Zurück zum Inhaltsverzeichnis
Zurück zum 2. Versuch

Versuch 3: Produktivität

Die handelnd Unzufriedenen

Die handelnd Unzufriedenen, eure großen Lehrer
Erfanden die Konstruktion des Gemeinwesens
In dem der Mensch dem Menschen kein Wolf ist.
Und entdeckten die Lust des Menschen am Sattessen und Trockenwohnen
Und seinen Wunsch, seine Sache selber zu ordnen.

Sie glaubten nicht dem Geschwätz der Pfaffen
Daß der schreckliche Hunger gestillt werde, wenn die Mägen verfault sind.
Sie schütteten die Schüssel mit dem schlechten Essen aus.
Sie erkannten in dem Mann, den man ihnen als Feind bezeichnete
Ihren hungrigen Nebenmann.

Sie waren geduldig nur im Kampf gegen die Unterdrücker
Verträglich nur zu denen, die die Ausbeutung nicht ertrugen
Müde nur des Unrechts.

Wer den Stuhl wegschleuderte, auf dem er schlecht saß
Wer den Pflug einen Zoll tiefer in die Erde drückte als jeder andere zuvor
Der soll unser Lehrer sein, der Unzufriedene
Beim Umbau des Gemeinwesens.

Diejenigen aber
Die von einem Teller voll Versprechungen satt werden
Ihnen soll man die Mägen herausreißen.
Ihre krummen Knochen zu verstecken
Ist ein Löffel voll Sand zu schade.(10/865)

Bertolt Brecht

"Mit diesen Leuten", sagte ich, mit Beziehung auf Lukacs, Gabor, Kurella, "ist eben kein Staat zu machen." Brecht: "Oder nur ein Staat, aber kein Gemeinwesen. Es sind eben Feinde der Produktion. Die Produktion ist ihnen nicht geheuer. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist das Unvorhersehbare. Man weiß nie, was bei ihr herauskommt. Und sie selber wollen nicht produzieren. Sie wollen den Apparatschik spielen und die Kontrolle der anderen haben. Jede ihrer Kritiken enthält eine Drohung."(1)

Walter Benjamin

Der Magier

Seht, mit wundervoller Bewegung
Zieht der Magier ein Kaninchen aus dem Hut.
Aber auch der Kaninchenzüchter
könnte wundervolle Bewegungen haben.(9/770)

Bertolt Brecht

Viele sehen es so

Viele sehen es so, als drängten wir uns
Zu den abgelegensten Verrichtungen
Bemühten uns um seltene Aufträge
Unsere Kräfte zu erproben oder unter Beweis zu stellen

Aber in Wirklichkeit sieht besser, wer
Uns einfach das Unvermeidliche tun sieht!
Möglichst gerade zu gehen, die Hindernisse des Tages
zu überwinden, die Gedanken zu vermeiden, die
schlimme Folgen gehabt haben, die günstigen
Ausfindig zu machen, eben:
Den Weg des Tropfens zu bahnen im Fluß, der sich
Durch das Geröll den Weg bahnt.(19/875)

Bertolt Brecht

Produktivität – eine übergreifende Kategorie.

Methodo-logische Zwischenbemerkungen.

Es sind methodologische Skrupel, die mich daran hindern, einfach in den "3. Versuch: Produktivität" einzusteigen und mich veranlassen, quasi laut über die bisher erreichten Resultate nachzudenken, vor allem über die Diskrepanz zwischen dem kategorialen Rahmen, den ich zwar explizit als versuchsweisen vorgeschlagen habe, und einem Mangel an systematischer Stringenz, durch den dem geneigten Leser der "rote Faden" verloren gegangen sein mag. Jedenfalls hege ich diesbezüglich Skrupel insbesondere dort, wo ich Brechts Beziehungen zu anderen Philosophen, zu Nietzsche unter dem Thema des Einverständnisses, zu Marx und Lenin unter dem der Verfremdung behandelt habe.

Auf die Gefahr hin, offene Türen einzurennen, will ich noch einmal erläutern, was mir dabei vielleicht allzu evident schien:

Brechts Beziehung zu Nietzsche, die ich als ein geheimes Lehrer-Schüler-Verhältnis dechiffriert habe, erscheint mir, ganz abgesehen von der inhaltlichen Seite der Verknüpfung von Nietzsches Überwindung des Nihilismus und der europäischen Dekadenz im großen Ja-Sagen mit dem Thema des Einverständnisses, selbst schon geeignet, die Dialektik des Einverständnisses zu illustrieren; schließt sie doch auch die Problematik des "mit sich identisch bleiben", der Identitätsfindung im Lernprozeß durch Nachahmen und Einnehmen von Haltungen, aber auch die Überwindung von Autorität, das Sich-frei-machen, das Nicht-einverstanden-Sein mit ein.

Ebenso hat die Auseinandersetzung Brechts mit Marx nicht nur deshalb ihren Ort im Versuch über Verfremdung, weil Brecht diesen Begriff, wie ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, am Hegelschen und Marxschen Entfremdungsbegriff entwickelt hat, sondern weil Brechts Beitrag zum Marxismus zu einem guten Teil eine Verfremdungsleistung darstellt: er hat das allzu bekannte, oft zu Formeln erstarrte und schematisch fixierte Marx‘scher Begriffe durch verfremdete z.B. sinisierende Eingriffe verflüssigt, wieder in Bewegung gebracht – manchmal bis zu Unkenntlichkeit für die Zeitgenossen. (So hat etwa erst Reiner Steinweg nach 40 Jahren entziffert, daß Brecht in der "Maßnahme" Lenins Thesen aus "Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus" als Verhaltenslehre erproben wollte. (2)

Auf der anderen Seite stellt sich natürlich auch mit Brechts Zuwendung zum Marxismus das Thema des Einverständnisses neu, ist dies nicht etwa eine Problematik, die erledigt wäre, sondern es muß auch dieser "rote Faden" weiter verfolgt werden.

Wenn der Hegelsche "Dreischritt" nicht zu Unrecht im Hintergrund der kategorialen Einteilung vermutet werden darf, so muß die Verknüpfung nun eine doppelte sein; einmal die mit dem unmittelbar vorhergehenden Begriff der Verfremdung , dann aber auch die mit dem des Einverständnisses. Ich betone die Möglichkeit und damit den Konstruktcharakter dieses Zusammenhangs noch einmal, um Mißverständnisse zu vermeiden: diese Systematisierungsansätze stellen, ich hab das schon vorneweg in der Einleitung betont, nicht den Versuch dar, so etwas wie ein System von Brechts Philosophie nachkonstruieren zu wollen, sie verdanken sich mehr der philosophischen Tradition, welche die Leidenschaft fürs Systembauen noch dort weiterreicht, wo der Systemanspruch von Philosophie längst obsolet geworden ist; daß Brecht selbst nicht frei ist von dieser Versuchung, belegen seine Überlegungen bezüglich des "Gesamtplans" seiner Produktion:

der gesamtplan für die produktion breitet sich allerdings immer mehr aus. und die einzelnen werke haben nur aussicht, wenn sie in einem solchen plan stehen. zu Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar muß Der TUI-Roman treten. zu den dramen die lehrstücke, wann werde ich die Abenteuer des Bösen Baal des Asozialen anfangen können? und die Haltungen Lenins? 30 jahre sind nicht zuviel für das noch zu schaffende …"
notierte Brecht am 16.8.1938 in seinem Arbeitsjournal(3).

Allerdings ist das eine Art von Systematisierung, in der das System – als geschlossener Kreis – bereits überwunden, aufgehoben fortlebt: im Blick aufs Ganze wird das als einzelnes disparate, widersprüchliche als auf einander bezogen, als zusammengehörig erst erkennbar.

Ich könnte also, hier Brecht folgend, gar nicht mehr behaupten, es sei mir "ganz ernst" mit dem System, aber damit gewinnen die systematischen Elemente eine neue Qualität – die des spielerischen, ästhetischen – um so mehr ist darauf zu achten, daß aus der Ordnung nicht bloßes Ornament wird.

Was solch "aufgehobenes" Systematisieren vom philosophischen System im emphatischen Sinn trennt, ist einfach die Einsicht, daß noch jedes Chaos, wollen wir praktisch eingreifend damit umgehen, sich ordnen läßt, sich zu einer Ordnung fügen läßt, d.h. von uns geordnet wird.

Vermeiden muß man dabei allerdings, so Ordnung zu schaffen, wie Brecht Kalle in den Flüchtlingsgesprächen referieren läßt:

"Ich bin im Grund für Ordnung. Aber ich hab einmal einen Film gesehen mit Charlie Chaplin. Er hat seine Kleider usw. in einen Handkoffer gepackt, d.h. hineingeschmissen und den Deckel zugeklappt, und dann war es ihm zu unordentlich, weil zu viel herausgeschaut hat, und da hat er eine Schere genommen und die Ärmel und Hosenbeine, kurz alles, was herausgehängt ist, einfach abgeschnitten. Das hat mich in Erstaunen gesetzt…"(14/1388)

Ich schätze meinen Mangel an Ordnungsliebe doch hoch genug ein, um diesen Fehler vermieden zu haben.

Aber irgendwie ist uns das Provisorische, nur versuchsweise dieses gedanklichen Ordnens, das man Philosophieren nennt, schon so in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir den Anspruch etwa "Gottes Gedanken vor der Schöpfung" der Reihe nach aufzeichnen zu wollen(4), nicht mehr ganz ernst nehmen können.

Das heißt aber, selbst wenn ich einräume, daß solches Reden schon bei Hegel mehr nur eine literarische Lizenz darstellt, daß die Einsicht in die geschichtliche Vermittlung der logischen Strukturen zugleich ihre überzeitliche "objektive" Geltung als Aussagen über die Struktur der Wirklichkeit in Frage stellt, und sie jeweils nur zu einer unter vielen möglichen Interpretationsmöglichkeiten von Welt herabsetzt, auch und gerade weil diese Interpretation vom Stand der jeweiligen praktischen Hervorbringung, der Produktion von Welt durch jeweils bestimmte Menschengruppen abhängt.

Kurz, gerade wo durch die historisch-materialistische Kritik das philosophische System als Abbild, Widerspiegelung, Reflexion, Distanzierung (ich weiß, auch das sind nicht lauter Synonyme) einer realdialektisch sich zum ökonomischen System des Kapitals zusammenschließenden historischen Bewegung dechiffriert wird (bei Marx in der Analyse des Kapitals) wird die Sprengung des philosophischen Systems ebenso unabdingbar wie die des ökonomischen: sie gehört zur Freisetzung der im System gefesselten Produktivkräfte, sei es gesellschaftlich-ökonomischer oder geistiger und künstlerischer Natur, zur "Wiederaneignung der menschlichen Wesenskräfte."(5)

Daß ich mich nicht der Illusion hingebe, allein das Destruieren des philosophischen Systemanspruchs könne hinreichen, die anvisierte Freisetzung von Produktivkräften zu bewirken, brauche ich hoffentlich nicht extra zu betonen. Umgekehrt kann und braucht damit aber auch nicht gewartet werden, bis die Basis entsprechend umgewälzt ist.

Im übrigen halte ich dafür, daß gerade die Fortexistenz und die scheinbar unentrinnbare Schwerkraft eines immer noch mehr sich zusammenschließenden Verhängniszusammenhangs (wie die späte Frankfurter Schule die bürokratisch-technokratisch verwalteten Herrschaften der Industriegesellschaft in Ost und West metaphorisch zu bezeichnen pflegte(6)) die Systematisierungszwänge unseres Denkens (meines jedenfalls will ich nicht davon ausnehmen) zu erklären imstande ist.

Um aber von diesem Ausflug in die luftigen Höhen der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit philosophischer Systematik überhaupt wieder zurückzukommen auf die doch eher bescheidenen Systemrelikte meines kategorialen Rahmens, will ich die eingangs erwogene Möglichkeit einer doppelten Vermittlung versuchen, ohne daß man mir allzu gewaltsames Konstruieren vorwerfen können wird.

Die Dialektik des Einverständnisses enthüllte sich als negative Bewegung des Einholens der Voraussetzungen des Individuums, zuerst im gegen die gesellschaftliche Umwelt gerichteten Einverständnis des Asozialen mit der eigenen Triebnatur, die sich gegen die Heuchelei gesellschaftlicher Moralvorstellungen richtet. Hier wird der ewige Kreislauf der Natur als Gegeninstanz gegen die als widernatürlich erlebte Aufspaltung des Individuums in Funktionen angerufen (Brecht erwägt in dramaturgischen Notizen, daß der Dramatiker die Partei der Natur gegen seinen Helden ergreifen müßte(7)).

Aber diese Position erweist sich als unhaltbar, weil sie, wenn nicht der Naturbegriff hypostatiert, d.h. romantisch verklärt werden sollte, in einen unendlichen Regreß führt: das Wesen der menschlichen Natur läßt sich als nicht anders bestimmen als durch die Einsicht in die Vergesellschaftung der Menschengattung: die unwiderrufliche und unumkehrbare Vergesellschaftung der Gattung Mensch ist die einzige Naturbestimmung, die sich nicht als zu eng erweist. Mit dieser Einsicht tritt das Verhältnis Individuum – Kollektiv ins Zentrum der Untersuchung: es ist die Wahrheit der Vereinzelung und Vereinsamung, die am Ausgangspunkt der Untersuchung stand.

Es geht nun um die Beschädigungen und Deformationen, denen das Individuum, wie es die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hatte, durch die neue Qualität der Vergesellschaftung ausgesetzt ist:– Brecht spricht vom Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Beginn des 3. Jahrtausends, als epochalem Einschnitt,den nicht erst der am Horizont drohende "kollektivistische Bolschewismus", sondern der Kapitalismus selbst hervorgebracht hat,

so wie der kapitalismus selber die kollektivierung der menschen durch depravation und entindividualisierung besorgt und wie zuerst vom kapitalismus selber eine art ‘gemeineigentum an nichts’ geschaffen wird, so spiegelt die behavioristische psychologie zunächst nur die gleichgültigkeit der gesellschaft am individuum ab, von dem nur gewisse reflexe wichtigkeit haben, da ja das individuum nur objekt ist.
andrerseits ist die zertrümmerung, sprengung, atomisierung der einzelpsyche eine tatsache, d.h. es ist nicht nur eine beobachtungsgewohnheit fehlerhafter art, wenn man diese eigentümliche kernlosigkeit der individuen feststellt, nur bedeutet kernlosigkeit nicht substanzlosigkeit. man hat eben neue gebilde vor sich, die neu zu bestimmen sind. selbst auflösung ergibt nicht nichts. dabei ist ja auch die abgrenzung der einzelpsychen immer noch deutlich wahrnehmbar. auch das neue gebilde reagiert und agiert individuell, einmalig, unschematisch. (8)

Das lange Zitat enthält das Entscheidende: Einverständnis heißt nicht: Vernichtung des Individuums. Einverständnis meint den bewußten Nachvollzug einer historischen Veränderung, Aufgeben des illusionären Sich-fest-Klammern an der Vorstellung von der Persönlichkeit des "hier steh ich, ich kann nicht anders"(Luther) vom festgefügten in sich statischen Charakterkopf.

Einverständnis ist das Sich-Abfinden mit und Bejahen der neuen allseitigen gesellschaftlichen Abhängigkeit, weil nur von dieser Einsicht aus Eingriffe, bewußtes Handeln möglich werden. Und zentral ist die Aussage: selbst Auflösung ergibt nicht nichts.

Der Nullpunkt des Aufgehens im Kollektiv, das Eingehen ins Nichts – das Sterben-lernen, das Einnehmen der kleinsten Größe – mit verschiedenen Termini umschreibt Brecht diesen Punkt – ist nur ein Durchgangspunkt, den durchschritten habend das Individuum seine neue Unentbehrlichkeit im Ganzen – als Teil des Kollektivs entdeckt.

Aber das Resultat dieser Bewegung bleibt ambivalent, wie schon die erste vielschichtige Untersuchung in "Mann ist Mann" mit schonungsloser Deutlichkeit zeigt: weder über die Art des Kollektivs noch über die neue Unentbehrlichkeit des ummontierten Individuums läßt sich aus der Dialektik des Einverständnisses etwas ableiten: die Verwandlung des Packers Galy Gay in die blutrünstige Mordmaschine Jeremiah Jeep ist ebenso "drinnen" wie die Erziehung der Pelagea Wlassowa, Witwe eines Arbeiters und Mutter eines Arbeiters zur bewußten Revolutionärin in Brechts Bearbeitung von Gorkis Roman "Die Mutter". Oder eben doch nicht: und dafür wird die Kategorie der Produktivität entscheidend.

Das zwiespältige, die faschistische wie stalinistische Entwicklung vorwegnehmende Resultat des Experiments der Ummontierung des Galy Gay liegt in seiner Passivität begründet.("Er wird gelebt.") Sein Einverständnis ist das des Alles-mit-sich-geschehen-lassens, ist das der Bereitschaft, sich als Objekt zu verhalten, einer passiven Billigung von allem, was mit ihm geschieht, wodurch er auch als blutrünstiger Kämpfer der Kolonialarmee willenloses Werkzeug fremder undurchschauter Zwecke bleibt.

Dem Einverständnis der Pelagea Wlassowa hingegen liegt die produktive Haltung des "nicht länger Duldens" zugrunde, das Nicht-einverstanden-Sein, nämlich mit den Zuständen, die drohen, ihr nach dem Gatten auch den Sohn zu nehmen. Ihre "Ummontierung" ist ein schrittweiser bewußter Akt der Einordnung in ein Kollektiv, das selbst nicht von außen zusammengehalten (wie die Kolonialarmee) sondern aus der Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammenschlusses entsteht. Die Einordnung ins Kollektiv der revolutionären Arbeiter ist bewußtem Widerstand, genauer, immer bewußter werdendem Widerstand der Wlassowa gegen ihre Lage verdankt: von Anfang an von ihr selbst produziert und mitproduziert.

