Unter dieser Fragestellung widmet sich KANT der grundlegenden Thematik, inwiefern die Epistemität von Empirie in Absehung von aller Applikation in bestimmter Forschungshinsicht überhaupt konstitutiv begründbar ist: Was macht den prinzipiellen Bau und Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffe, ja ihre methodische Begriffsbildung aus? Insbesondere in erkenntnistheoretischer Hinsicht gilt es wissenschaftstheoretisch zu klären, warum überhaupt Naturwissenschaft möglich ist, ja inwiefern ein intendierter objektiver Gehalt ihrer Propositionen möglich und fundamental ist.
In den hier zu behandelnden fünf Paragraphen seiner auf die "Kritik der reinen Vernunft" als eine Zusammenfassung, aber auch Neugestaltung dieser Hauptschrift folgenden "Prolegomena" tauchen ganz wesentliche Begriffsetzungen seines transzendentalen Philosophierens auf, die seine epistemologische Terminologie in Grundzügen darlegen. Indem es Schritt um Schritt seinen Gedankengang nachzuvollziehen, eine Lesart zu entfalten und zu kommentieren gilt, soll ein Herzstück seines epistemologischen, aber zugleich auch ontologisch bedeutsamen Denkweges in konzentrierter Form referiert werden.
Dabei wird rekonstruktiv, freilich niemals ohne solche Interventionen auszuweisen, im transzendentalphilosophischen Modell verbleibend, mitunter eine vorsichtige Reformulierung immer dann versucht oder zumindest bemerkt, wenn es ratsam erscheint, den Sprachgebrauch der kantianischen Terminologie, wie er sich in seinen Werken auch gegeneinander illustrieren läßt, mehr dem anzugleichen, was es in der hier zu behandelnden Fragehinsicht als Intention bzw. propositionaler Gehalt herauszuarbeiten gilt.
Natur*) ist das nach allgemeinen Gesetzen bestimmte Dasein der Dinge, nicht das Dasein der Dinge an sich selbst, da sie dann weder a priori noch a posteriori erkannt werden könnten:
A priori nicht, weil das, was den [empirischen]**) Dingen zukommt, nicht aus analytischen Sätzen [Urteilen] geschlossen werden kann;1 die Dinge richten sich nicht nach meinem°) Verstande, er kann den Dingen (noumena)2 selbst keine Regel vorschreiben.
A posteriori nicht, denn wenn Erfahrung Gesetze des Daseins der Dinge lehren soll, müßten diese Gesetze den Dingen auch außer meiner Erfahrung notwendig°°) zukommen. Notwendigkeit einer Sache kann aber aus Erfahrung nie erschlossen werden, nur Dasein der Sache (und wie sie sei).3 [Das enthält indirekt eine Absage an das Induktionsprinzip in empirischen Bereichen;4 aus Erfahrung allein können keine Naturgesetze, die a priori, also schlechthin (und nicht bloß komparativ) allgemein und notwendig, gelten sollen, erschlossen werden.]
Damit soll für den Begriff der Natur als dem nach allgemeinen Gesetzen bestimmbaren Dasein der Dinge nur mehr das Reich der Erscheinungen (phaenomena)5 als Bedeutung dieses Begriffes6 offen bleiben [da die Dinge an sich selbst ja ausgeschlossen wurden und KANT keine dritte Möglichkeit7 für die hier zur Frage stehenden Entitäten als mögliche Gegenstände objektiver Naturerkenntnis kennt].8
Gleichwohl sind wir im Besitze einer reinen Naturwissenschaft, die uns apodiktische%) Gesetze der Natur vorträgt,9 etwa die Propädeutik der Naturlehre (allgemeine Naturwissenschaft) im Falle der Physik in Form der Anwendung der Mathematik auf Erscheinungen10 oder auch diskursive Grundsätze aus Begriffen. Darin ist aber noch manches, was nicht ganz unabhängig von Erfahrungsquellen ist, so der Begriff der Bewegung, der Undurchdringlichkeit (empirischer Materiebegriff),11 der Trägheit u.a.m., weshalb dies nicht reine12 Naturwissenschaft heißen kann.
Zudem geht die allgemeine Naturwissenschaft nur auf Gegenstände äußerer Sinne, steht also nicht für allgemeine Naturwissenschaft, welche die Natur überhaupt (egal ob ein Gegenstand des inneren13 Sinnes oder der äußeren14 Sinne betroffen ist) angeht und unter allgemeine Gesetze bringen muß. Unter den Grundsätzen der allgemeinen Physik15 gibt es sehr wohl einige, welche die verlangte Allgemeinheit haben:
Z.B. die Beharrlichkeit der Substanz und das Kausalitätsprinzip16 - das seien wirklich allgemeine Naturgesetze, die völlig a priori bestehen. Wie ist aber eine solche reine Naturwissenschaft, die es offensichtlich gibt,17 möglich?
Bisher ist nur die Gesetzmäßigkeit angedeutet worden, welche das Dasein der Dinge bestimmt. Natur, dem Objekt nach bestimmt, ist - materialiter betrachtet18 - der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung.19
Gegenstände, die niemals Gegenstände der Erfahrung werden können, würden uns, sollen sie ihrer Natur20 [essentia]@) nach erkannt werden, zu Begriffen nötigen, deren Bedeutung niemals in concreto21 gegeben werden könnte: Von deren Natur müßten wir lauter Begriffe machen, deren Realität22 gar nicht entschieden werden könnte.
Was nicht möglicher Gegenstand der Erfahrung sein kann, dessen Erkenntnis wäre hyperphysisch,23 womit wir es hier nicht zu tun haben. Wir befassen uns mit Naturerkenntnis, deren Realität durch Erfahrung bestätigt werden kann, obgleich sie a priori möglich ist und aller Erfahrung vorhergeht.24
Das Formale der Natur25 ist die Gesetzmäßigkeit der Erfahrungsgegenstände: Wird diese a priori erkannt, so handelt es sich um die notwendige (und allgemeine) Gesetzmäßigkeit derselben. Gesetze der Natur an Gegenständen als Dinge an sich selbst26 (also Gegenstände, die nicht in Beziehung auf mögliche Erfahrung stehen [noumena]§)) aber können niemals a priori erkannt werden (vgl. § 14).27
In Betracht der reinen Naturwissenschaft haben wir es nur mit Gegenständen einer möglichen Erfahrung zu tun [also nur mit verstandesbegrifflich geleiteten phaenomena], den Inbegriff derselben nennen wir eigentlich Natur.28 Wenn eine Naturerkenntnis a priori möglich sein soll, wie kann dann (1) die notwendige Gesetzesmäßigkeit der Dinge als Gegenstände der Erfahrung bzw. (2) die notwendige Gesetzesmäßigkeit der Erfahrung selbst in Ansehung aller ihrer Gegenstände a priori erkannt werden?-29
KANT meint, daß die Beantwortung dieser beider Fragen den Punkt der Quästion§§) ausmachen und auf dasselbe hinausläuft: Denn die subjektiven Gesetze möglicher Erfahrungserkenntnis gelten auch von den Gegenständen einer möglichen Erfahrung.30
Es ist einerlei, ob man sagt:31
(1) »Ein Wahrnehmungsurteil kann niemals vor aller Erfahrung ohne das Gesetz gelten, daß eine wahrgenommene Begebenheit jederzeit auf etwas ihr Vorhergehendes bezogen werde, worauf sie nach allgemeinen Regeln folgt«32 (Wahrnehmungsurteile a priori setzen das Kausalitätsprinzip als Regel der Geschehnisse voraus, weil dieses alleine nur immer eine wahrgenommene Begebenheit auf eine vorhergehende beziehen kann),
oder ob man sich so ausdrückt:
(2) »Alles, wovon die Erfahrung lehrt, daß es geschieht, muß eine Ursache haben«33 (alles erfahrbare Geschehen [alles in der Natur] hat eine Ursache).$)
KANT findet die erste Formulierung besser: Wir können ja a priori$$) und vor allen gegebenen Gegenständen [phaenomena] eine Erkenntnis derjenigen Bedingungen haben, unter denen alleine eine Erfahrung in Ansehung ihrer (gemeint ist: der Phänomene) möglich ist.34 Niemals aber haben wir eine Erkenntnis a priori von den Gesetzen, denen sie (die Phänomene) ohne Beziehung auf mögliche Erfahrung an sich selbst (als Dinge an sich [noumena]) unterworfen sein mögen.35 Daher werden wir die Natur [essentia] der Dinge a priori nicht anders studieren können, als daß wir die Bedingungen und die allgemeinen (obgleich subjektiven)36 Gesetze erforschen, unter denen diese Erkenntnis als Erfahrung ("der bloßen Form nach")37 möglich ist; darnach ist die Möglichkeit der Dinge als Gegenstände der Erfahrung (allein) zu bestimmen.
