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Versuch 1: Einverständnis

Anmerkung:

Ab 1930 publizierte Brecht seine Arbeiten – Stücke, Materialien und Anmerkungen, Gedichte, theoretische Schriften und erzählende Prosa – eine einer Reihe großformatiger Hefte, die er "Versuche" nannte:

Die Publikation der Versuche erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo gewisse Arbeiten nicht mehr so sehr individuelle Erlebnisse (Werkcharakter) haben sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung) bestimmter Institute und Institutionen gerichtet sind (Experimentalcharakter haben) und zu dem Zweck, die einzelnen sehr verzweigten Unternehmungen kontinuierlich aus ihrem Zusammenhang zu erklären.(1)

So schrieb Brecht im 1. Heft der "Versuche". Insofern Brecht bereits eine Institution darstellt, und im folgenden versucht wird, seine Unternehmungen aus ihrem Zusammenhang zu erklären, ist es vielleicht mehr als nur Koketterie, die einzelnen Teile der folgenden Arbeit Versuche im Brechtschen Sinn zu nennen, sowohl was ihre offene, unabgeschlossene Form betrifft, als auch im Hinblick auf ihren experimentellen Charakter.


Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels
Und das er nicht
Weiß euren Nam’ noch Gesicht
Niemand weiß, daß ihr noch da seid. (8/260)

Und wenn wirs überlegen
Wir können nicht lang groß sein
Der Wind kommt und der Regen
Und machen uns eilig klein
Elendiglich und klein
Muß der Mensch dürfen sein. (8/159)

Ich, der ich nichts mehr liebe
Als die Unzufriedenheit mit dem Änderbaren
Hasse auch nichts mehr als
Die tiefe Unzufriedenheit mit dem Unveränderlichen. (8/376)

Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben!
Schauet hinan:
Es kommt nicht auf euch an
und ihr könnt unbesorgt sterben. (8/216)

Einverstanden sein, heißt auch: nicht einverstanden sein. (2)

A) Schwierigkeiten beim Ja-Sagen

Über die Schwierigkeit; Nein zu sagen, hat vor Jahren Klaus Heinrich Versuche angestellt, und ist dabei nicht zufällig auf die Figur des Herrn Keuner gestoßen.(3)

Ja-Sagen, gilt im allgemeinen als leichtere Operation. Im Grunde aber ist eines nur die Kehrseite des anderen: "Einverstanden sein, heißt auch: nicht einverstanden sein." Die Schwierigkeit, mit der wir uns hier beschäftigen müssen, ist die Frage: Ja sagen wozu, zu welchen Inhalten?

Die vorangestellten Motti verweisen schon implizit darauf, daß hier von verschiedenen Einverständnissen die Rede ist.

Selbst Jan Knopf, der, wie ich schon dankbar angemerkt habe, in mir geradezu unheimlicher Weise in seinem "Brecht-Handbuch, Theater", Material zusammengetragen hat, schreibt, wo der Terminus bei ihm zuerst auftaucht (im Zusammenhang mit dem Bild vom Rad der Fortuna im Leben Eduard des Zweiten): "Dieses Prinzip, das Brechts Thema vom "Einverständnis" fortsetzt, einverstanden zu sein mit dem, was ist, um es dann verändern zu können... (4)

Knopf schreibt hier schon von einer Fortsetzung der Thematik in Brechts viertem Stück, denn sie ist von Anfang an da.

In einer Notiz von 1938 resümiert Brecht das Thema des Baal: "Baal der Provokatör,, der Verehrer der Dinge wie sie sind, der Sichausleber und der Andereausleber. Sein "Mach, was dir Spaß macht!" gäbe viel her, richtig behandelt.(5)

Der Verehrer der Dinge, wie sie sind, ist bereits einer, der einverstanden ist mit dem, was ist, hier wird einer vorgeführt, der ja sagt zu sich, zur Welt, zu den Dingen, zur Natur und daran zugrunde geht.

Das Einverständnis ist hier in dieser ersten Schicht, ein Einverstandensein mit dem Chaos, dem Aufhören aller bisherigen Wertsetzungen.

Im Mai 1920 notiert Brecht: "Es werden Werte gefragt: Ich habe den Sinn für Werte, Erbteil vom Vater her. Aber ich habe auch Empfindung dafür, daß man vom Begriff Wert ganz absehen kann. (6) Baal sagt Ja zu sich ("hingegeben seinen Trieben ein Glücklicher" 7/2870) und damit zugleich fällt er seiner Schwerkraft folgend aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang. Baal ist "asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft." (17/947)

In seinem Vorwort: "bei Durchsicht meiner ersten Stücke" von 1954 schreibt Brecht über Baal:

Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht erblicken. Jedoch setzt sich hier ein ‘Ich’ gegen die Zumutungen und Entmutigungen einer Welt, die nicht eine ausnutzbare, sondern nur eine ausbeutbare Produktivität anerkennt. Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre Verwurstung. (17/947)

Aber mit diesem Resümee Brechts greife ich schon zu weit vor. Beschäftigen wird uns noch mit dem Begriff Einverständnis selbst. Einverständnis ist eine Art Zustimmung, und zwar eine schon bestimmte: Es hat der Verstand, die Ratio mit zu tun: Ein-Verständnis. Man hat etwas verstanden, also ist man einverstanden. Es ist nicht nur eine vage Billigung, sondern ein bewußtes Ja-Sagen oder ein Herstellen des Einverständnisses: in der Bewegung der Zustimmung lerne ich etwas, lerne ich verstehen und mich verstehen.

Es stößt hier schon ein Gegenbegriff auf, der im 2. Versuch noch näher durchleuchtet werden muß: der der Ein-Fühlung: eine übers Gefühl hergestellte Identifikation, bekanntlich die von Brecht bekämpfte Identifikation des Zuschauers mit dem Geschehen auf der Bühne im von Brecht sogenannten artistotelischen Theater.

Die Einfühlung ist ein passives Mitgerissenwerden, bei dem der Verstand ausgeschaltet wird, und das den sich Einfühlenden passiv beläßt. Einverständnis ist dagegen aktives Tun. Schon der umgangssprachliche Gebrauch, auf einen Vorschlag zu antworten: Na klar, einverstanden! ist mehr als eine bloße Bejahung, auch mehr als nur die Einsicht in einen Sachverhalt, im Sich-Einverstanden-Erklären kommt als aktives Element dazu: die Bereitschaft, mitzumachen, etwas zu tun, was aus der Einsicht folgt.

Und in diesem Tun ist auch die Verneinung mitgesetzt: Einverstanden sein heißt auch: nicht einverstanden sein. Bei solchen Sätzen steigen den Formallogikern die Grausbirnen auf, d.h. der Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch. Aber da kann man nix machen, das spricht nur gegen eine Logik, die das nicht aushält. Dieser Satz ist nur die "Brechtisierung", die Umfunktionierung des Satzes von Spinoza, daß jede Definition eine Negation sei, den Hegel mit Recht als die Grundlage der modernen Dialektik ansieht.

Die Negativität in diesem ersten absoluten Einverständnis, das ein Ja-Sagen zu sich selbst ist, liegt darin, daß es auf das Einverständnis der anderen (mit sich oder untereinander) keine Rücksicht nimmt, über sie hinweggeht, so in Gegensatz und Widerspruch gerät und daran zugrunde geht.

Er steht allerdings auch erst am Ende von Brechts Versuchen über das Einverständnis, nicht am Anfang, wo die Widersprüchlichkeiten, die es impliziert, noch ausgesprochen bleiben oder nur angedeutet formuliert werden, und daher auch alle möglichen Mißverständnisse auslösen konnten.

Eines davon ist die Subsumierung des Jugendwerks von Brecht unter den Begriff Nihilismus (so der Untertitel von P. P. Schwarz’ Untersuchung über die Lyrik des jungen Brecht: Nihilismus als Werkzusammenhang der frühen Lyrik Brechts. (7) Dabei kann man sich auf so eindeutige Zeugnisse berufen, wie auf das Gedicht "Der Nachgeborene".

Ich gestehe es: Ich
Habe keine Hoffnung.
Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich
Sehe.
Wenn die Irrtümer verbraucht sind
Sitzt als letzter Gesellschafter
Uns das Nichts gegenüber. (8/99)

Hoffnungslosigkeit, Besingen des Vergehens (Vom ertrunkenen Mädchen 8/252), Verklärung des Zugrundegehens (Ballade von Mazeppa 8/233), Einswerden mit der Natur (Vom Klettern in Bäumen 8/209) – diese Motive werden herangezogen, um Brecht in die Tradition des europäischen Nihilismus zu stellen, den Nietzsche prognostiziert und manchmal hat man den Eindruck, die Autoren meinen, auch produziert hatte. Hier fällt das Stichwort Nietzsche im Kontext der Erläuterung des Begriffs Einverständnis, aber diese Erörterung soll noch einmal aufgeschoben werden. Soviel nur: Es ist daran zu erinnern, daß Nietzsche sich nicht als Nihilist sondern als Überwinder des Nihilismus verstand, als der, der den lebensverneinenden Werten des Christentums das große Ja-Sagen in der Idee der ewigen Wiederkehr entgegenstellte. Daran knüpft Brecht an. Man darf nur nicht in Illusionen verhaftet bleiben. Es ist eine Sache der Redlichkeit, sich nichts vorzumachen, dem Nichts nicht auszuweichen, sondern sich im zu stellen. Aber das heißt beileibe nicht, sich womöglich zu seinem Anwalt zu machen.

Nochmals zurück zu dem Gedicht "Der Nachgeborene".

Später hat Brecht beabsichtigt, ein solches "Nichts" als Gesellschafter auf die Bühne zu bringen (in einem Fragment: Aus Nichts wird Nichts":

Der Denkende: Besonders gefiel mir, daß dein Nichts doch ein Mensch war, ein ganz bestimmtes Wesen mit Sonderzügen, eine besondere, einmalige Form des Nichts. Es war nicht ganz qualitätslos sozusagen, nur von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus war es ein Nichts. Der Schauspieler: Und gerade von der Gesellschaft her wollte er etwas werden!" (7/2958)

Das heißt, in diesem Versuch aus der Zeit der späten Lehrstücke wird das frühe – oder doch nicht ganz so frühe Gedicht beim Wort genommen. Es ist hier auch an das viel spätere Gedicht "Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus" zu erinnern, wo die Jünger den Meister fragen, ob sein Nirwana ein gutes, freundliches Nichts sei oder einfach ein Nichts, leer, kalt und bedeutungslos. Und der Meister antwortet: Keine Antwort auf eure Frage, denen aber, die nicht fragten, das Gleichnis erzählt vom brennenden Haus mit der Lehre:

Wirklich, Freunde,
Wem der Boden noch nicht so heiß ist, daß er ihn lieber
Mit jedem andern vertausche, als daß er da bliebe, dem
Habe ich nichts zu sagen. (9/664)

Das Nichts, das übrigbleibt, wenn die Irrtümer verbraucht sind, ist ein Durchgangsstadium, wieder ein Ausgangspunkt. Aber außerdem: wann sind die Irrtümer verbraucht? Ich erinnere wieder an eine Keunergeschichte:

Mühsal der Besten

"Woran arbeiten Sie?", wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: "Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor." (12/377)

Gerade in der Gedichtzeile, die vom "Verbrauchen der Irrtümer" spricht, ist auch vom Einverständnis die Rede. (wenn die irrtümer verbraucht sind/ sitzt als letzter Gesellschafter uns/ das Nichts gegenüber.) Nur der Einverstandene, d.h., wer seine Lage erkannt, verstanden hat, kann überhaupt erkennen, daß er sich geirrt hat. Die Nicht-Einsichtigen, die Blinden sind auch die Nicht-Einverstandenen, die sich an ihre einmal erworbenen Ansichten wie an eine Habe klammern und nicht bereit oder fähig sind, darin Irrtümer zu erkennen, ihre Ansichten, als die Irrtümer, die sie notwendig sind, zu durchschauen.

Brecht hat die scheinbar so endgültig klingende Schlußzeile, wie gesagt, zu einem neuen Anfang gemacht, zu einer Voraussetzung einer nun nicht mehr unmittelbaren, sondern vermittelten Individualität:

Es war niemand.
Wie sichtete man ihn?
Indem man ihn beschäftigte
Indem man ihn anruft, entsteht er.
Wenn man ihn verändert, gibt es ihn.
Wem er nützlich ist, der vergrößert ihn. (2/608)

Denn die Irrtümer, die da verbraucht wurden, sind die Vorstellungen vom unendlichen Wert des Individuums, von der Persönlichkeit, vom Glanz des bürgerlichen Subjekts. Es ist hier zu erinnern: Hatte nicht schon die bürgerliche Philosophie auf ihrem Höhepunkt, bei Hegel, dem Ich die Kraft der absoluten Negativität zugesprochen, den Weg des erscheinenden Bewußtsein als einen notwendigen Gang durch Irrtümer beschrieben, als Weg des Zweifels, der ein Weg der Verzweiflung ist?

Brecht hat diese Bewegung konkretisiert, in den Kontext der kapitalistischen Wirklichkeit am Ende des zweiten Jahrtausends, in die Zeiten des Einzugs der Menschheit in die großen Städte transportiert:

Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch
Eine Ausnahme machen wird.
Was eure Mutter euch sagte
Das war unverbindlich.
Laß euren Kontrakt in der Tasche
Er wird hier nicht eingehalten.
Laßt nur eure Hoffnungen fahren
Daß ihr zu Präsidenten ausersehen seid
Aber legt euch ordentlich ins Zeug
Ihr müßt euch ganz anders zusammennehmen
Daß man euch in der Küche duldet. (8/275)

So heißt es ganz nüchtern im "Lesebuch für Städtebewohner", in einem Gedicht, das wie die Antwort klingt auf die "Ballade von den Abenteuern" aus der "Hauspostille" mit den Zeilen:

Hat er seine ganze Jugend, nur nicht ihre Träume vergessen
Er aber sucht noch in absinthenen Meeren
Immer ein Land, wo es besser zu leben ist. (8/215)

Das ist auch ein verbrauchter Irrtum, das Ja-Sagen zur Natur, ohne Dach, nur den Himmel über sich. Am Ende des "Dickichts" heißt es: "Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit". (1/193)

Angesichts der Asphaltstädte versiegt auch die romantische Hoffnung auf eine Fluchtmöglichkeit im Land, wo es besser zu leben ist (in "Dickicht" hieß es: TAHITI, auch der Stadt MAHAGONNY haftet etwas davon an), das Romantische daran ist nicht der Traum von dem Land, wo es besser zu leben ist, sondern die Hoffnung, es irgendwo fertig vorfinden zu können. Solche Hoffnung ist nur mehr bei Kindern noch legitim (vgl.10/833, Kinderkreuzzug 1939). Aber damit verweise ich auch bereits wieder auf einen Nullpunkt als Durchgangspunkt. Er muß durchschritten worden sein als Vorbedingung, den Kampf hier und jetzt aufzunehmen.

Wir haben gesehen: das Einverständnis des Baal – von Brecht rückblickend als Verherrlichung nackter Ichsucht definiert, prallt mit dem Einverständnis der Gesellschaft, ihren Normen, Gesetzen und Tabus zusammen. Der Sich- und Andere-Ausleber Baal behält als letzten Außenhalt seines Einverständnisses ein Einswerdenwollen mit der Natur – das aber nur im eigenen Untergang, im Sterben im Wald sich erfüllt.