Hierin besteht im Kern die Bedeutung der Kategorie der Produktivität für die weitere Entfaltung der Dialektik des Einverständnisses, wie auch der Prozeß des Einverständnisses Produktionsbedingung für Produktivität wird.

Auch hier könnte man von einer Übertragung einer Kategorie aus der Lehre der Klassiker aufs Verhalten der Einzelnen bei Brecht sprechen. Die Lehre von Marx beruht bekanntlich darauf, daß die Kategorie der Arbeit als konstituierend für den Selbsterzeugungsprozeß der Menschengattung erkannt wird.

In dieser universelle Geltung beanspruchenden Kategorie der Arbeit als einziger Wesensbestimmung der Gattung Mensch, wodurch zugleich jede Hypostasierung eines "Wesens" des Menschen verworfen wird, fand Brecht eine auch für den Einzelnen praktikable "Bestimmung", die es ermöglichte, über die Ambivalenz der Dialektik des Einverständnisses hinauszugelangen.

Daher auch die Reduktion aller ethischen Postulate im Me-ti auf den "einzigen" Du-sollst-Satz:

"Du sollst produzieren." (12/498 f)

Am entscheidenden Punkt der Dialektik des Einverständnisses, wo es fürs Individuum darum geht, die eigene Entbehrlichkeit zu lernen, und das heißt: die kleinste Größe einzunehmen, sterben zu lernen, an diesem Durchgangspunkt sind wir auch auf die Grunderfahrung der Verfremdung gestoßen, wie sie in magischen Ritualen und mythologischer Überlieferung bis hin zu den Grenzerfahrungen der Nachtfahrenden und Hexen weitab vom sublimierten Bereich des Theaters ihre Wurzel hat.

Verfremden erschien als das bewußte Fremdmachen der eigenen kulturellen Wirklichkeit, um in dieser Grenzsituation das Bekannte (der eigenen Kultur) erkennen, durchschauen und relativieren zu können; ich glaube tatsächlich, hier an eine Wurzel des Brechtschen Verfremdungsbegriffs gestoßen zu sein, die durch die Rezeption der Verfremdung als V-Effekt als bloße Technik der Schauspielkunst bisher verstellt geblieben ist.

Schon im Ursprung geht es – in grundsätzlicher Differenz zur Entfremdungsproblematik – um den bewußten Akt der Überwindung von Entfremdung, um ein Bewußtmachen der erlittenen Trennungen, um Verfremdung als Negation der Negation: verstehen – nicht verstehen – verstehen, wie es Brecht (15/360) kryptisch genug ausgedrückt hat. Dabei ist es Brecht bewußt, daß Verfremdung als Kunstmittel, als Erkenntnisprozeß nicht real existierende Entfremdung aufheben, rückgängig machen kann: aber die Ermöglichung der Einsicht in entfremdete Verhältnisse ist dafür eine wesentliche Voraussetzung:

"man muß die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt,

forderte bekanntlich der junge Marx.(9)

Von da kommt auch der Kategorie Verfremdung konstitutive Bedeutung für die der Produktivität zu. Bekanntlich haben in West und Ost Industriegesellschaften Produktivitätssteigerung als ökonomisches Erfolgskriterium gleichermaßen auf ihre Fahnen geheftet (wenn auch mit gravierend unterschiedlichem Resultat!) und nicht erst durch die ökologische Kritik ist der Produktionsfetischismus verdächtig geworden: wie vorher bei der Formulierung der Dialektik des Einverständnisses resultiert eine Ambivalenz, die auch schon im Faschismus historisch aktualisiert wurde: der Begriff Produktivität sagt über seine Inhalte, also über das, was und zu welchem Zweck produziert wird, zunächst nichts aus.

Es gibt keine Automatik im Verhältnis von Produktion und Befreiung. Auch der Faschismus hat die gelähmte Produktion angekurbelt, die Arbeitslosigkeit beseitigt, "Autobahnen gebaut", aber zum Zweck der Destruktion, des Krieges. Als ebenso problematisch erwiesen hat sich der Produktionsfetischismus unter der Fahne des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion, bis hin zur Pervertierung der Freisetzung von Produktivkräften in der Errichtung des die ganze Gesellschaft überziehenden und durchdringenden "Archipel Gulag", dessen Epos wir Alexander Solschenizyn verdanken.

Ich glaube, es genügt hier nicht, auf die historischen Faktoren, ökonomische und politische Rückständigkeit Rußlands zu verweisen oder die Ambivalenz des Produktivitätsbegriffs mit Hinweis auf die Marx‘sche Analyse des Doppelcharakters gesellschaftlicher Arbeit dahingehend abzuspannen, daß es sich um die Folgen der Reduktion konkreter menschlicher Tätigkeit auf quantitativ meßbare Verausgabung menschlicher Arbeitskraft handelt; d.h. letzteres dürfte schon unverzichtbar sein, nur müßten konkrete Vermittlungsschritte gezeigt werden, wie sie zur spezifisch menschlichen Produktivität wird.

Programmatisch formuliert findet sich die gestellte Aufgabe wiederum beim jungen Marx:

"Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, er also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unserem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz gebraucht wird. Obgleich das Privateigentum alle diese unmittelbaren Verwirklichungen des Besitzes selbst wieder nur als Lebensmittel faßt und das Leben, zu dessen Mittel sie dienen, ist das Leben des Privateigentums, Arbeit und Kapitalisierung." (10)

Marx charakterisiert so die Produktion um der Produktion vielmehr um des Mehrwerts willen als eigentliche Wurzel der Entfremdung:

"An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen inneren Reichtum aus sich herausgebäre." (11)

Dabei wird die transitorische Rolle der entfesselten quantitativen Produktion im Kapitalismus anerkannt, um sogleich die qualitative Bedeutung seiner Überwindung hervorzuheben:

"Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller Sinne und Eigenschaften, aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuß haben darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum Nutzen geworden ist." (12)

Hier liegt nun der eigentliche Zusammenhang von Verfremdung und Produktivität: einerseits ist der Akt des Heraustretens, der Distanzierung selbst eine Produktion, eine Veränderung des Vorgefundenen, auf der anderen Seite kann der Blick von außen, das verfremdende Abstandgewinnen deutlich machen, inwiefern Produktion menschlich geworden ist nicht nur – an sich als – Selbsterzeugung, sondern auch reale Aneignung: als Selbstverwirklichung.

Noch ein letztes Mal der frühe Marx:

"Wir haben gesehen, welche Bedeutung unter der Voraussetzung des Sozialismus die Reichheit der menschlichen Bedürfnisse und daher sowohl eine neue Weise der Produktion als auch ein neuer Gegenstand der Produktion hat. Neue Bestätigung der menschlichen Wesenskraft und neue Bereicherung des menschlichen Wesens." (13)

Mit diesen Hinweisen ist die oben angeschnittene Frage (nämlich, ob es nicht bei Marx selbst oder jedenfalls in der marxistischen Tradition einen Produktionsfetischismus gibt) noch nicht beantwortet.

Auf die Differenzen zwischen jungem und reifem Marx und erst recht au die wechselvolle Wirkungsgeschichte seines Werks kann und will ich hier nicht genauer eingehen; es wird aber immerhin deutlich, daß dem jungen Marx eine unterschiedslose Anbetung der Produktion fernlag, und ich hoffe im weiteren zeigen zu können, daß Brechts Begriff von Produktivität in der inhaltlichen Entfaltung des "Du sollst produzieren" immer auch ein ">Du sollst dich produzieren" und damit die Seite des "erfüllten Tuns", darin auch den sinnlichen Genuß als Kunstgenuß als zur Selbstverwirklichung gehörend, im Auge hatte.

A) Du-Ochs-Sätze und Du-Schwein-Sätze

Nur widerstrebend ließ Brecht sich auf Erörterungen über Moral und Ethik ein. Man könnte sagen, im ersten Dezennium seiner Tätigkeit als Stückeschreiber behandelte er solche Fragen mehr aussparend und ex negativo, zuerst vom Standpunkt eines pointierten bis zynischen Immoralismus (vom Baal bis zur Hauspostille), ab und zu mit schnoddrigen Bemerkungen die Bürgerwelt schockierend, danach, in der Zeit der Lehrstücke, immer unter dem Gesichtspunkt konkreten Verhaltens, dabei Verallgemeinerungen in der Art kategorischer Imperative tunlichst vermeidend.

Es ging ihm gerade darum, die verhängnisvolle Zweiteilung der Vernunft in eine theoretische – des Denkens und eine praktische – des Verhaltens, von der schon Nietzsche gegen Kant einwendet, er hätte "eigens eine Vernunft dafür (erfunden), in welchem Falle man sich nicht um die Vernunft zu kümmern habe, nämlich wenn die Moral, wenn die erhabene Forderung ‘du sollst’ laut (werde)"(14) zu überwinden, d.h. vom Denken als einem Verhalten auszugehen und es ständig auf seine Rückführbarkeit auf Verhalten, auf Haltungen zu überprüfen.

Der Beifallssturm, mit dem das bürgerliche Publikum den Immoralismus der Dreigroschenoper quittierte (ich habe schon erwähnt, wie sehr Brecht vom durchschlagenden Erfolg seiner Formulierung: "Erst kommt das Fressen, dann erst die Moral" irritiert wurde, und wie dieser ihn anspornte, in weiteren Bearbeitungen den Stoff "unverdaulicher " für den Spießer zu machen …) aber auch der Ausgang der "Versuche" der Lehrstücke, die schon besprochene, eigentümliche Ambivalenz der Resultate – sei es in "Mann ist Mann" oder auf andere Weise in der "Maßnahme", führten Brecht auf eine, wenn man will, "zweite Untersuchungslinie", eine Fragestellung, die in der des Badener Lehrstücks: "ob es üblich ist, daß der Mensch dem Menschen hilft"(2/592) schon angelegt war, aber nunmehr ins Zentrum rückt: die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Gutseins, sogleich übersetzt mit: den Bedingungen guten, d.h. menschenwürdigen Lebens, in Richtung der Veränderung der Lebensverhältnisse.

In den Lehrstücken geht es zunächst um den Nachweis ständiger Veränderungen und die Forderung nach Änderung der Welt: es geht um die Dialektisierung des Denkens und Verhaltens, um das Aufgebenlernen aller Halte, aller fixierten Standpunkte der Person, des Charakters, darum, daß man nur selbst beweglich, in die Bewegungen der Wirklichkeit einzugreifen imstande ist: es geht um ein Verflüssigen alles Fixen, von dem Hegel in der Vorrede der Phänomenologie spricht:

"Die Gedanken werden flüssig, in dem das reine Denken, diese innere Unmittelbarkeit, sich als Moment erkennt, oder indem die reine Gewißheit seiner selbst von sich abstrahiert – nicht sich wegläßt, auf die Stelle setzt, sondern das Fixe ihres Sich-selbst-Setzens aufgibt, sowohl das fixe des reinen Konkreten, welches Ich selbst im Gegensatz gegen unterschiedenen Inhalte ist – als das Fixe vom Unterschiedenen, die im Elemente des reinen Denkens gesetzt, an jener Unbedingtheit des Ich Anteil haben."(15)

Und dies eben nicht als Gehirnakrobatik des reinen Denkens, sondern als ein Verhalten, das den ganzen Menschen erfaßt: als eine Art von Geschmeidigkeitsübungen für den Dialektiker. (16)

Daher wird auch schon die Auflösung aller festen Prinzipien vorausgesetzt, bzw. folgt daraus die Unmöglichkeit, aus diesen Stücken eine Moral zu ziehen (wie die Lehrstücke lange mißverstanden wurden).

So stellt sich auch das Thema des "guten Menschen" zunächst nicht als Zielvorstellung, sondern vielmehr als Kritik: bereits der Packer Galy Gay ist ein "guter Mensch" im Sinn von Schwäche, Harmlosigkeit: ein Mann, der nicht Nein-Sagen kann, und es wird am Prozeß seiner Ummontierung gezeigt, wohin bloßes Gutsein in diesem Sinn führt.

Fast überflüssig, hier wieder auf Nietzsche zu verweisen, auf den Anstoß, den er der perennierenden Frage nach dem "guten Menschen" bei Brecht gibt:

Der "gute Mensch". Oder: die Hemiphlegie der Tugend. – Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-tun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt – welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? … Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch) in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summierend.
– Eine solche Wertungsweise glaubt sich damit ‘idealistisch’; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der ‘Konzeption des Guten’ angesetzt zu haben. … Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich wechselseitig bedinge; umgekehrt letzteres soll verschwinden und ersteres soll übrig bleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere sollte gar nicht da sein … Was wünscht da eigentlich!" (17)

Aber während in der Dreigroschenoper der "gute Mensch" noch als eine zwar schöne, aber wirklichkeitsfremde Schimäre hingestellt wird:

Ein guter Mensch sein! Ja wer wär’s nicht gern?
Sein Gut den Armen geben, warum nicht?
Wenn alle gut sind ist SEIN Reich nicht fern.
Wer säße nicht sehr gern in seinem Licht? …
Doch leider sind auf diesem Sterne eben
Die Mittel kärglich und die Menschen roh
Wer möchte nicht in Fried’ und Eintracht leben?
Doch die Verhältnisse, die sind nicht so!(2/430 f)

wird daraus in der "Maßnahme" die Forderung nach der Verbesserung, dem Gutmachen, unter Aufgabe des bloßen Gutseins:

Ändere die Welt; sie braucht es

Mit wem säße der Rechtliche nicht zusammen
Dem Recht zu helfen?
Welche Medizin schmeckt zu schlecht
Dem Sterbenden?
Welche Niedrigkeit begingst du nicht, um
Die Niedrigkeit auszutilgen?
Könntest du die Welt endlich verändern, wofür
Wärst du dir zu gut.(2/652)

Im Licht der Leninschen Radikalisierung der Moralkritik:

"Unsere Sittlichkeit leiten wir von den Interessen des Klassenkampfs ab"(Vgl. 12/477) was zugleich heißt, daß es einer eigenen Sittenlehre nicht länger bedarf, wird ein abstraktes "gut-sein", zu einem sich-zu-gut-sein, ein unproduktives Verhalten.

Aber im Gegensatz zu Nietzsche, bei dem die Bejahung der Widersprüchlichkeit des Lebens zur Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse und ihrer Verklärung als Natur umschlägt, geht es Brecht unüberhörbar um die Austilgung der Niedrigkeit, Durchsetzung von Recht, um ein gutes, d.h. ein menschenwürdiges Leben, das nur mit Güte, gutem Zureden, bloßem Gutsein nicht zu erreichen ist. Darin gipfelt die Einsicht der Johanna Dark, aus den Tiefen der Schlachthöfe zurückkehrend, die Aussichtslosigkeit ihres Vermittelns zwischen oben und unten erkennend:

Ich zum Beispiel habe nichts getan.
Denn nichts werde gezählt als gut, und sehe es aus wie immer, als was
Wirklich hilft, und nichts gelte als ehrenhaft mehr, als was
Diese Welt endgültig ändert: sie braucht es!

Hier wird der kategorische Imperativ der Produktivität bereits deutlich. Es kommt aufs Tun, und zwar allein aufs Tun und seine Resultate an:

Wie gerufen kam ich den Unterdrückern!
O folgenlose Güte! Unmerkliche Gesinnung!
Ich habe nichts geändert.
Schnell verschwindend aus dieser Welt ohne Frucht
Sage ich euch:
Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassend
Nicht nur gut wart, sondern verlaßt
Eine gute Welt!(beide Zitate: 2/780)

Wir haben früher entziffert, daß es das Einnehmen der plebejischen Perspektive war, womit sich Brecht quer zum Denken Nietzsches stellte. Was Brecht ablehnt, ist die folgenlose Güte, das Hinnehmen menschenunwürdiger Zustände, nicht die Hoffnung auf eine bessere Welt.

Über den berühmten Satz "du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", sagte Me-ti einmal: Wenn die Arbeiter das tun, werden sie niemals einen Zustand abschaffen, in dem man seinen Nächsten nur lieben kann, wenn man sich selbst nicht liebt.(12/476)

Im Lichte des Zusammenhangs mit Nietzsche wäre auch das Stück Brechts zu untersuchen, welches den "guten Menschen" explizit zum Thema hat, in welchem "das große Experiment der Götter, dem Gebot der Nächstenliebe das Gebot der Selbstliebe hinzuzufügen, dem "Du sollst zu andern gut sein", das "Du sollst zu dir selber gut sein", das die Fabel beherrscht, quasi nachvollzogen wird. (18)

Ich spreche vom Parabelstück "Der gute Mensch von Sezuan", das manche Kritiker auch für das vollendete Stück des Parabeltypus halten.(19)

Vielleicht von einem frühen Entwurf her, der von 1926 stammt, ist zu erklären, daß es in manchem direkt an "Mann ist Mann" anknüpft: Die Untersuchung wird noch einmal aufgenommen. Wie der Packer Galy Gay ist Shen Te zunächst dadurch charakterisiert, daß sie eine ist, "die nicht nein sagen kann.(4/1494)

Aber während die Ummontierung Galy Gays den Gang der Handlung des Lustspiels von 1925 bestimmt, bildet die Aufspaltung Shen Tes in sich selbst und in ihr ‘alter ego’, den bösen Vetter Shui Ta als Notlösung, weil es ihr nicht gelingt, zu sich und zu anderen gut zu sein, selbst nur eine Voraussetzung, deren Möglichkeit gar nicht in Frage gestellt wird. Allerdings zeigt sich:

"Der Vetter soll immer nur für kurz, nur noch einmal kommen, und am Schluß ist nur er mehr da."(20)

"Der Prozeß des guten Menschen: ein Prozeß der Götter" notiert Brecht in den Arbeitsnotizen. (21) Er greift auf biblische Vorbilder (Geschichte Hiob, Abraham und der Untergang von Sodom und Gomorrha) zurück: drei der obersten Götter kommen nach Sezuan, in "eine chinesische Vorstadt mit Zementfabriken und so weiter. Da sind noch Götter und schon Flugzeuge."(22)

Man könnte heute sagen, in eine Stadt der Dritten Welt (und Brecht verabsäumte nicht, später hinzuzufügen: Die Provinz Sezuan der Parabel, die für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten.(23) (auch nicht mehr wahr...)

