starre, sich nicht ändernde Ding ... (10/137 f)

Diese Abstufungen des Erkennens, die Kategorien des Mehr-Als oder Mehr-und-Mehr-Erkennens, sowie die Erforschung der Bedingungen, welchen diese differenzierten Operationen in der Praxis unterliegen, muß untersuchen, wer zu einem eingreifenden Denken gelangen will.

Wie nahe Brecht hier wieder bei Nietzsche bleibt, wollte ich mit der obigen Zitatcollage, die sich fast bruchlos aneinanderfügt, belegen, ohne im Einzelnen die Differenzen zu untersuchen.

Ich bin auf Brechts Auseinandersetzung mit Descartes nicht eingegangen, um mein Brecht-Nietzsche-Steckenpferd zu reiten , sondern in erster Linie deshalb, weil hier die Differenz zu einem oft geübten Verfahren marxistischer Philosophen deutlich wird, die in ihrer materialistischen Kritik oft rein ideologisch vorgehen, d.h. bestimmten Philosophen rein äußerlich ein Basis-Überbauschema überstülpen, statt sich auf die Inhalte (auch die materieller Voraussetzungen) wirklich einzulassen.

Natürlich wäre es reizvoll, im einzelnen auch die Auseinandersetzungen Brechts mit Kant zu verfolgen, zu denen die Descartes-Kritik quasi den Auftakt bildet:

Wir stimmen also im Grund überein mit Descartes, wenn er zweifelt, das Ding erkennen zu können, nämlich das substantivische starre, sich nicht ändernde Ding. Nur nehmen wir nicht an, daß dies in der Art des menschlichen Geistes liegt, sondern meinen, daß es dieses Ding gar nicht gibt, wie es Kant zum Beispiel haben will, um es zu erkennen, oder nicht zu erkennen. (20/138)

Es war weiter oben schon einmal das Wort "plump genommen" vorgekommen, und im Dreigroschenroman wird dazu explizit erklärt:

Die Hauptursache ist, plump denken zu lernen. Plumpes Denken, das ist das Denken der Großen. (13/916)

In einem Kommentar hat Walter Benjamin auf den Zusammenhang von plumpem Denken mit eingreifenden Denken verwiesen:

Es gibt viele Leute, die unter einem Dialektiker einen Liebhaber von Subtilitäten verstehen. Da ist es ungemein nützlich, daß Brecht auf das "plumpe Denken" den Finger legt, welches die Dialektik als ihren Gegensatz produziert, in sich einschließt und nötig hat. Plumpe Gedanken gehören gerade in den Haushalt des dialektischen Denkens, weil sie gar nichts anderes darstellen als die Anweisung der Theorie auf die Praxis. Auf die Praxis, nicht an sie: Handeln kann natürlich so fein ausfallen wie Denken, aber ein Gedanke muß plump sein, um im Handeln zu seinem Recht zu kommen. (62)

Jetzt will ich, ohne noch weiter etwa auf den großen Humoristen Hegel, "der mit einem Augenzwinkern auf die Welt gekommen sein muß" (14/1460) mich einzulassen oder über Brechts Pläne für ein Stück "Leben des Konfutse" zu reden, diese illustre Gesellschaft verlassen (und damit diesen Abschnitt abschließen), indem ich ein Stück "plumpes Denken über Kants Ding an sich" für sich sprechen lasse: in den TUI-Geschichten aus dem Komplex des TUI-Romans gibt es eine mit dem Titel: Die Erkenntnistheorie oder der Fluß Mis-ef. Dort werden die Streitigkeiten zwischen den Philosophen über die Frage: ob dem Faden oder der Idee des Fadens Priorität zukommen müsse, geschildert:

Eine der größten Störungen in den tiefsinnigen Untersuchungen des Problems war eingetreten, als einige jüngere Philosophen eine ganz neue Frage aufgestellt hatten, nämlich, ob nicht die in dem ganzen Streit zutage tretende Unsicherheit der Erkenntnis von einer anderen Unsicherheit herrühre, einer äußeren, zeitweiligen Unsicherheit des Lebens der Philosophierenden. Der Philosoph Ka-meh verstieg sich am Ende zu der ungeheuerlichen Behauptung (und er schämte sich nicht, dieselbe zu beweisen), daß das innerste Wesen der Kartoffel zum Beispiel, deren Erkenntnis den Philosophen solche Schwierigkeiten bereitete, die Tatsache sei, daß sie auf den Markt komme. Er sagte:

"Als die Menschen noch die Kartoffel nur für sich selber pflanzten, hatten sie keine beträchtlichen Schwierigkeiten, ihr Wesen zu erkennen. Sie erkannten ihr innerstes Wesen, indem sie sie pflanzten und indem sie sie aufaßen. Von dem Tag an, wo sie die Kartoffel in einem Schubkarren auf den Gemüsemarkt schoben oder sie mit einem Sack unter dem Arm dort abholten, begann sie ihr innerstes Wesen so schlau und dickköpfig zu verhüllen. Heute zweifeln die Kartoffelpflanzer und die Kartoffelesser beim Anblick dieser Frucht an ihrem Verstand. Denn ein Sack Kartoffeln ist ein Hemd, wenn verkauft, ein Hemd, das eine Ladenmiete für einen Tag war im Kreislauf der Waren, und wieviel Seiten hat die Kartoffel! ... Aber hinter all ihren Bedeutungen verschwindet sie selber freilich immer mehr, sie ist eigentlich gar nichts selber, so viel und so gar nichts. Im Grund ist sie am ehesten ein Etwas, mit dem man etwas anderes gewinnen kann." (12/697)

Plumpes Denken bezeichnet also die Fähigkeit zur Vereinfachung nicht im Sinne der Tilgung der Widersprüche, sondern im Sinne der Ausrichtung auf den einen Punkt, an dem das Denken eingreifen soll. In einem Entwurf für die Darstellung von Sätzen in einer neuen Enzyklopädie (die Brecht zur Entlarvung des faschistischen Sprachgebrauchs plante), ist aufgelistet, wie Sätze untersucht werden müssen:

  1. Wem nützt der Satz?
  2. Wem zu nützen gibt er vor?
  3. Zu was fordert er auf?
  4. Welche Praxis entspricht ihm?
  5. Was für Sätze hat er zur Folge? Was für Sätze stützen ihn?
  6. In welcher Lage wird er gesprochen? Von wem? (20/174)

Der Gedanke in den Werken der Klassiker
Nackt un ohne Behang
Tritt er vor dich hin, ohne Scham, denn er ist
Seiner Nützlichkeit sicher.
Es bekümmert ihn nicht
Daß du ihn schon kennst, ihm genügt es
Daß du ihn vergessen hast.
Er spricht
Mit der Grobheit der Größe. Ohne Umschweife
Ohne Einleitung
Tritt er auf, gewohnt
Beachtung zu finden, seiner Nützlichkeit wegen.
Sein Hörer ist das Elend, das keine Zeit hat.
Kälte und Hunger wachen
Über die Aufmerksamkeit der Hörer. Die geringste Unaufmerksamkeit
Verurteilt sie zum sofortigen Untergang.
Tritt er aber so herrisch auf
So zeigt er doch, daß er ohne Hörer nichts ist
Weder gekommen wäre noch wüßte
Wohin gehen oder wo bleiben
Wenn sie ihn nicht aufnehmen. Ja von ihnen nicht belehrt
Den gestern noch Unwissenden
Verlöre er schnell seine Kraft und verkäme eilig. (9/568)

D) Das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters

1. Unfreiwilliger Exkurs in die Brechtforschung

Ich habe geschwankt zwischen obigem Titel oder dem eines " Dialektischen Theaters" und dann doch den des Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters gewählt, u.a. weil er quasi von rechts und links unter Beschuß steht: Martin Esslin zitiert ihn als eins der Beispiele, mit denen es Brecht, "sonst der klarste und direkteste Stilist", fertigbringt, mit seinen theoretischen Schriften, "jenen so nützlichen wie reizvollen teutonischen Nebel zu verbreiten", um seinen "weder besonders neuen oder originellen" Theorien den Anschein einer "völlig revolutionären, alles Bestehende umwälzenden Theorie" zu geben: Spezifisch Wendungen wie die oben genannte resultierten aus einer "Mischung von prophetischer Gewißheit und pseudowissenschaftliche Exaktheit", die Brecht sich "durch die Benutzung des marxistischen Jargons angesteckt, zu eigen machte." (63)

Dies von einem Autor, der auf der zitierten Seite Marx und Heidegger in einem Atemzug gleichermaßen der Obskurität und Unlesbarkeit bezichtigt...

Nun die Kritik "von links": "Nicht von einem objektiven Begriff der Wissenschaft ausgehend untersuchte er (Brecht) – wie das oft dargestellt wird – die mögliche Verbindung von Theater und Wissenschaft, sondern umgekehrt, von seiner Vorstellung eines neuen Theaters mit dem Publikum des ‘wissenschaftlichen Zeitalters’ her begriff Brecht die selbständige und arbeitsteilig institutionalisierte Wissenschaft: Bevor Brecht ausreichend Einsicht in die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft erlangt hatte, stand seine Konstruktion des ‘wissenschaftlichen Zeitalters’ schon fest. Der unmarxistische Begriff des ‘wissenschaftlichen Zeitalters’ wurde meines Wissens nie kritisiert. (64) So Manfred Voigts, von dem man, Brecht paraphrasierend, sagen könnte: er ist schwächer als Esslin, das ist unglücklich. Er wäre so sehr viel besser sonst. (65) Aber Spaß beiseite. Der umstrittene Begriff des wissenschaftlichen Zeitalters ist mir lieber, hinter dem der eine den marxistischen Jargon wittert und gegen den der andere gleich sein Verdikt schleudert: unmarxistisch.

Aber es sei hier festgehalten: es ist das Verdienst des Marxisten Brecht, einige nirgends sonst bei den Klassikern vorkommende, "praktikable Definitionen" geliefert zu haben, deren Nützlichkeit sich erst später herausstellen sollte, die Brecht aber schon zu Lebzeiten immer in den Geruch der Häresie brachten. (Um Voigts verständlich zu bleiben: Brecht hat mit einer sich der Beurteilung durch marxistische Beckmesser entziehenden Witterung noch vor der Marx- und Leninlektüre etwas davon gespürt, daß Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft wird und sich mit seiner im übrigen, wie die häufigen Umformulierungen zeigen, heuristischen Definition einer Tendenz aufgeschlossen gezeigt, die heute erst allgemein deutlich wid.