Auch der Antiheld des zweiten Stückes von Brecht, der heimkehrende Soldat Kragler im Spartacusdrama "Trommeln in der Nacht"(1/69ff.) ist auf der gleichen Ebene "einverstanden" wie Baal: als Asozialer in einer asozialen Welt. In "Bei Durchsicht meiner ersten Stücke" schreibt Brecht: "Die Auflehnung gegen eine zu verwerfende literarische Konvention führte hier beinahe zur Verwerfung einer großen sozialen Auflehnung." (17/945) Für Kragler (und hier kann die Zustimmung des Stückeschreibers nicht nur geahnt werden) ist die Aufforderung, an der Revolution, an den Kämpfen im Zeitungsviertel teilzunehmen, auf einer Ebene mit den Durchhalteparolen im Weltkrieg. Gerade die Ernüchterung, die der Soldat aus dem Krieg mitbringt, läßt ihn sich "für das große, weiße Bett" mit der "beschädigten Braut" entscheiden – für die "schäbigste Lösung", wie Brecht bekennt. (17/945) Was Brecht im späten Rückblick unterschlägt, ist die Tatsache, daß dieses "auf den Kopf stellen" aller herkömmlichen dramaturgischen Gepflogenheiten nicht nur einer literarischen Rebellion des jungen Autors entsprang, sondern ebenso einer Berechnung: "das Stück sollte Geld einbringen", es war also in seiner Schockwirkung zugleich auf ein Bürgertum zugeschnitten, das "noch einmal davongekommen war."

In "Im Dickicht der Städte", Brechts drittem Stück, sollte "ein Kampf an sich", ein Kampf ohne andere Ursache als dem Spaß am Kampf, mit keinem anderen Ziel als der Festlegung des "besseren Mannes" ausgefochten werden. Die Verbindung, die Brecht, wieder im Rückblick, zu seiner Begeisterung für den Boxsport herstellt, ist einer seiner Kunstgriffe, die durch eine kleine Zeitverschiebung mehr verdecken, als erhellen (das heißt einer Urfassung Motive unterstellen, die erst bei einer weiteren Bearbeitung auftauchen). Was Brecht "eine merkwürdige historische Vorstellung" nannte, "eine Menschheitsgeschichte in Vorgängen massenhafter Art von bestimmter, eben historischer Bedeutung, eine Geschichte immer anderer, neuer Verhaltensarten, die da und dort auf dem Planeten gesichtet werden konnten"(17/849) hat sehr deutlich mit dem "Willen zur Macht" Nietzsches zu tun, der eben nicht ein Wille zur Machtergreifung, sondern ein Prinzip der Kraftentfaltung, unabhängig von dem, was bisher Wille genannt wurde, auch "freier Wille", sich abspielt. Brecht formuliert offensichtlich bewußt vage, gibt aber in diesem Zusammenhang auch einen Hinweis auf Nietzsche: "Ich schrieb das Stück größtenteils im Freien, im Gehen."(17/950)

Die Grundidee Brechts war, von Kiplinglektüre inspiriert, die Poesie der Großen Städte zu schreiben, indem die Großstadt als der Dschungel begriffen wurde, den der Dichter des britischen Imperialismus noch in Indien fand. Das unerbittliche Gesetz des Dschungels: das Recht des Stärkeren, wie es Mogli, das Wolfskind, gelehrt bekommt, herrscht offensichtlich auch in den Zusammenballungen der Menschheit am Ausgang des 2. Jahrtausends. Es wird noch nicht als ökonomisches Gesetz der Konkurrenz durchschaut, aber es geht Brecht um die Frage: was diese Stärke eigentlich ist (sie kann auch wie Schwäche, Nachgeben aussehen) wie und wodurch einer der Stärkere wird. Dadurch kommt es zu Brechts quasi nachtwandlerischen Streifen an die wirklichen Kämpfe und ihre materiellen Ursachen.

Am Ende entpuppte sich tatsächlich der Kampf den Kämpfern als pures Schattenboxen; sie konnten auch als Feinde nicht zusammenkommen. (17/949)

Shlink, der den Kampf eröffnet, führt eine ganze Reihe von Haltungen vor, die später in den Lehrstücken als Stufen des Einverständnisses vorgeführt werden:

  1. Sich die kleinste Größe geben (vgl. auch "Die zwei Hergaben"12/405)
  2. Die Anonymität ("verwisch die Spuren"8/267)
  3. Sterben lernen (sich aufgeben... 2/587)

Sie erweisen sich als nur bedingt wirksam, denn obwohl sie zuerst als Verunsicherung des "zufällig" gewählten Gegners wirken, stellt dieser, "Garga", sich bald ein, wird er ein ebenso konsequenter "Ja-Sager". Aber er lernt nur für sich, sie kommen sich als Kämpfende nicht näher: jeder einverstanden mit sich ohne gemeinsame Basis.

Shlink: Die unendliche Vereinzelung des Menschen macht eine Feindschaft zum unerreichbaren Ziel. Aber auch mit den Tieren ist eine Verständigung nicht möglich.
...
Die Liebe, Wärme und Körpernähe, ist unsere einzige Gnade in der Finsternis! Aber die Vereinigung der Organe ist die einzige, sie überbrückt nicht die Entzweiung der Sprache. Dennoch vereinigen sie sich, Wesen zu erzeugen, die ihnen in ihrer trostlosen Vereinzelung beistehen möchten. Und die Generationen blicken sich kalt in die Augen. Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, daß es birst, es wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, daß sie alle gefrieren. Hören sie denn zu, Garga" Ja, so groß die Vereinzelung, daß es nicht einmal einen Kampf gibt...(1/187)

Während Brecht später selbstkritisch notiert. "Dämmerhaft zeichnet sich eine Erkenntnis ab: daß die Kampfeslust im Spätkapitalismus nur noch eine wilde Verzerrung der Lust am Wettkampf ist. Die Dialektik des Stücks ist rein idealistischer Art."(17/949), können doch noch zwei andere Schlüsse gezogen werden:

  1. über die idealistische Versuchsanordnung und die Mittel der Sprachkritik (darüber mehr im 2. Versuch) gelingt Brecht wie absichtslos die Entfremdungsproblematik zu formulieren, berührt er mehr intuitiv als bewußt forschend auch ihren sozialen Hintergrund, ihre Ursachen in der Herrschaft des Privateigentums. Von da her konnte Brecht sagen: Als ich das Kapital las, verstand ich meine Stücke...(15/129)
  2. konkretisierten sich die Differenzen zu Nietzsche in Brechts Versuch, ein Stück eigentlich über den "Willen zur Macht" zu schreiben.

Im Zusammenhang mit der Arbeit am "Dickicht" notiert Brecht in seinem Tagebuch:

Ich denke, daß es von einem dramatischen Dichter vielleicht nichts Unsittlicheres gibt als eine gewisse Schamlosigkeit in bezug auf die gewisse Schwäche des Menschengeschlechts, mit einem Herdentrieb geboren zu sein, ohne die zur Bildung einer Herde erforderlichen Eigenschaften aufzuweisen. Fast alle bürgerlichen Institutionen, fast die ganze Moral, beinahe die gesamte christliche Legende gründen sich auf die Angst des Menschen, allein zu sein, und ziehen seine Aufmerksamkeit von seiner unsäglichen Verlassenheit auf dem Planeten, seiner winzigen Bedeutung und kaum wahrnehmbaren Verwurzelung ab... Wehe aber dem Dramatiker, der auf die Voraussetzung sein Augenmerk lenken wollte!" (8)

Genau dies tut aber Brecht, darin mit Nietzsche übereinstimmend. Erst im "offenen Schluß, dem Ende des Kampfes aus der Unmöglichkeit des Kampfes" wird die Differenz zu Nietzsche deutlich. Wie sagt Brecht: "Ich hatte meine Ansichten zum Ausgeben, nicht zum Behalten". Im Resümee Gargas: "Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit", nimmt Brecht auch von einem Teil seiner Anschauungen Abschied. Aber ich greife vor.

Das Lustspiel "Mann ist Mann" wächst aus einem Entwurf, den Brecht schon vor der Arbeit im "Dickicht" begonnen hatte.

Der Vorwurf des Galgei hat etwas Barbarisches an sich. Es ist die Vision vom Fleischklotz, der maßlos wuchert, der, nur weil ihm der Mittelpunkt fehlt, jede Veränderung aushält, wie Wasser in jede Form fließt. Der barbarische und schamlose Triumph des sinnlosen Lebens, das in jede Richtung wuchert, jede Form benutzt, keinen Vorbehalt macht noch duldet. Hier lebt der Esel, der gewillt ist, als Schwein weiterzuleben. Die Frage: Lebt er denn? Er wird gelebt. (15/57)

Wieder ein dramatischer Vorwurf, wie er von Nietzsche stammen könnte. Könnte?

Zur Beruhigung des Skeptikers. –

"Ich weiß durchaus nicht, was ich tue! Ich weiß durchaus nicht, was ich tun soll!" – du hast recht, aber zweifle nicht daran: du wirst getan! In jedem Augenblick! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Aktivum und das Passivum verwechselt. Es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer. –

So Friedrich Nietzsche in der "Morgenröte". (9)

Es ist nützlich, den frühen Entwurf im Gedächtnis zu behalten bei der Analyse des Lustspiels von 1925. Im "Mann ist Mann" wird das Thema des Einverständnisses erstmals explizit gemacht. Der Held des Stücks, der Packer Galy Gay, wird vorgestellt als ein Mann, der nicht Nein sagen kann, dem der Mittelpunkt eines eigenen Willens fehlt. Die Figur des wuchernden Fleischklotzes ist verkümmert (aber es ist immer noch, wie seine Frau sagt: "ein Elefant, der das schwerfälligste Tier der Tierwelt ist, aber er läuft wie ein Güterzug, wenn er ins Laufen kommt," ... aber "er hat ein weiches Gemüt." (1/299) Seine Identität ist eine irgendwie verkümmerte.

Ich habe an anderer Stelle(10) zu zeigen versucht, daß der Titel des Stücks nicht zufällig die Form des logischen Satzes der Identität hat, daß es Brecht darauf ankommt, in einer logischen Untersuchung und beileibe nicht psychologisierend die Frage der Identität zu untersuchen. Dem Stück merkt man die um diese Zeit begonnenen ernsthaften philosophischen Studien Brechts an. Schon hier: er muß es genau wissen. Es sind vor allem Studien über die Zweifelslehre des Descartes und ein Studium der Dialektik Hegels. Einerseits wird der heraklitische Fluß der Dinge besungen, aber es wird schon die Hegelsche Logik angewendet: die dramatische Entwicklung deckt sich verblüffend mit der Entwicklung der Reflexionsbestimmungen im 2. Band der Logik.

Ob Brecht zu dieser Zeit schon die Marxismusstudien aufgenommen hat, weiß ich nicht. Aber wenn der Schauplatz auch nur ein wieder durch Kipling angeregtes Theaterindien ist, so ist diese Wahl genial. Marx schreibt im Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, zuerst einen W. Howitt zitierend: "Die Barbareien und ruchlosen Greueltaten der sogenannten christlichen Rassen, in jeder Region der Welt und gegen jedes Volk, das sie unterjochen konnten, finden keine Parallele in irgendeiner Ära der Weltgeschichte..." dazu Marx: "Man muß dieses Zeug im Detail studieren, um zu sehen, wozu der Bourgeois sich selbst und den Arbeiter macht, wo er die Welt ungeniert nach seinem Bild modeln kann." (11)

Dies ist für Brecht der geeignete Schauplatz für eine Untersuchung, in der es um die totale Manipulierbarkeit des Individuums geht. Das Programm dieses Versuchs über die Entbehrlichkeit, bzw. Verwendbarkeit des einzelnen Individuums wird in der Rede Jesses an die Witwe Begbick präzisiert und begründet:

"Ich sage Ihnen, Witwe Begbick, von einem weiteren Gesichtspunkt aus ist, was hier vorgeht, ein historisches Ereignis. Denn was geschieht hier? Die Persönlichkeit wird unter die Lupe genommen, dem Charakterkopf wird nähergetreten. Es wird durchgegriffen. Die Technik greift ein. Am Schraubstock und am laufenden Band ist der große Mensch und der kleine Mensch, schon der Statur nach betrachtet, gleich. Die Persönlichkeit! Schon die alten Assyrier, Witwe Begbick, stellten die Persönlichkeit dar als einen Baum, der sich entfaltet. So, entfaltet! Dann wird er eben wieder zugefaltet, Witwe Begbick. Was sagt Kopernikus? Was dreht sich? Die Erde dreht sich. Die Erde, also der Mensch. Nach Kopernikus. Also, daß der Mensch nicht in der Mitte steht. Jetzt schaun Sie sich das einmal an. Das soll in der Mitte stehn? Historisch ist das. Die moderne Wissenschaft hat nachgewiesen, daß alles relativ ist. Was heißt das? Der Tisch, die Bank, das Wasser, der Schuhlöffel, alles relativ. Sie, Witwe Begbick, ich ... relativ. Sehen Sie mir in die Augen, Witwe Begbick, ein historischer Augenblick. Der Mensch steht in der Mitte, aber nur relativ." (1/340 f.)

Zwei Argumente werden gleichzeitig und gleichrangig ins Treffen geführt als Begründung für das Die-Persönlichkeit-Unter-Die-Lupe-Nehmen, dem Charakterkopf nähertreten:

Das erste ist die Technik, die große Industrie und ihre Bedingungen, die wirksamer ist als jede juridische Festschreibung, die Gleichheit dekretiert: als Gleichmachung, "Gleichschaltung", wie der bezeichnende Ausdruck der Faschisten lauten wird, die Angleichung des Arbeiters als bloßes Anhängsel an ein objektiv gewordenes Arbeitsmittel, das jede seiner Bewegungen bestimmt.

Als zweites Argument dient der Standpunkt des Relativismus aus naturwissenschaftlicher Argumentation, der in den Erkenntnissen Einsteins nur die Konsequenzen aus den Entdeckungen des Kopernikus, die die Erde aus dem Zentrum rückten, erkennt, und die relative Bedeutung des Individuums an diesem Beispiel erhellt.