Sie suchen gute Menschen aufgrund eines Beschlusses der Götter: "die Welt kann bleiben wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können."(4/1492) In der Bibel handelt Abraham bekanntlich mit den Engeln des Herrn über die Anzahl der notwendigen Gerechten, um den Untergang von Sodom abzuwenden. Bei Brecht setzen die Götter selbst ihre Forderung herab, nur um die Welt nicht ändern zu müssen.

Shen Te, weil sie nicht nein sagen kann, nimmt sie für eine Nacht auf, und mit dem Geschenk der Götter, 1000 Silberdollar, die sie als Bezahlung für das Nachtlager erhält, kann sie einen kleinen Laden kaufen und glaubt nun, zu sich und zu anderen gut sein zu können. Aber es mißlingt:

Der Rettung kleiner Nachen
Wird sofort in die Tiefe gezogen
Zu viele Versinkende
Greifen gierig danach.(4/1508)

Nur das Auftauchen des zuerst von Shen Te als Notlüge erfundenen Vetters Shui Ta verhindert den Untergang. Er greift hart und unbarmherzig durch, verjagt die Hilfesuchenden, liefert sie der Polizei aus, begeht Verrat, betrügt, unterschlägt – kurz, er macht all das Böse, was Shen Te nicht übers Herz brachte.

Damit personifiziert Brecht nicht einfach wieder den alten Dualismus Gut – Böse, in dem er ihn in die Extreme zerfallen vorführt, sondern untergräbt – weil ja dem Zuschauer das Rollenspiel Shen Tes nicht verborgen wird, im Sinne der Lehrstücke die Vorstellungen von gut und böse als Charaktereigenschaften, es wird durchsichtig, daß es sich um von den jeweiligen Bedingungen abhängige Haltungen handelt:

"Sie ist also nicht stereotyp gut, ganz gut, in jedem Augenblick gut, auch als Li Gung (Shen Te) nicht. Und Lao Go (Shui-Ta) ist nicht stereotyp böse und so weiter. Das Ineinanderübergehen der beiden Figuren, ihr ständiger Zerfall usw. scheint nun halbwegs gelungen." (24)

Brecht hütete sich auch in der Parabel davor, aus den Figuren bloße Ideenträger werden zu lassen, den lebendigen Widerspruch aus ihnen zu entfernen, und es darf nicht vergessen werden, daß es Shen Te schwer fällt, den bösen Vetter zu spielen:

Die Maske des Bösen

An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk
Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack.
Mitfühlend sehe ich
Die geschwollenen Stirnadern, andeutend
wie anstrengend es ist, böse zu sein.(9/850)

Hier wird nun so etwas wie eine Naturkategorie des Guten deutlich, eine dem menschlichen Wesen inhärente Güte, von der auch Shen Te spricht, als sie den Flieger Sun kennenlernt und ihn vom Selbstmord abhält:

Es gibt noch freundliche Menschen, trotz des großen Elends. Als ich klein war, fiel ich einmal mit einer Last Reisig hin. Ein alter Mann hob mich auf und gab mir sogar einen Käsch. Dran habe ich mich oft erinnert. Besonders die wenig zu essen haben, geben gerne ab. Wahrscheinlich zeigen Menschen einfach gern, was sie können, und womit könnten sie es besser zeigen, als indem sie freundlich sind? Bosheit ist bloß eine Art Ungeschicklichkeit. Wenn jemand ein Lied singt oder eine Maschine baut oder Reis pflanzt, das ist eigentlich Freundlichkeit. (4/1525)

Aber diese Güte und Freundlichkeit ist nichts von Natur und vorhandenes, keine Naturbestimmung von ontologischem Rang, sondern untrennbar mit Produktivität, produktiv sein und machen verbunden, es ist einfach die Möglichkeit, seine Kräfte zu entfalten. Daher ist es auch unnötig oder sogar schädlich (heute noch) Morallehren und "Du sollst Sätze" aufzustellen:

"Es gibt wenige Beschäftigungen," sagte Me-ti, "welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigungen mit Moral: Ich höre sagen: Man muß wahrheitsliebend sein, man muß seine Versprechen halten, man muß für das Gute kämpfen. Aber die Bäume sagen nicht: Man muß grün sein, man muß die Früchte senkrecht zu Boden fallen lassen, man muß mit den Blättern rauschen, wenn der Wind durchgeht."(12/504)

Hier trifft sich Brecht wieder mit Nietzsche, der das gleiche Bild knapper, aber auch abstrakter gebraucht hat:

Ein Mensch wie er sein soll: das klingt uns so abgeschmackt wie: ‘ein Baum, wie er sein soll. (25)

Brecht ruft mit dem Hinweis aufs Newtonsche Gravitationsgesetz (Newtons berühmter Apfel!) und die Bewegung des Windes zugleich die natürlichen Determinanten anorganischer wie organischer Natur ins Gedächtnis, um nur die "gröbsten" ins Auge fallenden zu nennen, die von da her schon ethische Normierungen fragwürdig machen. Es wird deutlich: so – als moralische – ist die Frage falsch gestellt.

Die Geschichte der Verbreitung der Lehren der Klassiker, des wissenschaftlichen Sozialismus, ist ziemlich von den Anfängen an gekennzeichnet von den Versuchen frisch gewonnener Anhänger, vor allem aus den Reihen der Intellektuellen, einem vermeintlichen Mangel des Marxismus abzuhelfen, nämlich der fehlenden Sittenlehre, der Ethik.

Von den Neukantianern der Marburger Schule, über Vertreter des Austromarxismus wie Max Adler bis zu den Programmschreibern der KPdSU, die unter Chruschtschow Grundsätze kommunistischer Moral ins Parteiprogramm aufnahmen, reicht die sehr heterogene und von den verschiedensten Motiven zeugende Liste der Versuche, die "schmerzlich empfundene" Lücke im Werk von Marx und Engels zu schließen.

Als Brecht nun in der Emigration einen deutschen Schauspieler namens Greid traf, der wie etliche vor ihm, sich darum bemühte, den Marxismus um eine Ethik zu bereichern, sah sich Brecht veranlaßt, sich explizit und ausführlich mit Fragen der Ethik zu befassen. Die Diskussionen gaben für Brecht einiges her für das Me-ti-Projekt, und diesem Umstand verdanken wir auch ein Kabinettstück materialistischer Kritik von Ethik(en), das Brecht im Arbeitsjournal notierte:

… wir untersuchen einige dieser soll- und darf-sätze, gesellschaftliches verhalten betreffend, die aus alten ethiken (ihm den plural aufzuzwingen war schwer) stammen oder in ihnen jedenfalls vorkommen. am schluß schlage ich ihm eine praktische formel vor. im interesse des klassenkampfs sind vorkommende soll- und darf-sätze, die ein ‘du schwein’ enthalten, zu verwandeln in sätze, die ein ‘du ochs’ enthalten. Sätze, welche ein ‘du schwein’ enthalten und nicht in ‘du ochs’-sätze überführt werden können, müssen ausgeschaltet werden. beispiel: der satz ‘du sollst nicht mit deiner mutter schlafen’ war einst ein ‘du-ochs’-satz, denn in einer frühen gesellschaftsordnung bedeutete er große verwirrung in den besitz- und produktionsbedingungen. was das betrifft, ist er heute kein ‘du ochs’-satz mehr, nur noch ein ‘du schwein’-satz. im grunde müßte also der satz fallengelassen werden. das kämpfende proletariat wird ihn jedoch unter umständen verwenden als einen ‘du ochs’-satz, und zwar etwa so: ‘du ochs sollst nicht mit deiner mutter schlafen, weil deine mitkämpfer hier vorurteile haben und dein kampf dadurch gefährdet sein kann, auch weil die gerichte dich sonst einsperren.’ man sieht schnell, wie verhältnismäßig unsittlich diese formulierungen sind, da ihnen eigentümliche unsachlichkeit anhaftet, die den ethiker abstößt. der grund ist natürlich der, daß die sache, von der aus argumentiert werden könnte, verschwunden ist (die besitz- und produktionsbeziehungen) und nunmehr die ‘sache’ einfach ethisch geworden ist. (26)

Hier wird, so hoffe ich, auch deutlich, was Brecht damit meint, wenn er von "praktikablen Definitionen" spricht, zu denen zu gelangen es gelte.

Zugleich aber kehren wir mit einer praktikablen Definition zum Ausgangspunkt zurück:

"Unter sittlichem Verhalten kann ich nur ein produktives Verhalten verstehen. Die Produktionsverhältnisse sind die Quellen aller Sittlichkeit und Unsittlichkeit."(12/477)

Brecht fruktifiziert also den von Nietzsche her stammenden Verdacht gegenüber aller mit überzeitlichem Geltungsanspruch auftretenden Morallehren, auch er fragt nach dem Nutzen, den dahinter stehenden Absichten und Wertungen, nun aber nicht im Sinne einer Menschenzüchtung ( contra Herdenmoral!), sondern im Sinne der Produktionsverhältnisse, welche Eigentumsverhältnisse und damit Klasseninteressen einschließen.

Dennoch laufen solche Definitionen in ihrem großen Abstraktionsgrad Gefahr, sich für den Einzelnen wiederum als nicht "praktikabel" zu erweisen, da der Einzelne als Einzelner nicht imstande ist, etwa Produktionsverhältnisse weltweiten Ausmaßes, denen er ausgesetzt ist, so ohne weiteres umzuwälzen, d.h. auf Grund solcher Definitionen sein Handeln, sein Verhalten zu bestimmen. So geht es Brecht auch darum, aus diesen Erkenntnissen Fingerzeige für das Verhalten des Einzelnen abzuleiten. So reflektiert er auch die Auswirkungen der heute herrschenden Produktionsweise auf die Produktivität der Einzelnen:

Die Produktion wird durch die Arbeitsteilung, wie sie bei uns herrscht, zu einem System, das die Produktivität hemmt. Die Menschen behalten sich nichts mehr vor. Sie lassen sich abstempeln. Die Zeit wird ausgenutzt, da bleibt keine Minute für das Unvorhergesehene. Man verlangt viel. Aber das Nichtverlangte bekämpft man. Die Menschen haben so nichts Unbestimmtes, Fruchtbares, Unbeherrschbares mehr an sich. Man macht sie bestimmt, festumrissen, verläßlich, damit sie beherrschbar sein sollen.(12/528 f)

Brecht spricht hier ausdrücklich nicht von den Eigentumsverhältnissen, also von kapitalistischer Produktion, sondern von der Arbeitsteilung., die ja auch nach der Machtergreifung des Proletariats und seiner Partei zunächst beibehalten, ja in Ländern wie Rußland erst mit der Industrialisierung enorm vorangetrieben werden mußte.

Anders als in den frühen Zwanzigerjahren, wo er die Ford’sche Fließbandproduktion als bolschewistische Organisation ansah und die vor sich gehende Kollektivierung (auch unter dem Kapitalismus) rückhaltlos unterstützt hatte, formuliert er hier Zweifel, die erst auf Grund der Enttäuschungen revolutionärer Hoffnungen angesichts der Entwicklung in der Sowjetunion und der akuten Probleme ökologischer Natur in allen Industriestaaten in den letzten Jahren langsam auch in Diskussionen der Linken eindringen, Zweifel nämlich daran, ob man alles der gesellschaftlichen Produktion unterordnen dürfe, bzw. wie im Entfalten der Produktivität im großen auch die Produktivität der Einzelnen zu ihrem Recht kommt:

wenn man alle sittlichkeit von der produktivität ableitet und das höchste darin sieht, daß die produktivität der ganzen menschheit groß entfaltet wird, muß man achtgeben, daß der bann von der bloßen existenz, ja vom widerstand gegen die verwertung genommen wird.
ich liebe: ich mache die geliebte person produktiv; ich baue an einem auto: ich mache die fahrer fahren; ich singe: ich veredle das gehör des hörers usw. usw. aber dann muß die gesellschaft begabt sein, alles zu verwerten, sie muß ein solches ‘Kapital’ von schon produzierten, eine solche fülle von angeboten haben, daß die produktion des einzelnen gleichsam ein übriges, sozusagen unerwartetes ist.
ist die produktivität das höchste, dann behält der streik seine ehre (im ästhetischen bereich ist es bereits so. der asoziale erfreut ebenfalls; es wird als genügend angesehen, daß er ‘sich produziert’. (27)

Man könnte zusammenfassend formulieren: der Satz "Du sollst produzieren" erlangt nur dann seine volle Gültigkeit, wenn er ein "Du sollst dich produzieren" im obigen Sinne miteinschließt, und die Produktion nicht als fremde Macht gegenüber dem Einzelnen fixiert bleibt. Denn nur dann schließt er auch die Güte mit ein:

Keinen verderben zu lassen, auch nicht sich selber
Jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich, das
Ist gut.(4/1553)

Als Brecht dies schrieb, befand er sich im siebenten Land des Exils, seit ihn die Machtergreifung des Hitlerfaschismus aus Deutschland vertrieben hatte.

Der Anstreicher eilte von Sieg zu Sieg …
… Im Lautsprecher
Höre ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig
betrachte ich die Karte des Erdteils. Hoch oben in Lappland
Nach dem nördlichen Eismeer zu
Sehe ich noch eine kleine Tür. (9/819)

Den hier im Interesse der überkommenen Eigentumsverhältnisse zur Macht gekommenen destruktiven Mächten in den Arm zu fallen, war die Aufgabe, der Brecht seine und nicht nur die eigenen Produktivität unterordnete . Benjamin berichtet aus Svendborg, daß Brecht im August 1938 an eine geschichtslose Epoche (denkt), deren Eintreten er für wahrscheinlicher hielt als den Sieg über den Faschismus. (28)

Der Kampf um die Überwindung der Hitlerherrschaft war für ihn weltgeschichtlich Voraussetzung sine qua non für die weitere Entfaltung menschlicher Produktivität:

"In dem Kampf gegen sie darf nichts ausgelassen werden. Sie haben nichts Kleines im Sinn. Sie planen auf dreißigtausend Jahre hinaus. Ungeheures. Ungeheure Verbrechen. Sie machen vor nichts halt. Sie schlagen auf alles ein. Jede Zelle zuckt unter ihrem Schlag zusammen. Darum darf keine von uns vergessen werden. Sie verkrümmen das Kind im Mutterleib. Wir dürfen die Kinder auf keinen Fall auslassen." (29)

Und Benjamin notiert dazu:

Während er sprach, fühlte ich eine Gewalt auf mich wirken, die der des Faschismus gewachsen ist; ich will sagen eine Gewalt, die in nicht minder tiefen Tiefen der Geschichte entspringt als die faschistische. Es war ein sehr merkwürdiges mir neues Gefühl. (30)

 

B) Sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen

1. Faschismuskritik

Über Brecht als Philosophen zu sprechen und seinen Kampf gegen den Faschismus dabei unter den Tisch eines kategorialen Gerüsts fallen zu lassen, hieße zu jener Art von Philosophieren zurückzukehren, gegen die Brecht nicht aufhörte zu polemisieren: zum folgenlosen Denken hoch über oder abseits vom Zeitenlauf. Es genügt auch nicht, nur einzelne Werke oder Aktionen Brechts im antifaschistischen Kampf zu zitieren oder zu analysieren. Es brauchte einen, der das riesige Material ordnete und zusammenfaßte: kaum ein Schriftsteller unter seinen Zeitgenossen hat sich so umfassend, in allen Genres der Literatur in Stücken, Lyrik und in Prosa, Artikeln, Pamphleten, theoretischen Untersuchungen und unmittelbaren Agitationsmaterial mit dem Faschismus auseinandergesetzt wie Brecht. Er konnte durchaus zu Recht von sich behaupten, seinen Posten im weltweiten Kampf gegen Hitler nie verlassen zu haben:

Me-ti über den Tod des Tu
Als Me-tis Lieblingsschüler Tu im Bürgerkrieg gefallen war, weil er, obgleich mit bestimmten Auftrag versehen und anderer Aufträge noch gewärtig, zum Gewehr gegriffen hatte, weigerte sich Me-ti, ihn als einen guten Revolutionär zu bezeichnen. Er hat keinen zureichenden Grund angegeben, warum er den einen Auftrag mit einem anderen wechselte. Er glaubte; Krieg sei nur, wo geschossen wird; er sah nicht weiter als 50 Meter und starb eigentlich wie ein Raufbold. (12/577)

Brecht sah, daß den ideologischen und propagandistischen Auseinandersetzungen im modernen Krieg eine immer größere Bedeutung zukommt, daß der Krieg in diesen finsteren Zeiten immer mehr um die Köpfe der Menschen geführt wird, um ihre Überzeugungen, sonst hätte Hitler nicht den gigantischen Propagandaapparat zusätzlich zu seiner Polizei und Militärmaschinerie benötigt, um das deutsche Volk niederzuhalten und Europa und schließlich auch die übrige Welt zu unterwerfen zu versuchen.