Ich gerate hier unversehens, aber nicht gerade zufällig in eine Polemik, wo ich mich kurz fassen wollte: Geht es doch nicht an, in einem Kapitel über Verfremdung den Ort ganz auszusparen, für den er als terminus technicus gefunden und in dem er seine spezifische Berechtigung hat – das Theater – ohne die vorher gezeigten Weiterungen zurücknehmen zu wollen.

Die Bemühung, das Theater bzw. Brechts Theatertheorie bisher eher zurückzustellen, hängt damit zusammen, daß ja der einseitig auf den Stückeschreiber und Erfinder des V-Effekts gerichtete Blick der Forschung den auf den Philosophen Brecht weitgehend verstellt hat. Ganz verdrängen hab ich diese Thematik ja nicht können, zumal ich ja Brechts Absicht, Theatermachen zu einer Gepflogenheit des Philosophierens zu machen, zustimme und zum spezifischen Tun des "Philosophen neuen Typs" Brecht erklärt habe. Und in der Schlußthese der Einleitung habe ich Brechts Theatermachen sogar unter den Begriff des "eingreifend Handelns" subsumiert, wobei man die Differenzierung von Handlungsebenen, wie sie Knopf hervorhebt (in der Auseinandersetzung um "idealistische Tendenzen" Brechts im Gefolge von Korsch), durchaus unterstreichen muß.

Brecht hat sein Theatermachen sicher nicht als Ersatz für eine Weltrevolution verstanden, aber ihm seine Nützlichkeit im weltrevolutionären Prozeß zugestanden.

Damit bin ich wieder bei der Polemik gegen Voigts, der es implizit unternimmt, Max Frisch’ Satz von der "durchschlagenden Wirkungslosigkeit des Klassikers Brecht"(66) wissenschaftlich aufzuarbeiten – genauer, er sucht die Beantwortung der Rezeptionsfrage – also der Diskrepanz zwischen dem Anspruch etwa der "revolutionierenden Wirkung des eingreifenden Denkens" und der Tatsache, daß Brecht im Westen zum meistgespielten Dramatiker neben Shakespeare avanciert ist, und dem Bereich der Überschneidung von Kunst und Marxismus.

Ein idealistisch verfälschter Marxismus und ein Verharren (bzw. Zurückfallen) in den Bereich der bürgerlichen Institution Kunst wären, so die Antwort Voigts, plump zusammengefaßt, verantwortlich zu machen für die oben kritisierte Wirkung bzw. Wirkungslosigkeit Brechts. Für die hier zu untersuchende Fragestellung relevant ist dabei die so formulierte These Voigts:

Das Problem des Widerspruchs zwischen Intention und Realisation des epischen Theaters muß sich zurückführen lassen auf den inneren Doppelcharakter des V-Effekts, der es ermöglicht, ihn mal so, mal so zu erfahren. " (67)

Und das "Mal-so, Mal-so" ein wenig zu erhellen: einmal – für einen geschulten, marxistischen Zuschauer könne das epische Theater aktivierende Wirkung haben, als Experiment im Marx‘schen Sinn (Vorwort zum Kapital), im anderen Fall – der fehlenden Entwicklung der Zuschaukunst verfällt alles, was der Verfremdung zugehört der zweiten, poetischen Realität, die Brecht zwischen Realität und Zuschauer in seinen Stücken schiebe. (68)

Vor einer Überprüfung der Hypothese von Voigts müßte man überlegen, ob nicht die ganze Frage falsch gestellt ist, die von Frisch’s Diktum ausgegangen ist. Es wäre ehrlicher von Frisch gewesen, Brecht rauszulassen bei der Rechtfertigung seines Rückzugs in selbstbespiegelnde Innerlichkeit, statt sich auf das Scheitern eines so nicht erhobenen Anspruchs zu berufen. Brecht teilte nicht die Ansprüche etlicher seiner Zeitgenossen, Kunst ins Leben zurückzuführen, sie mit der Wirklichkeit verschmelzen zu wollen, und auch nicht die These vom Ende der Kunst – im übrigen auch nicht in den avanciertesten Projekten einer "Großen Pädagogik" im Zusammenhang mit den Lehrstücken. Auch da ging es ihm um eine Umfunktionierung – die durchaus einschließen konnte, daß "ein ganzer Haufen, bisher Kunst genannten Krempels von jetzt ab nicht mehr Kunst genannt würde." (15/66) Der letzte Satz bei Brecht schließt an an die Stelle: "Kunst ist nichts Individuelles. Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches." (15/66)

Das steht allerdings in deutlichem Widerspruch nicht zur Hegelschen Bestimmung der Kunst als Existenzweise der realen Versöhnung von Individuum und Gesellschaft (bei der Voigts anmerkt: Hegel nahm die bürgerliche Kunst als bürgerliche nicht ernst, indem er sie der romantischen Kunstform – Niedergangsphase! – zurechnet), sondern zu der Eingrenzung, die Voigts vorschlägt: Die Geschichte der Kunst ist in gewisser Weise die Geschichte ihres Zerfalls, d.h. der Verschiebung der Ebenen, innerhalb derer im Individuum die Versöhnung realisiert werden kann." (69)

Dem ersten Teil des Satzes hätte Brecht zugestimmt, es geht ihm ja auch um diese Verschiebung der Ebenen, aber nicht individueller Versöhnung, sondern "kollektivistischer", fürs Aufhören der Kunst hatte er aber nichts übrig.

Voigts schließt nach einem Überblick über die Geschichte der bürgerlichen Ästhetik so:

"Innerhalb dieser Entwicklung hat der Dadaismus, ohne aus dem Bereich der Kunst selbst auszubrechen ... die Kunst zu ihrem immanenten Ende gebracht. Historisch lebt die Kunst und wird weiterleben, solange die bürgerliche Gesellschaft das Individuum reproduziert und vernichtet, und erst mit der Änderung der Gesellschaftsverhältnisse wird Kunst tatsächlich ersetzt werden durch eine neue und höhere Bewußtseinsform, die gesellschaftlich-historisch bestimmt sein wird." (70)

Für das so verstandene Diktum vom Ende der Kunst gilt, was Brecht einmal in Bezug auf Freud notiert:

"benjamin behauptet, freud sei der meinung, die sexualität werde einmal überhaupt absterben. unsere bourgeoisie ist der meinung, sie sei die menschheit. als der kopf des adlers fiel, stand ihm wenigstens noch der schwanz. der bourgeoisie ist es gelungen, sogar die sexualität zu ruinieren..." (71)

Entweder ist diese "neue und höhere Bewußtseinsform, die gesellschaftlich-historisch bestimmt sein wird" nichts anderes, als Brecht oben definierte: etwas Kollektivistisches, aber eben doch Kunst, das heißt eben Versöhnung – oder Lösung von Widersprüchen mit nichtwissenschaftlichen sprich künstlerischen Mitteln oder Voigts meint die Stillegung von Widersprüchen überhaupt: dann ist Kunst allerdings, was immer man darunter versteht, überflüssig, wie auch das Leben selbst...

Aber vielleicht tue ich Voigts Unrecht, wenn ich ihm unterstelle, daß er mit seinem emphatischen, aber leeren Begriff vom Ende der Kunst selbst bürgerlicher Ideologie verfällt, ich gebe gern zu, daß die eigentliche Kritik an ihm weniger an seinen Thesen, als an seiner Sprache ihren Anlaß findet.

Ich bin ja schon bei der ersten Gelegenheit deutlich genug geworden (apropos Steinwegs Lehrstückbuch) und auch der Anlaß dieser Polemik: Voigts Bemerkung über den "unmarxistischen Begriff" des "wissenschaftlichen Zeitalters" ist ja für seine These eher peripher, aber der anmaßende Ton läßt mir die Grausbirnen (Gallbirnen, bei Verhören der Inquisition verwendet, von da ins Wienerisch eingewandert) aufsteigen.

("Gewohnheiten noch immer: Die Teller werden hart hingestellt/Daß die Suppe überschwappt./Mit schriller Stimme/Ertönt das Kommando: Zum Essen!/Der preußische Adler – oder ist es hier ‘Der bayrische Löwe’/Den Jungen hackt er/Das Futter in die Mäulchen." 10/1011) Dazu kommt eine geradezu notorische Humorlosigkeit, die sich dann hin und wieder im Übersehen einer Brechtschen Ironie im Argumentationszusammenhang zeigt.

Ich breche hier diesen kritischen Exkurs ab, ohne vorweg Voigts These weiter zu diskutieren. Ich stimme nämlich in einer Reihe von Punkten mit Voigts durchaus überein: Einmal in der Einschätzung der Bedeutung, die er der Sprachkritik (wenigstens bei Brecht) zumißt. Dann aber auch in der Abwehr der häufig zu findenden Darstellung einer quasi selbstgenügsamen Theaterrevolution durchs epische Theater etwa bei K. D. Müller oder Hecht:

Die Revolutionierung des Theaters erfolgte komplex von Inhalt und Form her. Durch diese wesentliche Neuerung wurde das epische Theater zu einem transportablen künstlerischen Prinzip. (72)

Dazu Voigts völlig zu Recht:

Als hätte sich Brecht eine Revolutionierung des Theaters ohne eine der Gesellschaft denken können, als sei das epische Theater eine innerkünstlerische Sache, ein ‘Stil’, der einen politisch aktivierenden Anspruch hat. Nicht von Form und Inhalt ging Brecht aus, sondern von der Erfahrung des ‘montierten Individuums’ und des ‘Theaters als Institution. (73)

2. Lauter Synonyme?

Wie gesagt, gibt es bei Brecht einige Beschreibungsvarianten seiner Theaterarbeit, wobei zu den schon genannten Termini Theater des wissenschaftlichen Zeitalters und Dialektisches Theater noch episches Theater und eine nicht-aristotelische Dramatik hinzukommen, die in der mittleren Lebensepoche Brechts (und in den theoretischen Hauptwerken zur Theatertheorie, dem Messingkauf und dem "Kleinen Organon" hauptsächlich verwendet werden), während der späte Brecht vor allem wegen der Mißverständnisse, denen seine Äußerungen über episches Theater und V-Effekt ausgesetzt waren, wiederum zu den schon 1931 verwendeten Terminus: Dialektisches Theater zurückkehren wollte: Ernst Schumacher berichtet über ein Gespräch mit Brecht, das Brechts tiefe Einsicht in die Fehldeutungen und verkürzten Interpretationen seiner Theorie bezeugt:

...und von den Verfremdungseffekten bleiben meist nur die Effekte übrig, losgelöst von ihren Zwecken ... Ach, wissen Sie, die menschliche Natur versteht sich nicht weniger als die übrige organische darauf, sich anzupassen. Die Menschen, die sogar den Krieg mit Atombomben als normal zu betrachten vermögen, warum sollen sie nicht mit so kleinen Sachen wie den Verfremdungseffekten fertig werden, nur um nicht die Augen aufschlagen zu müssen? Ich kann mir vorstellen, daß sie eines Tages sogar ihre alte Form des Genusses nur zu haben vermögen, wenn die V-Effekte geboten werden... (74)

Brecht war sich allerdings auch darüber klar, daß dagegen keine Umbenennungen seiner Theorien helfen würden, diese können bestenfalls die Differenz zwischen dem Anspruch und seiner jeweiligen Einlösung deutlicher machen.