Dieses zwanglose Nebeneinander von zwei Begründungsstrategien, sie werden nicht vermittelt, kommt von Brechts Haltung, Ansichten nicht zu behalten, sondern auszugeben, d.h. experimentell zu schauen, was sie hergeben. Daher auch ihr hypothetischer Einsatz: so weit ein Argument reicht, ist es gut; wenn es nicht mehr taugt, wird es eben fallengelassen. Daß Brecht auf diese Weise, indem er die britische Kolonialarmee als Maschinerie vorführt, in der das Individuum effektiv und praktisch nicht erst ausgelöscht wird, sondern schon ausgelöscht ist, wenn es eintritt (einer ist keiner, über weniger als 200 zusammen kann man gar nichts sagen 1/328) mit traumwandlerischer Sicherheit das Funktionieren des Faschismus als konsequentester Kapitalismus vorführt, war ihm zuerst gar nicht bewußt. Er wollte zeigen, daß Galy Gay, der wegging, um einen Fisch zu kaufen, in geschäftliche Transaktionen verstrickt wird (Elefantenkauf), die ihm den Kopf kosten, sich wiederfindend als Mordmaschine Jeremiah Jip, der eine Himalayafestung erobert, nicht nur nichts verloren, sondern gewonnen hat. Erst später erkannte Brecht, was er da – versuchsweise – beim Auskriechen aus einem "fruchtbaren" sozialen Schoß beobachtet hatte:

Das Problem des Stücks ist das falsche, schlechte Kollektiv (der "Bande") und seine Verführungskraft, jenes Kollektiv, das in diesen Jahren Hitler und seine Geldgeber rekrutierten, das unbestimmte Verlangen der Kleinbürger nach dem geschichtlich reifen, echten sozialen Kollektiv der Arbeiter ausbeutend. (17/951)

Da kommt ein Ruf: "Für die Freiheit!"
Aber blickt genau hin: der ihn ausstößt
ist ein Schlächter. (9/801)

Vielleicht ist es nützlich, was bisher über den Begriff des Einverständnis verhandelt, noch einmal zusammenzufassen: Der Gestus, der dem Begriff zugrundeliegt, ist, wie wir gesehen haben, ein kommunikativer, prozessualer: Einverständnis wird hergestellt zwischen mindestens zwei Personen. Seine Zurücknahme ins Ich – als Selbstbejahung, Einverständnis mit sich, setzt diesen Vorgang voraus, der zwar Verstand (ratio) ein-, nicht aber Emotion ausschließt. Fürs Individuum handelt es sich ums Vereinheitlichen von mehreren Ich-en in sich, ums Zusammenbringen von Ichteilen zur Selbstbehauptung gegenüber einer Welt, an deren Einverständnis dieses Ich nicht teilhat (Baal). Aber auch dieses asoziale Einverständnis braucht einen Außenhalt und findet ihn in einer Natur, die als einfach da-seiend, vorhanden akzeptiert wird, ohne Hoffnung auf eine verborgene Teleologie in ihr, gottlos, ein sinnloser Kreislauf, ewig gebärend und vergänglich, vernichtend, was sie hervorbringt und hervorbringend, was sie vernichtet.

Das Individuum hat so keinen von irgendwo oder wem versicherten ewigen Wert, es ist ein historisch spätes, gefährdetes Kunst(Kultur-)Produkt; es gibt keine naturwüchsige Identität der Täter, sie ist Resultat dessen, was sie tun. Das Individuum erwächst aus Anpassungsprozessen und kann nur überleben, entweder, indem es Nichtidentisches sich angleicht oder sich anpaßt: zumeist der letztere Fall. – Einverständnis ( nötig) daher mit dem Aufgeben des festen Ich (der Persönlichkeit) und Annehmen der kleinsten Größe zum Zweck des Überdauerns.

Dies alles als Konsequenz aus dem als Faktum anerkannten Befund, daß Gott tot ist, daher die überlieferten Wertsetzungen wie die Vorstellungen darüber illusionär. Die Lehre daraus: das Schicksal der Menschen ist der Mensch (geworden).

Daher: Einverständnis mit der Umänderung alles Bestehenden, da es keine Ordnung ist, aber kein "zurück zur Natur", die Aufgabe vielmehr: die Erde bewohnbar zu machen.

Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze zupfen.(12)
Friedrich Nietzsche: Zarathustra

Meinem Freunde Georg! Turin, 4.1.1889
Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren... (13)
Der Gekreuzigte

Ganz gewiß: Ich bin wahnsinnig. Es dauert nicht mehr lange bei mir. Ich bin nur noch wahnsinnig geworden.
Ich lese die letzten Briefe großer Menschen und stehle den braunen Trikotarabern vor den Leinwandbuden ihre wirksamsten Gesten. Das alles tue ich nur einstweilen. (8/81)
Bertolt Brecht

Was sind die besten Söhne? Jene, welche den Vater vergessen machen. (14)
Bertolt Brecht

B) Nietzsche bei Brecht

Ich habe schon angedeutet, daß der Begriff des Einverständnisses mit Nietzsche und seiner Philosophie zusammenhängt. Das große Ja-Sagen, die Überwindung der lebensverneinenden Moral des Christentums, eigentlich aller bisherigen Moralen, die Überwindung des Nihilismus sind zentrale Themen Nietzsches.

Jetzt soll das Einverständnis zwischen Brecht und Nietzsche, dieser so undenkbare und ärgerliche Zusammenhang zwischen dem marxistischen Stückeschreiber und dem Philosophen, der als Wegbereiter des Faschismus gilt, näher untersucht werden. Daß Brecht Nietzsche gelesen hat, ist seit langem bekannt. Es gibt außer zwei oder drei direkten Nennungen Nietzsches in Brechts Werk ein Zeugnis des Jugendfreundes Hans Otto Münsterer, und schon erwähnte Versuche, den jungen Brecht mit bestimmten Philosophemen Nietzsches in Verbindung zu bringen. Aber all dies hat bis zu Reinhold Grimms Aufsätzen und zuletzt seinem Buch: "Brecht und Nietzsche. Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück"(15) die Brechtforschung eher nur peripher beschäftigt. Jan Knopf, einer der wenigen außer Grimm, der an mehreren Stellen den möglichen Verbindungen zwischen Brecht und Nietzsche nachgegangen ist, blieb sehr vorsichtig: "Ich bin allerdings nicht so weit gegangen, eine direkte Abhängigkeit zu behaupten... wie es vielleicht naheliegen könnte" (über die Abhängigkeit von Brechts Verfremdungsbegriff von Nietzsche). Und weiter: "Damit rede ich, das scheint mir betont werden zu müssen, keineswegs einer gedanklichen Identifikation beider das Wort. Zu zeigen ist, daß die Zusammenhänge offenbar viel komplexer sind, als es die nach Eindeutigkeit strebende Brechtforschung angenommen hat..." (16)

Aber auch in seinem neuesten Buch betont Knopf im Hinweis auf Übereinstimmungen zwischen Nietzsche und Brecht, daß sie "sonst sehr vorsichtig zu ziehen sind" und erwähnt Nietzsche nur noch ein einziges Mal in diesem Band mit dem Hinweis auf die Herkunft des Bildes vom Rauch (im Lied vom Rauch im Guten Menschen von Sezuan) (4/1507 f.).

Die Vorsicht, zu der Knopf rät, scheint angemessen, wenn man die Mißverständnisse der schon erwähnten Untersuchung von P. P. Schwarz bedenkt, wobei Schwarz bezeichnenderweise davon ausgeht, daß der junge Brecht Nietzsche nicht gekannt habe.(17)

Man muß schon wie von einer Idee fixe besessen sein und von daher tiefer graben (wie es R. Grimm gemacht hat), um wirklich fündig zu werden. Bevor ich mich aber mit dem "Bruchstück" Grimms im einzelnen auseinandersetze, möchte ich hier die zweite Hauptthese dieser Arbeit formulieren, und sie dann in zwei Schritten verteidigen:

Nietzsche war der erste und nachhaltigste, aber von Anfang an vorsätzlich und sorgfältig verborgene Lehrer Brechts.

In dieser These sind mehrere Implikationen enthalten, nicht zuletzt die, daß ich, wenn es mir gelingt, sie zu erhärten, damit auch die in der Einleitung aufgestellte These, Brecht als Philosophen ins Zentrum der Betrachtung rücken zu wollen, damit abstützen zu können glaube. Aus der Formulierung der These ergibt sich allerdings die Schwierigkeit der Beweisführung sozusagen immanent: Stützt sich doch meine Unterstellung, Brecht habe den Einfluß Nietzsches bewußt verborgen, unter anderem gerade auf die Spärlichkeit des philologisch erschließbaren Beweismaterials. Ich werde daher zuerst ganz unwissenschaftliche Argumente beibringen, die meine Unterstellung zumindest plausibel machen sollen, und mich in einem zweiten Schritt mit den Ergebnissen von Grimm auseinandersetzen.

1. Steinaffe verläßt seinen Lehrer

In dem klassischen chinesischen Roman "Die Reise nach dem Westen" von Wu Ch’eng-en (18) kommt der Affenkönig, wegen seiner Geburt aus einem kosmischen Ei auch Steinaffe genannt, dem es unter seinen Affen langweilig geworden ist, zu dem Patriarchen Subodhi, einem "Unsterblichen", der ihn als Schüler aufnimmt; und da der Affe seine Geheimzeichen erkennt, unterweist er ihn auch in den geheimen Künsten der Verwandlungen, der Kunst des Wolkenfliegens, kurz allen Künsten, mit denen ewiges Leben zu erlangen ist. Steinaffe aber hält seine neuerworbenen, hart erarbeiteten Kenntnisse nicht geheim, sondern prahlt damit vor den Mitschülern, zeigt ihnen zum Spaß seine Verwandlungskunst. Als der Meister erfährt, was geschehen ist, verstößt er den Schüler:

"Und du Steinaffe ... Was hast du gemacht! Gespielt mit deinen geistigen Kräften! ... Bildest du dir ein, ich hätte dich unterrichtet, damit du dich vor den Leuten zur Schau stellen könntest? ... Wenn du mit ansiehst, wie jemand anders sich ... verwandelte, würdest du nicht auf der Stelle fragen, wie das zugeht?!!!

Wenn also andere sehen, wie du es tust, werden sich nicht dich danach fragen? Hast du nicht den Mut, die Antwort schuldig zu bleiben, so gibst du das Geheimnis preis; und bleibst du die Antwort schuldig, so wirst du sehr wahrscheinlich grob behandelt werden. Du bringst dich in große Gefahr!"

"Es tut mir entsetzlich leid", stammelte der Steinaffe. "Ich werde dich nicht bestrafen", sagte der Patriarch, "aber hier kannst du länger nicht bleiben."

Als Steinaffe für seine Lehre bezahlen will, knurrt der Patriarch: "Ich wünsche nicht bezahlt zu werden. Ich verlange nur, solltest du jemals in Schwierigkeiten geraten, daß du meinen Namen nicht hineinmengst."

"Wohin immer du gehen magst", sagte der Patriarch, "ich bin überzeugt, du bringst es zu nichts Gutem. Vergiß also nicht, wenn du in Schwierigkeiten gerätst, daß ich dir strengstens verbiete zu sagen, du seiest mein Schüler. Wenn du auch nur eine Andeutung von etwas Ähnlichem machst, werde ich dich lebend schinden, dir alle Knochen brechen und deine Seele an den Ort der neunfachen Finsternis verbanne, wo sie zehntausend Äonen verbleiben soll." Steinaffe verneigte sich vor dem Patriarchen: "Ich werde gewiß nicht wagen, auch nur eine Silbe von euch zu hauchen", versprach der Affe. "Ich sage ganz einfach, ich hätte alles ganz allein entdeckt." (19)

Ich finde, es ist angemessen, sowohl den Dichter des Zarathustra als auch den Bearbeiter so vieler Parabeln dadurch zu ehren, hier eine Geschichte einzufügen, die bis auf ihren Inhalt überhaupt nicht her gehört, nur um eine klassische Lehrer-Schüler-Situation beziehungsvoll darzustellen. (Im übrigen ist der Text so weit hergeholt wieder auch nicht. Er geht auf eine Übersetzung von Arthur Waley zurück, dessen Lyrikübersetzungen Brecht als Vorlage für seine chinesischen Gedichte benutzte. Es sollte also nicht wundern, wenn sich sogar feststellen ließe, daß Brecht den Roman gekannt hat (die Inhaltsangabe zu der geplanten Oper "Die Reisen des Glücksgottes", welche Brecht als Plan zur Wiederaufnahme des Baalstoffes 1954 erwähnt, ließe zusätzlich darauf schließen. (17/947 f.) Aber das tut hier nichts zur Sache, dem nachzugehen überlasse ich den Quellenspezialisten.) In jedem Fall wäre es eine nachträgliche Kenntnisnahme, da es sich der Sache nach um etwas handelt, was der ganz junge Brecht angesichts der Nietzschelektüre mit sich ausgemacht haben muß. Im übrigen findet sich der Topos der geheimen Unterweisung samt der Verstoßung des ungehorsamen Schülers nahezu überall, wo es Traditionen esoterischer Unterweisung gab.

Die hier vorgestellte Fassung weist einige Besonderheiten auf, auf die es mir gerade ankommt, um Eigentümlichkeiten der Beziehung Brechts zu Nietzsche zu kennzeichnen. Daß Nietzsche seine Lehre als Geheimlehre auffaßte, und sei es nur, weil er keine Zeitgenossen fand, die ihn verstünden, braucht nicht extra erörtert zu werden; daß Brecht sie so auffaßte, kann mit seinem Zarathustrasonett belegt werden (... "Daß dein Reden, für jeden nicht bestimmt, nun misset jeden ..."9/613f.). Brecht ist nun wie Steinaffe einer, der die Spielregeln nicht einhält ("So haben sie einen Verräter aufgezogen, ihn unterrichtet in ihren Diensten und er verrät sie dem Feind." 9/721) Der Steinaffe macht sich "gemein", er faßt das Wissen nicht als Selbstzweck auf, sondern bringt’s unter die Leute; dem entspricht Brechts Parteinahme für die Niederen, sein Klassenverrat. Und schließlich beachte man die Pointe im Versprechen der Geheimhaltung: "Ich sage einfach, ich hätte alles ganz allein entdeckt." Die Geheimhaltung ist so keine heroische Anstrengung, sondern stärkt das eigene Ich, wird zum Motor der Selbstbehauptung.

In diesem Sinne läßt sich schon die erste überlieferte Aussage Brechts über Nietzsche interpretieren, die Mitteilung Hans Otto Münsterers: "1916 notiert Brecht, daß er Nietzsche nicht mehr mag." (20) Nämlich, daß er Nietzsche als Nietzsche nicht mehr mag, sondern fortan als Bert Brecht.

Es ließe sich eine Menge Material aus dem Dokumentarband "Brecht in Augsburg" (21) dazu anführen, ich beschränke mich auf wenige Beispiele:

Ein Friedrich Mayer aus der Bleichstraße, in der Brecht wohnte: "Eugen Brecht hatte originelle Angewohnheiten. So konnte ich immer wieder beobachten, wie er plötzlich in die Jackentasche griff, einen Zettel hervorzog und sich etwas notierte. Er hatte stets Papier und Bleistift bei sich ... Brecht war ein Peripatetiker. Aristoteles wurde viel genannt. Im Gehen hätte er die meisten Einfälle, sagte er einmal."

Die Selbststilisierung Brechts nach dem Vorbild Nietzsches ist, finde ich, mit Händen zu greifen.

Brecht machte sich Anschauungen, Vorlieben und Feindschaften Nietzsches quasi probeweise zu eigen, gab sie als eigene vor den Freunden aus, und wurde als originell empfunden. Grimm gibt die Belegstelle aus Ecce homo: (22)

"So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung!"

Andere Zeugnisse:

"In einer Ecke des Zimmers stand lange ein Notenständer mit einer aufgeschlagenen Tristanpartitur ... Einige Zeit schwärmte er (Brecht) leidenschaftlich für Napoleon (wie Nietzsche) ... Dann wiederum war Nietzsche ..., ein andermal Hauptmann oder Wedekind ... zu sehen ... Brecht war uns einfach überlegen ... Eine Zeitlang imponierte auch Wagner, aber Brecht lehnte bei einem Streitgespräch die Meistersinger, Tristan und Walküre ab... (23)

Es kommt Brecht auf die Inhalte, so scheint es, nicht so sehr an. Er hatte damals seine Ansichten "zum Ausgeben". Was er sich zu eigen machte, waren Haltungen Nietzsches. Unter den Keunergeschichten aus dem Nachlaß gibt es eine, die darüber reflektiert:

>Über die Haltung

"Die Weisheit ist eine Folge der Haltung. Da sie nicht das Ziel der Haltung ist, kann die Weisheit niemand zur Nachahmung der Haltung bewegen.