Die Verfolgung des zweiten Weges (2), die Bedingungen a priori zu suchen, unter denen Natur als Gegenstand der Erfahrung möglich ist, würde leicht mißverständlich werden, da man sich einbilden könnte, man müßte von der Natur der Dinge an sich selbst [essentia noumenorum]38 reden "und da würde ich fruchtlos in endlosen Bemühungen herumgetrieben werden, vor Dinge [von Dingen], von denen mir nichts gegeben ist, Gesetze zu suchen".39
Wir werden es also hier (in der Frage nach der reinen Naturwissenschaft) nur mit Erfahrung und den a priori gegebenen "Bedingungen ihrer Möglichkeit"40 zu tun haben, daraus wird Natur als ganzer Gegenstand möglicher Erfahrung bestimmt. Es gilt nicht, die Regeln der Beobachtung einer Natur,41 die schon gegeben ist, zu untersuchen (die setzen schon Erfahrung voraus), also nicht, wie aus Erfahrung der Natur Gesetze abgelernt42 werden können (das wären ja dann keine Gesetze a priori und ergäben keine reine Naturwissenschaft), sondern "wie die Bedingungen a priori von der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Quellen"43 der allgemeinen Naturgesetze sind.
Zwar sind alle Erfahrungsurteile empirisch (d. h. sie haben ihren Grund in der unmittelbaren Sinneswahrnehmung),44 aber umgekehrt gilt nicht, daß alle empirischen Urteile Erfahrungsurteile sind, denn (im Falle der Erfahrungsurteile) müssen über das Empirische (das in der sinnlichen Anschauung Gegebene [phaenomena]&)) hinaus noch besondere Begriffe hinzukommen, deren Ursprung gänzlich a priori im Verstand liegt: Unter diese [die reinen Verstandesbegriffe bzw. Kategorien]45 wird jede Wahrnehmung subsumiert46 und durch sie in Erfahrung verwandelt.47
KANT unterscheidet also:48
(1) Empirische Urteile, die objektive Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurteile. Sie erfordern jederzeit über die Vorstellung der Anschauung hinaus noch "besondere im Verstande ursprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil objektiv gültig ist".49
(2) Nur subjektiv gültige empirische Urteile sind bloße Wahrnehmungsurteile. Sie "bedürfen keines reinen Verstandesbegriffes, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen im denkenden Subjekt".50
Alle menschlichen Urteile sind zuerst Wahrnehmungsurteile [siehe (2)], gelten bloß subjektiv für uns, werden erst a posteriori auf ein Objekt51 bezogen (gewissermaßen objektiviert) und intersubjektiv vermittelbar (wenn ein Urteil mit seinem Gegenstande übereinstimmt, so müssen alle Urteile über denselben Gegenstand auch untereinander übereinstimmen). Objektive Gültigkeit des Erfahrungsurteils [im Sinne von (1)] bedeutet nichts anderes als notwendige Allgemeinheit desselben.52
Umgekehrt aber muß ein Urteil, daß wir für notwendig allgemeingültig halten,53 für ein objektives54 gehalten werden: Also ist darin nicht bloß die Beziehung einer Wahrnehmung auf ein Subjekt55 gegeben, sondern die Beschaffenheit eines Gegenstandes ausgedrückt.56 Denn es gibt keinen Grund anzunehmen, warum andere Urteile (bezüglich desselben Gegenstandes) notwendig mit dem meinen übereinstimmen müßten, wenn nicht die Einheit57 des Gegenstandes wäre, auf den sich alle Urteile beziehen und mit dem sie übereinstimmen und daher untereinander zusammenstimmen müssen.58
Daher sind objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeinheit Wechselbegriffe#) [im Sinne einer Äquivalenz]:59 Obwohl wir das Objekt an sich60 nicht kennen [noumenon], ist bei einem Urteil durch dessen gemeingültige Notwendigkeit objektive Gültigkeit verstanden. Wir erkennen durch solch ein Urteil das Objekt [doch nicht das noumenon]61 durch allgemeingültige und notwendige [apriorische] Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen: Dies ist für alle Gegenstände der Sinne (eben die Phänomene)62 der Fall.
Erfahrungsurteile haben daher ihre objektive Gültigkeit nicht von der unmittelbaren Erkenntnis des Gegenstandes [cognitio nouminis] - "denn diese ist unmöglich"63 -, sondern (»bloß«) von der Bedingung der Allgemeingültigkeit der empirischen Urteile: Diese Bedingung beruht niemals auf empirischen oder (auch) sinnlichen Bedingungen,64 sondern auf einem (der) reinen Verstandesbegriffe65 [Kategorien bzw. Prädikamente oder daraus abgeleitete Prädikabilien].66 Unbekannt bleibt dabei immer das Objekt an sich selbst [noumenon]; wird durch den Verstandesbegriff die Verknüpfung der Vorstellungen als allgemeingültige (und notwendige)67 bestimmt, so wird der Gegenstand durch dieses Verhältnis [phänomenal] bestimmt, und dieses Urteil ist objektiv.
KANT erläutert exemplarisch: Daß das Zimmer warm, der Zucker süß, der Wermut widrig sei,68 sind bloß subjektiv gültige Urteile. Es ist dabei nicht verlangt, daß das Subjekt oder jeder andere (diese Urteile) jederzeit so (emp)finden soll,69 darin ist nur die Beziehung zweier Empfindungen (Eindruck des Zimmers und der Wärme, des Zuckers und der Süße, etc.) auf dasselbe (wahrnehmende, empirische) Subjekt ausgedrückt und nur im jeweiligen Zustand der Wahrnehmung dieses Subjekts.70 Solche Urteile sollen auch gar nicht vom Objekte gelten, es sind (daher) Wahrnehmungsurteile.
Ganz anders bei Erfahrungsurteilen: Was die Erfahrung ein Subjekt lehrt, muß sie dieses (beliebige) Subjekt jederzeit und jedes Subjekt lehren (also im Sinne des modernen Intersubjektivismus),##) die Gültigkeit eines solchen Urteils schränkt sich nicht auf das (empirische) Subjekt oder dessen jeweiligen Zustand ein.71 Daher nennt KANT die Erfahrungsurteile objektiv gültige (wir würden heute eher von intersubjektiv gültigen reden).
Zum Beispiel ist das Urteil über die Elastizität der Luft zunächst ein Wahrnehmungsurteil, indem man zwei Empfindungen in den Sinnen aufeinander bezieht (die Nachgiebigkeit und die Luft selbst). Soll es aber Erfahrungsurteil heißen, so ist verlangt, daß diese Verknüpfung unter einer Bedingung steht, welche sie allgemein gültig (und notwendig) macht.72 Intendiert ist dabei also, daß das urteilende und jedes solche Subjekt jederzeit73 "dieselben Wahrnehmungen unter denselben Umständen notwendig verbinden müsse".-74
Indem nun für KANT ein Kriterium vorhanden ist, die Sicherheit und Gelungenheit einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis aus Erfahrung an dieser gewonnenen Bedingung allgemeingültiger Notwendigkeit zu prüfen, ist die Begründung des Objektivitätsanspruches er Naturwissenschaft erfolgt. So bleibt es im weiteren KANTs Aufgabe, Erfahrung und ihre intellektiven Bedingungen selbst zu zergliedern und ihrem Begriffe nach weiter aufzuschließen.---
0 Im folgenden
werden unter fortlaufender Nummer in Fußnoten KANT'sche Begriffssetzungen
und Termini aus Prol mit der vorherhergehenden KrV
verglichen bzw. über die terminologische Betrachtung hinausgehende
Erörterungen und Interpretationsansätze von KANTs Begründung
der Naturwissenschaft in transzendentaler Hinsicht behandelt.