Untersuchen wir nun die einzelnen Begriffe.

Brecht hat auf der Differenz bestanden zwischen Theater des wissenschaftlichen Zeitalters und "wissenschaftlichem Theater" ebenso wie zwischen Theater des Experiments und "Experimentiertheater". Worin besteht in beiden Fällen die Differenz?

Im ersten Falle hätte wissenschaftliches Theater die oben besprochene Ablösung der Kunst durch die Wissenschaft zum Inhalt, damit auch den bewußten Verzicht auf künstlerische Mittel. (Eine Form des "wissenschaftlichen Theaters" stellt etwa, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, Morenos "Psychodrama" dar, welches im übrigen auch einige verwandte Züge zu Brechts Lehrstückpraxis-Spielen ohne Zuschauer, Rollentausch der Agierenden etc. aufweist, allerdings mit geradezu diametral entgegengesetzter Zielsetzung; wie weit gegenseitige Kenntnis bzw. Beeinflussung angenommen werden kann, ist meines Wissens übrigens noch nicht erforscht.)

Mit "wissenschaftlichem Zeitalter" wird von Brecht auf die gesellschaftliche Bedeutung vor allem und zuerst der Naturwissenschaften verwiesen, die in Form der Technik tief ins Leben der Menschen eingreifen und die neuen Kollektive hervorbringen, deren Bewegungsgesetze für Brecht mit dem Auftreten der Marx‘schen Gesellschaftstheorie erst wissenschaftlich erschlossen werden.

Es ist vielleicht noch eine Bemerkung zum "unmarxistischen" dieses Begriffs zu sagen. Wie das schon im ersten Teil erwähnte Bild vom "Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Anfang des 3. Jahrtausends" ist auch der Begriff des "wissenschaftlichen Zeitalters" amarxistisch, von Marx nicht gebraucht worden , aber nicht dem Marxschen Denken entgegengesetzt, welchen Eindruck Voigts erweckt.

Die erste Erkenntnis, die Brecht übers Theater gewinnt, ist die von der Unbrauchbarkeit der überlieferten Institution Theater, des quasi-religiösen Kulturtempels zur Erbauung des bourgeoisen Publikums. Destruktion der kultischen Restfunktion von Theater durch radikale Kritik des überkommenen Theaters ist daher die erste Aufgabe: Jahrmarkt, Zirkus, Sportplatz, Boxarena als Gegenbilder (auch das Rauchertheater gehört dazu), haben nicht nur die Funktion von Schreckbildern fürs feierliche Theaterpublikum, sondern stellen für Brecht reale Alternativformen dar, vor allem findet er hier seine Zuschauer: die mit den Regeln vertrauten, als Fachleute die Vorgänge distanziert beurteilenden Betrachter, deren "splendid isolation" nicht angetastet wird – zunächst noch nicht das mit seinen umwälzenden Angelegenheiten beschäftigte Kollektiv, welches das Theater als Ort zur Einübung bestimmter Haltungen benützt (Große Pädagogik im Rahmen der Lehrstücktheorie).

In diesem Stadium bereits gewinnen das "Experiment", die "Versuche", der "Modellbegriffe" Bedeutung für Brecht, taucht auch das Modell des Planetariums auf, das Brecht im Messingkauf dem des Karussells (fürs herkömmliche Theater) gegenüberstellt. Analog zur Arbeit des Physikers im Laboratorium sollte die Arbeit des Stückeschreibers im Theater besondere Versuchsbedingungen herstellen, um in einer von störenden Nebeneinflüssen gereinigten Anordnung bestimmte Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens – des Zusammenlebens und Aufeinander-Einwirkens von Menschen zu erproben, wobei der Zuschauer als Beobachter sich nicht in die Vorgänge hineinzuversetzen, sondern sie aus der Distanz kritisch zu beurteilen befähigt werden sollte.

Brecht hatte also eine im Konkreten zwar sich entwickelnde, aber doch fest umrissene Vorstellung von der Art und vom Zwecke der Experimente, zu denen das Theater herangezogen werden sollte: durch Abbildungen gesellschaftlicher Vorgänge sollte es möglich werden, praktikable Modelle für Eingriffe in die Wirklichkeit zu erlangen.

Das, was man unter Experimentiertheater versteht, ist ein Herumexperimentieren mit theatralischen Mitteln. An diesem Punkt schieden sich die Auffassungen Brechts von denen Piscators, der gerade mit dem Theater experimentierte, technische Neuerungen einführte (so die Verwendung von Film auf der Bühne, die Verwendung von Laufbändern, das Anbringen von Transparenten und Zwischentiteln – Dinge, die Brecht als Bestandteile "epischen Theaters" von Piscator übernahm, die aber nicht zum Selbstzweck werden sollten.

Hier ist das Stichwort "episches Theater" gefallen, über das es einen späten Prioritätsstreit geben sollte; Erich Piscator beanspruchte das Verdienst für sich, der "Erfinder" des epischen Theaters zu sein, obwohl oder gerade weil der Begriff heute allgemein mit Brecht verbunden wird.

Solche Prioritätsansprüche für Dinge, die in einer bestimmten Situation quasi in der Luft liegen, sind wohl müßig, insbesondere in diesem Fall, wo wiederum einem ungenannten Dritten, Nietzsche nämlich, (über eventuelle Vermittlung Alfred Döblins) gewisse Geburtshelferdienste nicht abgesprochen werden dürften.

Es ist das Verdienst Reinhold Grimms, darauf verwiesen zu haben, auch wenn er die Frage des Zusammenhangs zwischen Nietzsches "mythisierende(r) Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, mit ihrer Verhimmelung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks" und Brechts epischen Theater nur erst angerissen hat.

Daß in Nietzsches Rekonstruktion "jedenfalls in mancher Hinsicht förmlich das Negativbild eines Brechtschen Theaters (darin) zu sehen(75), lautet seine durchaus diskutable Arbeitshypothese. In dem schon erwähnten Aufsatz "Dionysos und Sokrates" verweist Grimm immerhin auf den Nietzsche’schen Ausdruck "dramatisches Epos" für nichts anderes als das, was Brecht zunächst als "episches Drama" und sehr bald als "episches Theater" bezeichnen sollte. Selbst den sogenannten "epischen Darstellungsstil, wonach der Schauspieler seine Rolle mit Hilfe der Verfremdungstechnik nicht so sehr lebt als vielmehr ‘zeigt’, nahm Nietzsche im Prinzip vorweg und beschrieb ihn zudem auf eine Weise, die durchaus derjenigen Brechts im Kleinen Organon für das Theater ähnelt." (76)

"Der Dichter des dramatischen Epos kann ebensowenig wie der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist immer noch ruhig unbewegte aus weiten Augen blickende Anschauung, die die Bilder vor sich sieht. Der Schauspieler in (diesem) dramatischen Epos bleibt im tiefsten Grund immer noch Rhapsode ..." (77)

Zu den wichtigsten Übungen für den Schauspieler zählt Brecht das Verfahren, aus der Rolle herauszutreten und sie in der dritten Person "zu erzählen" ...

Aber wie schon angedeutet, sind die Beziehungen wohl verwickelter als daß sie nur in der Übernahme des sokratischen Parts (gegen den Nietzsche ja polemisiert) durch Brecht bestünde. Die Aufarbeitung dieses Zusammenhangs würde eine eigene ausführliche Untersuchung erfordern, die Grimm nicht lieferte, da er auf Nietzsche im zitierten Aufsatz als vermittelnde Instanz zwischen Brecht und Artaud auch nur hinweisend Bezug nimmt. Es ist in diesem Zusammenhang auch die Frage zu erwähnen, ob eine solche Untersuchung nicht auch auf Voigts These von der Doppeldeutigkeit des Brechtschen V-Effekts einen erhellenden Einfluß ausüben könnte – aber das sei einer weiteren Arbeit vorbehalten.

Um aber nur mit einem Streiflicht doch die verwickelteren Beziehungen anzudeuten, noch ein Hinweis: ich habe den Unterabschnitt über Brechts Marxismus mit dem Zitat über Marx als den einzigen Zuschauer Brechts betitelt; bei Nietzsche heißt es:

Euripides fühlte sich ... als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über zwei seiner Zuschauer erhaben ... Von diesen beiden Zuschauern ist der eine – Euripides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, daß die außerordentliche Fülle seines kritischen Talents ähnlich wie bei Lessing, einen produktiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner großen Vorgänger, wie an dunkel gewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie für Linie wiederzuerkennen ..." (78)

Ist das nicht schon wieder ein "maßgeschneiderter Anzug" für – Brecht?

Der zweite Zuschauer aber, von dem Nietzsche kunstvoll zögert, den Namen zu nennen ist: Sokrates. Ich führe den Zusammenhang hier nicht aus: die Entsprechung ist keine lineare, die als Gleichung "Brecht : Marx = Euripides : Sokrates"so einfach "aufgehen" könnte.