Von dieser Seite her ist aber Brechts Werk meines Wissens noch nie systematisch untersucht worden. An der Tatsache von Brechts antifaschistischer Gesinnung ist so wenig zu rütteln, und an ihr so wenig vorbeizukommen, daß auch die aufwendigsten Versuche, ihn zum überzeitlich gültigen Humanisten und Poeten zu stilisieren, nicht daran vorbei konnten, obwohl da viel in die angedeutete Richtung des allgemeinmenschlichen Protest gegen Unterdrückung, das Mitleid mit den Leidenden etc. entschärft wurde.

Andrerseits wurde es auch fast als Zufall hingestellt, daß Brecht nicht Faschist (wie sein Freund Bronnen) oder Katholik (wie Döblin) geworden ist – dies jene psychologisierenden Deutungen in der frühen Brechtforschung, die den Übergang zum Marxismus als Konversion des chaotischen Anarchisten in eine möglichst strenge asketische Ordnung, als eine Art Selbstkasteiung auslegten.(31) Auch durch die in der Nachkriegszeit des Kalten Krieges üblich gewordene Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus (bzw. Stalinismus) als westliche und östliche Spielarten eines Totalitarismus ist die antifaschistische Haltung Brechts relativiert worden(32).

Aber auch von der östlichen Brechtforschung ist keine Aufarbeitung dieses Themas erfolgt, aus allerdings auch verständlichen Gründen. Gehörte doch zu Brechts antifaschistischem Kampf auch die Erforschung der Fehler der Arbeiterbewegung und der kommunistischen Parteien und waren seine Einschätzungen, Analysen und Vorschläge oft sehr weit entfernt von der jeweils offiziellen Linie.

Brecht sah doch im Faschismus eine welthistorische Bedrohung der menschlichen Produktivität, einen apokalyptischen Versuch, zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse die Fesselung der menschlichen Produktivkräfte global auf Dauer zu stellen.(33)

Von dieser, auch am Ende des vorigen Kapitels bereits belegten Überzeugung Brechts ist bei der näheren Untersuchung auszugehen: Brechts ständige Versuche einer Mobilisierung aller Kräfte für diesen Kampf gründet auf dieser seiner Überzeugung, einer lebensbedrohenden Macht gegenüberzustehen, gegen die im Kampf "nichts ausgelassen" werden darf:

Im Sommer 1933 sprach ich mit einigen Bekannten über Hitler. Dieser hatte Zehntausende von deutschen Arbeitern in die Gefängnisse und Konzentrationslager geworfen oder ermorden lassen und uns alle vertrieben, so daß das Gespräch in Paris stattfand.
Jemand erzählte, daß er den Anstreicher früher in München oftmals in einem Lokal getroffen hatte und daß der Anstreicher sich für eine Mark ins Gesicht spucken ließ. Der dies erzählte, fügte hinzu, daß er diese wahre Geschichte niemals in einem größeren Kreis als dem unsern erzählen würde, denn, meinte er, dies sei kein Argument gegen einen solchen Mann.
Da sagte einer meiner Freunde, der ein Kommunist war: ‘Gegen einen solchen Mann ist auch das ein Argument. Gegen einen solchen Mann ist für mich alles ein Argument!’ – Das war auch meine Meinung.(20/205)

Brechts Faschismuskritik gewinnt gerade daraus ihre aktuelle Bedeutung (und auch daraus erklärt sich vielleicht ihre zögernde Rezeption), daß der Faschismus für Brecht kein isoliertes zeitgeschichtliches Phänomen, einen "Betriebsunfall der Weltgeschichte" oder einen "unerklärlichen (oder bestenfalls völkerpsychologisch erklärlichen) Ein- oder Ausbruch der Barbarei" ins im übrigen so zivilisierte 20. Jahrhundert darstellte, sondern für ihn untrennbar mit den sich verschärfenden Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise und den herrschenden Eigentumsverhältnissen zusammenhing: Nicht notwendig daraus hervorging, gegen eine solche deterministische Geschichtsauffassung polemisierte Brecht sarkastisch, wie ich schon in einem anderen Zusammenhang erwähnte (34), wenn er sich gegen jene wandte,

die sich als Baumeister des Kommunismus betrachteten, diesen als die unvermeidliche ‘nächste’ gesellschaftliche Formation erwarteten und das Proletariat als die Leute ansahen, die ihn zu ‘verwirklichen’ hätten. Sie sahen den Faschismus an, und sieh, er war noch nicht die nächste Formation: Sie mußte also noch kommen. Aus dem Propheten für morgen wurden sie einfach die von übermorgen."(20/93 f)

Brecht, der längst vor der Hinwendung zum Marxismus, quasi eine Witterung für die riesigen (wenn auch undurchschaubaren) Kämpfe dieser Epoche entwickelt hatte, hatte mit dem Eindringen in die theoretische Erforschung ihrer Gesetzmäßigkeiten durch Marx methodisches Werkzeug an die Hand bekommen, den Kapitalismus als die "Große Unordnung", das systematisierte, unmenschliche Chaos zu beschreiben und sah von Anfang an im Faschismus den Versuch, mit der pseudorevolutionären Bewegung der Kleinbürger (statt des Proletariats und dagegen) die wirkliche Lösung der "Grundwidersprüche der Epoche" zu verhindern.

Zugleich war aber mit diesem "Ausweg" des Kapitalismus die eigene Theorie radikal in Frage gestellt (wie in neuerer Zeit durch die neuerliche gewaltige Expansionskraft und neugewonnene Stabilisierung des Kapitalismus nach 1945). Brecht war sich dessen voll bewußt. Er setzt an der gleichen Stelle fort:

"Diejenigen aber, die den Kommunismus lediglich als Lösung ganz bestimmter, benennbarer Schwierigkeiten vorschlagen …, mußten sich die Frage vorlegen, ob sie nicht doch gewisse andere Auswege übersehen, andere Möglichkeiten außer acht gelassen hatten. Vielleicht hatten sie sich überhaupt getäuscht in der Frage, welches die die Völker im Grunde bewegenden Kräfte sind?"

Hier stoßen wir, wie ich glaube, wieder auf einen Punkt, der mit Brechts intensiver Beschäftigung mit Nietzsche zusammenhängt. Bis etwa 1927 finden sich in Brechts Tagebüchern und Notizen, gerade an Stellen einer quasi welthistorischen Situationsbetrachtung unzweifelhaft auf Nietzsche verweisende Sätze, so etwa:

"Ich denke, daß es von einem dramatischen Dichter vielleicht nichts Unsittlicheres gibt als eine gewisse Schamlosigkeit in bezug auf die gewisse Schwäche des Menschengeschlechts, mit einem Herdentrieb geboren zu sein, ohne die zur Bildung einer Herde erforderlichen Eigenschaften aufzuweisen. Fast alle bürgerlichen Institutionen, fast die gesamte Moral, beinahe die gesamte christliche Legende gründen sich auf die Angst des Menschen, allein zu sein, und ziehen seine Aufmerksamkeit von seiner unsäglichen Verlassenheit auf dem Planeten, seiner winzigen Bedeutung und kaum wahrnehmbaren Verwurzelung ab …" (1922) (35)

Die schwarze Sucht des Gehirns: siegen (1922)(36)

Ich habe jedesmal nachgeprüft … wenn ich plötzlich mit meinen Mitmenschen nicht zufrieden war. … (ich) hatte … nichts Eigentliches gegen die Menschen vorzubringen, vielleicht deswegen, weil mir eher der ganze Typus verfehlt schien. Ich glaube, der Mensch ist eine Rasse, die im Schöpfungsplan nicht vorgesehen war, welche Tatsache im Laufe ihrer nur wenige Jahrtausende dauernden Lebenszeit nur von wenigen Exemplaren erkannt wurde…(1925) (37)

… Politik ist auch nur gut, wenn genug Gedanken vorhanden sind. (Wie schlimm sind auch hier die Pausen!) Der Triumph über die Menschheit: das Richtige tun zu dürfen, unnachsichtig, mit Härte! (1927) (38)

Ich habe mich immer mit Menschen abgegeben, ich verstehe es nicht … Es ist möglich, daß es vielen Leuten so geht, aber mir scheint es nicht natürlich. Die Tiere haben sicherlich nicht dieses Interesse an ihren Artgenossen, und ich will es bei mir bekämpfen – denn zu alledem habe ich keine besondere Wertschätzung für die Leute." (1927)(39)

Womit ich nicht meinen Spürsinn ausstellen will, sondern glaube, kommentieren zu können, was Brecht mit den "anderen, die Völker bewegenden Kräften" meint. Nietzsche ist ja nicht zufällig und keineswegs unbegründet als ideologischer Wegbereiter des Faschismus ebenso in Anspruch genommen, wie denunziert worden. Gerade wegen der Faszination, die er auf Brecht ausübte, — von Nietzsche hatte dieser das Gespür für die welthistorische Bedrohung, die da heraufzog, die gegen die "plebejische Wendung" Brechts und seine Versuche, Nietzsche revolutionär umzufunktionieren, mit der Machtergreifung Hitlers auf grauenhafte Weise recht zu behalten schien.

Von daher scheint mir "die in nicht minder tiefen Tiefen der Geschichte entspringende Gewalt" von der Benjamins Tagebuchnotiz angesichts Brechts Antifaschismus spricht, herzustammen. Brecht kannte und erkannte die verführerische Vorstellung, sich zum Herrn der Erde aufschwingen zu wollen: den Triumph über die Menschheit: das Richtige tun dürfen, unnachsichtig mit Härte! – die schwarze Sucht des Gehirns: siegen! aus persönlichster Erfahrung. Er wußte von der Faszination der Herrenmoral und unterwarf sich einer Disziplinierung der Vernunft, ihr nicht nachzugeben (40).

Der Marxismus gab ihm die Gründe dafür an die Hand, und dies ermöglicht ihm, auch ein ungeheuer emotionales Potential zu mobilisieren, wie es die antifaschistische Literatur sonst nur selten erreicht. Gegen diejenigen aber, die Hitler einen waidwunden Humanismus, nur Gefühle und hilflose Empörung entgegenzusetzen hatte, wendete er sich, etwa in der berühmten Rede auf dem 1. Internationalen Kongreß zur Verteidigung der Kultur in Paris, (41) deren Schlußsatz hier als Kapitelüberschrift dient:

"Viele von uns Schriftstellern, welche die Greuel des Faschismus erfahren und darüber entsetzt sind, haben diese Lehre noch nicht verstanden, haben die Wurzel der Roheit, die sie entsetzt, noch nicht entdeckt. Es besteht immerfort bei ihnen die Gefahr, daß sie die Grausamkeiten des Faschismus als unnötige Grausamkeiten betrachten. Sie halten an den Eigentumsverhältnissen fest, weil sie glauben, daß zu ihrer Verteidigung die Grausamkeiten des Faschismus nicht nötig sind.
Aber zur Aufrechterhaltung der herrschenden Eigentumsverhältnisse sind diese Grausamkeiten nötig. Damit lügen die Faschisten nicht, damit sagen sie die Wahrheit.
Diejenigen unserer Freunde, welche über die Grausamkeiten des Faschismus ebenso entsetzt sind wie wir, aber die Eigentumsverhältnisse aufrechterhalten wollen oder gegen ihre Aufrechterhaltung sich gleichgültig verhalten, können den Kampf gegen die so sehr überhand nehmende Barbarei nicht kräftig und nicht lang genug führen, weil sie nicht die gesellschaftlichen Zustände angeben und herbeiführen helfen können, in denen die Barbarei überflüssig wäre."(18/245 f)

Auch in der, für die illegale Verbreitung in Deutschland bestimmten Schrift "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" betont Brecht:

Außer der Gesinnung sind erwerbbare Kenntnisse nötig und erlernbare Methoden. Nötig ist für alle Schreibenden in dieser Zeit der Verwicklungen und der großen Veränderungen eine Kenntnis der materialistischen Dialektik, der Ökonomie und der Geschichte." (18/225)

Auf humorvolle Art variieren Ziffel und Kalle den gleichen Gedanken in den Flüchtlingsgesprächen:

Die beste Schul für Dialektik ist die Emigration: Die schärfsten Dialektiker sind die Flüchtlinge. Sie sind Flüchtlinge infolge von Veränderungen und sie studieren nichts als Veränderungen. Aus den kleinsten Anzeichen schließen sie auf die größten Vorkommnisse, d.h. wenn sie Verstand haben. Wenn ihre Gegner siegen, rechnen sie aus wieviel der Sieg gekostet hat, und für Widersprüche haben sie ein feines Auge. Die Dialektik, sie lebe hoch.(14/1462)

Brechts (Arbeits)journale, in Dänemark begonnen, und über Schweden, Finnland, und die USA fortgesetzt, weitergeführt auf dem Weg zurück nach Europa in die Schweiz und schließlich nach Ostberlin müßten einmal für ein "Lesebuch der Zeitgeschichte" ausgewertet werden. In diesen oft nur wenige Sätze umfassenden Einschätzungen und Analysen der Tagesereignisse ist der "eingreifend Denkende", der Dialektiker Brecht unablässig dabei, die Lektionen historischer Dialektik zu lernen; ich greife nur einige, besonders signifikante Stellen heraus:

7.10.38 der untergang der tschechoslowakei ist, in der prozedur, bemerkenswert. man spricht z.b. jetzt immer noch von ihr, als sei es dieselbe, und einige ihrer handlungen überraschen daher. man hat begriffen, daß sie deutschland gegenüber etwas preisgeben mußte, aber jetzt gibt sie mehr preis, eigentlich alles allen gegenüber. und die juden und emigranten dazu.
man vergißt, daß durch die niederlage andere klassenkräfte ans ruder gekommen sind, so ist der staat eine völlig andere rechtsperson geworden, man darf nicht mehr von tschechoslowakei reden! und der ausgangspunkt? ‘england’ konnte nicht einen krieg führen, den der russische bundesgenosse gewonnen hätte. der russische bundesgenosse konnte nicht einen krieg führen, den die russischen generäle gewonnen hätten. frankreich konnte nicht einen krieg führen, den die volksfront gewonnen hätte, und keiner von ihnen konnte einen krieg verlieren, natürlich. (42)

(Zur Situation nach dem Münchner Abkommen, in dem Chamberlain und Daladier mit der Preisgabe der Tschechoslowakei Europa den Frieden zu retten versicherten; ein Jahr darauf brach der 2. Weltkrieg aus.)

19. 2. 39:… nun besteht tatsächlich ein furcht vor dem krieg in deutschland, aber das ist für das regime doch nur eine psychische erscheinung ohne fundierung, durch propaganda zu überwinden. es hat da gute gründe und trümpfe in der hand … und die arbeiterschaft? sie hat viel geschluckt für die beseitigung der arbeitslosigkeit. kein krieg bedeutet arbeitslosigkeit, wird das regime sagen (mit recht). was dem regime, das sehe ich immer mehr als alter erforscher des tuismus diesen anschein der intelligenz verleiht, ist der umstand, daß es konsequenter spätkapitalismus ist, indem es pariert, macht es konsequente politik, daher die "nacht-wandlerische sicherheit", die kritik hitlers an der sozialdemokratie und dem frankfurtismus (in seiner letzten rede) ist ausgezeichnet. ohne die produktion zu verändern, wollten die dummköpfe die konstitution verändern! dann bauten sie eine riesige rationalisierte industrie auf in einem politisch entmachteten land und treiben friedenspolitik! und hitler ist nur konsequent: die grenzen, welche von den waren nicht überschritten werden könne, werden von den tanks überschritten. welches auch waren sind (sowie die zu bedienenden arbeitskräfte). die tuis sind verstört. (43)

Es hätte keinen Sinn, hier auch nur eine halbwegs erschöpfende Auswahl von Brechts konkreten Faschismusanalysen: immer konkret an einzelnen Punkten ansetzend, geben zu wollen.

Ich habe gleich vom Beginn des Arbeitsjournals – die "erstbesten" Stellen exemplarisch dafür angeführt, von welcher Präzision und für heute bestürzenden Aktualität diese Kommentare Brechts sind.