So wie ich esse, werdet ihr nicht essen. Wenn ihr aber eßt wie ich, wird es euch nützen. ...

Was ich da sage: daß die Haltung die Taten macht, das möge so sein. Aber die Notwendigkeiten müßt ihr ordnen, daß es so werde. (12/409)(24)

Ich möchte daran anschließend eine weitere These formulieren, welche die erste von Nietzsche als verborgen gehaltenen Lehrer noch präzisiert bzw. ergänzt:

Bei Nietzsche fand Brecht ein künstlerisches Programm formuliert, eine Perspektive, der sich zu stellen für Brecht eine Herausforderung darstellen mußte.

Einmal in Nietzsches Überlegungen über eine zukünftige Kunst:

Unter Künstlern der Zukunft.
... Vielleicht dürfte man sich etwas Ähnliches auch für die Welt des Wortes versprechen und ausdenken: nämlich daß einmal ein verwegener Dichter-Philosoph käme, raffiniert und "spätgeboren" bis zum Exzeß, aber befähigt, die Sprache der Volks-Moralisten und heiligenMännern von ehedem zu reden und dies so unbefangen, so ursprünglich, so begeistert, so lustig-geradewegs, als wenn er selbst einer der "Primitiven" wäre; dem aber, der Ohren noch hinter seinen Ohren hat, einen Genuß ohnegleichen bietend, nämlich zu hören und zu wissen, was da eigentlich geschieht, – wie hier die gottloseste und unheiligste Form des modernen Gedankens beständig in die Gefühlssprache der Unschuld und Vorwelt zurückübersetzt wird, und in diesem Wissen den ganz heimlichen Triumph des übermütigen Reiters mitzukosten, der diese Schwierigkeit, diesen Verhau vor sich auftürmte und über die Unmöglichkeit selbst hinweggesetzt ist. –

Dann aber auch in viel konkreteren "Vorschlägen" wie dem der Rückkehr zur Sprache Luthers:

Die Sprache Luther’s und die poetische Form der Bibel als Grundlage einer neuen deutschen Poesie: – das ist meine Erfindung! Das Antikisieren, das Reimwesen – alles falsch und redet nicht tief genug zu uns: oder gar der Stabreim Richard Wagners!

Oder in Nietzsches Auffassungen über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen:

Für die stete Wiederholung – u – u – u – usw., den Rhythmus der Reimdichtung, sind wir musikalisch zu anspruchsvoll (vom mißverstandenen Hexameter noch abgesehen!). Wie wohl tut uns schon die Form Platens und Hölderlins! Aber viel zu streng für uns! Das Spiel mit den verschiedensten Metren und zeitweilig das Unmetrische ist das Rechte: die Freiheit, die wir bereits in der Musik, durch Richard Wagner, erreicht haben, dürfen wir uns wohl für die Poesie nehmen! Zuletzt: es die einzige, die stark zu Herzen redet! – dank Luther! (25)

Dabei kann ich nicht nachweisen, daß Brecht diese Stellen gekannt hat; nicht einmal, ob sie in den Nietzschebänden drinstehen, von denen Grimm berichtet, er habe die Anstreichungen, die möglicherweise von Brecht stammen, überprüft.

Ich halte es allerdings für legitim, sich auch etwas über den Bereich der bloßen Faktizität hinauszuwagen und unterstelle, daß Brecht hier einen Entwurf fand, von dem man jedenfalls post fest wird zugeben müssen, daß er ihm ähnlich geworden: Wer? Der Entwurf? Nein, Brecht!

Eine solche Feststellung soll im übrigen die Verdienste Brechts nicht schmälern.

Man kann auch, wenn man will, hier von Wahlverwandtschaft sprechen, wenn man eine Scheu hat, von direkter Beeinflussung zu sprechen.

Es gehören nämlich auch einige Voraussetzungen dazu, sich als ein solcher Künstler der Zukunft angesprochen zu fühlen – und daran zu gehen, ein solches Programm zu verwirklichen.

Sorgfältig prüf ich
Meinen Plan: er ist
Groß genug, er ist
Unverwirklichbar. (8/366)(26)

heißt es in einem Gedicht aus den späten Zwanzigerjahren. Als ich den Gedanken einer Verbindung zwischen Nietzsche und Brecht ins Auge faßte, ging es mir ungefähr so, wie Benjamin, als Brecht ihm sein schönstes Stalingedicht zu lesen gibt:

Ansprache des Bauern an seinen Ochsen
Nach einem ägyptischen Bauernlied, 1400 v. d. Zeit)

O großer Ochse, göttlicher Pflugzieher
Geruhe, gerade zu pflügen! Bring die Furchen
Freundlichst nicht durcheinander! Du
Gehst voraus, Führender, hüh!

...

Gestern
Hast Du gehustet, geliebter Schrittmacher.
Wir waren außer uns. Willst du etwa
Vor der Aussaat verrecken, du Hund? (9/683)

Gestern kam Brecht zu mir herüber, um mir sein Stalingedicht zu bringen, das überschrieben ist "Der Bauer an seinen Ochsen". Im ersten Augenblick kam ich nicht auf den Sinn der Sache; und als mir im zweiten der Gedanke an Stalin durch den Kopf ging, wagte ich nicht, ihn festzuhalten. Solche Wirkung entsprach annährend Brechts Absicht ... (27)

Trotz der eigenen Faszination bei der Nietzschelektüre (mitten in der Studentenbewegung) und der langen Beschäftigung mit Brecht dauerte es sehr lange, bis ich mit den Gedanken einer möglichen Verbindung überhaupt zugab, und bei der folgenden Suche nach Belegen zweifelte ich immer wieder an meinen Entdeckungen.

Der einzige gesicherte Fund schien mir zuerst das unvollendete Sonett:

Zu Nietzsches Zarathustra

Du zarter Geist, daß dich nicht Lärm verwirre
Bestiegst du solche Gipfel, daß dein Reden
Für jeden nicht bestimmt, nur misset jeden:
Jenseits der Märkte liegt nur noch die Irre.
Ein weißer Gischt sprang aus verschlammter Woge!
Was dem gehört, der nicht dazugehört ...
Im Leeren wird die Nüchternheit zur Droge. (9/613)

Nur war auch dies ein Fund mehr ex negativo. Gut, damit ließ sich die Zarathustralektüre Brechts ebenso belegen, wie mit dem offensichtlich autobiographischen Hinweis in Ziffels Memoiren in Stichworten:

Schweinereien. Casanova wegen der Bayroszeichnungen.
Maupassant. Nietzsche. Bleibtreu. Schlachtenschilderungen. (14/1412)

von dem Grimm mit Recht anmerkt:

eingeklemmt zwischen pubertärer Erotik und treudeutschen Patriotismus, scheint Nietzsche hier ein recht verschämtes und kurzatmiges Dasein zu fristen. (28)

Aber der negative Beweis lag ja in den fehlenden 7 Zeilen des Sonetts, aus der Sammlung von Sonetten, die Brecht Studien nannte und die nach seiner eigenen Definition den Genuß an den klassischen Werken nicht vereiteln, sondern viel mehr reiner machen sollen.

Damit zählt zwar Nietzsches Zarathustra für Brecht zu den klassischen Werken – aber warum hat er dieses Sonett nicht beendet? Sollten es Zweifel an der Klassizität Nietzsches, die Brecht doch kamen, oder Opportunitätsüberlegungen gewesen sein, die Brecht an der Fertigstellung hinderten. (Immerhin entstanden die sozialkritischen Sonette um 1938, zu einer Zeit, als die Formalismusdebatte auf dem Höhepunkt war, und Lukacs hatte seine Bannstrahlen gegen Nietzsche als philosophischen Wegbereiter des Faschismus bereits 1934 geschleudert. (29))

Wären solche Rücksichten maßgeblich gewesen, hätte Brecht auch das fertige Gedicht in der Schublade liegen lassen können (wie auch die Antworten auf Lukacs).

Ich wurde bei wiederholter Lektüre stutzig und verglich das Gedicht mit den anderen Sonetten. Den Bezug, den Grimm zum "Sonett vom Erbe" – und zwar einleuchtend – herstellt, hab ich allerdings nicht gesehen. (30)

Sonett vom Erbe

Als sie mich sahn aus alten Büchern schreiben
Saßen sie traurig mürrisch bei mir, die Gewehre
Auf ihren Knien und folgten meinem Treiben:
Gehst du bei unseren Feinden
(Grimm setzt ein: "bei Friedrich Nietzsche")
in die Lehre?

Ich sagte: Ja. Sie wissen, wie man schreibt.
Und zwar die Lüge, sagten sie, die Lüge.
(Und standen auf.) Ich freute mich der Rüge
Und sagte hastig (und erschrocken): Bleibt.

Das sind die Leute, die uns (Lücke)
Die uns das Brot in dünne Scheiben schneiden
Und ihres Volkes Schlägern raten: Schlagt es!
Was können die dich lehren? Sagte ich: Zu schreiben.
Und was zu schreiben? Sagte ich: Ihr sagt es:
Sie schneiden euch das Brot in dünne Scheiben.(9/615 f.)

Da fehlt der manchmal spöttische, manchmal aber bösartig höhnende und ätzende Ton der Aufdeckung der idealistischen Phrase durch die plebejische Perspektive – fast findet sich eine Huldigung, jedenfalls aber ein Einverständnis vermuten lassender Gestus in diesem halben Sonett – wie am ehesten noch in dem Kleists Prinz von Homburg gewidmeten Gedicht. (9/612)

Es findet sich jedenfalls nichts, was auf eine prinzipielle Verurteilung Nietzsches als Propheten der Lehre vom Übermenschen, als präfaschistischen Ideologen schließen läßt.

Jedenfalls begann ich Nietzsche neu zu lesen, nun im Hinblick auf Übereinstimmungen. Und es ging mir genauso, wie Grimm von Herta Ramthun, der freundlichen Helferin aller, die je im Brechtarchiv gearbeitet haben, berichtet. Auch mir kam vor, als "... klinge (das) ja immer wieder (so), als stamme es Wort für Wort von Brecht." (31)

Meine Nietzscheausgaben sind inzwischen voll von Stellen, wo ich ein großes B an den Rand gezeichnet habe, aber viele dieser Stellen erschienen mir beim näheren Zusehen wieder nicht genug überzeugend – jedenfalls habe ich es bis auf eine Andeutung(32) in meiner Dissertation vermieden, auf diese, mir mehr wie eine Nachtphantasie erscheinende "undenkbare" Koinzidenz näher einzugehen.

Doch noch ein paar Bemerkungen zu Brechts Zarathustrasonett: Ich glaube nicht, wie Grimm schreibt, daß Brecht hier Nietzsche zur Rechenschaft ziehen wollte,(33) vielleicht versuchte er es, jedenfalls ist es ihm nicht gelungen. Die einzige in den vorhandenen sieben Zeilen explizit gewordene Kritik ist die an seiner Flucht ins "jenseits der Märkte" und das ist auch der Punkt, wo Brecht die Wendung gegen Nietzsche von Anfang an vollzieht – und zwar selbst noch, wie der Aphorismus "Unter Künstlern der Zukunft" vermuten läßt im Ausprobieren einer von Nietzsche vorgeschlagenen ästhetischen Haltung.

Gerade weil Brecht sich ständig weiter in Auseinandersetzung mit Nietzsche befand, konnte er die elitären Züge, den Aristokratismus Nietzsches hier nicht ironisieren oder der Lächerlichkeit preisgeben.

Allerdings hat Brecht dies an anderer Stelle, ohne Nietzsche zu erwähnen, getan:

Eine aristokratische Haltung
Herr Keuner sagte: "Auch ich habe einmal eine aristokratische Haltung (ihr wißt: gerade, aufrecht und stolz, den Kopf zurückgeworfen) genommen. Ich stand nämlich in einem steigenden Wasser. Da es mir bis zum Kinn ging, nahm ich diese Haltung ein." (12/413)

Auch das übrigens fast mehr eine Entschuldigung als ein Angriff.

An den Schluß dieses Abschnitts will ich eine weitere Stelle aus Nietzsches Nachlaß aus den achtziger Jahren stellen, die ich jedenfalls wie eine programmatische Zusammenfassung des Baalsthema lese – gerade als Gegenentwurf gegen den abstrakten Geniekult in Johst’s Grabbedrama "Der Einsame" (34), eine Stelle, die aber auch zu verstehen ermöglicht, was Grimm das lebenslange Ringen Brechts um die Gestalt Baals nennt:

Die Wege der Freiheit: – sich seine Vergangenheit abschneiden (gegen Vaterland, Glaube, Eltern, Genossen); – der Verkehr mit den Ausgestoßenen aller Art (in der Historie und der Gesellschaft); – das Umwerfen des Verehrtesten, das Bejahen des Verbotensten: die Schadenfreude im großenStile an Stelle der Ehrfurcht; alle Verbrechen tun; – Versuch neuer Schätzungen.(35)

Und um vielleicht noch eine gänzlich ungeklärte Frage anzuschließen: Ist Baal vielleicht Brechts Name für den Gegengott, der bei Nietzsche Dionysos heißt? (36)

2. Aussparung (Reinhold Grimms Funde)

Reinhold Grimms Arbeiten habe ich bereits mehrmals andeutungsweise gewürdigt, ohne im einzelnen auf seine Untersuchungen, die er unter das gemeinsame Motto Nietzsche und Brecht stellt, einzugehen. Bisher hab ich mir nur rausgenommen, was ich brauchen konnte...

Unbestreitbar bleibt sein Hauptverdienst, solche Überlegungen und weiterführende Thesen, wie ich sie hier zur Diskussion stelle, überhaupt erst ermöglicht zu haben, die Erörterung der Beziehung Brechts zu Nietzsche aus dem Bereich bloßer Vermutungen herausgelöst zu haben.

Wenn ich so übertreiben wollte wie Manfred Voigts es in bezug auf Reiner Steinwegs Lehrstückforschung getan hat, würde ich sagen: "Es scheint, daß die Forschung über (Brecht und Nietzsche) im wirklichen Sinn erst noch beginnen muß, (Grimm) hat zu dieser Forschung erst das primäre Material zusammengetragen. (37)

Solche Sätze haben’s in sich: Wie sie ganz und gar aussparend auf den endlich erschienenen wirklichen Forscher hinweisen, der sich über den bloßen Primärmaterialiensammler erhebt. Das ist das Schöne an der Wissenschaftlichkeit: wie sublimiert da die Triebe und Affekte agieren, wie Straßenraub und Beutelschneiderei in Ethos der Wahrheitsfindung umschlagen. Also so nicht. Grimms Verdienste sollen ungeschmälert bleiben. Trotzdem will ich auch einige Kritik an Grimm anbringen. Zuerst am zufälligen Charakter des Sammelbandes:

Dadurch, daß es sich um fünf einzelne Essays und das große Bruchstück, das dem ganzen Band den Titel gibt, um in sich abgeschlossene Einzelstücke handelt, gibt es eine Menge, wie mir scheint, unnötige Redundanzen; auf der anderen Seite ist man erst recht genötigt, noch weitere Essays zum gleichen Thema an andern Orten zu suchen (z. B. in Dionysos und Sokrates, wo man dann mehr über Castri als über Nietzsche erfährt (38)). Das zum mehr Formal-Technischen.