Läßt sich das Wesen des ästhetischen Sokratismus noch vergleichen, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: "alles muß verständig sein, um schön zu sein" (79) und fügt sich auch das Beispiel des euripedeischen Prologs fugenlos in Brechts Theorie:

"Daß eine einzelne auftretende Person am Eingange des Stücks erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als ein mutwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effekt der Spannung bezeichnen." (80)

Aber der Zweck dieser Neuerungen bei Euripides führt auf das gerade Brechts Intention diametral entgegenstehende Einführungsdrama, das eigentliche aristotelische Drama mit Handlungseinheit und vollständiger Einfühlung (Nietzsche spricht von der "vollen Versenkung in das Leiden und Tun der Hauptpersonen" des Zuschauers, ohne die "das atemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich (ist)." (81)

Aber, haben wir uns die Frage weiter zu stellen, liegt in diesem Zusammenhang mit Nietzsches Frühschrift nicht vielleicht die verborgene Wurzel dafür, daß Brecht sein Theater als nichtaristotelische Dramatik dargestellt hat – wenigstens zeitweise? Man hat Brecht öfter vorgeworfen, daß seine Kritik des aristotelischen Theaters wohl das bürgerliche Drama von der Klassik bis zum Naturalismus, eingeschlossen das Wagnersche Gesamtkunstwerk mit seinem eingestandenen Ziel, Rauschzustände zu erzielen, betreffe, daß aber sein Angriff auf Aristoteles sein Ziel wesentlich verfehle.

Manfred Riedel etwa nennt es eine "seltsame Verkennung der geschichtlichen Zusammenhänge", daß Brecht das monumentale Theater seiner Vorgänger, das sich "an den Affekt, die Gefühle und Leidenschaften der Menschen gewandt habe, bis auf die griechischen Tragiker und einen klassischen Philosophen, nämlich Aristoteles, zurückdatiere."(82)

Brecht betont in einer "Kritik der Poetik des Aristoteles" aus den frühen Dreißiger Jahren, daß es dabei nicht in erster Linie um die "bekannte Forderung der drei Einheiten als Hauptpunkt geht", er bemerkt, "sie wird von Aristoteles auch gar nicht erhoben, wie die neuere Forschung festgestellt hat." Brecht erscheint es vielmehr

von größtem gesellschaftlichem Interesse, was Aristoteles der Tragödie als Zweck setzt, nämlich die Katharsis, die Reinigung des Zuschauers von Furcht und Mitleid durch die Nachahmung von furcht- und mitleiderregenden Handlungen. Diese Reinigung erfolgt aufgrund eines eigentümlichen psychischen Aktes, der Einfühlung des Zuschauers in die handelnden Personen. (15/240)

Brecht war sich – auch über Nietzsche – dessen bewußt, wie groß die Rolle epischer Elemente in der antiken Tragödie war und daß sie eine ganze Menge von V-Effekten praktizierte. Die Berufung auf Aristoteles, bzw. die Gegenüberstellung hat doppelte polemische Bedeutung: einmal als Frontstellung gegen den Metaphysiker als materialistischer Dialektiker, zum andern im Sinne der Kopernikanischen Wende: Brecht reihte sich neben Bacon, Kopernikus, Bruno und Galilei, die Begründer der anti-aristotelischen modernen Naturwissenschaft. Zum dritten aber verweist der Bezug auf Aristoteles eben auch auf die Rolle, die Nietzsches Reflexionen über das griechische Drama für die Herausbildung von Brechts eigener Theatertheorie zukommt.

3. Lehrstücktheorie, Idealismusverdacht und Utopismus

Obwohl einzelne Lehrstücke seit den Anfängen der Brechtforschung Gegenstand heftiger Kontroversen geworden sind (das gilt vor allem für die "Maßnahme" (83)) kann man, wie Jan Knopf mit Recht feststellt, erst seit Reiner Steinwegs Untersuchungen von einer Lehrstücktheorie sprechen, weil dieser mit deutscher Gründlichkeit soviel Material dazu gesammelt hat, daß man sich mit seinen oft bewußt gegen die frühere Forschung pointierten Thesen auseinandersetzen mußte. Nicht so sehr die Definition des Lehrstücks (als eines Stücktypus für ein Theater ohne Zuschauer, welches als pädagogisches Institut fungierend, belehrt, nicht durchs Zuschauen, sondern durchs Mitspielen, d.h. durchs wechselnde Einnehmen von oft gegensätzlichen Rollen (84)), sondern die durch zwei Belege aus den späten dreißiger Jahren einerseits und von 1956 andrerseits abgestützte These, daß für Brecht die Zukunft des Theaters in der Form des Lehrstücks lag, hat die eigentlichen Kontroversen ausgelöst.

Die DDR-Forschung mit ihrem linearen Entwicklungsmodell: Brecht auf dem Weg zum Sozialistischen Klassiker war ebenso irritiert, wie etwa (schon erwähnt) Reinhold Grimm (als ein Beispiel für die westliche Brechtforschung), der an die Lehrstücke mit inadäquaten traditionellen Gattungsbegriffen der Literatur- wissenschaft herangegangen war (– die "Tragödie" des jungen Genossen in der "Maßnahme").

Egal, ob die Lehrstücke als puritanische Askese des frisch zum Marxismus bekehrten Dichters eingestuft wurden, die in den großen Stücken der Exilzeit durch ein Wieder-Sich-Durchsetzen der eigentlichen dichterischen Kraft überwunden wurde (westliche Version), oder ob die Lehrstücke als "mechanisch-materialistische" und daher abstrakte Durchgangsstufe des Stückeschreibers auf dem Weg zur authentisch marxistischen Dramatik eines wirklichen sozialistischen Realismus (ab dem Galilei) angesehen wurden (östliche Variante), für jede der beiden Seiten stellte Steinwegs These von der zentralen und zukunftsweisenden Bedeutung der Lehrstücke ein Ärgernis dar – was sich – wie auch schon erwähnt (bei Grimm z.B.) im Ton der Auseinandersetzungen niederschlug. (85)

Manfred Voigts kritisiert Steinweg nun von einer anderen Seite: Ihm, der Brecht insgesamt aus dem Eck des Originalgenies holen will, in den ihn die bisherige Forschung gestellt hat, geht es darum, den historischen Kontext zu rekonstruieren, in welchem Brechts Theaterkonzeptionen entstanden, nachzuweisen, was Brecht alles von Zeitgenossen übernommen – sich anverwandelt habe, um einerseits den Nimbus von Brecht anzukratzen, und andrerseits das spezifisch Brechtsche der Lehrstücke deutlicher herauszukristallisieren. Und, wenn ich ihn recht verstehe, erklärt er die Lehrstücke zu einem Teil eines darüber hinausgehenden "revolutionsspezifischen soziologischen Experiments", in dem – aus einer utopischen Grundhaltung Brechts heraus – das "Ende der Kunst" angepeilt wurde.

Brecht hätte aber schließlich die Ambivalenz, die sich in der gleichzeitigen Entwicklung von zwei Strängen neuer Dramatik, nämlich des Lehrstücks einerseits und des epischen Theaters (Dreigroschenoper, Mahagonny) andrerseits zeigt, nicht überwunden, und sei bereits mit der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe", dem Prototyp der "reifen Brechtstücke" zurückgekehrt in den Bereich der bürgerlichen Institution Kunst, was ihn in seinen späteren theoretischen Formulierungen seiner Ästhetik zurückgeworfen hätte auf Positionen der Aufklärung (Diderot, Lessing) bzw. sogar Schillers (Theater als moralische Anstalt). Im Doppelcharakter des V-Effekts sei eben diese Ambivalenz theoretisch fixiert.(86)

Daß ich Brechts These aus dem "Messingkauf", wo die Kunst als "ein ursprüngliches Vermögen der Menschheit" (frei nach Kant) definiert wird, nicht für eine Rückzugsposition halte, hab ich schon an anderen Stellen dargestellt – ebenso wie meine Zweifel daran, ob die Hegelsche Konsequenz vom Ende der Kunst so unbesehen (oder unumgestülpt) als Grundlage materialistischer Ästhetik genommen werden darf (wie es übrigens, wenn auch mehr en passant und vorsichtig, Hanns Eisler in seinen Gesprächen mit H. Bunge getan hat. (87) Eisler hat aber auch gesagt:

"Im Kommunismus werden die Leute Homer lesen wie heute die B-Z (Berliner Zeitung). Und nur das nenn ich Kommunismus."(88) Der geneigte Leser möge zurückblättern.

Ich will aber über das dort Ausgeführte noch hinausgehen, und meinen gerade wiederholten Zweifel an Hegel nochmals in Zweifel ziehen:

Vorausgesetzt, man macht aus Hegels Diktum vom Ende der Kunst nicht einen verdinglichten Fetisch und verbietet quasi den Gebrauch des Wortes Kunst für eine befreite Gesellschaft, so stellt Brechts Forderung nach einem Theater des wissenschaftlichen Zeitalters gerade die Einlösung des Hegelschen Satzes dar: als vorbegriffliche Versöhnungsinstanz ans Ende gekommen, muß sich Kunst als aufgehobene vor dem Begriff, d.h. vor der Wissenschaft verantworten können, darf sie nicht zurückbleiben hinter dem durch Wissenschaft, Intellekt erreichten Reflexionsniveau, muß sie sich hinterfragbar machen, ja selbst die wissenschaftliche Haltung einzunehmen einladen.

Bei Brecht standen, wir wissen bereits, noch vor seiner Bekanntschaft mit dem Marxismus die Naturwissenschaften Pate bei den Versuchen, ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters zu entwickeln. Beeindruckt von den bereits verwirklichten Möglichkeiten des Eingriffs in die Natur außer uns, bewerkstelligt mit Hilfe der induktiven Methode, des planmäßigen Experiments, einer immer systematischeren Befragung der Natur von bestimmten Hypothesen aus, schien es Brecht möglich und nötig, d.h. an der Zeit, auch das Verhalten der Menschen zueinander experimentell zu untersuchen, diesen Methoden auch in bezug auf die Natur des Menschen Geltung zu verschaffen. Von daher wird auch verständlich, daß die Bekanntschaft mit Marx sich für Brecht als Überspringen eines zündenden Funkens darstellte: da war einer, der das, was Brecht mit Mitteln der Sprachkritik quasi intuitiv versucht hatte, bereits als Wissenschaft begründet und entfaltet hatte.

Der bereits mehrmals zitierte Vergleich mit der Arbeit des Physikers, den Marx im Vorwort zum Kapital verwendet, war für Brecht nicht bloß eine bestechende Analogie, sondern wurde für ihn zum zentralen Theoriestück, das er nicht zufällig weiter ausbaute: die für die Marx’sche Gesellschaftstheorie geltende Einschränkung, daß sie Phänomene massenhafter Art untersuche, und für das Verhalten Einzelner nur beschränkt Gültigkeit beanspruchen könne, insofern zu klassenspezifischen Determinanten noch weitere sich überlagernde und widersprüchliche Determinierungen hinzukämen, setzte er in Beziehung zu den Schwierigkeiten der modernen Atomphysik bei der Beschreibung der Bewegungen der kleinsten Teilchen, die sie dazu zwang, anstelle exakter Fixierungen Wahrscheinlichkeitskalküle einzusetzen.