Ich überhöre einstweilen, daß im letzten Zitat schon das Stichwort TUIsmus gefallen ist, das zum nächsten Abschnitt überleiten könnte und will doch noch versuchen, die wichtigsten Punkte der Brechtschen Faschismuskritik, thematisch auf Produktivität bezogen, zusammenzufassen:

  1. Brecht geht davon aus – hier in völliger Übereinstimmung mit der marxistischen Orthodoxie – daß die kapitalistische Produktionsweise in ihrer monopolistischen Phase die Produktivkräfte nicht mehr freisetzt, sondern immer mehr fesselt. Symptom der umfassenden Krise: der Zusammenbruch aller kapitalistischen Ökonomien nach dem Börsenkrach von 1929, die "Weltwirtschaftskrise", von der neben den USA besonders Deutschland betroffen, da die Kriegsgründe von 1914 nicht beseitigt, sondern durch den Frieden von Versailles verschärft, die deutsche Industrie imperialistische Lösungen anstreben muß: in den Grenzen der Legalität der Weimarer Republik konnten keine neuen Märkte erschlossen, damit auch nicht die Ursachen der Krise beseitigt werden. Im Unterschied von den USA gab es in Deutschland eine starke organisierte Arbeiterbewegung, die stärkste Sozialdemokratie der Welt und die stärkste kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion, es drohte also akut eine revolutionäre Lösung der Krise:

    "die arbeiterschaft war in der frage, beibehaltung oder beseitigung der kapitalismus gespalten, jedoch ziemlich einig in ihrer gegnerschaft gegen den krieg. was die argumentation gegen den krieg angeht, stand sie bei der SPD ökonomisch auf schwachen füßen (arbeitslosigkeit in weltkrise, die auf der kapitalistischen basis ohne krieg kaum zu beheben war). Sie mußte aber doch gewaltsam zum schweigen gebracht werden. und so verwandelte sich die demokratie – unter ausnutzung ihres formalistischen charakters nahezu legal – in die nationalsozialistische volksgemeinschaft." (44)

  2. Der Faschismus bedeutete in Brechts Sicht zunächst ein Beiseiteräumen der politischen Hindernisse für den deutschen Imperialismus, die nicht erreichten Kriegsziele von 1914, die Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten von neuem zu erreichen. Er stellte eine "vorbeugende Konterrevolution" dar, wobei durch die Beseitigung aller sozialen Errungenschaften der Gewerkschafts- und politischen Arbeiterbewegung die Senkung des Reallohnniveaus erreicht wurde, die der deutschen Industrie Profitmaximierung und damit ökonomische Vorteile vor anderen imperialismen sicherte.
  3. Brecht sah den durchaus radikalen, umwälzenden Charakter dieser Bewegung deutlich. Einerseits hatte Deutschland (wie Italien) eine verspätete bürgerliche Entwicklung und steckengebliebene bürgerliche Revolutionen (1848, 1918) hinter sich, dem deutschen Bürgertum steckte aber schon die Angst vor der proletarischen Revolution in den Knochen (1919: Berlin, Bayern, Kiel. 1923: Thüringen, Sachsen, Hamburg):

    in gewissem sinn haben die nazis ein recht, ihre leistungen eine revolution zu nennen. das deutsche bürgertum vollzieht da seine revolution in form eines versuchs der welteroberung. es emanzipierte sich sofort als sklaventreiber und meldete sich zur stelle – als räuber. im grund konnte es allerdings auch jetzt noch seinen adel nicht erledigen, und so begann es sogleich seinen raubkrieg, übersprang seinen robespierre, unterwarf sich sogleich seinem napoleon (der danach ist, ein fötus-napoleon!) Daher diese eiserne misere, diese minutiös geplanten amokläufe, dieses schwabinger potsdam.(45)

  4. Dabei plagiierte die Konterrevolution des Kleinbürgertums nicht nur äußerlich die proletarische Revolution (so wurden etliche Lieder der Arbeiterbewegung "umgedichtet", in den Dienst der Braunen Bewegung gestellt, selbst Eisler-Vertonungen waren darunter; Eisler "revanchierte" sich mit dem Kälbermarsch, die Melodie des Horst Wesselliedes, einer alten Moritat, variierend), sondern auch die Form staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft: Vierjahrespläne, dirigistische Maßnahmen, Geld- und Kreditpolitik, damit weitgehende Kontrolle des Außenhandels wurden nach sowjetischem Muster imitiert, wenn auch halbherzig und im Interesse der stärksten Kapitalfraktion und ohne ihre Eigentumsinteressen anzutasten. Im Me-ti zitiert Brecht Mie-en leh (Lenin), der immerfort auf die Radikalität und umstürzlerische Kühnheit der Herrschenden hingewiesen habe:

    "Seht euch an", sagte er, "was für Risiken sie eingehen, wie sie alle Konventionen sprengen und ihre eigenen Heiligtümer preisgeben, wie sie sich selbst nicht schonen, wenn es gilt, durch Opfer Vorteile zu erkaufen oder Nachteile zu begrenzen …"(12/515)

    Leider hat Hitler den daran anschließenden Rat Lenins: "Lernt von ihnen, wie man herrscht" weit besser befolgt als etwa die KPD, die ohne den Versuch organisierten Widerstands bei der Machtergreifung zusammenbrach und trotz des riesigen Blutzolls in den zwölf Jahren des Dritten Reichs nie einen das Regime gefährdenden Widerstand aufbauen konnte; unter anderem gerade deswegen, weil es dem Regime gelang, mit seinen scheinrevolutionären Maßnahmen und Lösungen weite Teile der Arbeiterschaft zumindest zu neutralisieren, zum Teil auch durch die langjährige Vernachlässigung der nationalen Frage in der Zeit der Weimarer Republik (der Kampf gegen Versailles wurde entweder den Rechten überlassen oder mit den gleichen Argumenten geführt).

  5. Am Ende seines Kunstwerkaufsatzes spricht Benjamin davon, daß "der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarischen Massen zu organisieren ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindringen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. (46) " Und er erläutert diesen Vorgang mit dem Hinweis auf den Propagandaapparat (etwa der Wochenschau), den ich schon erwähnt habe:

    Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen. In den großen Festaufzügen, den Monsterversammlungen, in den Massenveranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht. (47)

    Daß auch die meisten dieser Formen des "Massenausdrucks" von der Arbeiterbewegung bzw. durch die Oktoberrevolution entwickelt und von Hitler "umfunktioniert" wurden, bedarf keiner ins Detail gehenden Erörterung. Ich verweise nur auf die großen sowjetischen Filme, oder auch auf den letzten Teil von "Kuhle Wampe", dem Film, an dem auch Brecht mitarbeitete, dessen Schlußteil mit einem Arbeitersportfest aus der Distanz betrachtet, einige verwandte Züge mit Leni Riefenstahls Olympiadefilmen aufweist (was aber nicht Brecht, Ottwald, Eisler oder Dudow anzukreiden ist).

  6. Es gelang aber dem Faschismus nicht nur die Ankurbelung der Wirtschaft zu destruktiven Zwecken (Rüstung, Kriegsvorbereitung) als Entfaltung von Produktivkräften (großes Aufbauwerk, Autobahnbau, Volkswagenidee) darzustellen, sondern auch mit der Beseitigung der Arbeitslosigkeit – wenn auch mit einer Lohnkürzung von durchschnittlich einem Drittel gegenüber 1927(48) den Eindruck der Entfaltung individueller Produktivität nicht nur illusionär zu wecken. (Um bei einem Bild von Brecht – dem Flieger Sun aus dem "Guten Menschen" – zu bleiben, für den jungen Arbeitslosen, der plötzlich Flieger werden kann, ist die Faszination einer Jagdstaffel mindestens so groß wie das Postflugzeug für Sun).

    Gerade das verborgene Ziel des Ganzen, die Kriegsvorbereitung, wurde propagandistisch verdeckt, und als der Krieg "ausbrach" bedurfte diese Maschinerie nicht mehr wie noch 1914 einer "Kriegsbegeisterung", der "Destruktionsprozeß" funktionierte ebenso arbeitsteilig planmäßig, wie sonst der "Produktionsprozeß":

    die ‘hohe moral’ der deutschen truppen macht vielen braven antifaschisten enormes kopfzerbrechen. sie haben in den parlamentarischen regierungsformen nie die elemente der gewalt entdeckt. die parlamente repräsentierten den consensus des volkes. jetzt ist der parlamentarische apparat zertrümmert, und hervor tritt die ‘nackte’ (aller verhüllung entkleidete) gewalt. sie erkennen diese nudidität nicht wieder … für die unteren volksschichten scheint die versklavung durch die nazis nur eine relative zu sein, d.h. das mehr übt keine wirklichen einfluß auf das verhalten dieser schichten aus, wenigstens solang nicht, als nicht gerade dieses mehr das gesamte system der sklaverei anfällig macht." (49)

    für den modernen krieg ist auch haß gar nicht besonders nötig. er schadet dem krieg nichts und er nützt ihm nichts. auch die arbeiter einer fabrik müssen nicht die arbeit lieben, es ist unnötig. – ich biete … diese formel an: faschismus ist eine regierungsform, durch welche ein volk so unterjocht werden kann, daß es dazu zu mißbrauchen ist, andere völker zu unterjochen. (50)

Brecht hat mit der Analyse solche Züge (die ich hier nur sehr bruchstückhaft kompiliere) das Gesicht des Faschismus deutlicher gezeichnet, mehr über Funktionszusammenhänge und bis in die Gegenwart reichende Strukturen dechiffriert und bloßgelegt, als fast alles, was mir in der Flut der Faschismusanalysen oder im hilflosen Antifaschismus des "Niemals vergessen!" begegnet ist.

Gerade weil Brecht im Nationalsozialismus kein isoliertes Phänomen erblickt, sondern im Faschismus "die feinste blüte, die der kapitalismus hervorgebracht hat, das, bisher letzte wort, die gereinigte, verbesserte ausgabe, die alles enthält und neues dazu",(51) kann er unter diesem Gesichtspunkt nicht nur tiefere Einsichten etwa auch über den Stalinismus gewinnen – als sie die oberflächliche Gleichsetzung zweier Totalitarismen hergibt:

"die umwandlung des berufsrevolutionärs (stalin) in den bürokraten, einer ganzen revolutionären partei in einen beamtenkörper gewinnt durch das auftreten des faschismus tatsächlich eine neue beleuchtung. das deutsche kleinbürgertum borgt sich für seinen versuch, einen staatskapitalismus zu schaffen, gewisse institutionen (samt ideologischem material) vom russischen proletariat, das versucht, einen staatssozialismus zu schaffen. im faschismus erblickt der sozialismus sein verzerrtes spiegelbild. mit keiner seiner tugenden, aber allen seinen lastern." (52)

– und nach dem Krieg auch die Art der "Entnazifizierung" kritisieren:

der nationalsozialismus muß betrachtet werden als der sozialismus der kleinbürger, eine verkrüppelte, neurasthenische, pervertierte volksbewegung, die für das tiefer unten geforderte einen der herrschenden klasse nicht unliebsamen ersatz lieferte oder zu liefern versprach. die scheinsozialistischen ansätze müssen also mit dem echten artikel verglichen werden, nicht mit der "demokratie" … die jugend war bis ins proletariat hinein, wie es scheint, gefangen durch jene sozialistischen züge, welche bei unternehmungen wie dem krieg allein durch das allgemeine ziel, den wegfall der ökonomischen freiheit usw. mächtig in die fantasie eingehen. (53)

Brecht bezieht in seine Faschismuskritik auch noch die Kritik an den amerikanischen Verhältnissen, an der Würdelosigkeit und Kulturlosigkeit eines völlig vom Tauschwert beherrschten Lebens mit ein, auch wenn er in Amerika den Faschismus nur als potentielle Drohung im Sinne einer Herrschaft der Finanzkapitaloligarchie, wie sie von Jack London in dem Roman: "Die eiserne Ferse" entworfen wurde, vor Augen hatte.

bemerkenswert, wie hier eine alles depravierende billige hübschheit einen hindert, halbwegs kultiviert, d.h. würdig zu leben … hier kommt man sich vor wie franz von assisi im aquarium, lenin im prater (oder oktoberfest) eine chrysantheme im bergwerk oder eine wurst im treibhaus .. man könnte dramen schreiben, wenn es selber keine hätte, aber es hat das alles, im nichtigsten zustand. der merkantilismus erzeugt alles, nur eben in warenform und hier schämt sich der gebrauchswert, nicht der tauschwert in der kunst.(54)

hier lyrik zu schreiben, selbst aktuelle, bedeutet, sich in den elfenbeinturm zurückzuziehen, es ist als betreibe man goldschmiedekunst. das hat etwas schrulliges, kautzhaftes, borniertes. solche lyrik ist flaschenpost. die schlacht um smolensk geht auch um die lyrik.(55)

und tag und nacht tobt auf den schneefeldern von smolensk der kampf um die würde des menschen.(56)

Wie der Stückeschreiber Brecht reagierte, wie er seine Faschismuskritik auf die Bühne brachte, habe ich weitgehend ausgespart und soll hier auch nicht im einzelnen erörtert werden. Aber einige Anmerkungen scheinen mir notwendig.

Man hat Brecht bisweilen vorgeworfen, seine "marxistischen Scheuklappen" hätten ihn daran gehindert, das qualitativ Neue, mit dem Instrumentarium marxistischer Gesellschaftsanalyse nur unzureichend beschreibbare der faschistischen Greuel, adäquat zu erfassen und darzustellen.

Sein "Greuelmärchen": "Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und reich gesellt sich gern" nach Shakespeares Komödie "Maß für Maß" verharmlose die Judenverfolgungen, zeige sich in der Parabel als bloßes ideologisches Täuschungsmanöver der Herrschenden, so als sei es den Nazis nicht blutiger Ernst bis zur Endlösung Himmlers gewesen.

Brechts Gaunerkomödie "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui", die Übertragung von Hitlers Werdegang im Chicagoer Gangstermilieu eines Al Capone sei ein ebenso mißglückter Versuch geblieben, den Faschismus zu zeichnen wie der etwa gleichzeitig entstandene Film von Charlie Chaplin: "Der große Diktator". In beiden Fällen mit humoristischen oder satirischen – jedenfalls untauglichen Mitteln – versucht, welthistorische Vorgänge zu verkleinern und dadurch der Lächerlichkeit preiszugeben, deren Schreckensmaß jede Vorstellung überschreitet. Dadurch bleibe dem Zuschauer das Lachen im Hals stecken, aber das Resultat sei peinlich angesichts der Millionen Opfer.

Schließlich sei auch der Versuch, Jaroslav Hašeks Roman "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" zu aktualisieren, als gescheitert anzusehen, weil Brecht auch hier die neue Dimension des Terrors im totalitären NS-Regime verkannt hätte, daß die Übertragung dieser im vergleichsweise gemütlichen Kakanien des Ersten Weltkriegs angesiedelten Figur in den "Schwejk im Zweiten Weltkrieg" fehlschlagen mußte.

Solche hier nur annäherungsweise zusammengefaßte kritische Stimmen fanden und finden sich immer wieder in der Brecht-Literatur. Diesen Vorwürfen detailliert zu begegnen, muß jeweils eigenen Untersuchungen vorbehalten bleiben. (So hat etwa Jan Knopf bereits nachgewiesen, daß die Fabel des Arturo Ui direkt auf der Biographie Al Capones basiert und keineswegs nur als Gangsterkostüm von Hitlers Werdegang fungiert, sondern daß Brecht hier eine echte Parallele herausgearbeitet hat.(57) Eine Untersuchung zum Thema der Auseinandersetzung Brechts mit dem Faschismus am Theater müßte aber, was meines Wissens bisher noch nicht versucht wurde, auch die hier skizzierte umfassende theoretische Faschismuskritik Brechts mit einbeziehen; andernfalls käme nur heraus, daß Brechts Stücke eben nicht mit bestimmten von ihm zum Teil bekämpften Faschismustheorien übereinstimmten, die oft stillschweigend die Voraussetzung der oben erwähnten Einwände bilden.

Daß Brecht sich immer dagegen gewehrt hatte, im Faschismus einen unerklärlichen, schicksalhaften Ausbruch der Barbarei mitten in der Kultur des Abendlands zu sehen, oder ein völkerpsychologisches Rätsel, dem psychotherapeutisch durch Aufdeckung und Beschreibung des "autoritären Charakters" beizukommen wäre, ist, hoffe ich, hinlänglich deutlich geworden.(58)

Entscheidend aber für eine Beurteilung dieser genannten Stücke Brechts wird letztlich nur sein können, welcher aktuelle Gebrauchswert, sei es den theoretischen Analysen, sei es den poetischen Parabeln, heute abzugewinnen ist.

 

2. Kopflanger und Weißwäscher (TUI-Kritik)

Ka-Meh lehrte, daß man, um die Idee der Menschen zu verstehen, die Geschichte ihrer Produktion des zum Leben Notwendigen studieren muß. Wenn man, um zu erkennen, was die Kopfarbeiter unserer Zeit unter Freiheit verstehen, die Geschichte der Produktion des zum Leben Notwendigen studiert, so findet man, daß die Schicht, mit der unsere Kopfarbeiter verbunden sind, eine Freiheit anstrebte, welche Freiheit des Wettbewerbs war. Das war eine ganz bestimmte Freiheit. Auch der Wettbewerb war ein bestimmter Wettbewerb, unähnlich anderer Formen von Wettbewerb, welche die Welt schon gesehen hatte. Es war nämlich der Wettbewerb im Verkauf von Waren. Die Waren, welche die Kopfarbeiter zu verkaufen hatten, waren Meinungen und Kenntnisse. Die Freiheit, welche sie anstreben, ist die Freiheit des Wettbewerbs beim Verkaufen von Meinungen und Kenntnissen. Dies klingt nicht schön; aber daß es nicht schön klingt, beweist nur, daß zu unserer Zeit die Produktion des zum Leben Notwendigen in der Form des freien Wettbewerbs beim Verkauf von Waren nicht mehr gut funktioniert…(59)

Wenn von Brechts TUI-Kritik die Rede ist, denkt man zunächst an die unter dem Titel "Der TUI-Roman" publizierten Fragmente aus dem Nachlaß, in denen sich die bündigste Definition dieses vorerst seltsam chinesisch klingenden Ausdrucks findet: "Der TUI ist der intellektuelle dieser zeit der Märkte und der Waren. Der Vermieter des Intellekts.(12/611) Wie auch die "etymologische Erklärung" dieses Kunstwortes selbst: "TUIs wurden in China, mit einer Zusammenziehung der Anfangsbuchstaben, die Angehörigen der Kaste der Tellekt-Uell-Ins, der Kopfarbeiter, genannt."(12/626)

Diese Fragmente bilden aber, selbst wenn man das letzte von Brecht 1954 im Manuskript fertiggestellte Stück: "Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher" mit einbezieht, nur einen kleinen Teil seiner Beschäftigung mit der Problematik der Intellektuellen in der heutigen Gesellschaft.