Über KANT hinausgehende kleinere Beiträge und Anmerkungen
historischer bzw. philosophiegeschichtlicher Art, wie sie sich an Diskussionsthemata
beim Abhalten des Referats (im Seminar von Prof. Jörg SALAQUARDA im
Sommersemester 1994) selbst ergeben haben, werden in nachträglichen
Fußnoten mit nichtnumerischer Kennzeichnung eingefügt. Unter
diese sind auch persönliche Überlegungen des Referenten zu zählen,
welche einzelne Themata ihrer Sache nach betreffen, sofern sie nicht
schon unter den numerischen Fußnoten zu KANT selbst vorgebracht wurden.
Die Frage nach der Möglichkeit bzw. Bedingung derselben
betreffs reiner Naturwissenschaft referiert auf deren Apriorität
(darum "rein", vgl. Fußnote 12).
Diese Fragehinsicht, die eine wesentliche Motivation der KANT'schen epistemologischen
Philosophie ausmacht, läßt die Interpretation zu, KANTs Philosophie
als eine Wissenschaftstheorie zur NEWTON'schen Physik zu betrachten
(wie im Neukantianismus vertreten und noch entfaltet):
Der Anspruch besteht hierbei, wie KANT (s. u.) zu betonen
weiß, daß Naturwissenschaft in ihrer realistischen Erkenntnis
der Natur (unter welcher freilich KANT nur den Inbegriff von Phänomenalität
versteht) nicht allein aus Empirie ihre Daten und Informationen gewinnt
(wie es etwa ein Empirismus vermeint), sondern darüber hinaus der
menschliche Verstand "vor aller Erfahrung" und darum a priori
diese Naturerkenntnis in ihrem Zustandekommen und Fortschreiten anleitet.
Die Grundsätze des aktualen Verstandes erfassen somit die Prinzipien
der Natur (s. u.), insoferne die Bedingungen der Möglichkeit, daß
es Natur (als Inbegriff der Erscheinungen) gibt und daß wir real
Gegenstände (phaenomenaliter) erkennen können, in eins
fallen.-
*)
Was KANT hier unter Natur versteht, setzt einen Begriff von Naturgesetz
in dessen "klassischen" neuzeitlichen Bedeutung voraus (also
nicht im Sinne der Frage nach dem Verhältnis von physis und
nomos, nach Naturgesetz als Naturrecht im rechtsphilosophischen
Sinn).
Weiters fällt auf, daß KANT Natur nur hinsichtlich
des Daseins (phänomenaler) Dinge thematisiert, also als Inbegriff
phänomenaler Existenz, nicht aber vordergründig hinsichtlich
einer Realität des Naturgeschehens als Sachhaltigkeit und Aktualität
von Natur, die sich in Phänomenen als daseiend erschließt:
Das Dasein (phänomenaler) Dinge erfolgt für KANT
[notwendig] aus der Konsistenz jener hier angezogenen allgemeinen Gesetze.
Die Frage freilich, welche Realität (an Sein) der Natur und den Erscheinungen
vorausgeht und diese hinreichend zuläßt, inwiefern also der
Existenz von Phänomenen (natura naturata) ein Wesen der Natur
(natura naturans) voraussetzt, stellt KANT nicht: Für KANT
ist das Problem, was "Dasein" heißt (nicht bloß
terminologisch, sondern der Sache nach) und was Existenz eigentlich ist
(bedeutet und essentiell ist), noch nicht gegeben, weil für ihn ein
Begriff der Realität selbst noch durchaus (im naturwissenschaftlichen
Paradigma seiner Zeit) selbstverständlich ist als einer der
Existenz und des Existenten.
So kann KANT Existenz recht einfach als aus der Konsistenz
allgemeiner Gesetze (eben den Naturgesetzen, ihrem analytischen Grundsatze
nach, zu dem freilich noch die Erfüllung des synthetischen hinzutritt)
ableitbar verstehen. Was freilich die Existenz solcher Naturgesetze bedeutet,
ist für ihn nicht zur Frage gestellt, sondern letztlich mit der Natur
(er lehnt ja den subjektiven Idealismus eines BERKELEY ab) bereits gegeben.
Seine Philosophie der Natur ist also eine, die sich immer im Spiel der
Begriffspaare von Natur und Gesetz, Existenz und Phänomen, Erfahrung
und Erkenntnis entspannt, ohne eine gemeinsame Wurzel solcher Begrifflichkeiten
(wie er es ja dezidiert für Anschauung und Verstand sogar als unbekannt
feststellt) zu suchen bzw. aufgefunden zu haben, was gleich vorweg eine
Schranke (und nicht etwa eine Grenze) des KANT'schen Ansatzes darstellt.-
**) In eckigen Klammern [ ... ] wird jener ergänzte Textteil des skriptiven Referats von mir gestellt, der eindeutig über den KANT'schen Text des Prol hinausgeht, aber immer noch im Sinne KANTs zu verstehen ist bzw. ihn verständlicher machen soll. In runde Klammern ( ... ) werden Textteile gestellt, die direkte Ergänzungen in KANTs Sinn, wenn nicht gar mit dessen eigenen Worten (dann meist aus der KrV), darstellen.-
1 "... weil ich nicht wissen will, was in meinem Begriffe von einem Dinge enthalten sei, (denn das gehört zu seinem logischen Wesen) sondern was in der Wirklichkeit des Dinges zu diesem Begriff hinzukomme, und wodurch das Ding selbst in seinem Dasein außer meinem Begriffe bestimmt sei" (Prol S. 55).-
°) Gemeint ist der Verstand des urteilenden Subjekts, das Dinge bzw. die allgemeinen Gesetze, unter denen deren Dasein steht, erkennen will, darum die grammatikalische Form direkter Beziehung auf ein Subjekt in der ersten Person. KANTs Epistemologie ist im Ansatz freilich immer eine Epistemologie erster Person bzw. der Subjektivität, insoferne diese (was für ihn unbestrittene Voraussetzung aufgeklärter Vernünftigkeit ist, vgl. was zum Begriff der "Intersubjektivität" gesagt wird) für alle Subjekte als notwendige Möglichkeit gedacht wird.-
2 Die Unterscheidung aller Gegenstände in phaenomena und noumena trifft KANT in der KrV erst relativ spät (B 294 ff.), in Prol § 30 (S. 79 f.).-
°°)
Damit wären notwendigerweise die Dinge a posteriori als Noumena
bestimmt: Notwendigkeit ist aber für KANT Kennzeichen von Analytizität:
Die Urteile a posteriori drohen dann zu analytischen
zu werden, was die Aufgabe eines Realismus-Anspruches bedeuten würde
und den empirisch-apriorischen (synthetisch apriorischen) Urteilen ihres
Charakters, auf dem der Anschauung korrespondierenden Data zu
operieren, beraubte. Erfahrung in ihrer Verstandesgeleitetheit durch die
Kategorien (reinen Verstandesbegriffe oder Prädikabilien)
würde nicht mehr Kriterium der Erkenntnis phänomenaler
Gegenstände sein können.
Wenn zudem die allgemeinen Gesetze den Dingen außer
meiner subjektiven Erfahrung notwendig zukommen würden, dann wäre
eine aposteriorische Erkenntnis von Allgemeinheit schlechthin über
die komparative Allgemeinheit der Induktion hinaus möglich.-
3 "Nun
lehrt mich die Erfahrung zwar, was dasei, und wie es sei, niemals aber
daß es notwendiger Weise so und nicht anders sein müsse"
(Prol S. 55).
Der Terminus "Notwendigkeit" scheint bei
KANT hier eine necessitas de re zu sein (wie auch in KrV B
106 und B 111 [Kategorientafel, Kategorie der Modalität],
B168 ff. [dem Begriffe einer Kategorie gehöre Notwendigkeit
wesentlich an], in B 184 [Schema der Notwendigkeit als Dasein eines
Gegenstandes zu aller Zeit], B 265 ff. [Postulate des empirischen
Denkens überhaupt], etc.), anderswo aber eher eine de dicto
(so in KrV B 3 f., B 12 [hier als Analytizität], B 13,
B 15 [reine Mathematik], B 41 [apodiktische Sätze der Geometrie
"z. B. der Raum hat nur drei Abmessungen", wobei fraglich ist,
ob gerade dieser nicht im Sinne KANTs eine Notwendigkeit de re dicendi
darstellt, weil Geometrie ohne diesen Satz für KANT nicht denkbar
ist], etc.), ist in aber stets in beiden Verwendungen als Bestimmung
des a priori gedacht.