Die Unberechenbarkeit der kleinsten Körper
Me-ti sagte: Eben jetzt stellt die Physik fest, daß die kleinsten Körper unberechenbar sind; ihre Bewegungen sind nicht vorauszusagen. Sie erscheinen wie Individuen, mit eigenem freien Willen begabt. – Aber die Individuen sind nicht mit eigenem freien Willen begabt. Ihre Bewegungen sind nur deshalb schwer oder nicht vorauszusagen, weil für uns zu viele Determinierungen bestehen, nicht etwa gar keine. (12/568)

Von daher auch die Begeisterung Brechts für die Heisenberg’sche Unschärferelation, die für Dialektiker, sprich Marxisten "ein Leibgericht" sei:

"Wenn er (Heisenberg) sagt, daß sich das zu Erkennende durch die Methode der Erkennung verändert, so daß wir es nicht genau erkennen können – das stimmt ungefähr genau – ja, das ist für uns ein einfaches Volksfest." (89)

(So Eisler gegenüber Bunge.) Gerade an dieser Stelle ist (im Zusammenhang mit der Korsch-Debatte über den Stellenwert der "geistigen Aktion") gegenüber Eisler und Brecht von marxistischer Seite ein Idealismusvorwurf erhoben worden (so bei Knopf (90)). Brecht leugne (unter dem Einfluß von Korsch) die Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit, bzw. analogisiere physikalische Prozesse mit Unternehmungen in der sozialen Welt:

"Das Licht in den Mikroskopen muß so stark sein, daß es Erhitzungen und Zerstörungen in der Atomwelt, wahre Revolutionen anrichtet. Eben das, was wir beobachten, setzen wir so in Brand, indem wir es beobachten. So beobachten wir nicht das normale Leben der mikroskopischen Welt, sondern ein durch unsere Beobachtungen verstörtes Leben. In der sozialen Welt scheinen nun ähnliche Phänomene zu existieren. Die Untersuchung der sozialen Vorgänge läßt diese Vorgänge nicht unberührt, sondern wirkt ziemlich stark auf sie ein. Sie wirkt ohne weiteres revolutionierend." (14/1420)

Wir kämen also zu dem Resultat, daß das bloße Erkennen – also Denken – schon revolutionierend wirke. Wir wären, besser gesagt, Brecht wäre beim Hegel von 1808 angelangt, der an Niethammer schrieb:

"Täglich überzeuge ich mich mehr vom Wert der theoretischen Arbeit: ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus ..." (ich zitiere aus dem Gedächtnis statt aus der Briefausgabe des Meiner Verlags),

Brecht wäre also der Illusion erlegen, daß bloßes Erkennen der Wirklichkeit schon ihre Veränderung impliziere. Ein Satz aus einer Überlegung zu Kant liefert neuen "drückenden" Beweis:

Sollten wir nicht einfach sagen, daß wir nichts erkennen können, was wir nicht verändern können, noch das, was uns nicht verändert. (20/140)

Und Knopf stellt auch, an das obige Eislerzitat anschließend fest:

"Wie Eisler verficht auch Brecht das Prinzip der Veränderung um jeden Preis, ohne daß sie bemerken, daß sie idealistischen Positionen huldigen, da sie eine objektive Wirklichkeit, und sei es bloß die durch die Menschen produzierte gesellschaftliche Wirklichkeit, die ‘an sich’ erkennbar und beschreibbar ist, ohne daß der erkennende Mensch sie zugleich ändert, leugnen." (91)

Knopf, der gegen Brüggemanns Identifikation von Brechts Marxismus mit dem von Karl Korsch argumentiert, schwächt den Idealismusvorwurf an Brechts Adresse wieder ab, indem er Brecht bescheinigt, in der realdialektischen Verfremdung, "die nicht Montage der Wirklichkeit, sondern Demontage ihres falschen Scheins bedeutet" (92), die idealistische Züge der Korsch’schen Erkenntnistheorie überwunden zu haben, allerdings den Widerspruch zwischen beiden Positionen nie völlig gelöst zu haben:

"Es ist ein Widerspruch, der durch Bertolt Brecht marxistischen Lehrer Karl Korsch erzeugt worden ist, ein Widerspruch, dem die künftige Brechtforschung nachzugehen haben wird; in einer ihrer wichtigsten Fragen steht sie noch am Beginn." (93)

Voigts wirft nun Knopf vor, seine Untersuchung von Brechts spezifischem Marxismus (d.h. auch seiner Korsch verdankten idealistischen Positionen) am entscheidenden Punkt abzubrechen, aus Unvermögen Kunst als Kunst überhaupt zu beschreiben(94).

Was das bei Voigts heißt, haben wir schon gesehen: die von Korsch undurchschaut übernommenen idealistischen Positionen führten Brecht zu einer Verwechslung von Theater und Wirklichkeit und schließlich zu einem Rückzug bzw. Rückfall in die bürgerliche Institution Kunst, auf aufklärerische oder sogar konventionelle Positionen. Damit sei schließlich auch Brechts "durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers" zu erklären ...

Der Zirkel, in den Knopfs Argumentation im Forschungsbericht gerät, kann als Beleg für meine Behauptung gelten. Ich halte es mit für einen der wichtigsten Beiträge Brechts zum marxistischen Denken, dem "Idealisieren" als notwendiger geistiger Operation auch für den konsequentesten Materialisten, Aufmerksamkeit geschenkt z haben, ohne sich um den Idealismusvorwurf zu kümmern, der eine gewichtige Waffe in den Händen derer darstellte, die für die Verkümmerung der materialistischen Dialektik sorgten. Daß Knopf hier inzwischen differenzierter urteilt, belegt sein Aufsatz "Eingreifendes Denken als Realdialektik" in: Argument Sonderband 50. S. 57 ff.

Nebenbei: die Polemik, die Karen Ruoff an diesen Aufsatz Knopfs anschließt, gibt ein schönes Beispiel linker TUI-Sitten: weil Knopf sich erlaubt, die Deutung einer TUI-Szene aus Turandot (die Entscheidung über die "Hauptfragen" der Philosophie: Sind die Dinge außer und, für sich, auch ohne uns, oder sind die Dinge in uns, für uns, nicht ohne uns?) als am Witz der Sache vorbeigehend zu kritisieren, wird er ordentlich durchgebeutelt (verhängnisvoll verkürzter Ansatz, Fehldeutung der Brechtschen TUI-Kritik, erkenntnistheoretische Modeschau, die nichts zur Sache beiträgt etc.). Was die Autorin noch daran anschließt, als käme sie jetzt erst zur Sache, ist nichts als eine mehr oder weniger konsistente Zitatsammlung aus Brechts Äußerungen zum "eingreifenden Denken", die in Durchhalteparolen für linke Intellektuelle in nichtrevolutionären Zeiten mündet. (Karin Ruoff. Das Denkbare und die Denkware. Zum eingreifenden Denken. In: Argument Sonderband 50. S. 75 ff)

Ich fürchte, wir drehen uns im Kreise. Aber das macht bekanntlich nichts: im Kreise gehend, bewegen wir uns weiter... (14/461)

Die Abschweifung, ausgelöst vom Hinweis auf die Bedeutung, die Brecht dem Zusammenhang von Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften beimaß, führt zu seiner zentralen Frage: nämlich der nach der Vergleichbarkeit naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methoden: Kann oder darf der Marx‘sche Vergleich überhaupt "ganz ernst" genommen werden, ist er mehr als eine Analogie oder Homologie? Oder ergeben sich die oben illustrierten Kalamitäten nicht gerade aus der prinzipiellen Inkommensurabilität, zu deutsch: aus der Schiefheit des Marx‘schen Vergleiches?

Ich fände es müßig – oder sehr mühselig, auf die oben diskutierten Idealismusvorwürfe gegen Brecht einzugehen. Müßig, wenn nur Brecht immanent argumentiert wird, weil dann von außen Materialismus bzw. Idealismus- definitionen herangetragen werden, denen Brecht zu entsprechen hat oder er eben des Idealismus überführt wird, mühselig, wenn die ganze Frage auf ihren Ursprung: die Umstülpung der Hegelschen Dialektik durch Marx zurückgeführt und dort ausgetragen wird.

Denn die Erforschung der Konkretionen der "materialistischen" Umstülpung der "idealistischen" Positionen Hegels liegt noch sehr im argen.

Wenn sich bei Brecht da Widersprüchlichkeiten zeigen, zeugen sie nur vom gründlichen Marxstudium Brechts: er hat sich seinen Marx nicht ideologisch glätten lassen.

Ich hege den starken Verdacht (ohne mich allerdings mit Korsch intensiv genug beschäftigt zu haben, um ihn zu erhärten), daß schon die Polemik gegen Korsch’ "geistige Aktion" sich einen idealistischen Popanz aufbaut. Brecht jedenfalls hätte sicher dem zustimmen können, was Knopf als "materialistisches" Argument vorbringt:

Die sogenannte theoretische Erforschung der Gesellschaft und ihrer Produktivkräfte gehört also in die Veränderung hinein, und verändert wird nicht, indem man erkennt, sondern verändert werden kann, wenn man die Veränderlich- und Veränderbarkeit der Welt erkennt, und zwar als objektive, reale und nicht als Tätigkeit theoretischer Erkenntnis. Dialektische Theorie ist Praxis und deshalb auch ständig der veränderten Praxis, dem veränderlichen "Sein" unterworfen: "Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein." Das ist reale Dialektik. (95)

Brecht hätte dem schon deshalb zustimmen können, weil es beim Wort genommen, nichts anderes aussagt als Korsch’ geistige Aktion: Dialektische Theorie ist Praxis, deutlicher kann man den unaufgelösten Zirkel gar nicht benennen; aber Brecht hätte sicher nicht zugestimmt, weil solche Formulierungen gerade das Gegenteil von "eingreifendem Denken" darstellen: bis zur Bekräftigung der so zur Leerformel erstarrten marxistischen Grundeinsicht aus der Deutschen Ideologie mit dem trotzig naiven: Das ist reale Dialektik.