Wie ein roter Faden durchzieht dieses Thema Brechts gesamten Werk auch als eine quasi autobiographische Komponente, als soziologisch objektivierte Selbstdarstellung. Wie mit der Kategorie des Staunens am Ursprung des Verfremdungsbegriffs greift Brecht hier die am Anfang der Philosophie bei den Griechen stehende Forderung des "gnoti se auton", des "Erkenne dich selbst" – gesellschaftlich gewendet auf. Denn Brecht erlaubte sich vom Beginn seiner literarischen Tätigkeit an, nur so weit sein Ich in seine Literatur einzubringen, als es bereits aus der empirischen Zufälligkeit des Biographischen und Psychologischen herausgelöst, in eine "Modellsituation" objektiviert wurde, in der "jeder Lernende bestimmt war, an die Stelle seines (Brechts) ‘Ich’ zu treten."(60)

Bereits im "Baal", der sicher am unverhülltesten autobiographische Züge trägt, gestaltet Brecht einen Typus, den "Asozialen", der sich "nicht gegen die Verwertung, aber gegen die Verwurstung seines Talents wehrt"(17/947) als Gegenentwurf zur expressionistischen Darstellung des einsamen Genies, des freischwebenden Künstlers.

Spätestens aber seit der Zuwendung zum Marxismus war für Brecht die Auseinandersetzung mit der Rolle und den Aufgaben der Intellektuellen, das Sich-Klarwerden über ihre Klassenlage und ihre Möglichkeiten, selbst in die vor sich gehenden Auseinandersetzungen und Kämpfe einzugreifen ein zentrales Motiv, der Punkt, an dem er versuchte, aus den Lehren der Klassiker Hinweise für das Verhalten des Einzelnen, und das hieß auch, für ihn, für einen Intellektuellen, zu gewinnen. Als Brechts Kampf gegen "folgenloses Denken", als Versuche "zu einem besseren Denken zu kommen", als Forderung nach "eingreifendem Denken" ist uns im Laufe der Untersuchung diese Thematik immer wieder begegnet.

In den Jahren der revolutionären Hoffnungen Brechts gegen Ende der Weimarer Republik finden sich in den "Marxistischen Studien", die Brecht gemeinsam mit Karl Korsch, Fritz Sternberg u.a. betrieb, immer wieder Überlegungen zur Möglichkeit der Mobilisierung der linken Intellektuellen in ihrem speziellen Tätigkeitsbereich, wandte sich Brecht gegen die Tendenz, als Intellektueller im Proletariat aufgehen zu wollen, selbst Proletarier werden zu wollen, eine Tendenz, die jüngst wieder im Gefolge der Studentenbewegung nach 1968 aufgetreten ist:

"(Die Intellektuellen) unternehmen häufig den Versuch, sich dem Proletariat zu verschmelzen und gerade dies beweist nicht, daß es verschiedene Intellektuelle gibt, zweierlei Intellektuelle, solche die proletarisch und solche, die bourgeois sind, sondern, daß es nur eine Sorte von ihnen gibt, denn haben sie nicht früher immer versucht, sich der herrschenden Klasse zu verschmelzen? War dies nicht der Grund, warum der Intellekt seinen Warencharakter annahm?" (20/552 f)

Solche quasi-religiösen, eben nur weltanschaulich motivierten Versuche schienen für Brecht nicht nur von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein, sie stellten geradezu exemplarisch das für Intellektuelle typische "ideologische Bewußtsein" dar, wie es von den Klassikern der Großen Methode beschrieben und kritisiert wurde:

Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. Er imaginiert sich also falsche respektive scheinbare Triebkräfte. Weil es ein Denkprozeß ist, leitet er seinen Inhalt wie seine Form aus dem reinen Denken ab, entweder aus dem eigenen oder aus dem seiner Vorgänger. Er arbeitet mit bloßem Gedankenmaterial, das er unbesehen als durchs Denken erzeugt hinnimmt und sonst nicht weiter auf einen entfernteren, vom Denken unabhängigen Ursprung untersucht, und zwar ist ihm dies selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durchs Denken vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint.(61)

Aus moralischen Gründen – des Mitleids mit den Erniedrigten und Beleidigten – seine eigene gesellschaftliche Herkunft, die Privilegien seiner Klasse bei der Ausbildung intellektueller Fähigkeiten verleugnen zu wollen, stellte für Brecht nur einen Idealismus mit umgekehrten Vorzeichen dar, der eben aus der Trennung des Denkens vom Handeln, von seiner Praxis erzeugt wird:

Viele, die sich für Materialisten halten, sprechen von Idealismus und Materialismus wie Idealisten; dies geschieht sofort, wenn man darunter etwas anderes versteht als Verhaltensarten, denn etwas anderes zu verstehen ist Idealismus.(62)

Aus der durch ständige Beobachtung des Verhaltens vieler Intellektueller in seiner Umgebung am Ende der Weimarer Republik gewonnenen Erfahrung und zusätzlich durch die Erfahrungen des Exils, nachdem ihn die Machtübernahme Hitlers aus Deutschland vertrieben hatte, entstand schließlich Brechts Plan des TUI-Romans, der wie Benjamin referiert, bestimmt war, "einen enzyklopädischen Überblick über die Torheiten der Tellekt-uell-ins (der Intellektuellen) zu geben. (63)

Dieses Projekt stand bereits zu Beginn im Umkreis anderer Arbeiten, die der gleichen Problematik gewidmet waren, so den "Geschichten des Herrn Keuner", die aus der Lehrstückarbeit als "Nebenprodukt" sich verselbständigten, und ihrerseits wieder sowohl mit dem Me-ti-Komplex zusammenhängen und andererseits in den frühen Stadien der Bearbeitung des Galileistoffes Spuren hinterlassen haben ("Maßnahmen gegen die Gewalt"). Wie Benjamin überliefert, reicht sogar der erst am Ende des amerikanischen Exils realisierte Plan eines theoretischen Lehrgedichts im Stil des Lukrez ("Über die Natur des Menschen") zurück bis in die frühen dreißiger Jahre.(64)

Auch dieses Projekt, mit der Versfassung des Kommunistischen Manifests im Zentrum, von der einige Bruchstücke existieren, ist unvollendet geblieben.

Es ist auffallend und sicherlich kein Zufall, daß fast alle Arbeiten Brechts, die sich zentral mit der Intellektuellenfrage beschäftigen, entweder als Rohfassungen in der Schreibtischlade versteckt blieben (wie die Flüchtlingsgespräche), oder sich nur als Fragmente und Torsi im Nachlaß fanden

("ich habe den caesarroman nicht beenden können, den tuiroman nicht einmal beginnen, der messingkauf liegt in unordnung",

vertraut Brecht seinem Arbeitsjournal noch in Hollywood an, mit "Story entwerfen für pictures" seine Zeit vergeudend")(65)

Was Brecht selbst noch veröffentlichte, ließ mit Ausnahme des Galilei kaum ahnen, wie sehr ihn diese Fragestellung perennierend beschäftigte, auf welche unauslotbare Zweifel sich sein aufklärerisches Vertrauen in die Vernunft letztlich aufbaute. In den "Kalendergeschichten", deren Struktur und Aufbau hier nicht näher untersucht werden kann, sind formal den alten Heiligenlegenden vergleichbare, inhaltlich den großen Stücken zugeordnete Geschichten, als Pendant und Kommentar verwendbar, zusammengestellt, die exemplarisch richtiges, eingreifendes, Handeln ermöglichendes Denken vorführen.

An den Ahnherrn und Heroen neuzeitlicher Wissenschaft Giordano Bruno und Francis Bacon (dazu kommt Sokrates, für Brecht wie für Nietzsche der erste moderne Denker, der methodische Mäeutiker) wird nicht die arbeitsteilig organisierte, in ihrer Spezialisierung betriebsblinde, und für die Zwecke der Herrschenden geschickte Wissenschaft der TUIs von heute thematisiert. Vielmehr ist Thema die Wissenschaft im Aufgang, in der Morgenröte des Zeitalters der Vernunft der jungen bürgerlichen Gesellschaft und Brechts Geschichten vermitteln eine konkrete Ahnung vom Ziel dieser neuen Wissenschaft: die Erde für die Menschen bewohnbar zu machen.

Im Focus scheinbar nebensächlicher, in offiziellen Biographien unter den Tisch fallenden Ereignissen abseits von den großen, den Ruhm dieser Protagonisten einer neuen Vernunft begründenden Taten, thematisiert Brecht den Zusammenhang von Wissenschaft und Moral, das Einnehmen der neuen wissenschaftlichen Haltung und deren Einfluß auf das Alltagshandeln, auf die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Es scheint, als hätte sich Brecht gescheut, in Zeiten, in denen ein lautstark verkündeter Irrationalismus Triumphe feierte, in denen das Vertrauen in die Vernunft weithin in Verruf gekommen war, seine grundsätzliche Kritik an den Intellektuellen von heute deutlicher publik zu machen. Exemplarisch läßt sich dies an der Behandlung "des großen Bacon" durch Brecht in der Erzählung "Das Experiment" zeigen, deren Held nicht eigentlich der wegen Bestechlichkeit verurteilte und in Hausarrest auf seinem Gut lebende, ehemalige Lordkanzler Francis Bacon, sondern ein in seinem Dienst stehender junger Stallknecht ist, den der mit naturwissenschaftlichen Studien beschäftigte Philosoph in der Kunst der wissenschaftlichen Beobachtung unterweist:

"Die wissenschaftliche Bedeutung der Denkweise des großen Bacon erfaßte der Junge kaum, aber die offenbare Nützlichkeit aller dieser Unternehmungen begeisterte ihn."

Er verstand den Philosophen so:

"Eine neue Zeit war für die Welt angebrochen. Die Menschheit vermehrte ihr Wissen beinahe täglich. Und alles Wissen galt der Steigerung des Wohlbefindens und des irdischen Glücks. Die Führung hatte die Wissenschaft. Die Wissenschaft durchforschte das Universum, alles, was es auf Erden gab, Pflanzen, Tiere, Boden, Wasser, Luft, damit mehr Nutzen daraus gezogen werden konnte. Nicht, was man glaubte, war wichtig, sondern was man wußte. Man glaubte viel zuviel und wußte viel zuwenig. Darum mußte man alles ausprobieren, selber, mit den Händen, und nur von dem sprechen, was man mit eigenen Augen sah und was irgendeinen Nutzen haben konnte. Das war die neue Lehre." (66)

Auch im TUI-Roman spielt Francis Bacon eine Rolle. In der Sekretärschule der TUIs befindet sich in der Aula sein Standbild.

Der berühmteste, ein Philosoph, saß, das Haupt sinnend in die Hand gestützt (Anspielung auf den "Denker" von Rodin). ‘Er denkt darüber nach’, spöttelte der Käsehäutige, ‘ob er nicht doch noch irgendwo eine Bestechungssumme herausholen könnte.’ Er hatte seinen Freund und Protektor verraten und als Kronanwalt dem Scharfrichter übergeben. Dafür war er vom König mit außerordentlichen Stellen belohnt worden. Aber das Parlament hatte gegen Ende seines Lebens ihn der Bestechbarkeit überführt, und nur weil er vom König zuviel wußte, war er von diesem begnadigt worden. Von diesem Mann stammte das Motto ’Wissen ist Macht’ über der Schulpforte. (67)

Diese, auch in der Erzählung erwähnten biographischen Tatsachen aus dem Leben des großen Bacon gewinnen im TUI-Roman einen ganz anderen Stellenwert. Hält in der Erzählung der Hinweis der Großmutter des Jungen, bei seiner Lordschaft handle es sich um "einen schlechten Menschen", den Jungen keineswegs davon ab, von der Nützlichkeit des neuen Denkens angesteckt zu werden, so wird, wie Brecht meint, am Ende einer dreihundertjährigen Entwicklung dieses Denkens, gegen Ende des bürgerlichen Zeitalters, die Frage aktuell, ob zwischen der neuen Denkweise und der Bestechlichkeit ihres Begründers nicht ein tieferer, verderblicherer Zusammenhang bestehe, der erst in unserer Zeit völlig durchsichtig zu werden beginnt. Die Korrumpierung des Geistes, der offen zutage tretende Warencharakter des TUI-Denkens wird sowohl im TUI-Roman wie im Stück "Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher" satirisch aufs Korn genommen:

… Ihre Meinung soll ja wunderbar gehen, Herr Yen?
… Ja, ich habe ein Abzahlungssystem eingeführt. Wissen Sie, wie ich darauf gekommen bin? Die Frau einer meiner Klienten wollte durchaus eine Nähmaschine haben. Er konsultierte mich betreffs einer Ausrede. Sie sagte, sie bekäme die Nähmaschine auf Abzahlung und er fragte, ob er nicht auch die Ausrede auf Abzahlung bekommen könnte. Die Nähmaschine wäre ihm sonst billiger gekommen!
… Ich verkaufe keine Meinungen von der Stange, Meinungen die für jedermann tragbar sind, ich verkaufe nur Modellmeinungen. Meine Kunden wünschen nicht eine Meinung zu äußern, welche von anderen Leuten auch geäußert wird.(68)

In die endgültige Fassung des Stücks hat Brecht schließlich folgende Szene aufgenommen:

Gasse. TUIs auf dem Strich. Sen und Eh Feh. Der zerlumpte TUI, der aus dem Teehaus gewiesen wurde, spricht Sen an.
TUI: Eine Meinung über die politische Lage gefällig, Alter?
Sen: Ich brauche keine. Entschuldigen Sie.
TUI: Es kostet nur drei Yen und geht im Stehen, Alter.
Sen: Wie kannst du mich ansprechen, mit dem Kind dabei!
TUI: Sei nicht so zimperlich. Eine Meinung haben, ist ein natürliches Bedürfnis.
Sen: Wenn du nicht gehst, rufe ich die Polizei. Schämst du dich nicht? Was machst du aus dem Denken? Das ist das Edelste, was der Mensch tun kann und du machst es zu einem schmutzigen Geschäft.
Er verscheucht ihn.
TUI: (weglaufend) Dreckiger Spießer!
Eh Feh: Laß ihn, Großvater, vielleicht ist er zu arm.
Sen: Das entschuldigt beinahe alles, aber nicht das.(5/2217)

In dieser Szene ist die völlige Depravierung des Geistes dargestellt. Die Satire enthüllt hier nur die realen Verhältnisse, unter denen die Kopfarbeiter im Kapitalismus produzieren. Nach knapp einem Jahr Amerikaaufenthalt notiert Brecht in seinem Arbeitsjournal:

Dieses land zerschlägt mir meinen TUI-roman. hier kann man den verkauf der meinungen nicht enthüllen. er geht nackt herum. die große komik, daß sie zu führen meinen und geführt werden, die donquichoterie des bewußtseins, das vermeint, das gesellschaftliche sein zu bestimmen – das galt wohl nur für europa. (69)

In den "Briefe(n) an einen erwachsenen Amerikaner" trägt Brecht aber weiteres, spezifisches Untersuchungsmaterial über TUIs in Amerika zusammen, präzisiert er auch die Differenzen zur Situation in Vorkriegseuropa:

"Die große Unsicherheit und Abhängigkeit pervertiert die Intellektuellen und macht sie oberflächlich ängstlich und zynisch. Dabei gehört es sozusagen zu ihrem Anstellungsvertrag, daß sie locker (easy going) zuversichtlich (cheerful) und zuverlässig (mentually balanced) erscheinen, was sie mit Pfeifenrauchen, Hände in die Hosentaschen stecken usw. bewerkstelligen. In der alten Welt gibt es immer noch die große Fiktion für die Intellektuellen, daß sie arbeiten für mehr als Entlohnung … sie werden "natürlich" entlohnt, aber das nur, weil sie leben müssen. Ihre Arbeit hat Wichtigkeit darüber hinaus. Riesige staatliche Institutionen geben sich zumindest den Anschein, unter keiner Kontrolle als der allgemeinen zu stehen: die Universitäten, Schulen, Kliniken, Administration. Hier aber sind die Universitäten offen kontrolliert von Geldleute n, auch die halbstaatlichen …"

Im weiteren berichtet Brecht über seine Studien der amerikanischen Umgangssprache…

ich versuche, die Bedeutung des Wortes ‘to sell’ (verkaufen) zu verstehen:
Wenn in einer Drogerie ein Mädchen jemandem ein belegtes Butterbrot verkauft, stellt sich das Wort gehorsam ein … Jedoch verkauft man hier jemandem auch eine Ansicht über Surrealismus, das heißt das Wort "verkaufen" bedeutet da, die Ansicht jemandem aufzureden. Es bedeutet eigentlich nur, in jemandem ein unwiderstehliches Bedürfnis nach etwas zu erzeugen, was man gerade wegzugeben hat … So sagt man auch, der Präsident habe die Aufgabe, dem Volk den Krieg zu verkaufen. Er hat es davon zu überzeugen, daß Krieg für es gut ist, ein Bedürfnis. Wie man hört, hat er damit Schwierigkeiten …"(70)

In der ursprünglichen Konzeption des TUI-Romans ging es Brecht darum, zu zeigen, daß mit der Entwicklung der Arbeitsteilung in der kapitalistischen Ökonomie, auch die Kopfarbeit, die Tätigkeit der Intellektuellen nicht nur quantitativ enorm zunahm, sondern eine qualitative Veränderung erfuhr, die Brecht mit der Inversion des Wortes Intellektueller in Tellekt-Uell-In – TUI, als Pervertierung des Denkens durch seine Verwandlung in Warenform kennzeichnete.