Eine durchgängige Systematik, nach welchen Prinzipien
nun Notwendigkeit de dicto oder de re bestehe, scheint mir
bei KANT nicht zu bestehen, er dürfte den Begriff in beiderlei Sinn
zu gebrauchen (doch kennt er sehr wohl andere Unterscheidungen, so in subjektiver
und objektiver Notwendigkeit etwa in Prol S. 8).
Von einem Standpunkt intensionaler Logik aus (wie
sie als Modallogik in bewußter Absetzung von aristotelischer
Syllogistik entstand) müßte man sich für eine necessitas
de dicto entscheiden und Notwendigkeit als die Wahrheit eines Satzes
in allen möglichen Welten (als Gesamtheit denkbarer Sachverhalte)
verstehen (so in der Semantik nach S. KRIPKE).
Es ist aber fraglich, ob dann noch eine Transzendentalphilosophie
möglich ist (müssen z. B. die reinen Verstandesbegriffe in allen
möglichen Welten zur Anwendung im Erkenntnisakt kommen, wäre
nicht z. B. eine mögliche Welt denkbar, in welcher der Mensch alles
rein analytisch a priori erkennen kann, also eine Welt rein mathematisch-logischer
oder auch geometrisch-logischer Sachverhalte ?).-
4 In seinem Hauptwerk freilich expliziert KANT diese Absage an das Induktionsprinzip, das nur komparative Allgemeinheit erreichen könne: Vgl. KrV B 3 f.(in nuce eine Vorwegnahme eines POPPER'schen Falsifikationismus bzw. des Fallibilismus des kritischen Rationalismus, siehe seine GPE und LoF), B 123 f., etc.-
6 Dieser Begriff wird in zweifachem Sinne in dieser Bedeutung aufgeschlossen: Vgl. Fußnote 7. KANT unterscheidet also wie - später FREGE in "Sinn und Bedeutung" (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Nr. 100, 1892, S. 25 - 50) - zwischen Art des Gegebenseins eines Begriffs (Sinn) und seiner Bedeutung.-
7 Vgl. Fußnote 2. Für KANT besteht eine eindeutige Zuordnung von Phänomen und Noumen einer Entität, sofern diese nicht (wie im Falle mathematischer und geometrischer Entitäten) durch Konstruktion zustande kommen (und dann a priori ohnehin gegeben sind im Sinne der Synthetizität).-
8 Dies ist ein Vorgriff auf §§ 36 (Prol S. 86 f.) und die dort behandelte Frage "Wie ist Natur selbst möglich", was KANT nicht nur als höchsten Punkt der Transzendentalen Philosophie bezeichnet, sondern gleichweg in materieller Bedeutung im Sinne eines Inbegriffes der Erscheinungen vermittels der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit und in formeller Bedeutung als Inbegriff der intelligiblen Regeln, unter denen die Erscheinungen stehen müssen vermittels der Beschaffenheit unseres Verstandes, beantwortet.-
%) Also Gesetze, die mit Notwendigkeit gelten (gemäß der Urteilsform der Modalität, vgl. KrV B 95 ff.) und die dem paradigmatischen Begriff der Naturgesetzlichkeit genügen (vgl. Fußnote 9).-
9 Also Gesetze, die mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit verbunden sind (KrV B 41). Zugleich gibt es eine apodiktische Modalität der Urteile (KrV B 95 und B 100 ff.); in KrV B 764 werden schließlich alle apodiktischen Sätze in Dogmata (direkt-synthetischer Sätze) und Mathemata (durch Konstruktion von Begriffen gewonnene Sätze) eingeteilt. Vgl. auch Fußnoten 3 und 7.-
11 Vgl. KrV B 34 und B 752: Materie (das Physische) als das der Empfindung Korrespondierende.-
12 "Rein" weist auf den Chrakter einer Apriorität hin.-
13
Die Unterscheidung in äußeren (Vorstellung der Gegenstände
außer uns gemäß einer Eigenschaft des Gemüts) und
inneren Sinn (Selbstanschauung des Gemüts) trifft KANT in KrV B
37 f., wobei er unter äußeren Sinn (auch) eben jene sogenannten
»fünf Sinne« versteht, die eben für uns unsere (empirische)
Sinnlichkeit ausmachen (man könnte sich freilich fragen, ob nicht
jegliche Verräumlichung sinnlicher Erlebnisse darunter fällt,
ohne daß dies in genau fünf solcher Vermögen zu gliedern
wäre).
Als Beispiel einer Wissenschaft, die den inneren Sinn zum
Gegenstande hat, führt KANT hier die Psychologie (meint aber nicht
die psychologia rationalis, die Anthropologie des Mittelalters bzw.
die scholastische Intellekttheorie) an, was uns heute natürlich eigenartig
anmutet, kennen wir doch eine (abgesehen von Sigmund FREUD) davon gänzlich
zu trennende empirische Psychologie (mit ihren verwandten und derivativen
Zweigen der Verhaltens- und Kommunikationsforschung, Psycho- un
Soziolinguistik).-
14 Als deren Beispiel einer Wissenschaft, die den äußeren Sinn zum Gegenstand hat, nennt KANT hier die Physik (ohne sich auf Fragen der Sinnesphysiologie oder Neurologie, emprischen Kognition etc. einzulassen).-
15 Diese ist aber nicht die Gesuchte reine Naturwissenschaft, wiewohl sie sich in ihren Grundsätzen der reinen Verstandesbegriffe bedient!-
16 Beide, Substanz und Kausalität, sind für KANT Kategorien, also reine Verstandesbegriffe, bedeuten demnach Aprioritäten.-
17 Den Ort der reinen Naturwissenschaft siedelt KANT sehr wohl in der allgemeinen Naturwissenschaft an: "Es finden sich aber unter den Grundsätzen jener allgemeinen Physik etliche, die wirklich die Allgemeinheit haben, die wir verlangen ..." (Prol S. 56).-
19 Später soll KANT sogar vom Inbegriff der Erscheinungen reden (denn nur diese sind erfahrbar): Vgl. weiters Fußnote 8.-
20
KANT verwendet das Wort "Natur" in diesem Absatz in doppeldeutiger
Weise einerseits als Gesamtheit von Gegenständen (Inbegriff der Erscheinungen
als Welt) und andererseits als Natur einer Sache im Sinne von deren Wesen
(Eigenprinzip, principium essentiae, principium de re).
Was die Dinge sind, setzt er im ersteren Falle nur für
phänomenal erklärbar fest, im zweiteren für letzten Endes
unmöglich zu erklären bzw. zu erkennen, indem er sie unter das
Nichterfahrbare zählt (worunter für ihn auch die Noumena fallen,
diese insbesondere und vor allem, da er von Gegenständen spricht,
die niemals Gegenstände der Erfahrung werden können). Die Dinge
mögen an sich selbst auch als Noumena von Grund auf verstehbar
sein, doch nicht für den Menschen.
Darin drückt sich aber aus, daß sich die aufklärerische
Gesinnung KANT nicht zu der Unvernunft verleitet läßt, die menschliche
Erkenntnisfähigkeit für eine vollkommene zu nehmen. Vielmehr
geht es ihm gerade darum, deren (vernünftigen) Grenzen zu entdecken
(eine Trivialität, die bekannt sein dürfte).-
@) Hier der scholastische Begriff von essentia im Sinne von natura rei.-
21 Das paraphrasiert KANT mit: " ... in irgendeinem Beispiele möglicher Erfahrung" (Prol S. 57).-
22 KANT
erläutert: " ... ob sie sich wirklich auf Gegenstände beziehen
oder reine Gedankendinge sind" (Prol S. 57). Mit Gedankending
ist das ens rationis gemeint:
Er bestimmt dies in KrV B 348 f. als leeren Begriff
ohne Gegenstand, in KrV B 475 f. im Zuge der Antinomie der Freiheit
als etwas, was in keiner Erfahrung angetroffen wird, in KrV B 571
bezeichnet er das Gedankending sogar als Hirngespinst (vgl. auch Prol
S. 52 und S. 81, wo das Wort "Hirngespinst" im Sinne von
"Gedankending" verwendet wird). Dazu sei global auf die Antinomien
der reinen Vernunft in der transzendentalen Dialektik verwiesen (KrV
B 432 ff.).