Inhaltlich schlägt dies aber insofern zurück, als es auch im großen Essay im Grunde nur bei der Entdeckerfreude über Zusammenhänge, Belegstellen und Entsprechungen bleibt. Grimm unterstellt die Differenzen zwischen Nietzsche und Brecht als bekannt und richtet sein Augenmerk einseitig auf die Übereinstimmungen, die dann gleichrangig nebeneinander aus vier Jahrzehnten zusammengetragen werden. Und darin besteht der bruchstückhafte Charakter dieser Untersuchung. Die Fülle des Materials wird eigentlich nicht aufgearbeitet, und dafür mache ich hauptsächlich einen Wissenschaftsbegriff verantwortlich, in dem nur reine Fakten zählen und Gedanken nicht mehr zu den Fakten genommen werden. Reinhold Grimm versucht daraus auszubrechen, aber es ist eine Berufskrankheit; er hat eine Scheu, Überlegungen preiszugeben, die nicht durch einen Beleg – und sei es eine Anstreichung in einem Nietzscheband aus Brechts Bibliothek, die möglicherweise von Brechts Hand stammt (39) – nachgewiesen werden können.

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ihn nicht mehr Ahnungen, Kombinationen und Vermutungen bei seiner fast "kriminalistischen" Tätigkeit beschäftigt haben, als er zu formulieren sich traut.

Der Hauptgedanke bleibt, daß nicht nur ein peripherer, fast zufälliger Kontext mit Nietzsche in Brechts Jugend besteht (bisheriger Forschungsgegenstand), sondern daß sich über vier Jahrzehnte lang die Beschäftigung Brechts mit dem Philosophen nachweisen läßt – und dann wird noch eine Stelle gezeigt, eine Keungergeschichte aus Nietzsche gebastelt, eine Übereinstimmung belegt und, und, und – es bleibt beim Nebeneinander.

Dabei ist es durchaus vergnüglich, zuzusehen, wie Grimm die Aussparungen Brechts ausfüllt, aber die Frage, warum Brecht die Nennung Nietzsches so konsequent vermeidet, warum er dem kriminalistischen Forscher soviel Mühe macht, wird nirgends gestellt.

Nach dieser Hauptkritik noch einzelne Kritikpunkte, über die weiter zu diskutieren wäre.

Implizit vertritt Grimm die These einer nachdrücklichen Beeinflussung Brechts durch frühe Nietzschelektüre, und ein Nachwirken dieser Lektüre später, wobei zuerst Identifikationen stattgefunden hätten, wahrend "dieses Nachwirken mehr und mehr auch, obzwar beileibe nicht ausschließlich, auf Skepsis, Mißtrauen und brüske Abwehr stieß..."(40)

Schon hier würde ich einwenden, daß diese These überhaupt erst entfaltet werden müßte. Ich glaube, daß schon zu Anfang nur partielle Identifikationen stattfanden, dies auch der Doppelsinn des frühen: "Ich mag Nietzsche nicht mehr." Auf der anderen Seite halte ich die Rede vom Nachwirken für eine abschwächende Formulierung (die selbst noch unter dem Bann steht, sich den Marxisten Brecht nicht in ständiger Auseinandersetzung mit Nietzsche vorstellen zu können).

Aber findet sich nicht der thematische Vorwurf der Flüchtlingsgespräche (ich spreche jetzt nicht vom formalen, der in Diderots Dialogromanen zu suchen ist) wörtlich vorformuliert bei Nietzsche:

"Der Schaden der Tugenden ist noch nicht nachgewiesen." (41)

"Die Schädlichkeit der ‘Tugenden’, die Nützlichkeit der ‘Untugenden’ ist nie in voller Breite gesehen worden. Ohne Furcht und Begierde – was wäre der Mensch. – Ohne Irrtümer gar." (42)

Daß sich im zweiten Aphorismus noch ein Hinweis auf die Kritik der Einfühlung findet – schließlich sollte die Katharsis eine Reinigung von Furcht und Begierden bewirken, nur ganz nebenbei, wie ja Grimms Belegstellen – über die Fröhliche Kritik im Messingkauf etwa – überzeugend belegen, muß eben nicht nur ein Nachwirken, sondern zumindest eine immer einsetzende Auseinandersetzung mit Nietzsche stattgefunden haben, oder um es anders auszudrücken: hat sich nicht nur der Marxist Brecht seiner frühen Nietzschelektüren erinnert, sondern an ihnen seine Zweifel genährt, die es ihm erlaubten, sich einen Anhänger der Großen Methode zu nennen.

(12/527: Zweifelsucht Me-tis Jemand warf Me-ti sein Mißtrauen und seine Zweifelsucht vor. Er verantwortete sich so: "Nur eines berechtigt mich, zu sagen, daß ich wirklich ein Anhänger der Großen Ordnung bin: Ich habe sie oft genug angezweifelt.")

Das ist vielleicht wieder eine Unterstellung, aber woher Grimm die Überzeugung nimmt "... daß Brecht immer die Naturwissenschaften oder die Wissenschaft von der Gesellschaft meint, Nietzsche dagegen die sogenannten Geisteswissenschaften", wobei er extra betont, "die Unterscheidung ist wichtig", konnte ich nicht eruieren. Nicht nur im Nachlaß setzt sich Nietzsche ebenso mit Natur- und Gesellschaftswissenschaften auseinander, aber hier nur eine Belegstelle, etwa wenn er "Die großen Methodologen" nennt:

Aristoteles, Bacon, Descartes, August Comte. (43)

(übrigens bis auf Comte lauter Philosophen, mit denen sich Brecht gründlich auseinandersetzte.)

Auch die Kopernikusstelle, die sowohl Knopf wie Grimm zitieren, (44) spricht dagegen, ebenso wie die Ecce-Homo-Stelle über Bacon, auf die Grimm wieder verweist:

Wir wissen noch lange nicht genug von Lord Bacon, dem ersten Realisten in jedem großen Sinne des Wortes, um zu wissen, was er alles getan, was er gewollt, was er mit sich erlebt hat..." (45)

daß Nietzsche nur geisteswissenschaftliche Belange im Auge gehabt hätte. Natürlich spricht er als Philosoph und nicht als Physiker, aber das trifft ja wieder auf Brecht ebenso zu (vgl. die Kritik an Brechts und Eislers Kommentar zur Heisenbergschen Unschärferelation bei Knopf (46)).

Auch die zweite Stelle in Grimms Aufsatz, wo er noch einmal "die Brechtsche Wissenschaftlichkeit als ebenso entschieden natur- und gesellschaftswissenschaftlich wie diejenige Nietzsches, bei all ihrer Moderne, (als) eine geisteswissenschaftliche apostrophiert, ist meines Erachtens nicht schlüssig, nur weil Brecht die Vertreibung Gottes durch Wissenschaft (im Ozeanflug) d.h. Aufklärung darstellt, Nietzsche für diesen Sieg der Aufklärung selbst noch die christliche Moralität verantwortlich macht, das wissenschaftliche Gewissen als aus dem christlichen Gewissen erwachsen (im Doppelsinn) sieht. (47)

Hier, wie sonst auch, sehe ich keine Beschränkung Nietzsches auf Geisteswissenschaften, vielmehr dürfte auch Brechts Berufung auf die Naturwissenschaften (ich bin auf sozusagen kaltem Weg zum Marxismus gekommen...) selbst noch Nietzsche mehr verdanken als dem Medizinstudium.

Die Ausführungen Grimms über das Geistergespräch (48) wären zu ergänzen mit dem Hinweis, daß Brecht selber in seiner Lyrik durchaus teilnimmt daran (Die Auswanderung der Dichter (9/495), Besuch bei den verbannten Dichtern (9/663), was die Gegenüberstellung bei Grimm allerdings nur ergänzt, nicht widerlegt. An der direkt darauffolgenden Stelle über Hebbel hat Grimm die direkt auf Nietzsche verweisenden Zeilen nicht zitiert, nämlich:

Aber es ist dann noch ein ungeheurer Schritt zu jener eiskühlen und unbewegten Umluft höchster Geistigkeit – wo Recht und Pflicht aufhören und das Individuum einsam wird und die Welt ausfüllt und Beziehungen unmöglich und unnötig werden. (49)

die zugleich vor auf das Sonett über Zarathustra verweisen.

Eine Anmerkung aber noch, die sich sowohl auf den Exkurs zu Freud und von hier auf das Bild von der Regulierung von Flüssen bezieht, (50) wie auch auf den Essay Grimms über das Rad der Fortuna. (51)

Grimm vergleicht die schon einmal erwähnte Stelle vom Rad der Fortuna in Brechts früher Marlowebearbeitung "Leben Eduard des Zweiten" mit der Ballade bzw. dem Lied vom Wasserrad und spannt den Bogen bis zum Gedicht "Radwechsel" aus den Buckower Elegien.

Solche Einzeluntersuchungen erscheinen mir wichtig, weil sie am Detail deutlich machen können, wie sehr Brecht seine Interessen über lange Zeit auszudehnen verstand – und wie ökonomisch er mit seinem Vorrat an Bildern, Themen, Wörtern umging, sein Werk nicht anders behandelnd als das der Klassiker, als Fundus mit Materialwert.

Grimm vergleicht den ursprünglich allen Strophen gemeinsamen Refrain der Ballade vom Wasserrad:

Freilich dreht das Rad sich immer weiter
Daß, was oben ist, nicht oben bleibt
Aber für das Wasser unten heißt das leider
Nur: daß es das Rad halt ewig treibt. (52)

mit der späteren Änderung im Lied vom Wasserrad, das Brecht immerhin an die Spitze seiner Hundert Gedichte (von 1951) stellte. Dort heißt es jetzt in der dritten Strophe:

Denn dann dreht das Rad sich nicht mehr weiter
Und das heitre Spiel, es unterbleibt
Wenn das Wasser endlich mit befreiter
Stärke seine eigne Sach betreibt." (53)

Grimm meint nun, die Änderung des Refrains der dritten Strophe stelle keine bloß ideologische Korrektur dar (wie wieder von anderen behauptet), sondern eine Synthese zwischen zyklischem und linearem Denken, zwischen Kreislauf (Nietzsche) und Progression (Marx) dar.

"Die Gewaltsamkeit des verändernden Eingriffs, den alle Beurteiler im Lied vom Wasserrad zu spüren scheinen, rührt" vielleicht doch nicht so "unzweifelhaft daher, daß hier das Rad der Fortuna, das in Brechts finsterer Historie ohne Aufhören kreist, unvermittelt mit dem Gang des historischen Fortschritts kollidiert." (54)

Grimm hat an dieser Stelle das Bild des Wassers aus seiner Interpretation ausgeschlossen, nimmt dies Thema aber im Umweg über Freuds "Unbehagen in der Kultur", das bei Brecht zitiert wird (55), in der Untersuchung über Brecht und Nietzsche wieder auf.

Ich meine nun:

Die Gewaltsamkeit der Änderung (oder ihr Mißlingen, von dem auch gesprochen wird) hängt eben mit dem "Wasser, das mit befreiter Stärke seine eigene Sach" betreibt, zusammen.

Das Wasserrad als eine frühe technologische Errungenschaft assoziiert im Leser des Gedichts eben nicht nur Herrschaft (im Sinne des Glückrads, sondern auch sinnvolle Verwendung: Bewässerung von Feldern, Fruchtbarkeit). Dagegen ist die Befreiung des Wassers nur bedingt produktiv (Überschwemmung, Fortreißen von Häusern etc.) hauptsächlich aber Sprengung von Fesseln! Jedenfalls wird zugleich mit dem von Grimm beobachteten Umschlag der zyklischen in eine lineare Geschichtsauffassung, auch die schon von Benjamin denunzierte Vorstellung von der automatischen Kopplung technischen und gesellschaftlichen Fortschritts irritiert:

"Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stroms, mit dem sie zu schwimmen meinte." (56)

Ich halte dafür, daß Brecht mit dem veränderten Refrain der dritten Strophe zunächst nur das Aufsprengen des geschichtlichen Kontinuums – durch Stillegung der Zeit vor Augen hatte, was wieder Benjamin mit einer Begebenheit aus der Julirevolution von 1830 illustriert, daß nämlich, als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, an mehreren Stellen von Paris und unabhängig voneinander auf die Turmuhren geschossen wurde: tatsächlich also die Zeit stillstand. (57) Dem entspricht bei Brecht das: denn dann dreht das Rad sich nicht mehr weiter. Die Gleichsetzung des Wassers mit den Volksmassen, mit dem Proletariat wird in zwei späten Gedichten Brechts einmal explizit, das andere Mal unausgesprochen thematisiert:

Im Lied der Ströme (1951) heißt es:

Mächtige Flüsse hat die Erde
Daß sie viele schöne Früchte tragen muß,
Aber wir, das Proletariat, sind
Dieser Erde fruchtbarster Fluß.
Freunde, er ist auch der stärkste
Und ist für ihn kein Damm:
Über die Erde ergießt er sich
Unaufhaltsam. (10/1024)

Die zweite Belegstelle dafür ist:

"Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches" aus dem Buckower Elegien.

Die Wolga, lese ich, zu bezwingen
Wird keine leichte Aufgabe sein. Sie wird
Ihre Töchter zu Hilfe rufen, die Oka, Kama, Unscha, Wjetluga
Alle ihre Kräfte wird sie sammeln, mit den Wassern aus siebentausend Nebenflüssen
Wird sie sich zornerfüllt auf den Stalingrader Staudamm stürzen. (10/1014)

Mich hat oft die seltsam lineare "Positivität" dieses Gedichts im Kontext der Buckower Elegien irritiert, ohne daß ich mir im einzelnen Rechenschaft darüber abgelegt hätte, was da eigentlich vor sich geht. Bei oberflächlicher Lektüre liest es sich ähnlich positiv wie die Versfassung des Kommunistischen Manifests, als ein "trotzdem" in den von Selbstzweifeln, Bitterkeit, Resignation und Müdigkeit zeugenden Buckower Elegien, in denen Natur wieder auftaucht – als Anklage gegen die DDR-Wirklichkeit, wie ein Versuch, mit dem bekannten Bild von der Regulierung des Flusses am Sinn des sozialistischen Aufbaus festzuhalten.

Kontrastiert mit der Schlußstrophe des "Liedes der Ströme" gewinnen die liebevollen Personalisierungen von Mütterchen Wolga und ihren Töchtern und Enkeln plötzlich einen neuen Sinn, fügt sich dieses Gedicht in den Kontext der anderen, wie etwa

Große Zeit, vertan
Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden
Ich bin nicht hingefahren.
Das gehört in die Statistik, dachte ich
Nicht in die Geschichte.
Was sind schon Städte, gebaut
Ohne die Weisheit des Volks. (10/1010)

mehr noch, es enthüllt sich als Anklage in Sklavensprache, die Wolga selbst wird noch zu einer letzten Metamorphose der Baalsfigur als Verkörperung des sowjetischen Proletariats und seines Widerstands gegen den Stalinschen Staudamm.

"Dieses erfinderische Genie mit dem teuflischen Spürsinn des Griechen Odysseus, wird ...

Rechts ausbiegen, links vorbeigehen, unterm Boden sich verkriechen"(10/1014)

entspricht das nicht auch dem kleinen Glücksgott – dem illegalen Hetzer – Baal?