Er versuchte, zunächst mit Hilfe der Methoden marxistischer Klassenanalyse, die gesellschaftliche Rolle dieser Schicht zu analysieren. So heißt es über die gesellschaftliche Rolle der TUIs:

Denn diese Kaste überzog das Reich, wie die Knoten ein Fischernetz überzogen, das sie zusammenhalten. Es gab keinen Verwaltungsposten, der nicht von einem TUI besetzt war. Erzogen in großen und ausgezeichneten Schulen, die keine anderen neben sich duldeten, waren sie, ausgestattet mit dem gesamten Wissen und geübt in den gesamten literarischen Fähigkeiten, die Verwalter der Kultur und allen Handels und Wandels zugleich. Ihre einzige Waffe war der Geist. Das Wort Tellekt-Uell-In bedeutete Kopfarbeiter, Einseher, Unterscheider, noch genauer Formulierer.(12/599)

In einer "Großen Linie" für den Roman geht es Brecht darum, den Zusammenhang zwischen nicht eingreifendem, "folgenlosem Denken" und bürgerlicher, formaler Demokratie, als deren Musterbeispiel die Weimarer Republik gilt, deutlich zu machen:

Der Hauptgrund des nicht eingreifenden Denkens ist die falsche, nicht eingreifende Demokratie. Rechte, zu deren Wahrnehmung die Mittel fehlen; Parteien, die nach falschen Gesichtspunkten aufgebaut und voneinander unterschieden sind; Fürsorge für einen Volksteil, die Raubbau an einem andern bedeutet, Pazifismus ohne Ausmerzung der Kriegsgründe… usw. usw. Immer ist der Geist den Tatsachen voraus, aber nicht wie ein Traktor, sondern wie ein Kapriolen treibender Hund. Folgenlosigkeit ist der Passepartout für den Geist: Politische Freiheit bei ökonomischer Unfreiheit: Das ist der Grund der Verwirrung.(12/590)

Das "goldene Zeitalter der TUIs", als das die Weimarer Republik im imaginären "China" des TUI-Romans bezeichnet wird, beginnt mit der Ermordung der "eingreifend denkenden" Nicht-TUIs "Li-keh (Liebknecht)" und "Ro (Rosa Luxemburg)":

So beklagenswert es erscheint, so kann man doch erst von diesem Ereignis die Herrschaft der TUIs datieren. (71)

In beißender Satire, die sich zentral vor allem in den Schilderungen der "Chinesischen" Revolution gegen die Sozialdemokratie und ihre Art von Reformpolitik wendet, wird das "folgenlose Denken" als grundsätzliche Verhaltensform des TUIsmus vorgeführt, die schließlich zur Selbstaufhebung dieser "Herrschaft des Geistes" im Faschismus führt, der ebenso wie jene, die der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegenden Widersprüche nicht aufhebt, sondern nur effektiver, nämlich mittels nackter Gewalt, konserviert. Auch der Faschismus ist eine TUI-Herrschaft, aber "das Volk ist unter die allerverlumptesten, korruptesten TUIs gefallen." (72)

Sicher gehört zu den Gründen des Scheiterns von Brechts TUIsmus-Projekt, daß der Autor ein immer komplexeres Material aufhäufte, ohne eine Handlungslinie zu finden, nach der es ihm gelungen wäre, das gesamte Material zu strukturieren. Ich kann hier nicht auf die mutmaßlichen innerkünstlerischen Schwierigkeiten und die äußeren Bedingungen, die einer Realisierung des Projektes entgegenstanden, im Einzelnen eingehen, ich möchte mich auf einen theoretischen Punkt beschränken, der in der inzwischen schon sehr umfangreichen Sekundärliteratur zu diesem Thema meines Wissens bisher nicht erörtert wurde: (12/591)

Es geht darum, daß Brecht, der sich selbst als marxistischen Denker verstand, in der Beschäftigung mit der TUI-Problematik ständig über das "Wahrnehmungsfeld" der marxistischen Theorie hinausgetrieben wurde in Richtung von Konzeptionen, die den Intellektuellen für die moderne Gesellschaft mehr Bedeutung zumessen als der orthodoxe Marxismus, z. T. sogar soweit gehen, dieser Schicht Klassenstatus zu verleihen, was Brecht selbst ablehnte. Die Tragweite dieser Untersuchungen Brechts wird erst deutlich, wenn man sie mit heute aktuellen Arbeiten, wie denen von Rudolf Bahro oder André Gorz vergleicht.(73) W.F. Haug hat mit Recht darauf verwiesen, daß neben Brecht einzig Antonio Gramsci Konzeptionen entwickelt hat, in denen die Probleme der westeuropäischen Arbeiterbewegung in der Auseinandersetzung mit den Jahrhunderte lang sich entfaltenden bürgerlichen Kultur-, Bildungs- und Lebenstraditionen überhaupt thematisiert werden.

Brecht folgte zunächst der klassisch marxistischen Auffassung, die Intellektuellen als dem Kleinbürgertum zuzuzählende schwankende Mittelschicht, die zunehmend der Proletarisierung, das heißt der Unterstellung seiner Produktions- und Reproduktionsverhältnisse unter die Bedingungen der Lohnarbeit ausgesetzt ist, aber zugleich durch Privilegien und Konzessionen mit der herrschenden Klasse verbunden bleibt, zu sehen. Bald fand er, daß die Intellektuellen, da sie "einer übergehenden und den allgemeinen Schwankungen sehr ausgesetzten Schicht angehören", zugleich quasi seismographisch in der Lage seien, "den Übergang zu gesellschaftlichen Ordnungen, die von großen Gebilden kollektiver Art beherrscht werden, in besonders tiefer Weise zu empfinden." (74)

Die Parteien der Arbeiterklasse beriefen sich nur zu gern auf die von Marx übernommene, simplifizierte These von der Polarisierung der kapitalistischen Gesellschaft in die beiden Hauptklassen Proletariat und Kapitalisten, um das Problem der Intellektuellen herunterzuspielen bzw. zu negieren. Es handelte sich um einen blinden Fleck der Theoriebildung: waren doch die meisten Führer der Arbeiterbewegung selbst Intellektuelle, die ihre bürgerliche Herkunft verdrängten oder zu ignorieren versuchten. Bezeichnend dafür ist auch der nachrevolutionäre Brauch in der Sowjetunion und anderswo, die Funktionäre, die sogenannten Kader statistisch einfach den "Werktätigen" zuzurechnen.

Für Brecht machte der TUIsmus vor den Grenzen des "sozialistischen Lagers" nicht halt. So werfen sich in "Turandot" die TUIs vom "Bund der Kleidermacher" und die TUIs des "Bundes der Kleiderlosen" (gemeint sind die Sozialdemokraten und Kommunisten) gegenseitig nicht nur Zitate des Ka-Meh (Karl Marx) sondern buchstäblich seine Bücher an den Kopf, und im Me-ti heißt es einmal, in bezug auf die Auseinandersetzung zwischen Stalin und Trotzki:

Auch Su (Sowjetunion), der Staat der Arbeiter und Bauern, geriet einundeinhalb Jahrzehnte nach seiner Gründung unter den Einfluß der TUIs.(12/522)

Je tiefer also Brecht in diese Problematik eindrang, desto deutlicher formte sich die Physiognomie einer Schicht, die weltweit und mit erstaunlicher Gleichförmigkeit sich als der eigentlich geschäftsführende Kitt zwischen die nach der Marxschen Theorie wichtigsten Gesellschaftsklassen ansiedelte und – analog dem "allgemeinen Stand der Hegelschen Rechtsphilosophie, den Beamten, sich auch für nachrevolutionäre Gesellschaften unentbehrlich zu machen wußte. Brecht sah diese Entwicklung deutlich. Immer wieder setzt er sich mit der Bürokratie, ihrer Unmenschlichkeit, ihrer Maschinenhaftigkeit auseinander:

Der unentbehrliche Beamte
Von einem Beamten, der schon ziemlich lange in seinem Amt saß, hörte Herr K. rühmenderweise, er sei unentbehrlich, ein so guter Beamter sei er. "Wieso ist er unentbehrlich?" fragte Herr K. ärgerlich. "Das Amt liefe nicht ohne ihn", sagen seine Lober. "Wie kann er da ein guter Beamter sein, wenn das Amt nicht ohne ihn liefe?" sagte Herr K., "er hat Zeit genug gehabt, sein Amt so weit zu ordnen, daß er entbehrlich ist. Womit beschäftigt er sich eigentlich? Ich will es euch sagen: mit Erpressung!"(12/396)

Die spezielle Physiognomie der Beamten verbindet sich für Brecht mit der Problematik des Absterbens des Staates, wie es die Klassiker des Marxismus prophezeit hatten: Wie bringt man die Bürokratie zum Absterben, war angesichts der "sozialistischen Staaten" für ihn die Frage:

Der schlechte Beamte
Den schlechten Beamten schilderte Me-ti so: Er ist ausgeschickt, den Verkehr zu erleichtern, aber er steht dem Verkehr im Wege. Er ist teuer nicht nur durch das was er tut, sondern auch durch das was er nicht tut. Er kostet mehr als sein Gehalt. Sein Ehrgeiz ist es, unentbehrlich zu sein. Wenn er ausgeführt hat, zu was er beordert wurde, bleibt er, und wenn er es nicht ausgeführt hat, weil er unfähig ist, bleibt er auch. Für gewöhnlich ist er faul, aber wenn er fleißig ist, schadet er nicht weniger. Meist ist er bestechlich, aber wenn er nicht bestechlich ist, kann man ihn überhaupt nicht zu einem Fortschreiten bewegen. Selbst wenn es nichts mehr zum Verwalten gibt, geht der Verwalter nicht weg.(12/554)

Eine wirkliche Lösung dieses Problems fand Brecht ebensowenig wie die marxistische Praxis. Das Stück "Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher", in dem Brecht die TUI-Problematik angesichts des 17. Juni 1953 in der DDR noch einmal aktualisierte, entnimmt seine "revolutionäre Lösung" dem Vorbild der chinesischen Revolution. Wie in der Wirklichkeit die Volksbefreiungsarmee Mao Tse-tungs vom Lande her die Städte eingekreist hatte und schließlich durch militärische Erfolge die Macht übernahm, so findet auch in Brechts Stück die Revolution außerhalb des den TUIs gewidmeten Bühnengeschehens statt. Die Lösung des TUI-Problems ist in Turandot nicht die Vernichtung oder Abschaffung der TUIs, sondern ihre gesellschaftliche Aufhebung durch Verallgemeinerung dessen, was ihren gesellschaftlichen Status ausmacht:

Eh Feh: Müssen sie (die TUIs) mit Feuer und Schwert ausgetilgt werden, Großvater?
Sen: Nein, es ist mit ihnen wie mit dem Boden. Man muß bestimmten, was man von ihm haben will, Hirse oder Unkraut. Und dazu muß man ihn haben.
Eh Feh (mißmutig): Wird es immer TUIs geben, auch wenn der Kai Ho die Felder verteilt hat?
Sen (lacht): Nicht mehr allzu lange. Wir werden alle großen Felder haben und also alle großen Studien betreiben können. Und wie wir die Felder bekommen, steht hier. (Sen zieht sein Büchlein heraus und schwingt es. Beide gehen nach hinten weg.)
Kiung (ruft ihnen nach): Halt, Alter, dort ist deine Heimat. Du gehst die falsche Straße!
Sen: Nein, ich denke, ich gehe die richtige, Kiung.(5/2265)

Nicht nur die Brecht erspart gebliebene historische Erfahrung des Scheiterns der chinesischen Kulturrevolution, die wenigstens ihrer Intention nach unter anderem auch die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit zum Ziele hatte, läßt die von ihm angedeutete Lösung des TUI-Problems prekär erscheinen.

Realistischer oder man könnte auch sagen, materialistischer sind Überlegungen Brechts, die er in Zusammenhang mit der Stalinismuskritik über Bürokratie und Beamte formulierte. So heißt es in einer der letzten Keunergeschichten:

Apparat und Partei
Zur Zeit als nach Stalins Tod die Partei sich anschickte, eine neue Produktivität zu entfalten, schrien viele: "Wir haben keine Partei, nur einen Apparat. Nieder mit dem Apparat!" G. Keuner sagte: Der Apparat ist der Knochenbau der Verwaltung und der Machtausübung. Ihr habt zu lange nur ein Skelett gesehen. Reißt jetzt nicht alles zusammen. Wenn ihr es zu Muskeln, Nerven und Organen gebracht habt, wird das Skelett nicht mehr sichtbar sein.(12/415)

Sieht man einmal zunächst von der Frage ab, ob der Typus der stalinistischen Partei, wie ihn Brecht vor Augen hatte, überhaupt imstande sein konnte, sich zu einem lebendigen Organismus zu entwickeln, ist hier eine Aufhebung der Bürokratie anvisiert, die aus der Anerkennung ihrer Existenz als transitorischer Notwendigkeit zur Organisierung der produktiven Kollektive resultiert:

Me-ti haßte die Beamten. Aber er gab zu, daß er keinen anderen Weg sehen konnte, sie loszuwerden, als daß alle zu Beamten würden.(12/541)

Ich gebe zu, das ist eine Lösung, die mehr und aktuellere Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Ohne sie ausdiskutiert zu haben, fragt man sich: Ist das nicht eine allzu düstere Prognose, eine Gesellschaft, nur aus Beamten bestehend? Hat Brecht keine hoffnungsvollere freundlichere Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft?

Immerhin hat er, eingehüllt in die Parabel in einer Geschichte aus längst vergangenen Zeiten so etwas wie ein Modell seiner Vision eines solchen "verallgemeinerten Beamten" gegeben. Es ist die Figur des Richters Azdak im "Kaukasischen Kreidekreis", von dem der Sänger berichtet:

Und so brach er die Gesetze wie ein Brot, daß es sie letze
Bracht das Volk ans Ufer auf des Rechtes Wrack.
Und die Niederen und Gemeinen hatten endlich, endlich einen
Den die leere Hand bestochen, den Azdak.

Siebenhundertzwanzig Tage maß er mit gefälschter Waage
Ihre Klage, und er sprach wie Pack zu Pack.
Auf dem Richterstuhl, den Balken über sich von einem Galgen
Teilte sein gezinktes Recht aus der Azdak. (75)

Und nach diesem Abend verschwand der Azdak und ward nicht mehr gesehen.
Aber das Volk Grusiniens vergaß ihn nicht und gedachte noch
Lange seiner Richterzeit als einer kurzen
Goldenen Zeit beinah der Gerechtigkeit.(5/2105)

C) Interruptus und Schluß

Und dennoch: wir machen Kunst.
Wir werfen das Fleisch auf den Hauptplatz.
Wir retten unsere Phantasie.

Robert Schindel: Die Geschichte des Onan (76)

Als ich mit meiner Arbeit bis zum Beginn des Kapitels über Faschismuskritik und TUI-Problematik bei Brecht gekommen war, geriet sie nachhaltig ins Stocken. Die (geplanten) letzten dreißig Seiten vor Augen, schien alles bis dahin zusammengetragene und formulierte mir nur mehr als ein Herauszupfen einiger weniger Fäden aus dem Riesenknäuel der verschlungenen, sich immer noch als differenzierter erweisenden, sich ständig in wechselndem Licht zeigenden philosophischen Überlegungen und Experimente Brechts.

Diese Fäden hatte ich nur unsystematisch, so schien es mir und fast zufällig aufgegriffen und dann gleich wieder fallengelassen. Fast ein Jahr lang brauchte ich, um das Material, das sich zu einem neuen Projekt auszuwachsen drohte, einigermaßen zu strukturieren und meinem ursprünglichen Plan folgend, die Kapitel über Faschismus und TUI-Kritik fertigzustellen.

In diesem Zusammenhang wurde mir unter anderem deutlich, daß ich eigentlich, ohne es so geplant zu haben, bei den Versuchen, dem Dialektiker Brecht auf die Schliche zu kommen, die Querverbindungen zu dem "großen Humoristen", als den er gelegentlich Hegel apostrophiert, zwischen Nietzsche, Marx und Lenin aus den Augen verloren bzw. weitgehend ausgespart hatte. Eine im Rahmen meiner Vorlesungen aufgenommene, intensivere Beschäftigung mit Hegels Rechtsphilosophie bestärkt mich inzwischen darin, den im Rahmen dieser Arbeit nur gestreiften Fragen zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates, der Rolle der Intellektuellen in spätkapitalistischen und Übergangsgesellschaften, dem Verhältnis der Wissenschaften zur Entfaltung und Befreiung von Produktivität, in einer nächsten, an diese anschließende Untersuchung nachzugehen.

Eine vorläufige These wäre, daß Brecht sich experimentell vortastend, gerade in der extremsten Verflüssigung des Denkens, der ans Paradoxe streifenden Geschmeidigkeit der Begriffe, mehr intuitiv als durchs exakte Studium, sich Hegel annäherte. Von solchen Überlegungen ist in die vorliegende Arbeit noch kaum etwas eingegangen. Natürlich kam ich auf Hegel bei Brecht zu sprechen, aber mehr gelegentlich und eigentlich stand er mehr hinter dem systematischen bzw. kategorialen Gerüst dieser Versuche.

An dieser Stelle sollte, nach meinem ursprünglichen Plan, die Negation der Negation auf die Darstellung der destruktiven Kräfte, welche der Entfaltung gesellschaftlicher Produktivität hinderlich im Wege stehen, ein "positives" Schlußkapitel folgen, in welchem auch bisher unberücksichtigt gebliebene Auseinandersetzungen mit der Philosophie Brechts behandelt werden sollten.(77) Vermittelt und entfaltet werden sollte die Brechtsche Kategorie der Produktivität mit seinem, ihn vielleicht am deutlichsten von Adorno und den anderen "Frankfurtisten" unterscheidenden historischem Optimismus, seinem Vertrauen in die Kraft der einfachen Leute, der "Niederen", der "Untengehaltenen".

Als mögliche Titel für diesen Abschnitt boten sich alternativ "Alles Neue ist besser als alles Alte" und "Man lebt für das Extra", letzteres ein Zitat aus: "Die Tage der Commune", wo der alte Revolutionär "Papa" eine Rede hält über die Frage: "Denn wozu lebt man eigentlich?"(5/2148)

Das "Extra", die "Wachteln zum Frühstück", und der "Schnittlauch auf dem Salat", der Anspruch auf Luxus, bisher den Herrschenden vorbehalten, wird für alle eingefordert und verbindet sich als "überschießende und überschüssige Produktivität" mit Brechts Begriff von Kunst als einem "ursprünglichen Vermögen der Menschheit", welches durch revolutionäre Praxis erst umfassend freizusetzen wäre.