In Prol S. 81 ff. § 32 spricht er vom Noumen
und daß der Verstand dem Ding an sich Dasein zuspreche, welche keineswegs
ausgeschlossen seien; Verstandeswesen (die solches tun) werden zugelassen,
freilich mit der ausnahmelosen Beschränkung, daß wir von ihnen
nichts Bestimmtes wissen können.
(Daß MALTER im Index der Reclam-Ausgabe unter
"Gedankendinge" Prol S. 253 auf "Noumena" verweist,
ist ein wenig problematisch in Anbetracht oben zitierter Stellen aus der
KrV.)-
23 Also
über das Physische hinausgehend, eine anschauungslose Erkenntnis,
wie sie dem Menschen nicht verstattet ist:
"Wenn die Klagen: Wir sehen das Innere der Dinge gar
nicht ein, so viel bedeuten sollen, als, wir begreifen nicht durch den
reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen,
so sind sie ganz unbillig und unvernünftig; denn sie wollen, daß
man ohne Sinne doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne, folglich
daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß dem Grade, sondern
so gar der Anschauung und Art nach, gänzlich unterschiedenes Erkenntnisvermögen
haben, also nicht Menschen, sondern Wesen sein sollen, von denen wir selbst
nicht angeben können, ob sie einmal möglich, viel weniger wie
sie beschaffen seien." (KrV B 333).-
24 KANT meint, daß Naturerkenntnis ihrer Existenz nach als reale aus Erfahrung bestätigt ist (er zweifelt nicht daran, daß wir sie haben, folglich muß sie möglich sein [wobei hier Möglichkeit de dicto zu verstehen ist, wie dieser Begriff in der Modallogik gemäß KRIPKE gebräuchlich ist: Ein Satz, der faktisch gilt, also in der aktualen Welt Gültigkeit bzw. Bedeutung hat, muß ein möglicher Satz in dieser Welt sein; er kann zufällig sein in dem Sinn, daß er nicht in allen möglichen Welten faktisch ist und damit kein notwendiger Satz ist, er kann aber nicht unmöglich sein, denn das hieße, daß er in keiner möglichen Welt faktisch ist]), wobei aber die Realität der Naturerkenntnis (daß sie sich eben auf wirkliche Gegenstände der Erfahrung bezieht) a priori als gesichert anzunehmen ist.-
25 Also das, was Natur ("Welt ... , sofern sie als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird", KrV B 446) bestimmt für den (empirischen) Verstande als " ... Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln" (KrV B 263). Materialiter ist ja der Naturbegriff schon vorher bestimmt: Siehe die Fußnoten 0, 8 bzw. 18.-
26 In Prol
S. 58 paraphrasiert KANT zu den Dingen an sich selbst: "... diese
ihre Eigenschaft lassen wir dahin gestellt sein", d. h. er will das
gar nicht in Betracht ziehen. Es ist freilich fraglich, ob man »Noumen-Sein«
als Eigenschaft betrachten kann im Sinne einer (logischen) Prädizierbarkeit.
Für KANTs Auffassung von (vernunftgeleiteter) Sprache ist ja gerade
vom Ding an sich nichts prädizierbar (bzw. nur Widersprüchliches,
wie er in den Antinomien der reinen Vernunft präzisiert).
Gemeint ist wohl eher eine andere Art von Eigenschaft als
eine prädizierbare, nämlich daß Dinge an sich selbst außerhalb
jeder möglichen Erfahrung Dasein (besser wohl: Realität) haben,
eben eine Weise der Existenz, die niemals phänomenal aufweisbar ist.
Letztlich ist dieser sog. unerkennbare Rest der (stets ihren Phänomenen
korrelierenden) Noumena aber eine notwendige Voraussetzung dafür,
daß den Dingen als Phänomenen noch ein reales Sein gegeben
ist, das unerkennbar ist.
Wenn also KANT von dieser Eigenschaft absieht, so sieht er
letztlich von Prädizierbarkeit in Anwendung auf Noumena selbst
ab (und erweist sich insoferne als in der Tradition negativer Philosophie
stehend, indem er das Sein der Dinge selbst als unerkennbar erachtet).-
§)
KANT wird nicht müde, immer wieder auf die Unterscheidung von Noumen
und Phänomen hinzuweisen bzw. anzuspielen. Im Ausgang von
seiner transzendentalphilosophischen (cum grano salis erkenntnistheoretischen)
Analyse (woraus dieses metaphysische Implikat sich herleitet) und von der
ihm gegebenen (unbezweifelten) Erkenntnisfähigkeit des Menschen schließt
er auf, was an gegebenen Erkenntnissen wie möglich ist und was darüber
hinaus nicht mehr erkannt werden kann, sozusagen als Rest in gewissermaßen
nouminöser Gestalt übrigbleibt.
Als Erkenntnismöglichkeiten kennt KANT prinzipiell zwei,
nämlich Apriorität und Aposteriorität (welche
dann noch einer Doppelbegrifflichkeit von Analytizität und
Synthetizität unterworfen werden, sodaß es analytische
und synthetische Urteile a priori sowie synthetische Urteile a
posteriori, nicht aber analytische Urteile a posteriori gibt),
denen die beiden Möglichkeiten von empirischen Entitäten (Phänomenon
und Noumenon) gegenüberstehen (von den Mathemata sehen
wir ab, sie sind hier unproblematisch, weil konstruktiv auf rein
apriorische Synthetizität beruhend). Dahinter steht eine Begrenztheit
des menschlichen Erkenntnisvermögens, über die uns eine kritische
Vernunft nur negative Auskunft zu verschaffen vermag.