Ich will das Bild allerdings nicht überstrapazieren. Es ist nur eine Ebene, die andere, offensichtliche, legale Lesart soll damit nicht weginterpretiert werden:

...aber, lese ich, die Sowjetmenschen
Die sie lieben, die sie besingen, haben sie
Neuerdings studiert und werden sie
Noch vor dem Jahre 1958
Bezwingen.
Und die schwarzen Gefilde der Kaspischen Niederung
Die dürren, die Stiefkinder
Werden es ihnen mit Brot vergüten. (10/1014)

Dies gehört, wie schon gesagt, zu den Ergänzungen, nicht zur Kritik an Grimm.

Gerade die trüben Ahnungen Brechts über die sowjetische Wirklichkeit (daß das Stalingedicht "Ansprache der Bauern an seinen Ochsen" den Untertitel trägt "nach einem ägyptischen Bauernlied 1400 v.d.Z." ist ja auch kein Zufall) zeigen, daß die Verführung zu einem zyklischen Weltbild der ewigen Wiederkehr am stärksten die Zweifel des Marxisten Brecht nährte.

Noch ein Einwand, und eine Ergänzung.

Das Argument, daß Brechts spezifische Auffassung von Originalität mit der von Nietzsche nur bedingt übereinstimmt, mag gelten. Der Aphorismus, auf den sich Grimm beruft, freilich, gehört für mich zu denen, an denen sich Brecht ein Beispiel nahm (und den Nietzsche auf Wagner gemünzt haben dürfte, was wieder bestenfalls auf eine Ambivalenz und keine absolute Verurteilung schließen läßt:

Das Raub-Genie. – Das Raub-Genie in den Künsten (Wagner), das selbst feine Geister zu täuschen weiß (Nietzsche bis 1876), entsteht, wenn jemand unbedenklich von jung an alles Gute, welches nicht gerade vom Gesetz als Eigentum einer bestimmten Person in Schutz genommen ist, als freie Beute betrachtet (Meyerbeer, Schumann von Nietzsche im Fall Wagner erwähnt). Nun liegt alles Gute vergangner Zeiten und Meister frei umher, eingehegt und behütet durch die verehrende Scheu der wenigen, die es erkennen: diesen wenigen bietet jenes Genie, kraft seines Mangels an Scham, Trotz und häuft sich einen Reichtum auf, der selbst wieder Scheu und Verehrung erzeugt.(58)

Wie weit Brecht daraus ein Programm machte (bei seiner prinzipiellen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums), brauche ich nicht extra zu belegen; je länger geforscht wird, desto weniger "originaler Brecht" im Sinne des allein von ihm stammenden bleibt übrig. Bei Nietzsche habe ich es noch nicht probiert, aber gerade die Stelle, die Grimm heranzieht: "Werde ich es erlauben, daß ein fremder Gedanke heimlich über die Mauer steigt?" (59) gibt, wie ich glaube, mehr über den Verdauungsapparat Nietzsches Auskunft als darüber, daß er fremde Kost verachtet! Mit der Absicherung sorgt Nietzsche nur dafür, daß seine Raubzüge verborgen bleiben – ebenso wie Brecht seinerseits mit Nietzsche verfährt.

Die Keunergeschichte "Originalität" 12/379 aber, die Grimm gegen Nietzsches "Raubgenie in den Künsten" ausspielt, könnte eine kleine Ermutigung für Benjamin und seine Passagenarbeit, die bekanntlich fast nur aus Zitaten montiert werden sollte, dargestellt haben,. Aber dafür will ich nicht meine Hand ins Feuer legen, jedenfalls aber dafür, daß sie nicht gegen Nietzsche zielt.

Im übrigen kann ich Grimm auch dorthin nicht folgen, wo er Nietzsche eine säuberliche Trennung zwischen Denken und Dichten, Philosophie und Kunst unterstellt – grad, was "Originalität" betrifft. Sicherlich gibt es da viel Widersprüchliches bei Nietzsche – aber weder bürgerliches Eigentumsdenken noch Originalitätssucht. Bei Ecce-Homo-Zitaten wird’s ja auch deshalb problematisch, weil es schon am halben Weg von der Vereinsamung in die Irre liegt. Da hätte Nietzsche eher behauptet, Pascal habe seine besten Gedanken von ihm, und fast in diesem Sinn sind die Umdeutungen der früheren Schriften zu lesen. Statt Wagner oder Schopenhauer liest der späte Nietzsche nur noch sich, er blendet aus, daß er er nur wurde durch das Aufnehmen von den Lehrern: er selbst bietet sich als Beleg an für die Formulierung: "Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe." (60) Aber das führe ich nicht länger aus, das führt ins Uferlose.

Diese Uferlosigkeit betrifft sowohl Belege bei Nietzsche wie bei Brecht; obwohl ich im Rahmen dieser Arbeit sehr ausführlich auf die Frage der Zertrümmerung der Person, ihr Auseinanderfallen und ihr Verhältnis zu den Kollektiven eingehe, habe ich hier die Seite bei Nietzsche, die sich auf Rollenspiel, Vielfalt der Person etc. bezieht, eher vernachlässigt, um den Text nicht zu überfrachten.

Zwei Stellen will ich aber noch anführen:

Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen in uns:

der Dichter verrät sich in seinen Gestalten. Die Umstände bringen Eine Gestalt an uns heraus: wechseln die Umstände sehr, so sieht man an sich auch zwei, drei Gestalten. – Von jedem Augenblick unseres Lebens aus gibt es noch viele Möglichkeiten: der Zufall spielt immer mit!... (61)

Ganz ähnlich in:

Man ist reicher als man denkt, man trägt das Zeug zu mehreren Personen im Leibe, man hält "Charakter", was nur zur "Person", zu einer unserer Masken gehört...
Man irrt, wenn man einen Menschen nach einzelnen Handlungen beurteilt: einzelne Handlungen erlauben keine Verallgemeinerung. (62)

Aus der einen Ergänzung werden doch noch zwei.

Die erste betrifft noch einmal die Kopernikusstelle: ich muß sie jetzt doch auch zitieren (in der knapperen Fassung aus dem Nachlaß):

"Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins Nichts" (63)

Grimm belegt richtig, daß der gleiche Gedanke, von einer Notiz in frühen Tagebüchern, über "Mann ist Mann", über das frühe Gedicht "Von den großen Männern" bis zum Galilei reicht. Grimm spricht hier von einem radikalen Gegenentwurf Brechts:

Galileo Galilei rechnete aus:
Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell. (3/1231)

Kein "kosmischer Schauder" atmet mehr aus der kopernikanischen Erkenntnis, sondern ein "kosmisches Glücksgefühl". Grimm zitiert dann Galileis Hymne auf die "neue Zeit".

Es hat immer geheißen, die Gestirne sind an einem kristallenen Gewölbe angeheftet, daß sie nicht herunterfallen können. Jetzt haben wir Mut gefaßt und lassen sie im Freien schweben, ohne Halt und sie sind in großer Fahrt, gleich unseren Schiffen, ohne Halt und in großer Fahrt ... (3/1232)

Hier nun meine Ergänzung. Auch dieser "radikale Gegenentwurf" bezieht seine Bilder, und nicht nur seine Bilder, sondern auch den Pathos des Aufbruchs ebenfalls von Nietzsche. Ich erinnere nur an das Gedicht

Nach Neuen Meeren

Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Oben liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles glänzt mir neu und neuer
Mittag schläft auf Raum und Zeit – :
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich an, Unendlichkeit!(64)

Das ist nur eine, vielleicht gar nicht die deutlichste Stelle bei Nietzsche, an der gezeigt werden kann, daß er wie Brecht anknüpft an jenen "Morgen der Vernunft" in der Renaissance, ja, daß sein Anknüpfen noch beerbt werden konnte von Brecht.

Die letzte Ergänzung betrifft diejenige Interpretation von Grimm, die den ganzen Bogen seiner Betrachtungen umschließt. Es geht um die sich um das Gedicht "Ausschließlich wegen der zunehmenden Unordnung" rankenden Reflexionen, die Grimm zuerst im Essay: Geständnisse eines Dichters ausbreitet, um ganz am Schluß des ganzen Bandes wieder darauf zurückzukommen.

In diesem Zusammenhang zitiert Grimm auch eine Stelle aus dem Me-ti, wo die Zulässigkeit, "in diesen Zeitläufen Gedichte über Naturstimmungen" zu schreiben, erörtert wird. Ihr Titel lautet: Über reine Kunst. Beziehungsvoll genug wird als Beispiel reiner Kunst die Aufgabe vorgestellt, "das Geräusch fallender Regentropfen zu einem genußvollen Erlebnis des Lesers" zu machen. (12/509; bei Grimm S.12)

Grimm geht dann ausführlich auf die entfaltete Widersprüchlichkeit ein, zwischen den "alter egos" Brechts in den Figuren des Me-ti und des Kin-jeh, die auf seinen Selbstwiderspruch schließen lassen. – Was Reinhold Grimm, wie ich unterstelle, mit bestimmter Absicht ausläßt, ist der mehrfach verbürgte Anlaß zu dieser Me-ti-Stelle:

Eine Auseinandersetzung mit Hanns Eisler über dessen Beteiligung an einem Forschungsprojekt über Filmmusik (gemeinsam mit Adorno, das kam für Brecht noch dazu!), in dessen Rahmen das Quintett "14 Arten, den Regen zu beschreiben", op. 70 entstand. Eisler hat darüber Hans Bunge mit offensichtlich nachhaltig schlechtem Gewissen sehr ausführliche Erklärungen gegeben (65) (... die meisten Erklärungen stellen Rechtfertigungen dar... 12/549), er sah in diesem finanzierten Forschungsauftrag die Möglichkeit, sowohl seinen Lebensunterhalt zu verdienen, als auch Zeit für kritische, engagierte Kompositionen zu gewinnen (Eisler verweist, auf seine "Deutsche Sinfonie"). Brecht, der sich nicht scheute, seinen eigenen Tuismus anzuprangern (... Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen, gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden. Hoffnungsvoll reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer...10/848), kritisierte die Handlung seines Freundes und Mitarbeiters in einer Art, die sich etwa so zusammenfassen ließe: es ist schon schlimm genug, sich verkaufen zu müssen. Noch schlimmer aber ist es, sich zu verkaufen, um l’art pour l’art zu machen... Soviel zu dieser Auseinandersetzung, die angesichts des galoppierenden Verfalls der TUI-Sitten wie aus dem Altertum überliefert erscheint.

Diese Ergänzung einzubringen, erscheint mir wichtig, weil ich an dieser "Auslassung" Grimms eine Methode zu erkennen glaube, die prinzipiell kritisiert werden muß. In den Interpretationen Grimms wird die von Brecht konsequent kritisierte "Innerlichkeit" in Gestalt der zwiespältigen Dichterpersönlichkeit restituiert, wird das Exemplarischmachen von Persönlichem, der prinzipielle Blick von Außen, zurückgebogen ins Psychologische, Private.

Von daher ist es kein Zufall, daß Grimm weiterhin daran festhält, Brecht habe in der "Maßnahme" die Tragödie des jungen Genossen gestaltet. Wenn er Reiner Steinweg vorwirft, dieser hätte "in ebenso einseitiger wie anmaßlicher Form seine abweichenden Thesen vorgebracht", so ist in der Sache doch Steinweg recht zu geben – auch in der Gegenüberstellung mit Nietzsche im eben besprochenen Zusammenhang wird das deutlich.

Brecht nimmt hier nicht Partei für den jungen Genossen und sein Mitleid mit dem Elend, er warnt nicht nur davor wie Nietzsche, sondern führt die Schädlichkeit des Mitleids vor, – so daß sich auch hier eine weniger "radikale Gegenhaltung zu Nietzsche" zeigt, als Grimm gerne wahrhaben möchte.

Ich breche hier die vielleicht schon zu ausführlich gewordenen Auseinandersetzungen mit Reinhold Grimm ab, nicht ohne noch einmal zu deponieren, wie sehr die Differenzen sekundär bleiben gegenüber dem Dank für die Anregungen und Ermutigungen, die ich seinen Aufsätzen entnommen habe für diese meine Arbeit.

3. Lichtzwang (zum Geistergespräch unter neuen Aufklärern)

Wir lagen
schon tief in der Macchia, als du
endlich herankrochst.
Doch konnten wir nicht
hinüberdunkeln zu dir:
es herrschte
Lichtzwang.

Paul Celan(66)

Ein Motto, das so wenig wie möglich mit Brecht und Nietzsche zu tun hat – muß ich die Zusammenhänge erläutern? Wer nicht mithört, wie sagt Nietzsche, wer nicht noch Ohren hat hinter seinen Ohren, wie soll ich dem verdeutschen, welche Zusammenhänge von Brecht und Nietzsche ich hier bei Celan lese. Die Aufklärung, dem Namen und der Sache nach, ist vielfach ausgedeutet worden, vom Orden der "Illuminaten", den "Erleuchteten" (denen angeblich der junge Hegel nahestand), über verschiedenste (Licht- und Sonnensymbolik der Zauberflöte) bis zu Hegels Schilderung des Ereignisses der Französischen Revolution ( – ein Sonnenaufgang) und bis zu dem bösen Wort über das "Abspülicht des Aufklärichts". Schließlich bis zum Terminus: Dialektik der Aufklärung, der einiges hierher Gehörige zu bezeichnen imstande wäre, hätten ihn nicht Horkheimer und Adorno zu ihrem spezifischen Gebrauch so mit Beschlag belegt, daß es schwer fallen dürfte, ihn so bald "umzufunktionieren".

Lichtzwang, die Wortschöpfung Celans, ist solcherart nicht vorbelastet und das Bild eindringlich genug, um für eine Definition von "Neuer Aufklärung" zu stehen.

Wie der Begriff der Avantgarde als terminus technicus aus der militärischen Sphäre stammt – er bezeichnet die Vorhut, so ist deren Aufgabe – die Aufklärung. Es ist nützlich, sich dieses militärischen Hintergrundes des Begriffs zu erinnern – wie dies auch Celans Gedicht tut, um die Bedeutungsnebel um den Begriff zu lichten. Aufklärung ist dann eine spezifische Operation in einem Gesamtzusammenhang strategischer und taktischer Operationen und nicht länger Selbstzweck. Womit auch schon die "Neue Aufklärung", wie ich sie hier für Nietzsche ebenso wie für Brecht verstanden wissen will, definiert wäre.

These: Brecht verstand Nietzsche als Neuen Aufklärer und blieb seinen aufklärerischen Impulsen verbunden.

Daß Nietzsche sich selbst in die Tradition der Aufklärung einreihte, ja in gewisser Weise als Vollender der Aufklärung ansah, brauche ich hier nicht im einzelnen zu belegen. Hier ist allerdings hinzuweisen auf eine Forschungsaufgabe, von der ich hier erst vage Umrisse anzugeben imstande bin. Es genügt einfach nicht, wenn man den Zusammenhang zwischen Brecht und Nietzsche erhellen will, Brechts Nietzschelektüre aus ihrem quasi "illegalen Status" herauszuholen, man muß auch nach dem Nietzsche, den sie freilegt, fragen. Ich glaube, es findet sich bei Benjamin ein Modell für Brechts Methode, "(Nietzsche) zu lichten, das heißt, die praktikablen Vorschläge zu formulieren, welche sich seiner Philosophie entnehmen lassen."(67)

Ich hoffe, der Ausdruck "Nietzsche zu lichten" ist nicht unüberhört geblieben. In Frankreich gibt es schon seit etwa zwei Jahrzehnte Versuche, Nietzsche neu zu lesen, von denen nur langsam Kunde in den deutschen Sprachraum einzusickern beginnt, man ist schon froh, wenn Übersetzungen rauskommen, auf Auswirkungen zu hoffen, wäre ... (ich meine die Texte von Deleuze, Jean Wahl, Bataille, Derrida, Klossowski und Foucault (68)).