Hätte es Marx bei diesem Einblick in die reale Dialektik bewenden lassen, so hätte er sich die zermürbenden und mühseligen zwanzig Jahre im Britischen Museum erspart und wäre wirklich mit seinem Freund Fred (Engels) nach Paris gefahren, alle Grisetten zu vögeln, wie er einmal wörtlich schreibt... (96), um sein Bewußtsein vom Leben bestimmen zu lassen.

Herr Knopf hat’s auch nicht so gemeint, wie er es hier niedergeschrieben hat. Zumindestens hat er es früher schon besser gewußt.

Aber wie schon Marx in der ersten Feuerbachthese hervorhebt, hat der Idealismus eben bestimmte Meriten, was die "tätige Seite" betrifft, die in materialistischer Dialektik nur aufgehoben, nicht aber eskamotiert werden sollten. Oder sollten wir auf den "Idealismus" des:

Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? (9/468)

nur deshalb verzichten, weil hier dem Erkenntnisvorgang ein zu großer Einfluß auf die Veränderung zugeschrieben wird (gemessen wenigstens an denjenigen, denen noch jede Einsicht dazu dient, passiv zu bleiben):

Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte
Müssen genügen. Wenn ich sage, was ist
Muß jedem das Herz zerfleischt sein.
Daß du untergehst, wenn du dich nicht wehrst
Das wirst du doch einsehen. (10/1030)

Aber kehren wir jetzt zu der vorher aufgeschobenen Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methode zurück.

Marx vergleicht seine Arbeit mehrmals mit der der Naturwissenschaften. Zuerst konstatiert er einen Unterschied im Werkzeug: die Abstraktionskraft des Forschers muß an die Stelle von Mikroskop bzw. chemischer Reagenzien treten. Dann rechtfertigt Marx seine Beschränkung auf die Beschreibung englischer Verhältnisse:

Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient ... (97)

Weiter spricht Marx von den "Naturgesetzen" der kapitalistischen Produktion", die er erforsche, vom "Naturgesetz ihrer Bewegung", dem eine Gesellschaft auf die Spur gekommen ist und nennt schließlich die "Enthüllung des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernden Gesellschaft den letzten Endzweck" seines Werks.

Es ist also beileibe keine zufällige Metapher, die Marx irgendwo unterläuft, sondern eine bewußte Position, die er hier einnimmt, wo er die Naturwissenschaften zum Vergleich heranzieht. Aber damit wird nicht nur ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben.

Gerade die Tatsache der Verhülltheit ökonomischer Gesetze, ihr blindes Wirken ermöglicht die Gleichsetzung mit physikalischen Gesetzen: obwohl die Menschen ihre eigene Geschichte machen, sie die Schöpfer ihrer ökonomischen Verhältnisse sind, ist ihnen ihre eigene Tätigkeit nicht bewußt, vollzieht sie sich hinter dem Rücken der Individuen als blinde Macht: Wie die Einsicht in die Gesetze der Schwerkraft diese nicht aufhebt, aber zu beherrschen ermöglicht: sie so auch tatsächlich überwindet, kann auch die Einsicht in die ökonomischen Gesetze diese nicht aufheben: aber sie können beherrschbarer werden. (das hoffte er...)

In diesem: "sie können beherrscht werden" verbirgt sich die Krux des naturwissenschaftlichen Modells für die Sozialwissenschaften. Seit Bacon wurde Natur (im Gegensatz zur antiken, aristotelischen Tradition) immer mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Beherrschung und Ausbeutung behandelt. Bacons Einsicht, daß man die Natur nicht überlisten könne (was Aristoteles annahm und worin der Natur in gewissen Sinn Subjektcharakter zugeschrieben wird) sondern, daß man sie nur beherrschen könne, indem man ihr gehorche, d.h. sie erforsche, sie unter dem Aspekt der Nützlichkeit befrage, führt in der Folge zu ihrer völligen Dequalifizierung – im wörtlichen Sinn: es werden alle für sich bestehenden unterschiedlichen Qualitäten in quantifizierbare Verhältnisse überführt, sie wird "berechenbar", reines Objekt.

Und Marx betont nun, dieselbe Objektivität in bezug auf die Bewegungsgesetze der Gesellschaft anzustreben. Er nimmt die bürgerlichen Ökonomen beim Wort und wendet ihren Anspruch, im Kapitalismus die natürliche, naturgemäße Produktionsweise erreicht zu haben, gegen sie selbst.

Aus der Forderung: "Zurück zur Natur", die den Kapitalismus meint, wird die kritische Feststellung: er ist nur Natur, blind wirkender Verhängniszusammenhang einer Macht, die, obwohl nichts anderes als das Produkt der Menschen selbst, ihnen feindlich gegenüber steht: als Kapital, welches nichts anderes darstellt als die menschlichen Wesenskräfte in ihrer entfremdeten, d.h. enteigneten Gestalt.

Wenn also die ökonomischen Verhältnisse in ihren Gesetzmäßigkeiten durchschaut werden, d.h. Gesetze gefunden werden können, die sich ohne Wissen und Bewußtsein der Individuen durchsetzen, so kommen darin bereits ex negativo, als diejenigen, die ihre Wirkungen erleiden, diejenigen vor , denen die Einsicht in diese Gesetzmäßigkeiten helfen kann, ihren Auswirkungen zu entrinnen: die Proletarier, die ihrer Menschlichkeit beraubt, die geltende Weltordnung umstürzen müssen, um ihre Menschlichkeit erlangen zu können. (vgl. 14/1441)

< P>Es passiert dabei etwas, was Georg Kreisler in einem seiner Lieder so darstellt:

Ein Wissenschaftler, dem ich dieses sagte
erzählte mir darauf bei ein paar Bieren:
Der Virus, den ich kürzlich erst erjagte
der benimmt sich auch nicht so wie andere Viren!
Ich habe ihn unter meinem Mikroskope
mit Müh’ und Sorgfalt endlich isoliert,
und hab zu meinem Schrecken, statt Neues zu entdecken
bei diesem Virus deutlich konstatiert:

Er beobachtet mich
Ganz genau wie ich ihn
Schau ich durch, schaut er fort
Schau ich fort, ist er dort
und blickt wachsam zu mir hin.
Er ist sehr interessant
und doch was fang ich mit ihm an
wenn man zwischen uns
keinen Unterschied merken kann. (98)

Nur, was Kreislers Wissenschaftler beunruhigt und erschreckt, da er an stumme, passive Objekte gewöhnt ist, das ist die Absicht, und das eigentlich epochemachende an der Marx‘schen Methode, das, wodurch sie aufhört, Theorie in traditionellem Sinn von "Interpretation" zu sein und wirklich Praxis wird: daß in Marx’ Werk die Objekte der Wissenschaft zu Subjekten werden, ja, daß ihre "wissenschaftliche" Objektivität, d.h. auch ihre Wirklich- und Wirksamkeit von den ihr erfaßten Subjekten abhängt.

Das heißt, in Marxens Theorie wird "Raum" für die Aktivität der Subjekte, der mit Produktion und Reproduktion beschäftigten Menschen gelassen. Einmal schon in der doppelbödigen Formulierung von den "mit eherner Notwendigkeit sich durchsetzenden Tendenzen, dann in der ausdrücklichen Ablehnung einer aus der Geschichte ableitbaren Gewißheit über ein geschichtliches Telos (klassenlose Gesellschaft), welches von den Subjekten unabhängig und unbeeinflußt bliebe. Immer stellt Marx der Möglichkeit und Hoffnung auf Befreiung auch die des "Versinkens in Barbarei", des gemeinsamen Untergangs der kämpfenden Klasse gegenüber.

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, diese über die Methode der Naturwissenschaft hinausreichende, aber sie einschließende neue Qualität der Marx‘schen Methode klar zu machen. Vielleicht gelingt es mir, in der Rückkehr zu unserem Ausgangspunkt, den Brechtschen Lehrstücken.

Die Reduktion der Handlung, die Beschränkung der Figuren auf Typen (die Flieger, die Monteure, der junge Genosse, die Agitatoren) statt Darstellung von Charakteren entspricht dem naturwissenschaftlichen Experimentbegriff ; dem, was man die Ausschaltung störender Einflüsse, die Sicherung des reinen Vorgangs des Experiments nennt.

Experimentiert wird mit Haltungen, die untersucht, erprobt, verworfen oder gewonnen werden sollen ... der Zweck des Experiments ist ein pädagogischer: Lehre von Haltungen.

Dabei werden die Figuren auch fast völlig "objektiv", als Objekte, von außen betrachtet, ihr mögliches "innen" wird ignoriert, oder wo es sich äußert, als der Störfaktor behandelt, als der es nur erscheint, um kritisiert zu werden.

Da Haltungen anschauen nichts oder nur wenig bringt, da sie eingeübt werden müssen, wenn man sie sich aneignen will, werden in Konsequenz die Zuschauer unnötig: es geschieht also eine seltsame Umkehrung: Es wird auf alles verzichtet, was das Theater an Sinnlichkeit, Fülle, Farbigkeit, individuellem Charakter vorführen kann, damit rein der Problemkomplex des Einverständnisses zwischen Individuum und Kollektiv untersucht werden kann – aber der draußen stehende Betrachter, der "wertfreie" Beobachter fällt weg: Es ist, nach dieser Seite hin betrachtet, das Prinzip der Aktionsforschung, die im Lehrstück erreicht wird. Es gibt nicht mehr das Subjekt (Forscher) und die Objekte (Forschungsgegenstand), sondern Forschung wird zu einem sich selbst kritisierendem Prozeß, wo der Forscher ebenso zum Forschungsgegenstand für die von ihm Erforschten wird, wie der Fortgang, oder Ergebnisse der Forschung nur im prozessualen Vollzug von Veränderungen gefunden werden.

Im traditionellen Verhältnis Bühne – Zuschauer erhält sich nicht nur ein kultisches Ritual, sondern auch eine hierarchische Ordnung; wie das Christentum beim Übergang zur Staatsreligion die Kommunion, die Feier der Gemeinde in ein vor der versammelten Gemeinde zelebriertes Schauspiel verwandelte, indem die "Vereinigung" zur Formel verkam, so wirkt jede Bühne autoritär: von der Rampe aus wird Herrschaft ausgeübt – besonders deutlich in der suggestiven Technik der Einfühlung. Die Zuschauer werden (wenigstens der Intention nach) gezwungen, sich mit dem Helden zu identifizieren, mit ihm mit zu leiden, zu weinen und zu trauern.