Bei KANT findet sich explizit kein philosophischer Gottesbegriff
derartiger Transzendentalität, daß die (transzendentale und
transzendente) Kreativität eines solchen Gottes ein Erkenntnisvermögen
darstellt, dessen erstens der Mensch ermangelt und das zweitens direkten
Zugriff auf die Noumena hätte (indem es die Dinge an sich schafft
bzw. die Dinge als Dinge an sich setzt [eventualiter ex nihilo vel nihilum
rationis dei], die - etwa im Sinne des THOMAS von Aquin - an sich und
als Noumena von Grund auf luzide und verstehbar sind für einen
hinreichend deren Phänomenalität transzendierenden Intellekt,
sodaß die Intelligibilität der Dinge eine bloß für
die sie schöpfende Kreativität Gottes gegebene ist). Dies terminologische
Erweiterung geht aber gewiß über den KANTischen Ansatz hinaus
und ist eigentlich eine spekulative Weiterführung, an der KANT nicht
gelegen sein konnte, stellt ja seine transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie
keineswegs eine theologische Theorie des Erkennens Gottes im Sinne von
Kreativität dar.-
27 Damit erteilt KANT eine Absage an die Annahme, man könne die Gesetze, nach denen das Wesen der Dinge an sich (essentia noumenum; vgl. Fußnote 38) zustande kommt und Sein hat, erkennen.-
29 Das ist eine Reflexion auf die Erkenntnis der Natur selbst, es gilt zu erkennen, wie Naturerkenntnis a priori möglich sein soll. Dies führt zu der bekannten Reflexion auf die Erkenntnisart (Erkenntnisform): Vgl. dazu Fußnote 37.-
§§) Nicht allein an dieser Stelle (Prol S. 58) wird bei KANT zumindest eine sprachliche Prägung seiner Schreibart durch scholastisches Philosophieren spürbar.-
30 Er fügt pedantisch hinzu: " ... freilich aber nicht von ihnen als Dingen an sich selbst, dergleichen aber hier auch in keine Betrachtung kommen" (Prol S. 58).-
31 Es ist eben doch nicht einerlei, denn KANT entscheidet sich dezidiert (Prol S. 58) für "erstere Formel", also für das Argument (1).-
32 Der Verständlichkeit halber frei nachformuliert nach den entsprechenden (aber etwas altertümlich klingenden) Sätzen KANTs in Prol S. 58 (man soll ihm ja Altertümlichkeit der Sprache bereits zu Lebzeiten vorgehalten haben, wiewohl gerade ein anderer Sinn dieser Formulierung in KANTs Original, als jener, den wir in unserer Übertragung anzogen, nicht auszuschließen ist, diese freie Formulierung als nicht vorbehaltslos bleiben oder hingenommen werden sollte).-
33 Diese Formulierung der Kausalität findet KANT ungenau, weil dabei nicht klar wird, daß die Regel, die das Geschehende unter eine Ursache-Folge-Beziehung als Kausalnexus subsumiert, eine apriorische des Verstandes (eine Kategorie) ist: Daß die Erscheinungen dem Kausalprinzip gehorchen, ist eben eine Leistung einer subjektiven, dennoch aber allgemeinen Gesetzesmäßigkeit des Verstandes.-
$) Diese letztere Fassung des Kausalitätsbegriffes, die inhaltlich ja jedem intuitiv einleuchtet, lehnt KANT freilich ab, weil in ihrer Form kein Bezug zu dem gegeben ist, was er als das Relevante entdeckt zu haben sich rühmen dürfte, nämlich den Beitrag des Intellekts in Form der Kategorien (bzw. Prädikabilien).-
$$) Dies
ist ja bekanntlich KANTs Einwand gegen den HUME'schen skeptischen Empirismus,
für den Kausalität selbst nur empirischer und daher kontingenter
Natur war, sodaß er sie einfach als eine Gewohnheit (nämlich
Sinnesdaten in ihrer Assoziation im Verstande als kausale Abfolge von Ereignissen
zu interpretieren) verstehen konnte, eine Gewohnheit also, die auf jenen
empirischen Fundamenten ruht, von denen KANT sie freilich durch die Fassung
der Kausalität als Kategorie befreit hat, sodaß die apriorische
Sicherheit ihrer Anwendung für das erkennende Subjekt gegeben ist.
HUME habe, so KANT, ihn aus seinem dogmatischen Schlummer
geweckt: KANT blieb es ja vorbehalten, zwischen dem Skeptizismus der Empiristen
bezüglich eigenständiger Apriorität von Verstandesleistungen
bzw. intellektuellen Begriffen der Intelligibilität der Natur
und dem Dogmatismus der Rationalisten, unkritisch dem Erkennen vernunftgeleitete
Vermögen ohne Untersuchung der Vernunft in deren Grenzen zuzuschreiben,
auf eine konstruktive (lies: nicht destruktive) Art und Weise hindurchzusteuern,
um ein Ergebnis zu erbringen, daß u. a. eine Naturwissenschaft als
tatsächliche und begründete Möglichkeit bestätigte.
Mit KANT setzt eine Reflexion auf den Menschen und die in
ihm schon immer angelegte Fähigkeit zum Erkennen ein, ein Nachvollzug
der kopernikanischen Wende, wie KANT es ja selbst zu sagen weiß in
der Vorrede zur zweiten Auflage seines Hauptwerkes:
"Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse
sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über
sie a priori etwas durch Begriffe auszusagen, wodurch unsere Erkenntnis
erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche
es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser
fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich
nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten
Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die
über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen
soll. Es ist hiermit ebenso, als mit dem ersten Gedanken des KOPERNIKUS
bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegung nicht
gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den
Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er
den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ."
(KrV B XVI, bekanntermaßen eine klassische, im Übermaß
zitierte Stelle).-
34 Dies ist sozusagen eine Erkenntnis zweiter Ordnung; vgl. Fußnote 37.-
36 Diese allgemeinen und subjektiven Gesetze sind eben der aktive Beitrag, den das Subjekt für das Zustandekommen von Erkenntnis liefern muß.-
37 Prol
S. 59. In KrV B 25 f. spricht KANT bezüglich der transzendentalen
Erkenntnis von Erkenntnisart: "Ich nenne alle Erkenntnis transzendental,
die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart
von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt
beschäftigt."
Auch an anderen Stellen redet KANT von Form von Erkenntnis,
so in KrV B 84 f. (Erkenntnis der bloßen Form nach mit Beiseitesetzung
allen Inhalts, ihr gibt die Logik als apriorische Regulierung des
Verstandes Wahrheitskriterien vor) u. a. m.; stets meint er jedoch damit
die Bedingung der Möglichkeit im subjektiven Gesetze der Erkenntnis
aus Gegenständen der Erfahrung.-
38 Also vom Wesen der Dinge an sich (nach KANT bekanntlich nicht erkennbar, weil jenseits der Grenze der Erfahrung befindlich, die zugleich die des Erscheinens ist).-
39 Prol S. 59.-
40 Prol S. 59.-
41 Das
sind eben jene Regeln, die in der allgemeinen Naturwissenschaft propädeutisch
als angemessene Methodik für eine Wissenschaft erlernt werden
müssen, aber immer auf Erfahrung rekurieren:
Etwa nach welchen Regeln ein Physiker Experimente zu vollführen
hat und was dabei grundsätzlich zu beachten ist, wie z. B. Beachtung
systematischer und statistischer Fehler beim Messen, Ausschließung
störender Einflüsse, die nicht zum Explanandum gehören,
Einbeziehung möglicher Faktoren, die sich aus der Materie des
untersuchten Gegenstandes ergeben, die aber nicht das Ziel der theoretischen
Fragestellung und der Operationalisierung derselben darstellen, so etwa
bei Fallversuchen eventuell ablenkende Wirkungen von Magnetfeldern auf
fallende Metallstücke, etc.: vgl. überdies Prol §
15 S. 56.-
42 Das ist implizit eine Ablehnung des Induktionsprinzips im gefragten Themenbereich. Vgl. dabei auch Fußnote 4.-
43 Prol S. 59.-
44 Die Sinneswahrnehmung ist selber aber durch die Formen der Anschauung apriorisch geleitet, kann also nur in Raum und Zeit anschauen. Dies legt KANT in Prol § 10 S. 40 ff. dar, in KrV B 33 ff. (transzendentale Ästhetik).-
&) Der Anschauung korrespondieren ja die Erscheinungen durch ihre Phänomenalität.-
45 Die Kategorien (reine Verstandesbegriffe) selbst führt KANT systematisch in Prol erst mit § 21 auf S. 66 ein (indes in der KrV B 95 ff. dieselben schon ziemlich zu Beginn der transzendentalen Logik eingeführt werden, wie sich ja der analytische Aufbau der Prol vom synthetischen der KrV unterscheidet).-
46 Sodaß daraus erst Erkenntnis möglich ist, indem sie nur aus Erfahrung gegeben sein kann!-
47 Erst
das Zusammenkommen von Anschauung und Verstand in den Phänomenen
der Sinneswahrnehmung als Erscheinungen für die Anschauung mit
den reinen Verstandesbegriffen konstituiert für KANT Erfahrung und
damit die Grundlage objektiver Erkenntnis (also die intersubjektive Erkenntnis
eines Gegenstandes in dessen Phänomenalität).
In der KrV wird Erfahrung recht vielfältig (und
nicht immer sinnident) als synthetische Verbindung der Anschauungen (B
12 f.), als empirische Synthesis (B 196 f.), als "empririsches
Erkenntnis" (so jedenfalls B 147) und Synthesis der Wahrnehmung
(B 218 ff.), als Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen (B 161),
schließlich als Erkenntnis der Objekte der Sinne (B 218) sowie als
Inbegriff aller Erkenntnis, darin uns Objekte gegeben werden mögen
(B 296), bestimmt.