Kunst als übers "Reich der Notwendigkeit", der bloßen Reproduktion der Gattung hinauszielende, überquellende Produktion und zugleich nicht mehr als Privileg einiger Weniger deformierte und entstellte Selbstreflexion der Gattung, als "fröhliche Kritik" und "eingreifendes Denken" umfassende Ausdrucksform des "wissenschaftlichen Zeitalters", sollte sich im Fortgang der Darstellung als Resultat der Entwicklung der Kategorie der Produktivität in Brechts Philosophieren ergeben.

Die Gestalt des kleinen, dicken Glücksgottes Baal als nicht zufällig fragmentarisch gebliebene, von Brecht nur mehr skizzierte, letzte Metamorphose, der das gesamte Werk durchziehenden dionysischen Baalsfigur, sollte ebenso die Erlösung des Denkens von der Abstraktion der reinen Gedanken, sein Herabsteigen in die niederen Regionen der Sinnlichkeit demonstrieren:

Ich bin der Gott der Niedrigkeit
Der Gaumen und der Hoden
Denn das Glück liegt nun einmal, tut mir leid
Ziemlich niedrig am Boden.(10/892)

– habe ich voraus laufend schon am Anfang der Arbeit zitiert, wie Brechts Vertrauen in das "unvertilgbare Glücksverlangen der Menschen".

Der Baalsfigur zur Seite gestellt werden sollte als quasi symmetrisches Pendant die Figur der Lai-tu, der Schwester und Schülerin Kin-jehs und Me-tis, aus dem "Buch der Wendungen", gleichsam stellvertretend für so viele Figuren spezifisch weiblicher Produktivität bei Brecht.

Im "Buch der Wendungen" bilden die "Lai-tu-Geschichten" einen eigenen Komplex, der sich mit Winken für die Einzelnen im Verhalten zueinander innerhalb der Entfaltung der Kategorie der Produktivität beschäftigt. Programmatisch heißt es an einer Stelle:

Freiheit, Güte, Gerechtigkeit, Geschmack und Großzügigkeit sind Produktionsfragen, sagte Me-ti zuversichtlich. (12/478)

Brechts Vorschlägen und Überlegungen über die "dritte Sache" und "die Liebe als große Produktion" wäre hier nachzugehen, um abschließend die Frage aufzuwerfen: "Wie heute produktiv von Brecht lernen?", die ich mit einem Exkurs über die Arbeit von Jean-Luc Godard beantworten wollte. Der als francophoner (Westschweizer) Filmemacher viellreicht leichter als deutschsprachige Schriftsteller oder Dichter mit Brecht sich auseinandersetzen konnte, ohne seinem Sog zu erliegen, wie es bei Brechts treuesten Schülern oftmals geschah, (bei einem Vergleich Godards etwa mit Alexander Kluge wird das deutlich)

– Aber "alles das kann ich nicht" ausführen.

Zu den sachlichen, aus der Einsicht ins prinzipiell "unfertige", offene, das Fertigwerden vermeidende der Brechtschen Arbeits- und Denkweise sich ergebenden Beweggründen, hier diese Versuche einer Annäherung an Brechts Philosophieren abzubrechen, kommt ein persönlicher:

Einer der Herausgeber der "Klagenfurter Beiträge zur Philosophie", mein Kollege Jakob Huber, ist kurz nach der Fertigstellung seiner Habilitationsschrift und Beendigung des Habilitationsverfahrens, noch nicht 35 Jahre alt, am Beginn des Jahres 1982 an einer verborgenen – wie man dann hilflos sagt: "heimtückischen" – Krankheit gestorben. Warum ich an dieser Stelle davon spreche: Es ist, weil ich eine Dankesschuld an ihn anders nicht mehr abstatten kann: Als die Reihe der "Klagenfurter Beiträge zur Philosophie" gerade erst konzipiert wurde, machte er mir den Vorschlag zu dieser Veröffentlichung und bis zuletzt hat er mir diese Arbeit mit freundlichem Nachdruck abverlangt. Dafür möchte ich ihm hier danken.

 

Auch hier nochmals ein kurzes Postscriptum. Die 1982 angekündigte weitere Arbeit zu Brecht hat nach weiteren vier Jahren 1986 nicht gerade das Licht der Welt erblickt, aber immerhin das der universitären Öffentlichkeit als meine Klagenfurter Habilitationsschrift unter dem Titel "Philosophieren als Theater. Neue Versuche über die Philosophie Bertolt Brechts".

Zum 100. Geburtstag Brechts wollte ich auch mit der Umarbeitung dieser Rohfassung in ein lesbares Buch fertig werden, eigentlich wollte ich beide nun schon gut abgelegenen Versuche gemeinsam ins Internet stellen; ich fürchte ich muß nun froh sein, wenn ich die deadline des 14. August 1998 einhalten kann; das Schlußgedicht des Bandes von 1982 paßt - wie gute Literatur überhaupt - noch immer:

Einmal, wenn da Zeit sein wird
Werden wir die Gedanken aller Denker aller Zeiten bedenken
Alle Bilder aller Meister besehen
Alle Spaßmacher belachen
Alle Frauen hofieren
Alle Männer belehren. (10/1027)

 

Zum Literaturverzeichnis


Anmerkungen

  1. Benjamin. Versuche. S. 132 <<
  2. Vgl. die Kritische Ausgabe der Maßnahme (Hrsg. Steinweg). Steinweg fügt die Lenin-Zitate aus "Der Linksradikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus", auf die sich Brecht bezog, bei. <<
  3. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 23, v. 16.8.38 <<
  4. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. Georg Lasson. Hamburg 1963. Bd. 1, S. 31.
    Es heißt dort: "Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist." <<
  5. Marx. Pariser Manuskripte (Hillmann). S. 86, um nur eine Stelle zu nennen <<
  6. Vgl. das Nachwort von Rolf Tiedemann in: Benjamin. Versuche. S. 139 ff <<
  7. Brecht. Tagebücher. S. 187 <<
  8. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 270, v. 21.4.41 <<
  9. MEW Bd. 1, S. 381 <<
  10. Marx,Texte zu Methode und Praxis II, Pariser Manuskripte (hrsg. G. Hillmann), Reinbek (Rowohlts Klassiker) 1966, S 79 f. <<
  11. Ebenda (wie Marx in seinem großen Werk "Ebenda" so treffend bemerkt...) <<
  12. Marx. Pariser Manuskripte (Hillmann). S. 80 <<
  13. Marx. Pariser Manuskripte. S. 86 <<
  14. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. II. S. 797 <<
  15. Hegel. Phänomenologie op.cit. S. 30 <<
  16. Vgl. Brecht. Maßnahme (Steinweg), = es 415, D 56/3, S. 261 <<
  17. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. III. S. 797 <<
  18. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 116, v. 20.6.40 <<
  19. Diese Auffassung durchzieht die gesamte Brechtliteratur. Als Beispiel sei nur der Satz Siegfried Melchingers zitiert, den der Suhrkamp-Verlag der Einzelausgabe des Stücks voranstellt: "Bertolt Brecht geschlossenstes Stück ist wohl ‘Der gute Mensch von Sezuan", vgl. es 73, S. 2 <<
  20. Materialien zu Brechts "Der gute Mensch von Sezuan", zusammengestellt und redigiert von Werner Hecht. Ffm. 1968. S. 86 <<
  21. Materialien."Der gute Mensch von Sezuan". S. 86 <<
  22. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 52, v. Mai 1939. Pfingsten <<
  23. Bertolt Brecht. Versuche. Heft 12. S. 6 in Reprint 1977. Versuche 12-15. Ffm. 1977 <<
  24. Materialien. "Der gute Mensch von Sezuan". S. 86 <<
  25. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. III. S. 671 <<
  26. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 79 v. 15.1.40 <<
  27. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 906 v. 11.6.49 <<
  28. Benjamin. Versuche. S. 134 <<
  29. Ebenda. S. 134 <<
  30. Benjamin. Versuche. S. 135 <<
  31. Ich verweise noch einmal auf Esslin. Brecht … sowie auf Herbert Lüthi. Vom armen Bert Brecht. In: Der Monat 4. 1952. Heft 44. S. 114 – 144
    Ich erwähne diesen in der Brechtforschung sehr frühen, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erschienenen Aufsatz, weil von ihm eine außerordentlich starke, lang anhaltende Wirkung ausging, die bis heute in diversen Unterrichtsmaterialien über Brecht zu spüren ist, trotz des verschiedentlichen Nachweises der Unhaltbarkeit des Versuchs, den Dichter Brecht gegen den Marxisten auszuspielen. <<
  32. Hannah Arendt. Benjamin. Brecht. Zwei Essays. München 1971. Vgl. etwa S. 65 f, um die niveauvollste Kritikerin Brechts in dieser Richtung zu zitieren. Sie stellte nicht Brechts Antifaschismus in Frage, aber vertrat die Ansicht, seine Parteinahme für den Kommunismus Stalinscher Observanz hätte Brecht seine dichterische Kraft gekostet: "Das Ergebnis war, daß kein einziges neues Stück, kein einziges großes Gedicht mehr entstand." (S 73) <<
  33. Zweifellos genügt es nicht, diese These zurückzuweisen mit dem Hinweis auf die Theaterarbeit im Berliner Ensemble, die eine ungeheure der Aufarbeitung des Fundus der (seit der Johanna) nicht auf der Bühne getesteten "Materials" darstellte, oder die Bearbeitungen (Urfaust, Hofmeister, Don Juan, Katzgraben etc.) anzuführen, wie es Eisler in den Gesprächen mit Bunge tat. Eisler, den die Diskussionen mit der SED-Spitze um den Johannes Faustus in eine tiefe Depression und Krise der Produktion stürzten, spricht da als "guter Genosse", der der Sache dient, ohne auf Persönliches Rücksicht zu nehmen.
    Ich greife hier bewußt die Terminologie Brechts auf und spreche von Faschismus, gleichgültig, ob vom italienischen oder vom deutschen die Rede ist; in der neueren Faschismusforschung wird der Gebrauch des Terminus "Faschismus" als Oberbegriff für terroristische Rechtsdiktaturen des öfteren kritisiert bzw. abgelehnt, zum Teil mit dem Argument, daß damit das spezifische des nationalsozialistischen Regimes verwischt bzw. verharmlost werde, da etwa die Rassenlehre und ihre Auswirkungen, die systematische Vernichtung der Juden, sich in anderen Formen, etwa dem italienischen Faschismus nicht finden. Ohne darauf ausführlich eingehen zu wollen, ziehe ich es vor, hier beim traditionellen Sprachgebrauch der Arbeiterbewegung und Brechts zu bleiben. <<
  34. Ich habe diese Stelle bereits im Zusammenhang mit dem "Utopismus" Brechts zitiert, ohne dort auf den Zusammenhang mit Nietzsche einzugehen <<
  35. Brecht. Tagebücher. S. 154 <<
  36. Brecht. Tagebücher. S. 162 <<
  37. Brecht. Tagebücher. S. 206 <<
  38. Brecht. Tagebücher. S. 208 <<
  39. Brecht. Tagebücher. S. 210 <<
  40. Man könnte einwenden, daß ich die unzweifelhafte literarische Selbststilisierung ignoriere, die auch den Tagebuchnotizen Brechts anhaftet, und daß ich mich selbst aufs Gebiet psychologisierender Spekulation begebe. Zum ersten wäre zu sagen, daß die angeführten Stellen gerade als Stilisierungen Ausdruck der Faszination Brechts durch solche Gedankengänge darstellen, zum zweiten gründet sich meine Erörterung von Brechts Faschismuskritik nicht in erster Linie auf diesen Hintergründen, sondern hebt sie erst eigentlich davon ab. <<
  41. 1935 fand in Paris der erste Kongreß zur Verteidigung der Kultur statt; im Sinne der Volksfrontpolitik der Komintern sollte über die Möglichkeiten einer kulturellen Einheitsfront im Kampf gegen den Faschismus beraten werden; Brechts Rede stach durch ihren offenen klassenkämpferischen Charakter von den meisten der übrigen Beiträge deutlich ab; Brecht hielt seine Rede auch fast 20 Jahre später noch wichtig genug, um sie ins letzte von ihm zusammengestellte und posthum erschienene Heft der "Versuche" (Heft 15) aufzunehmen. (Brecht. Versuche. Reprint 77. S. 555 ff) <<
  42. Arbeitsjournal. Bd. I. S 34, v. 7.10.38 <<
  43. Arbeitsjournal. Bd. I. S 40, v. 12.2.39 <<
  44. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 830 f, v. 20.4.48 <<
  45. Arbeitsjournal. Bd. I. S 391, v. 22.3.42 <<
  46. Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Ffm. 1966. S. 48 <<
  47. Benjamin. Kunstwerke. S. 63.
    Ich zitiere hier Benjamin in einem Atemzug mit Brecht, weil es mir in dieser Frage nicht auf mögliche Nuancen in der Einschätzung geht, sondern auf den Hinweis auf grundlegende Einschätzungen von Fragen, in denen Brecht und Benjamin weitgehend übereingestimmt haben. <<
  48. Ich beziehe mich pauschal auf die Angaben bei Alfred Sohn-Rethel in seiner Faschismusanalyse: Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Ffm. 1973 <<
  49. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 477 v. 29.6.42 <<
  50. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 475 v. 28.6.42 <<
  51. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 262 v. 14.4.41 <<
  52. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 589 v. 19.7.43 <<
  53. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 801 v. 24.12.47 <<
  54. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 392 v. 23.3.42 <<
  55. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 406 v. 5.4.42 <<
  56. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 411 v. 9.4.42 <<
  57. Knopf. Handbuch. S. 5 und ausführlicher S. 229 ff <<
  58. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 711 v. 18.12.44 <<
  59. 12/496 "Was die Kopfarbeiter unter Freiheit verstehen" <<
  60. Benjamin. Versuche. S. 117 <<
  61. Friedrich Engels. Brief an Franz Mehrung in MEW. Bd. 39. 597. Berlin 1973 <<
  62. BB. Archiv. Blatt 326/28 <<
  63. Benjamin. Versuche. S. 125 <<
  64. Benjamin. Versuche. S. 126 <<
  65. Arbeitsjournal. Bd. II. S. 617 v. 5.9.43 <<
  66. 11/266 f "Das Experiment" <<
  67. 12/616
    Wie sehr Brecht bei all dem sich Francis Bacon verpflichtet wußte, belegt am besten der Titel und die Form des "Kleinen Organons für das Theater", welches sich deutlich an das Vorbild des "Novum Organum Scieciarum" des Bacon anlehnt, bzw. sich als Zitat versteht. <<
  68. BB. Archiv Mappe 147/03 <<
  69. Arbeitsjournal. Bd. I. S. 418 v. 18.4.42 <<
  70. 20/299 "Briefe an einen erwachsenen Amerikaner" <<
  71. 12/632. Von Li-Keh (Liebknecht) heißt es in diesem Zusammenhang: Er selber war in den besten TUI-Schulen erzogen worden und hatte sogar einen Doktorgrad erworben, ohne daß es ihm allerdings gelungen wäre, sich auch nur die Grundlagen des TUI ismus anzueignen. Es war die allgemeine Meinung der TUIs, daß er eine Schande bedeutete. <<
  72. 12/593. Vgl. die Eintragung im Arbeitsjournal. Bd. I. S. 213 vom 15.12.1940., wo es heißt: "die goldene zeit der tuis ist die liberale republik aber den gipfel erklimmt der tuismus im dritten reich. der idealismus, auf seiner niedersten stufe angelangt, feiert seine gigantischsten triumphe: philosophisch – und damit adäquat ausgedrückt: das bewußtsein, zu dem zeitpunkt, wo es dem gesellschaftlichen sein am tiefsten versklavt ist, wirft sich auf, ihm in der herrischsten weise diktieren zu wollen. die ‘idee’ ist nichts als ein reflex und dieser tritt in besonders gebieterischer und terroristischer form gegenüber der realität auf." <<
  73. Vgl. Rudolf Bahro. Die Alternative. Köln 1977. André Gorz. Abschied vom Proletariat. Ffm. 1980; auch die Einleitung W.F. Haugs zum Argument Sonderband 50: Zur Aktualität Brechts. <<
  74. BB. Archiv 324/25 <<
  75. 5/2086. Jan Knopf hat darauf hingewiesen, wie zentral die TUI-Problematik nicht nur im Galilei thematisiert wird sondern auch in der Figur des Azdak. Man könnte in ihm ein Alternativmodell der "enttäuschten Idealität" des Intellekturellen (sehen), wobei letztere diesmal nicht, wie im Galilei, in Verrat am Volke, sondern in Verrat an der Herrschaft, die ihn legitimiert, umschlägt. Azdak führt eine andere mögliche Haltung des Intellektuellen … vor, nämlich im Namen der Herrschenden eine Gerechtigkeit durchzusetzen, die dem Recht der Herrschenden widerspricht: er benutzt ihr Gesetzbuch lediglich zum Sitzen (5/2088 f); nicht zum Rechtsprechen.
    Knopf. Handbuch. S. 261 <<
  76. Robert Schindel. Die Geschichte des Onan. In: Gustav Ernst/Wolfgang Murawatz/Robert Schindel: Drei Miniaturen. Wien 1970. S. 46 <<
  77. Vgl. insbesondere die Veröffentlichungen im Brecht-Jahrbuch 1980 zur Diskussion um Brecht-Nietzsche, vor allem den Artikel von Lehmann/Lethen. <<

 

Zum Literaturverzeichnis

 

Kritiken, Anregungen, Fragen an
Christof Šubik, Universität Klagenfurt