Im Sinne dieser Intention, aus dem Theater eine Institution eingreifender Aktionsforschung zu machen, stellt die Rückkehr zum Theater für Schauspieler zweifellos einen Rückschritt dar, wird aber andrerseits auch die Praxis, in die einzugreifen, eindeutig nach draußen, in die gesellschaftliche Wirklichkeit außerhalb des Theaters verlegt.

Mittels der nun auch theoretisch erfaßten und beschriebenen Techniken der Verfremdung, des V-Effekts, der Distanzierung, Episierung, Historisierung, der Unterbrechung, des Zeigens, der Gestik wird die teilnehmende Beobachtung statt der mitreißenden Einfühlung ermöglicht. Aber es bleibt bei einem Kompromiß.

Brecht war sich darüber auch im klaren: "Es ist gut, wenn man in einer extremen Position von einer Reaktionsepoche ereilt wird. Man kommt dann zu einem mittleren Standort. So sei es ihm ergangen; er sei milde geworden", berichtet Walter Benjamin.(99) Ohne daß diese Stelle explizit auf die Lehrstücktheorie Bezug nimmt, wird man sie (auch) dafür gelten lassen müssen, was auch die schon erwähnten von Steinweg als Beleg verwendeten Aussagen über die Fatzerfragmente (gemeint ist das unvollendete Lehrstück "Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer", das Brecht noch kurz vor seinem Tode als "der höchste Standard, technisch" bezeichnete) und über "Die Maßnahme", als "Beispiel eines Theaters der Zukunft" bezeugen.(100)

Der an die Macht gekommene deutsche Faschismus enteignete den Autor Brecht nicht nur als Privatmann, indem er ihn zur Flucht zwang, seinen Besitz beschlagnahmte und ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannte, sondern auch dadurch, daß er ihn von seinem Publikum aussperrte und seine für eine revolutionäre Umwälzung vorgesehenen Versuche einer prinzipiellen Umfunktionierung der Institution Theater so unterbrach, daß Brecht sie in dieser Radikalität nie wieder aufnahm.

In diesem Zusammenhang ist ein Wort über Brechts Utopismus, der durch die neuere Brechtforschung geistert, zu sagen. Als erster hat wohl Bloch auf utopische Elemente bei Brecht verwiesen (vgl. seine Interpretation von Jenny’s Lied aus der Dreigroschenoper(101)), und auch Benjamin hat etwa in der Gestalt des Soldaten Fewkoombey aus dem Dreigroschenroman utopische Züge entziffert. (102) Aber Mennemeier spricht von "Jahren der Utopie" bei Brecht,(103) und Voigts entdeckt "Brechts utopische Grundhaltung" am Ende der Zwanziger- und zu Beginn der Dreißigerjahre.

Was Brecht jetzt schreibt, steht im Banne des Gedankens, der Sozialismus werde sich innerhalb kurzer Frist verwirklichen und es sei an der Zeit, für die neue Gesellschaft die neue Kunst zu entwickeln." (104)

Das ist zwar exakt beschrieben, hat aber mit Utopismus nichts zu tun. Entweder wird hier der Sinn des Begriffs Utopie völlig mißverstanden, oder es handelt sich um bewußten Etikettenschwindel.

Die baldige Verwirklichung des Sozialismus im Deutschland der späten Zwanzigerjahre war eben keine Utopie – fast könnte man sagen, sonst hätte es nicht der reaktionären Karikatur des National-Sozialismus bedurft, um ihn zu verhindern. Er war eben das, was in jedem Sinne auf der Tagesordnung stand, und was für die herrschende Klasse nur unter Zuhilfenahme der extremsten Mittel – eben der des offenen Faschismus, noch zu umgehen war.

Hier von Utopismus bei Brecht zu reden, gelingt nur von einem Standort eines historischen Determinismus, der im "Dazwischenkommen" des Faschismus eben eine vorher übersehene historische Zwangsläufigkeit erblickt, ohne zu untersuchen, ob diese Entwicklung bei richtiger Politik nicht zu verhindern gewesen wäre. Aber selbst wenn sich eine solche Zwangsläufigkeit – aus inneren und äußeren Faktoren auch konstruieren ließe, entscheidend bleibt, ob die Bedingungen für eine sozialistische Revolution in Deutschland reif waren.

Brecht hat schon "grausam-gründlich" solche Marxisten verhöhnt,

"die sich als Baumeister des Kommunismus betrachteten, diesen als die unvermeidliche ‘nächste’ Formation erwarteten und das Proletariat als die Leute ansahen, die ihn zu verwirklichen hatten. Sie sahen den Faschismus an und siehe, er war noch nicht die nächste Formation: Sie mußte also noch kommen. Aus den Propheten für morgen wurden sie einfach die von übermorgen." (20/93)

Und im folgenden präzisiert Brecht sehr genau, was sein Denken von einem utopischen unterschied:

"Diejenigen aber, die den Kommunismus lediglich als Lösung ganz bestimmter, benennbarer Schwierigkeiten vorschlugen, ihn gleichzeitig natürlich auch als Ausnutzung geschaffener, ebenso bestimmter und benennbarer Möglichkeiten herbeizuführen gedachten, mußten sich die Frage vorlegen, ob sie nicht doch gewisse andere Auswege übersehen, andere Möglichkeiten außer acht gelassen hatten. Vielleicht hatten sie sich überhaupt getäuscht in der Frage, welches die die Völker im Grunde bewegenden Kräfte sind? (20/93)

Jeder sich nicht einfach im Bestehenden einhausende, sondern den Horizont des Vorhandenen überschreitende Gedanke wäre, am Sprachgebrauch Mennemeiers und Voigts gemessen, schon utopisch – und in diesem, allerdings den Begriff Utopie überflüssig machenden Sinn gab es so etwas wie eine "utopische Grundhaltung" Brechts. Gerade aber gegenüber jenen, die von einer gesellschaftlichen Umwälzung des "ganz Andere", den eschatologischen Bruch erwarteten, hielt er aber an der "bestimmten Negation" des Bestehenden fest:

Man darf nie vergessen, daß der Hauptvorwurf aller konservativen Elemente gegen den Sozialismus, er stelle eine Fortführung (und also, wenn man will: eine Steigerung) des Kapitalismus dar, eine einfache Wahrheit ist, die noch nicht alle Sozialisten begriffen haben." (20/48)

Gerade in der dialektischen Verschränkung von Kontinuität und Bruch im Kampf um die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Abbildung mit künstlerischen Mitteln, ist das Motiv zu suchen, warum für Brecht die Kategorie der Produktivität schließlich zum zentralen Begriff seiner philosophischen Untersuchungen wird.

So heißt es in einer Notiz, die sich mit der bürgerlichen Kritik an der "Mutter" auseinandersetzt, etwa 1932:

Der Kommunismus ist keine Spielart unter Spielarten. Radikal auf die Abschaffung des Privateigentums von Produktionsmitteln ausgehend, steht er allen Richtungen, die sich durch was immer unterscheiden, aber in der Beibehaltung des Privateigentums einig sind, als einer einzigen Richtung gegenüber. Er erhebt den Anspruch, die direkte und einzige Fortführung der großen abendländischen Philosophie zu sein, als solche Fortführung eine radikale Umfunktionierung dieser Philosophie, wie er die einzige praktische Fortführung der abendländischen (kapitalistischen) Entwicklung und als solche zugleich die radikale Umfunktionierung der entwickelten Wirtschaft ist ... (20/79)

Nimm Platz am Tisch, du hast ihn doch gedeckt.
Von heute ab wird auch das Kleid tragen, die es genäht hat.

Heute, mittag um zwölf Uhr
Beginnt das goldene Zeitalter.

Wir fangen es an aus der Erwägung heraus
Daß ihr müd seid, Häuser zu bauen und
Nicht darin zu wohnen. Wir glauben
Ihr wollt jetzt das Brot essen, das ihr gebacken habt.

Mutter, dein Sohn soll essen.
Der Krieg ist abgesagt worden. Wir dachten
So sei es dir recht. Warum, fragten wir uns
Das goldene Zeitalter noch aufschieben?
Wir leben nicht ewig (10/961)