Nirgendwo spricht er wie hier in Prol davon, daß die
reinen Verstandesbegriffe (wobei er keine nicht apriorischen Verstandesbegriffe
kennt, nur noch solche außer den Kategorien, die nicht auf
den Daten der Sinneswahrnehmung operieren, nämlich die Ideen) in ihrer
Anwendung auf das durch die Sinneswahrnehmung als in der Anschauung Gegebene
die Wahrnehmung in Erfahrung verwandle. Der Erfahrungsbegriff KANTs ist
ein relativ vielschichtiger und vieldeutiger, auch terminologisch nicht
immer durchgehaltener Terminus. Vgl. auch Fußnote 36.-
48 Diese Unterscheidung in Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteile trifft KANT in dieser eingängigen Form nur in Prol § 18 ff. S. 60; in der KrV spricht er nur in B 11 ff. von Erfahrungsurteilen, aber nur bezüglich ihrer unumgänglichen Synthetizität. In KrV B 595 kennt KANT den Terminus "Erfahrungsbegriff" für einen Verstandesbegriff in concreto, indem sie in den Erscheinungen den Stoff haben für die bloße Form des Denkens, also die Kategorien.-
49 Prol S. 60.-
50 Prol S. 60.-
51 Wörtlich: "... sie gelten bloß vor uns, d. i. vor unser Subjekt, und nur hinten nachr ihnen eine neue Beziehung, nämlich auf ein Objekt" (Prol S. 60).-
52 Damit bedarf das objektiv gültige Erfahrungsurteil automatisch (also: von selbst) der Apriorität.-
53 Ein solches für notwendig allgemeingültig zu haltendes Urteil bestimmt KANT in einer Paraphrase genauer als ein Urteil "welches niemals auf der Wahrnehmung, sondern dem reinen Verstandesbegriffe beruht, unter dem die Wahrnehmung subsumiert ist" (Prol S. 60), womit er seiner Darstellung der Kategorientafel vorgreift, auf die er hier natürlich abzielt.-
54 Das schließt bei KANT auch intersubjektive Vermittelbarkeit ein. Für ihn ist der Begriff der Objektivität noch nicht problematisch geworden, wie es dann etwa für die Naturwissenschaft mit Atomphysik und Quantentheorie oder für die Sprachphilosophie des 20. Jhdt.s wurde.-
55 Eigentlich ist es ja im empirischen Urteilen nach die Beziehung eines Subjekts auf (seine) Wahrnehmung.-
56 Nämlich primär dessen Phänomenalität.-
57 KANT meint die Selbigkeit des Gegenstandes, also die Identität seiner Phänomenalität für ein Erfahrungsurteil aus Wahrnehmung und reinen Verstandesbegriffen. Diese Einheit des Gegenstandes hat substantiellen (also kategorialen) Charakter.-
58 Für KANT verbürgt also die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit eines Urteils (die durch die reinen Verstandesbegriffe gewährleistete Apriorität der Erfahrungsurteile) deren Intersubjektivität. Dies natürlich unter der (sinnvollen, weil vernünftigen) Voraussetzung, daß der menschliche Verstand für alle Menschen gleich beschaffen ist (bezüglich der Kategorien).-
#) Das
heißt nicht, daß zwischen ihnen kurzerhand Identität bestünde:
KANT weiß sehr wohl, objektive Gültigkeit eines Erfahrungsurteiles
und notwendige Allgemeinheit (Apriorität) zu unterscheiden,
insoferne erstere einfach den Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis auf
Realität der Natur bedeutet (deren Dasein unabhängig vom Subjekte
gegeben ist) und zweitere sich einfach aus dem transzendentalphilosophischen
System KANTs (als eines von deren Fundamenten) ergibt.
In Anwendung auf reine Naturwissenschaft kann KANT nun beide
Begriffe nur so in ein konsistentes System seiner Epistemologie bringen,
indem er auf ihre Äquivalenz besteht: Wenn erstere gesetzt
ist, dann ist zweitere gegeben und umgekehrt; eines ist für das andere
notwendige und hinreichende Bedingung zugleich.
In diesem Satze ist aber das gelungen, was KANT wollte, nämlich
eine Begründung von Naturwissenschaft aus apriorischen Verstandesvermögen,
ohne den Anspruch, Natur objektiv ihrer Realität nach erkennen zu
können (d. h. ohne einen Idealismus anzunehmen, der Natur bloß
als Produkt des eigenen Geistes bzw. eigener Phantasie im Sinne
eines Solipsismus ohne eine ihr eigenen objektiven, vergegenständlichbaren
Realität versteht), aufzugeben.-
59 Damit
will KANT sagen, daß objektive Gültigkeit nur durch Anwendung
von Aprioritäten (den allgemeingültigen und notwendigen
Verstandesbegriffen) zustandekommt. Dahinter steht das Wissenschaftsideal
einer sicheren objektiven Erkenntnis; nach KANT ist diese im Falle der
reinen Naturwissenschaft durch die Apriorität der Kategorien,
die bei diesen Erfahrungsurteilen angewandt werden, gegeben und damit unzweifelhaft.
Die Möglichkeit von Irrtum ist freilich immer noch vorhanden
und erklärt sich in diesem Ansatz im Bereiche empirischer Naturwissenschaft
einfach aus falscher Anwendung der Kategorien auf die Phänomene,
wie sie der Anschauung gegeben sind.
Was objektiv als gültig erkannt ist, ist notwendig und
allgemein gültig, mithin a priori. Kein Gegenstand der Natur
an sich selbst als noumenon erfüllt diese Bedingung (zumindest
läßt sich nach KANT davon nichts wissen, bloß spekulieren),
weil dem Phänomen selbst (dem Datum sinnlicher Anschauung)
ja keine Apriorität gegeben ist, sondern erst verliehen wird,
indem es durch die apriorischen Verstandesbegriffe zu Erfahrung wird.
Damit ist kein Gegenstand an sich selbst (kein noumenon)
allgemein notwendig und a priori gegeben: Auch nach KANT ist die
Welt (als Inbegriff aller Erscheinungen, KrV B 446 f.) kontingent
(!), darum aber nichtsdestoweniger faktisch und möglich.
Das Noumenon selbst ist ein Grenzbegriff, der freilich
als negative Bestimmung des Verstandes auftritt und dessen Begriff sich
unvermeidlich ergibt, um die Dinge an sich selbst (die nicht als Erscheinungen
betrachtet sind) zu benennen als durch keine der Kategorien erkennbar,
womit der Verstand rein negativ erweitert wird (sozusagen aber mit epistemischer
Notwendigkeit): vgl. KrV B 310 ff.-
60 Das ist nichts sonst als das vielzitierte "Ding an sich" (KANTs Redeweise ist hier sehr problematisch und eigentlich ungenau nach dem Maßstab seiner eigenen Kritik der Vernunft, doch freilich insoferne verzeihlich, als er hier in den Prolegomena ja bloß eine Populärversion der KrV gibt).-
61 KANT fügt wieder ein: "wenn es auch sonst, wie es an sich selbst sein möchte, unbekannt bliebe" (Prol S. 61).-
62 In KrV versteht KANT unter dem Terminus Phaenomenon "den sinnlichen Begriff eines Gegenstandes" (B 185 f.) bzw. Sinnenwesen, die Gegenstände als Erscheinungen (und nicht als Konstruktionen bzw. Mathemata) sind, "indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden" (B 306 f.).-
63
Prol S. 61. KANT erwägt in KrV B 307 eine nichtsinnliche
Anschauung (anderswo spricht er von intellektueller Anschauung, so in KrV
in der Anmerkung zu B XL): "Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen,
sofern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von
unserer Anschauungsart desselben abstrahieren; so ist dieses ein Noumenon
im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen
Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich
die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch
die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das
Noumenon in positiver Bedeutung".
Gemeint ist, daß das Noumenon als Objekt nichtsinnlicher
Anschauung negativen Verständnisses ist und das wir nicht die Fähigkeit
einer intellektuellen Anschauung haben (bei FICHTE natürlich anders).
Auf die sich anbietende Spekulation (vgl. Fußnote 23),
ob für Wesen mit intellektueller Anschauung, für die das, was
für uns Noumen (via negationis sensibilis) ist und unerkennbares
Ding an sich selbst bleibt, (intellektuelles) Phänomen (quasi intellegibilitas)
ist, und hingegen das, was für uns (sinnliches) Phänomen ist,
gar Noumen (via negationis intellectus) ist, läßt
KANT sich nicht ein (sie wäre ja auch eine kaum vernunftförmige
Spekulation).