Ich kann in diesem Zusammenhang nicht auf diese Positionen eingehen; wieweit sie meine Nachforschungen unterirdisch beeinflußt haben, kann ich nicht einmal selbst genau auseinanderhalten, hier nur so viel: in Deleuzes Nietzschelesebuch, (69) im Nachwort unter dem Titel "Nomadendenken" findet sich eine Art Leseempfehlung:

"Ein Aphorismus ist ein Zustand von Kräften, deren letzter, d.h. zugleich jüngster, aktuellster und vorläufig letzter immer der äußerste ist." Nietzsche sagt ganz klar: wenn ihr wissen wollte, was ich sage, so findet die Kraft, welche dem, was ich sage, einen Sinn, notfalls einen neuen Sinn gibt. Verbindet den Text mit dieser Kraft. Auf diese Weise gibt es kein Interpretationsproblem mit Nietzsche, es gibt allenfalls Probleme der Machination: den Text von Nietzsche maschinieren, ausprobieren, mit welcher aktuellen äußeren Kraft er etwas passieren läßt, einen Energieumlauf ... Es handelt sich ... darum, die äußeren Kräfte zu finden, zu bestimmen und wieder anzueignen, die dieser oder jener Wendungen Nietzsches ihre befreiende Richtung geben, ihre Ausrichtung auf Außen. Die Frage nach dem revolutionären Charakter Nietzsches stellt sich auf der Ebene der Methode: es ist die nietzscheanische Methode, aus einem Text Nietzsches nicht mehr eine Sache zu machen, bei der man sich zu fragen hat "ist das faschistisch, ist das bourgeois, oder an sich revolutionär?" – sondern ein Feld der Exteriorität, auf dem faschistische, bürgerliche und revolutionäre Kräfte aufeinander treffen. Und wenn man das Problem so stellt, ist die der Methode notwendig angemessene Antwort: findet die revolutionäre Kraft. (70)

Ich hätte Deleuze nicht so ausführlich zitiert, aber es ist mit Händen zu greifen: Deleuze beschreibt einen Umgang mit Nietzsche, wie ihn Brecht vierzig Jahre lang praktiziert hat, der Brecht auch vor der "ekelhaften Synthese" zwischen Marx, Freud und Nietzsche, vor der Deleuze an anderer Stelle warnt, bewahrt hat. (71)

Es muß auch erinnert werden, daß Brecht weit davon entfernt war, dem Aphorismus solche Kraft zuzutrauen, wie Deleuze es tut. Im Gegenteil. W. Benjamin berichtet, daß Brecht bemerkte, auch er (Benjamin) sei nicht ganz freizusprechen vom Vorwurf "einer tagebuchartigen Schriftstellerei im Stil Nietzsches." (72)

Was ich hier noch versuchen möchte, ist eine Art Entwurfsskizze dessen, was zum Gegenstand eigener Untersuchungen erst noch gemacht werden müßte:

eine Art Katalog der Themen und Probleme, die Brecht in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche beschäftigt haben: jedes ebensosehr im Einverständnis, wie im Widerspruch zu Nietzsche: im stummen Gespräch. Dieses stumme Gespräch aber ist es auch, welches die Radikalisierung, die Celan gegenüber Brecht anmeldet, so seltsam abprallen, ins Leere gehen läßt:

Ein Blatt, baumlos
für Bertolt Brecht:
Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinahe ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschließt?(73)

Das Gedicht Celans zielt auf Brechts historischen Optimismus, der als Vertrauen in die Sprache entlarvt wird, gerade dies Vertrauen ist aber viel brüchiger, als es auf den ersten Blick scheint.

Ich habe früher von einem Programm gesprochen, das Brecht bei Nietzsche fand und zu zeigen versucht, wie sich der junge Brecht quasi im Einnehmen Nietzsche’scher Haltungen einübt. Aber mehr noch gilt das für die Arbeit des Stückeschreibers, Lyrikers und Prosaisten Brecht: Er hat die von Nietzsche aufgeworfenen Probleme aus der "Eisluft höchster Geistigkeit"zurück geholt auf die Märkte, und hier ausprobiert, in der von Deleuze ausgesprochenen Zielrichtung: die revolutionäre Kraft zu finden!

Ich habe mehrere Stellen mit solchen "Vorschlägen" Nietzsches bereits gezeigt, die eine betitelt "Wege der Freiheit", die sich fast wie eine Inhaltsangabe des "Baal" liest, und etwa über die Schädlichkeit der Tugenden, die Brecht in den Flüchtlingsgesprächen aufgegriffen hat. Es sind besonders signifikante Beispiele, weil Brechts Stück bzw. seine Prosa so fugenlos an Nietzsche anschließen. An anderen Stellen ist dies schwieriger zu zeigen, vor allem, weil auch einmal gefundene Antworten, wenn man die Stücke als solche nehmen will, wieder verworfen, umfunktioniert, verändert werden, auch bei Brecht nach Maßgabe des Außen, der Wirklichkeit, in die einzugreifen ihre gemeinsame Intention.

Bevor ich also weitere Einzelbelege zur Diskussion stelle, möchte ich doch einen Strukturierungsvorschlag aufgreifen, den Karl Schlechta im Nachwort zu seiner Nietzscheausgabe vorgeschlagen hat. Schlechta reduziert dort (wie und welche Fragezeichen hier – etwa im Sinne Deleuzes zu setzen wären, spare ich hier aus) den Inhalt von Nietzsches Philosophieren auf (um drei Fragen kreisend):

  1. Die Welt – den Menschen mit eingeschlossen – wie sie in Wahrheit ist.
  2. Die Welt – den Menschen mit eingeschlossen – wie sie der Mensch bisher verstanden hat und Nietzsche ausgenommen noch immer versteht.
  3. Wie man sich und die Welt verstehen muß, wenn man weiß, wie die Welt – den Menschen mit eingeschlossen – in ‘Wahrheit’ ist. (74)

Nachdem Schlecht die Fragen als durchaus "unoriginell", allen Philosophen zukommend charakterisiert hat, verweist er auf die beispiellose Radikalität von Nietzsches Antworten:

Punkt 1: Die Welt – wir wissen schon – der Mensch mit eingeschlossen – wie sie ‘in Wahrheit’ ist. Sie ist ‘in Wahrheit’ ohne jeden Sinn, sie ist Un-sinn!

Punkt 2: Die Welt, den Menschen mit eingeschlossen – wie sie der Mensch bisher verstanden hat, kam – in jeder Form dieses Verständnisses – dadurch zustande, daß der Mensch ihr in irgendeiner Weise einen Sinn unterlegte: Jede bisherige Weltauslegung war dieser Art.

Punkt 3: Wie man die Welt verstehen muß, wenn man (ich kürze ab) weiß, daß sie ohne jeden Sinn ist.

Wieder Schlechta:

Im Grunde schränkt sich die Frage dahingehend ein, was der Mensch – im vollen Zustande des Wissens um den wahren Charakter der Welt – von sich in einem freien Akt der Entscheidung fordern muß, da er ja nach erfolgter Einsicht sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen hat. (75)

(Ich erinnere: Me-ti sagte: Das Schicksal der Menschen ist der Mensch. 12/432)

Die Antwort auf Frage 3 geben bei Nietzsche Begriffe wie: Übermensch, Großer Mittag, Stunde der Entscheidung, Wille zur Macht, Erd-Herrschaft, Zwang zur großen Politik... Sie sind nur die Konsequenzen aus der obgenannten fundamentalen Einsicht; allerdings nur unter der Bedingung, daß der Mensch das ‘Kleine Glück’ nicht will." (76)

Punkt 1 und 2 haben für den jungen Brecht uneingeschränkt gegolten. Dies ist das zentrale Motiv der Thematik des Einverständnisses: daß die Welt sinnlos ist, und daß die bisherigen Sinngebungen, religiöse und moralische Halte unbrauchbar geworden sind. Und natürlich sind bereits darin auch Versuche, Punkt 3 betreffend.

Die Antwort auf Frage 3 fällt aber nicht zufällig schon in Schlechtas Zusammenfassung weit weniger präzise aus als die ersteren Antworten.

Hier ist die eigentlich offene Frage bei Nietzsche, die eben lautet: wie ist das Schaffen eines neuen Sinns der Welt möglich, ohne hinter die Erkenntnisse von 1 und 2 (die Einsicht, in ihre Sinnlosigkeit, in Kontingenz zurückzufallen), dort das eigentliche Ungenügen Nietzsches am Menschen: daß er sich immer wieder einen Sinn sucht, um sich daran zu klammern.

Brechts Versuche einer Beantwortung kreisen eben deshalb auch zunächst um die Frage nach dem Individuum, weil es bei Nietzsche als Protagonist der Überwindung des Menschen (als Herdentier) auftritt, als großer Einzelner, Schaffender, der eine neue Welt aus sich gebiert... den Übermenschen schafft.

Wie stark dies die ursprüngliche Thematik des Baal, hat nicht nur Grimm erwähnt. (77) Brecht schien eine Stelle im Baal verräterischer: In der Urfassung heißt es in der letzten Szene:

Baal ... wimmert plötzlich laut: "Ich kann nicht.
Ich will nicht.
Man erstickt hier.
Ganz klar: Es muß draußen hell sein. Ich will."

Bei der Wiederherstellung der letzten Szene für die Druckfassung 1955 heißt es an dieser Stelle:

"Man erstickt hier ja. Draußen muß es hell sein.
Ich will hinaus" (Hebt sich) ...(78)

Die Urfassung schließt so mit dem Bekenntnis zum Willen (zur Macht), den der späte (weise) Brecht nur als etwas ganz Konkretes gelten läßt: Ich will hinaus. (Wobei der nebenbei der Intuition Nietzsches näher rückt, als im frühen verbalen Bekenntnis zum Willen.)

In die Zeit zwischen der ersten und der zweiten Fassung des Baal fällt Brechts erste und nachhaltigste Wendung gegen Nietzsche: das Akzentuieren der "plebejischen Perspektive" im Baal gibt darüber Auskunft. In den Fuhrleuten der Schenke taucht das mögliche Publikum nicht nur Baals, sondern auch Brechts auf, tauchen die auf, die allein befähigt sind, die große Umwertung zu vollziehen, weil sie die sind, die die Heuchelei und Willkür der alten Wertsetzungen durchschauen: Es sind die unten gehaltenen. Hier deutet sich die materialistische Kritik aller Moral an, die im Slogan aus der Dreigroschenoper die bündigste Formulierung fand:

"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." (2/457)

(Und von der Brecht argwöhnte, sie könnte als einziges von seinem Werk der Nachwelt in Erinnerung bleiben.)

Als Hauptpunkte der Auseinandersetzung Brechts mit Nietzsche könnte man schematisch die folgenden anführen:

Man sieht gleich, daß diese Liste nicht sehr systematisch erscheint und unvollständig ist, daß einmal mehr inhaltliche Fragestellungen, dann aber auch Fragen der Form zu finden sind.

Man könnte weiter unterscheiden: die ersten 5 Punkte betreffen übergreifende, in fast allen Werken Brechts behandelte Gesichtspunkte, die weiteren 3 sind Spezialisierungen aus den ersten, die aber auch immer wieder von neuem thematisiert werden, die letzten beiden schließlich betreffen das Handwerkzeug des Dichters, damit auch wieder ein Übergreifendes.

Zur Methodik habe ich, glaube ich, Fingerzeige geben können, und auf einige signifikante Übereinstimmungen werde ich im folgenden noch zu sprechen kommen, aber auch auf die Widersprüche, die sich zwischen den beiden Aufklärern noch auftun werden.

An den Schluß dieses Abschnitts der Gegenüberstellung passen sowohl Brechts Gedicht "Aurora", wie der Aphorismus, mit dem Nietzsche seine "Morgenröte" abschließt:

Wir Luftschiffahrer des Geistes. – alle diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste hinausfliegen – gewiß! Irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken – und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schließen, daß es vor ihnen keine ungeheure frei Bahn mehr gebe, daß sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserem Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir streben, und wo alles noch Meer, Meer, Meer ist! – Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern. Oder, meine Brüder? Oder? –"(79)

Aurora

Aurora, du auf dem geliebten Fluß
In den man nicht, den gleichen, zweimal taucht:
Erschauernd unter deinem erzlippigen Kuß
Erhob die große Magd sich einst erlaucht.

Die große, nun erlauchte Magd ging lachend
Wie sie aus unruhigem Schlaf erwachend
Den Fluß herauf dies Frührot schwimmen sah.

Die Frührot kam, so sagte sie den Leuten
Als es noch Nacht war: es war so geschwind!
Und seine schöne Farbe anzudeuten
Nahm sie ihr rotes Kopftuch ab und schwenkte es im Wind" (10/859)

4. Zwischenbemerkung und Zusammenfassung

Nietzsche warnt einmal in der "Fröhlichen Wissenschaft":

Gegen die Vermittelnden. – Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.(80)

Jetzt ist also ein Dementi fällig (denn wer läßt sich schon gerne als mittelmäßig denunzieren). Aber ernstlich: ich hatte mit dem bisher Ausgeführten wirklich nicht die Absicht, Brecht zum Nietzscheaner zu stilisieren und alles, was ihm als Philosoph an Bedeutung zukommt, auf Nietzsche zurückzuführen. Umgekehrt hat sich Brecht bekanntlich nicht sehr daran gestoßen, wenn jemand bemerkte, daß er sich irgendwo etwas genommen hatte, was er brauchen konnte. Im Gegenteil: er beneidete jene Zeitalter um die Kraft und Unschuld ihrer Plagiate, die noch ganze Szenen oder sogar Akte sich einzuverleiben imstande waren. Ich hoffe aber, daß es schon bisher deutlich geworden ist, daß ich die Einflüsse Nietzsches auf Brecht nicht für etwas halte, was dem, was Brecht daraus gemacht hat in irgendeiner Form Abbruch tut, ja nicht einmal es relativiert, weil von einem an der Produktion interessierten Standort eben anderes zählt als Originalität. Wobei ich unter Kraft und Unschuld der Plagiate eben die Fähigkeit verstehe, Vorgefundenes, Fremdes in der Umfunktionierung eines neuen Gebrauchs sich so anzueignen, daß es als eigenstes erscheint.

So steht Brecht einerseits auf den Schultern des Riesen Nietzsche, (81) hat aber von diesem luftigen Standort etwa für seine Marxismusaneignung damit eine Voraussetzung gewonnen, die ihn von so ziemlich allen anderen marxistischen Philosophen in diesem Jahrhundert unterscheidet. (82)

Wenn ich an einigen Stellen, wo Reinhold Grimm "radikale Gegenentwürfe" Brechts gegenüber Nietzsche sieht, doch mehr Übereinstimmungen festgestellt habe, heißt das nicht, daß ich überhaupt nur Einverständnis und keinen Widerspruch zwischen den beiden feststellen will. Im Gegenteil. Es kommt mir drauf an, den prinzipiellen Stellenwert der Widersprüche herauszuarbeiten und nicht bei nur sich widersprechenden Einzelstellen stehenzubleiben.