Zum dritten Versuch

Anmerkungen

  1. Wenn ich mich richtig erinnere, stammt dieses Zitat aus dem Erinnerungsbuch "Leben mit Picasso" von Francoise Gilot und Carlton Lake. (Ffm. 1967). Ich habe das Zitat vor Jahren als Motto in einem Aufsatz: Gruppendynamik; Herkunft, Geschichte, Bedeutung (in: Peter Heintel u.a.: Das ist Gruppendynamik. München 1974) verwendet (S. 21), ohne dort allerdings auch den ursprünglichen Fundort anzugeben; <<
  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Jenaer Schriften. Hrsg. und eingeleitet von Gerd Irrlitz. Berlin 1972. S. 14 <<
  3. Carlos Castaneda. Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan. Ffm. 1975 <<
  4. Walter Benjamin. Einbahnstraße. Ffm. 1955.S. 49 <<
  5. Knopf. Handbuch. S. 442 <<
  6. Brechts Modell der Lehrstücke, Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Hrsg. von Reiner Steinweg. Ffm. 1976 <<
  7. LEF (Levyi front iskusstv/Linke Kunstfront), Gruppe avantgardistischer Künstler, die sich 1922 in Moskau um Majakowski zusammenfand und bis 1929 bestand; LEF trat für die Schaffung einer proletarisch-avantgardistischen Kunst, einer utilitären "Produktionskunst" und Kunst als "Lebensgestaltung" ein, begründete die "Literatura fakta" (Faktographie); Organ der Gruppe waren die Zeitschriften LEF (1923-25) und Novij LEF (1927-28). – (zitiert nach den Erläuterungen in dem Band Sergej Tretjakov,. Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts. Hrsg. von Heiner Boehncke. Reinbek bei Hamburg. 1972). <<
  8. Benjamin. Versuche. S. 134 <<
  9. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Phänomenologie des Geistes. Mit einem Nachwort von Georg Lukacs. Ffm. – Berlin – Wien 1970. S. 28 <<
  10. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Studienausgabe. Gymnasialreden, Aufsätze, Rezensionen. Ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Karl Löwith und Manfred Riedel. Ffm. 1968. S. 35 <<
  11. Hegel op.cit. S. 35 f. Vgl. die Duerr-Stelle S. 58, hier zitiert S. 104 <<
  12. Karl Valentin. Der reparierte Scheinwerfer.
    Szenen und Dialoge. München 1975. S.122 <<
  13. Knopf, Jan, Brecht Handbuch, Stuttgart, S. 378 ff. <<
  14. MEW. Bd. 3 (Deutsche Ideologie). Berlin 1958. S. 34 <<
  15. Hegels Phänomenologie. S. 28 <<
  16. Knopf. Handbuch. S. 380, bei Brecht findet sich die Stelle 15/360 ohne die eingefügten Erklärungen <<
  17. Michael Schulte. Karl Valentin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg. O.J. S. 113 <<
  18. Brecht, Tagebücher, S.53 ff. <<
  19. Brecht. Tagebücher. S. 54 <<
  20. Brecht in Augsburg. S. 102 ff <<
  21. Brecht. Tagebücher. S. 38 <<
  22. Thomas O. Brandt. Die Vieldeutigkeit Bertolt Brechts. Heidelberg 1968 <<
  23. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 87, v. 10.2.40 <<
  24. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 807, v. 2.1.48 <<
  25. im Argument Sonderband 11: Brechts TUI-Kritik. Hg. von Wolfgang Fritz Haug. Karlsruhe 1976 <<
  26. Benjamin. Versuche. S. 223 <<
  27. Brecht. Tagebücher. S. 221 <<
  28. Brecht. Tagebücher. S. 61 <<
  29. Brecht. Tagebücher. S. 65 <<
  30. Brecht. Tagebücher. S. 188 <<
  31. Hans Mayer. Brecht in der Geschichte. Ffm. 1971. S. 210 <<
  32. Hans Mayer. Op.cit. S. 203 f <<
  33. 20/51 f
    "Wie könnte man überhaupt die theoretischen Schriften losgelöst von den literarischen Arbeiten begreifen? Die Theorie, die Brecht entwickelt hat, ist in allen Phasen die Theorie einer Praxis, die direkt aus ihr entnommen wurde und sich wiederum auf sie auswirkte. Eine isolierte Betrachtung der Schriften birgt den Keim zu Mißverständnissen in sich." <<
  34. Werner Mittenzwei. Die Kunst, Me-ti zu lesen. In: Argument Sonderband 11. Brechts TUI-Kritik. Op.cit. S. 146 <<
  35. Benjamin. Einbahnstraße. S. 5 <<
  36. Klaus Völker. Brecht. Eine Biographie. München 1976. S. 262, S. 298 <<
  37. Soviel ich weiß, stehen Häretiker des Marxismus in den Bibliotheken der DDR nach wie vor in den "Giftschränken" und können nicht ohne besondere Erlaubnis ausgeliehen werden. (Muß heute natürlich: standen bis zum Ende der DDR in den Giftschränken!) <<
  38. Knopf. Handbuch. S. 415 <<
  39. Karl Korsch. Marxismus und Philosophie. Hrsg. und eingeleitet von Erich Gerlach. Ffm und Wien 1966. S. 135 f <<
  40. Brüggemann, a.a.O. 132 f <<
  41. Knopf. Handbuch. S. 413 ff. Vgl. auch seinen Artikel im Argument Sonderband 50. Zur Aktualität Bertolt Brechts <<
  42. Korsch. Op.cit. S. 133 f <<
  43. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 38, v. Februar 39 <<
  44. Voigts. Theaterkonzeptionen. S. 121 <<
  45. Benjamin. Versuche. S. 135 <<
  46. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 1009, v. 20.8.53 <<
  47. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 854, v. 31.10.48 <<
  48. Hans Mayer. Brecht in der Geschichte. S. 209 <<
  49. MEW. Bd. 8. S. 118 <<
  50. HerbertClaas.BrechtsPolitischeÄsthetik.
    Die methodologischen und geschichtsphilosophischen Reflexionen im Zusammenhang mit Brechts Cäsarroman, die Claas sowohl bei Brecht aufsammelt, als auch ordnet und kommentiert, machen diese Untersuchung besonders anregend. <<
  51. Monika Schretter. Der historische Roman in der Exilliteratur am Beispiel von Brechts Romanfragment "Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar", unveröffentl. masch.man., Klagenfurt 1977.
    Die Diskussionen mit der Autorin über "eingreifendes Denken" und das praktischwerden von Philosophie haben mir in der Beschäftigung mit Brecht mehr geholfen, als ihr wohl bewußt ist; so habe ich eine Dankesschuld im Sinne Kin-jehs abzustatten (12/585); allerdings dürfte ich mit meiner Gewohnheit Brecht "für alle Lebenslagen" zu zitieren, ihr (und einigen anderen in meinem Freundeskreis) die weitere Lektüre Brechts eher vergrault haben. <<
  52. Duerr. Traumzeit. S. 84. Vgl. auch 16/574 f <<
  53. Voigts. Theaterkonzeptionen. S. 200 <<
  54. Hans Peter Herrmann. Vom Baal zur Heiligen Johanna der Schlachthöfe. In: Poetica 1972. S. 191 ff, hier zitiert nach Voigts. Theaterkonzeptionen. S. 196 <<
  55. Karl Marx. Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie. Moskau 1939. S. 80 <<
  56. MEW. Bd. 8. S. 115 <<
  57. Manfred Riedel. Brecht und die Philosophie. <<
  58. Nietzsche. Umwertung (Würzbach) Bd. 1. S. 78. Aph. 68 <<
  59. MEW. Bd. 23. S. 12, S. 16 <<
  60. Manfred Wekwerth. Schriften. Arbeit mit Brecht. Berlin 1975. S. 182
    Der Mitarbeiter Brechts berichtet über die "Erarbeitung einer ästhetischen Kategorie", der des Naiven, durch Brecht in einem der letzten Gespräche. <<
  61. Nietzsche. Umwertung (Würzbach). Bd. 1. S. 94. Aph. 111 <<
  62. Benjamin. Versuche. S. 91 <<
  63. Esslin. Brecht. S. 164 <<
  64. Voigts. Theaterkonzeptionen. S. 92 f <<
  65. Brecht vergleicht meiner Erinnerung nach Karl Kraus mit Stefan George...(aber ich weiß nicht mehr wo!) <<
  66. Max Frisch. Der Autor und das Theater. Ffm. 1964, zit. nach Meyer: Brecht in der Geschichte. S. 193 <<
  67. Voigts. Theaterkonzeptionen. S. 16 <<
  68. Vgl. Voigts. Op.cit. S. 15 <<
  69. Voigts. Op.cit. S. 39 <<
  70. Voigts. Op.cit. S. 43 <<
  71. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 20, v. 13.8.38 <<
  72. Werner Hecht. Brechts Weg zum epischen Theater. Berlin 1962. S. 137 <<
  73. Vogts. Op.cit. S. 178., wo sich auch das in Anmerkung 347 ausgewiesene Zitat findet <<
  74. Ernst Schumacher. Bertolt Brecht. In: Die Dichter des sozialistischen Humanismus. München 1960. S. 49 <<
  75. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 236 <<
  76. Grimm. Ebenda S. 236 <<
  77. Nietzsche (Schlechta). Bd. I. S. 71. Vgl. auch Grimm. Dionysos und Sokrates. S. 160 <<
  78. Nietzsche (Schlechta). Bd. I. S. 68 <<
  79. Nietzsche (Schlechta). Bd. I. S. 72 <<
  80. Nietzsche (Schlechta). Bd. I. S. 73 <<
  81. Nietzsche (Schlechta). Bd. I. S. 73 <<
  82. Riedel. Brecht und die Philosophie. S. 67 <<
  83. Darüber gibt die im Wortsinn mustergültige kritische Ausgabe der Maßnahme ausführliches Grundlagenmaterial an die Hand. (Bertolt Brecht. Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Ffm. 1972) <<
  84. Hier sei nochmals auf Steinwegs Lehrstückbuch und die seither erschienen Material- und Diskussionsbände verwiesen. <<
  85. Vgl. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 240 <<
  86. Vgl.Voigts: BrechtsTheaterkonzeptionen.S.189:
    … damit kehrte Brecht in den Bereich der Aporien der bürgerlichen Kunst so weit zurück, daß er teilweise nicht einmal mehr die aufklärerischen Positionen halten konnte und in bestimmten Bereichen drohte, in geradezu konventionelle Positionen abzurutschen. <<
  87. Eisler. Fragen Sie mehr über Brecht. S. 238 <<
  88. Eisler. Fragen Sie mehr über Brecht. S. 80 <<
  89. Eisler. Fragen Sie mehr über Brecht. S. 153 <<
  90. Knopf. Forschungsbericht. S 160 <<
  91. Knopf. Forschungsbericht. S. 160 <<
  92. Knopf. Forschungsbericht. S. 162 <<
  93. Knopf. Forschungsbericht. S. 164 <<
  94. Voigts. Theaterkonzeptionen. S. 15 <<
  95. Knopf. Forschungsbericht. S. 159 <<
  96. Hier rächt sich wieder einmal mein Mangel an wissenschaftlicher Gründlichkeit, so daß ich die Briefstelle aus der Korrespondenz der Klassiker leider nicht nachweisen kann. <<
  97. MEW. Bd. 23. S. 12 <<
  98. Georg Kreisler. Beobachtung. Auf der Schallplatte: "Kreislers Purzelbäume". Wien 1975 <<
  99. Benjamin. Versuche. S. 130 <<
  100. Bei Steinweg. Das Lehrstück. S. 54 bzw. S. 62.
    Zu Fatzer: Arbeitsjournal. Bd. I, S. 41, v. 25.2.39;
    zur Maßnahme in: Bertolt Brecht. Die Maßnahme. Kritische Ausgabe. S 262 <<
  101. Ernst Bloch. Lied der Seeräuberjenny in der Dreigroschenoper (1929) in: Ästhetik des Vorscheins. Hrsg. von Gert Ueding. Ffm. 1974 <<
  102. Benjamin. Versuche. S. 87 f <<
  103. Voigts. Theaterkonzeptionen. S. 115 ff <<
  104. Franz Norbert Mennemeier. Modernes Deutsches Drama I. München 1973. S. 304. Zit. bei Voigts, s. Anm. 394 <<

 

Zum 3. Versuch

 

Kritiken, Anregungen, Fragen an
Christof Šubik, Universität Klagenfurt