Solche Verstandeswesen hätten dann nicht unser menschliches
Problem der Sinnestäuschung (also der falschen Anwendung des
Verstandes auf die Anschauung), sondern das der Verstandestäuschung
(falsche Anwendung der Anschauung auf den Verstand); sie hätten freilich
am ehesten das, was traditionell seit Aristoteles als höchste Erkenntnisform
gilt, nämlich direkte Intuition. (Die platonische Frage aus dem "Theaitetos",
wie Irrtum möglich ist, würde sich womöglich solchen Wesen
gar nicht stellen, sondern bloß die für uns so leicht beantwortbare,
wie Blindheit bzw. fehlende bzw. irrende Sinnlichkeit qua Sinnestaeuschung
möglich ist.)
Was aber ein Phänomen und was ein Noumen ist,
hängt für KANT vom (menschlichen) Erkenntnisapparat ab, indem
es als relativ auf die Art der Anschauung bestimmt ist (und nicht etwa
auf die Erkenntnisart oder die Art der Kategorienbildung bzw. schematische
Anwendung auf die Anschauung).-
64 Gemeint sind »empirische bzw. sinnliche Bedingungen«: Sinnlichkeit ist für KANT empirisch im Sinne der Aposteriorität.-
66 KANT nennt das Kategorien, was ARISTOTELES (bzw. dessen Interpreten) Prädikamente nannten, wobei er sagt: "Es war ein eines scharfsinnigen Mannes würdiger Anschlag des Aristoteles, diese Grundbegriffe aufzusuchen. Da er aber kein Principium hatte, so raffte er sie auf, wie sie ihm aufstießen, und trieb deren zuerst zehn auf, die er Kategorien (Prädikamente) nannte. In der Folge glaubte er noch ihrer fünfe aufgefunden zu haben, die er unter dem Namen der Postprädikamente hinzufügte. Allein, seine Tafel blieb immer noch mangelhaft. ..." (KrV B 107).-
67 In dieser Repetition (Prol S. 61) vergißt KANT die zweite Bestimmung der Apriorität, nämlich die Notwendigkeit (es sei denn, er hätte an so etwas wie die modallogische Semantik nach KRIPKE gedacht und mit Allgemeinheit gemeint, daß dieser Satz faktisch in allen möglichen Welten zutrifft, womit er ja ohnehin notwendig wäre; wir wollen ihm nicht so viel Entgegenkommen schenken, um die einfachere Erklärung vorzuziehen [ein derartiger lapsus unterläuft bald jedem Schreibenden] und im Notfall kritischer als zulässig zu sein, anstatt seine Leistung dadurch zu schmälern, daß wir ihm Kritik ersparen, wo er sie womöglich widerlegen hätte können oder sie an seinem System ohnehin zerbrochen wäre).-
68
Hier fügt KANT eine Fußnote ein (Prol S. 61), worin er
zugibt, daß die angeführten Beispiele von Wahrnehmungsurteilen
niemals Erfahrungsurteile werden können, selbst bei Zugabe eines Verstandesbegriffes:
" ... weil sie sich bloß auf das Gefühl, welches jedermann
als bloß subjektiv erkennt und welches also niemals dem Objekt beigelegt
werden darf, beziehen, und also auch niemals objektiv werden können".
Seine Intention war nur die, Beispiele von subjektiv
gültigen Urteilen zu geben, die "in sich keinen Grund zur notwendigen
Allgemeingültigkeit und dadurch zu einer Beziehung aufs Objekt enthält".
Er weist aber voraus auf die "nächste Anmerkung" (Prol
S. 65 im § 20), wo er ein "Beispiel der Wahrnehmungsurteile,
die durch hinzugesetzten Verstandesbegriff Erfahrungsurteile werden",
gibt. Dies ist sein geometrisches Beispiel der Linie:
"Der Grundsatz: die gerade Linie ist die kürzeste
zwischen zweien Punkten, setzt voraus, daß die Linie unter den Begriff
der Größe subsumiert werde, welcher gewiß keine bloße
Anschauung ist, sondern lediglich im Verstande seinen Sitz hat ... ".-
69
Das "Wahrnehmungsurteil" könnte man bei KANT durchaus und
besser: »Empfindungsurteil« nennen, wodurch sich terminologisch
das ausdrückt, was hier als angedeutete Unterscheidung von Empfindung
und Erkenntnis zum Tragen kommt:
"Eine Perzeption, die sich lediglich auf das Subjekt
bezieht, als die Modifikation seines Zustandes bezieht, ist Empfindung
(sensatio), eine objektive Perzeption ist Erkenntnis (cognitio). Diese
ist entweder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus). Jene bezieht
sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln; diese mittelbar, vermittelst
eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann. Der Begriff ist entweder
ein empirischer oder ein reiner Begriff, und der reine Begriff, so fern
er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bild der
Sinnlichkeit) heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit
der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff.
Dem, der sich einmal an diese Unterscheidung gewöhnt hat, muß
es unerträglich fallen, die Vorstellung der roten Farbe Idee nennen
zu hören. Sie ist nicht einmal Notion (Verstandesbegriff) zu nennen"
(KrV B 376).
Diese feingegliederte Unterscheidungsreihe mutet freilich
etwas scholastisch an (und ist impliziter Kern seiner PLATON-Kritik).-
##) Intersubjektivismus ist hier freilich nicht im Sinne eines naturphilosophischen Konstruktivismus gemeint, der darunter vielfach einfach nur (methodische) Konsensbildung versteht. Doch fügt in der Begründung der reinen Naturwissenschaft durch KANT der Konstruktivismus keine adäquate Interpretationsmöglichkeit bei (was im Falle der Begründung der reinen Mathematik durch KANT im Sinne des Intuitionismus sehr wohl der Fall ist).-
71 Sehr wohl aber ist das empirische Subjekt vorausgesetzt und notwendig, aber nicht hinreichend für das Zustandekommen objektiver Erfahrungsurteile.-
72 Das ist die Bedingung der Möglichkeit, Apriorität zu sein.-
73 Mit dem Bestimmungspaar von jederzeitiger Gültigkeit des Erfahrungsurteils für jedes Subjekt löst KANT den Begriff der Allgemeingültigkeit auf und gibt ihm den weiteren Sinn, daß er nur im Bereich von Subjekten und deren Zeitigung anzuwenden sei (womit er implizit die Anwendung der Allgemeingültigkeit auf Subjekte ausschließt, die keine empirischen Subjekte sind und die man mit Subjektivität begabte Noumena nennen könnte, von denen zu wissen nach KANT unmöglich ist, wiewohl es für uns denkbar wäre, daß auch hiervon eine Erfahrung nicht auszuschließen ist, freilich eine Erfahrung, die mit diesen Subjekten zu kommunizieren - unter der Annahme, daß sie KANTs System für ihre Welt und Subjektivität kennten - wohl kaum möglich wäre).-
74 Prol S. 62.- back to the very beginning
Autor |
Sigles |
Titel |
KANT, Immanuel: |
KrV | "Kritik der reinen Vernunft", herausgegeben von Ingeborg HEIDEMANN; Universal-Bibliothek Nr. 6461 [9]; Philipp Reclam jun., Stuttgart 1966 |
KANT, Immanuel: |
Prol | "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", textkritisch herausgegeben von Rudolf MALTER; Universal-Bibliothek Nr. 2468 [4]; Philipp Reclam jun., Stuttgart 1989 |
POPPER, Karl Raimund: |
GPE | "Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie", aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930 - 1933 herausgegeben von Troels Eggers HANSEN; zweite, verbesserte Auflage 1994; J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1979; Karl R. POPPER 1979 |
POPPER, Karl Raimund: |
LoF | "Die Logik der Forschung", autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Dr. phil. Leonhard WALENTIK ("The Logic of Scientific Discovery"; tenth edition 1980; Hutchinson, London 1959); zehnte, verbesserte und vermehrte Auflage 1994; J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1966/94; Karl R. POPPER 1934/1994 |
G.G. 04.05.1994,
vom 27.07.1997 bis 29.07.1997
und am 05.07.1998 sowie am 31.07.1998
zur elektronischen Dokumentation überarbeitet ©
Gerhard GELBMANN
/ Gerhard.Gelbmann@gmx.net