Auf den einen großen Widerspruch habe ich schon hingewiesen: er ergibt sich aus Brechts "Klassenverrat", seinem Annehmen der Gesinnung der Niedrigen, seiner plebejischen Perspektive". Daraus entwickeln sich aber erst alle übrigen Gegensätze im einzelnen. Und des öfteren erweist sich eine Gegenposition als eine konsequent weitergedachte, erst in der Konsequenz gegen den Lehrer gewendete: so etwa die Behandlung des Mitleidproblems.

Brecht nimmt nicht einfach Stellung gegen Nietzsche, sondern deckt so die Widersprüchlichkeiten in Nietzsche selbst auf, so eine "praktikable" Nietzschelektüre erst ermöglichend, gegen seine faschistische Inanspruchnahme (dies allerdings, vom Zarathustrasonett abgesehen, nirgends Brechts deklarierte Absicht, mehr ein Nebeneffekt).

Was bei Nietzsche nicht unterschieden wird, bei der Kritik aller bisherigen als Herdenmoral, ist, daß es sich dabei um Moralen zur Herrschaft über als Herde gehaltene Menschen handelt, und nicht, um in Nietzsches Vokabular zu bleiben, um Wertsetzungen der Herde selbst (eben das: daß die herrschenden Gedanken die Gedanken der Herrschenden sind). Brechts Umwendung Nietzsches besteht nun darin, zu untersuchen, ob eine Umwertung aller Werte nicht nur fürs Individuum, den großen Einzelnen (Nietzsches Vorbild: die Vorsokratiker und der Renaissancemensch Macchiavellis), sondern auch bzw. überhaupt erst für die um ihre Befreiung kämpfende Klasse der unten gehaltenen, die sich befreien müssen, um überhaupt erst Menschen zu werden, verwenden läßt.

In den Flüchtlingsgesprächen formuliert das der Physiker Ziffel in ironischer Paradoxie:

"Wissen Sie, daß ihr Konfuzius, der Karl Marx, die moralischen Qualitäten des Proletariats recht kühl eingeschätzt hat? Er hat ihm auch Komplimente gemacht, das geb ich zu, aber daß die Proleten Untermenschen sind, hat der Goebbels von Karl Marx persönlich. Nur daß der letztere der Ansicht war, sie haben es satt."

Und weiter unten:

"Der Marx hat die Arbeiter nicht beschimpft, er hat festgestellt, daß ihnen von der Bourgeoisie ein Schimpf angetan wird ..." Kalle: Und was ist mit dem Untermenschentum von den Arbeitern? Ziffel: Die Meinung scheint zu sein, wie gesagt ohne Gewähr, daß dem Proleten die Menschlichkeit, d.h. seine eigene, verweigert wird, so daß er was unternehmen muß, entmenscht wie er ist in einer Welt, wo’s für ihn auf Menschlichkeit besonders ankommt. Der homo sapiens tut nach Marx nur was, wenn er dem absoluten Ruin in die Pupille starrt. Die höheren Züge läßt er sich nur erpressen. Das Richtige macht er nur im Notfall, so ist er für Menschlichkeit nur, wenn’s gar nicht mehr anders geht. So kommt der Prolet zu seiner Mission, die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. (14/1441)

Brecht weiß, warum er Ziffel hier "ohne Gewähr" reden läßt. Denn, was er hier "nach Marx" formuliert, ist eben eine, nirgends so bei Marx ausgeführte, aber deutlich den Durchgang durch Nietzsche verratende Marxlektüre, angefangen von dem Begriff des Untermenschen bis zur in praktischen Zwecken und Zwängen gesuchten Ursache und damit Begründung aller Moral.

Gerade der Nietzschelektüre verdankt Brecht seine Immunität gegenüber den seit den Neukantianern und Kathedersozialisten Mode gewordenen Versuchen, der ökonomischen und soziologischen Lehre des Marxismus eine Ethik anhängen zu wollen, seine, auch in den Überlegungen, die das Verhalten des Einzelnen betreffen, durchgehaltene Übereinstimmung mit Lenins Definition: "Unsere Sittlichkeit leiten wir von den Interessen des Klassenkampfs ab. (vgl. 12/477)

Ich glaube, es zeigt sich schon, daß mit dem Kapitel "Nietzsche bei Brecht", nicht auch schon das Thema überhaupt abgeschlossen wird.

Es gibt eine ganze Menge Brecht und ... Bücher, die sicher ihre Verdienste haben, Brechts Verhältnis zu anderen Dichtern, zur Tradition und ihrer Verwertung aufzuzeigen. Im Falle Nietzsche liegt die Sache jedoch prinzipiell anders; statt um Stoffe und ihre mustergültige Verarbeitung bis zu den berüchtigten zehn Zeilen aus der Ammerschen Villonübersetzung, um Entlehnungen und kraftvolles Plagiat, geht es hier um den "Problemwert", den Nietzsches Philosophieren für Brecht hat.

Was ich plausibel machen wollte ist die singuläre Rolle Nietzsches als verborgener, verborgen gehaltener Lehrer Brechts, die ihre Kraft aus einer sehr alten Tradition schöpft. Weiters der enorme, vielleicht entscheidende Einfluß, den er dadurch sowohl auf Brechts Philosophieren – sein Weltbild – hatte als auch aufs "künstlerische Programm" des jungen Brecht, das später zwar immer mehr ausgebaut, ausgestaltet wurde, aber den frühen Impulsen im wesentlichen treu blieb.

C) Die kleinste Größe (der Lehre vom Einverständnis zweiter Teil)

Man könnte sagen, die Kategorie des Einverständnisses, wie ich sie bisher behandelt habe, sei nur ein post fest durch Abstraktion gewonnenes Konstrukt, dem in dieser Allgemeinheit die konkrete Ausbestimmung abgeht. Dies würde ich zugeben: die theoretische Beschreibung hat die Prozesse, durch welche der übergreifende Begriff gewonnen wird, immer schon hinter sich, zur Voraussetzung. In den Versuchsanordnungen der Lehrstücke, die den Begriff Einverständnis untersuchen, bleiben diese Voraussetzungen aufgehoben, d.h. auch erhalten, auch wenn jetzt Brecht präzisiert: Einverständnis meint nun nicht einfach Ja-Sagen, Billigung, Zustimmung, sondern wird auf die Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv eingeschränkt: es geht um das Einverständnis mit dem Aufgeben der Individualität als Voraussetzung fürs kollektive Handeln, um die Bedingungen dieser "Hergabe" und um die neue Identitätsfindung im Kollektiv.

Das "Badener Lehrstück vom Einverständnis" ist die Fortsetzung des 1. Lehrstücks: "Der Ozeanflug", in welchem die Überwindung ewiger Naturgesetze durch die Arbeit der Menschen gerühmt wird. Der eine, der Flieger (ein Mann, der sich später den Nazis als Propagandist zur Verfügung stellte, weswegen Brecht später seinen Namen tilgte), wird schon gezeigt als angewiesen auf die Arbeit des Kollektivs (es heißt auch immer: die Flieger, er selber also gilt als Kollektiv) die Arbeit der sieben Mechaniker, die sein Flugzeug gebaut haben, wird gewürdigt, er wird als Teil der Menschheit gezeigt im Kampf gegen die Naturgewalten, für die neue Zeit, er hilft mit, Unwissenheit und damit Gott zu verscheuchen. Auf den ersten Blick ein Loblied auf den technischen Fortschritt – als Vehikel der Aufklärung – im Sinne der Neuen Sachlichkeit mit ihrer Anbetung der Technik, – sind doch Fußangeln der Dialektik eingebaut. Nicht mit der Erwähnung der dialektischen Ökonomie, die parallelisiert wird mit den Naturwissenschaften in ihrem Beitrag zur Aufklärung – vielmehr in der Bestimmung des technischen Fortschritts selbst als Selbsterkenntnis der Menschen:

Zu der Zeit, wo die Menschheit
Anfing sich zu erkennen
Haben wir Wägen gemacht ...
Und sind durch die Luft geflogen. (2/584)

Die Erfüllung des uralten Menschheitstraumes gilt als Indiz der beginnenden Selbsterkenntnis der Menschheit (erst einige Jahre später wurden die Pariser Manuskripte des jungen Marx herausgegeben, wo es heißt:

"Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist. Eine Psychologie, für welche dieses Buch ... zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen ... Wissenschaft werden. (83)).

Einverständnis soll erzielt werden mit diesem kollektiven Selbsterkenntnisprozeß, indem technische Pionierleistung und soziale Revolution als Teile der einen Bewegung erkannt werden: beide nur kollektiv möglich, und bei jedem Erfolg mit dem Blick auf das Noch nicht Erreichte. Der bürgerliche Held wird hier aber nur implizit kritisiert, an seinem Nimbus wird gekratzt, aber doch würdigend; indem alle Hörer den Fliegerpart lesen während der Aufführung des Radiolehrstücks, sollen sie begreifen, daß jeder ein kleiner Held in dieser kollektiven Anstrengung ist. Die so geplante Übung, merkt Brecht an, "dient der Disziplinierung, welche die Grundlage der Freiheit ist" (... Einsicht in die Notwendigkeit, Hegel, Engels). "Solche Übungen nützen dem Einzelnen nur, in dem sie dem Staat nützen, und sie nützen nur einem Staat, der allen gleichmäßig nützen will" – ... (so) daß der gegenwärtige Staat kein Interesse hat, diese Übungen zu veranstalten.(84)

Hier sollen weder Lehrstücktheorie noch Radiotheorie besprochen werden, auch noch nicht Brechts Marxaneignung, hier interessiert nur die Entwicklung der Kategorie des Einverständnisses, die erst deutlich wird, nicht beim Gelingen des großen Abenteuers (zu leicht läßt es sich darstellen in der Art der Lesebuchgeschichten über die großen Helden), sondern anhand seines Scheiterns: Das "Badener Lehrstück vom Einverständnis" beginnt mit den schon zitierten Schlußzeilen des Ozeanflugs, setzt aber fort mit dem Absturz von vier Fliegern, die Hilfe erbitten und nicht sterben wollen.

Nach der Untersuchung, ob es üblich ist, daß der Mensch dem Menschen hilft (mit der Clownsnummer, in der einem Menschen geholfen wird, in dem ihm Füße, Arme, Ohren und schließlich der Kopf abgesägt werden), wird den gestürzten Fliegern Hilfe verweigert, weil es nicht üblich ist, daß der Mensch dem Menschen hilft:

Dennoch raten wir euch ...
Nicht zu rechnen mit Hilfe:
Um Hilfe zu verweigern, ist Gewalt nötig
Um Hilfe zu erlangen, ist auch Gewalt nötig
Solange Gewalt herrscht, kann Hilfe verweigert werden
Wenn keine Gewalt mehr herrscht, ist keine Hilfe mehr nötig.
Also sollt ihr nicht Hilfe verlangen, sondern die Gewalt abschaffen.
Hilfe und Gewalt geben ein Ganzes
Und das Ganze muß verändert werden...
Nur eine Anweisung
Nur eine Haltung
können wir auch geben.
Sterbt, aber lernt
lernt, aber lernt nicht falsch. (2/599)

Im Zentrum des Kommentars steht die Lehre von der kleinsten Größe:

Während drei der vier Flieger (die gestürzten Monteure) das Einverständnis lernen, besteht der vierte (der gestürzte Flieger) auf seiner Individualität, seinen Ruhm, seiner Größe.

Jetzt wißt ihr:
Niemand
Stirbt, wenn ihr sterbt
Jetzt haben sie
Ihre kleinste Größe erreicht.

Da er das Einverständnis nicht lernt, wird ihm sein Flugzeug und "sein Gesicht" entrissen, wird auch er zum Niemand.

Dieser Inhaber eines Autos
Wenn auch angemaßt
Entriß uns, was er brauchte, und
Verweigerte und, dessen wir bedurften.
Also sein Gesicht
Verlosch mit seinem Amt:
Er hatte nur eines! (2/608)

Hier wird die Konstituierung eines neuen Typs von Individuum deutlich ("das kontinuierliche Ich ist eine Mythe" lag schon dem Stück "Mann ist Mann" als Hypothese zugrunde), es ist überhaupt nicht etwas Vorhandenes, immer schon Dagewesenes, gleich einem Naturereignis, sondern:

Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse, es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchprobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß darstellt. (20/62)

Auch hier gibt es wieder Querverweise auf Nietzsche, der die Einheit des Individuums als sehr spätes Produkt einer organischen Entwicklung dargestellt hat, als ein sich zur Herrschaft aufschwingen einzelner Funktionen über den Organismus, der als Produkt statt als Ursache verstanden wird.

Brecht ergänzt, daß dies ein sozialer Prozeß ist, wo eine ständig sich erneuernde Bewegung von außen ebenso wie von innen (wenn solche Bilder erlaubt sind), vor sich geht.

Jan Knopf hat gegen die traditionelle bürgerliche Brechtforschung und ihr Mißverständnis, das "Einverständnis wäre eine sinnlose Unterwerfung, eine Auslöschung der Individualität nach dem Prinzip: die Partei, das Kollektive hat immer recht (Esslin) – oder eine irrationale Vorstellung, "denn man überwindet den Sturm nicht dadurch, daß man die geeigneten Gegenmaßnahmen trifft" (Pietzker), festgehalten, daß in der Verdoppelung: er überwand den Sturm, und er überstand den Sturm, nicht nur der Aspekt des Aushaltens, sondern auch der der "Beherrschung" formuliert ist.

"Einverständnis heißt (also) nicht nur: ‘sinnloses Anerkennen’, ‘bloße Unterwerfung’, es heißt zugleich auch ‘Erkenntnis’ (Einverständnis, vgl. Steinweg 120) des Sturms und seiner Gesetze; und gerade in der Kenntnis dieser Gesetze und ihrer Anwendung liegt die Überwindung." (85)

Knopf hat an der gleichen Stelle auch auf den Zusammenhang mit Bacon verwiesen, und sieht in der "Sturmparabel" die Umsetzung seines Satzes "Natura enim non nisi parendo vincitur" (die Natur nämlich kann nur besiegt, beherrscht werden, wenn man ihr gehorcht (Neues Organon. Aph. III), der das Prinzip der neuzeitlichen Naturwissenschaften formuliert, das von Galilei zuerst systematisch und reflektiert angewendet, bis heute in den Naturwissenschaften gültig ist, im Gegensatz zur bis Bacon gültigen These der Naturbeherrschung durch Überlistung.

Knopf fährt dann fort:

Brecht wendet das naturwissenschaftliche Prinzip auf die Gesellschaft und ihre Realität, ihre Prozesse an: sie sind erst so genau zu sehen, zu reflektieren und auch ‘anzuerkennen’, im Sinn: ‘einverstanden’ zu sein mit ihnen, nicht aber, um sich ihnen sinnlos auszuliefern, anzupassen, sondern aus ihnen die realen Möglichkeiten ihrer Beherrschung zu entnehmen..." und schließt: "Alles andere nämlich ... dem Sturm Widerstand entgegen zu setzen, ist sinnlos, weil der Widerstand ihn selbst nicht beseitigen kann (den Sturm nämlich) das ist gerade der Idealismus und Irrationalismus, der Brecht mit dem Einverständnis unterstellt worden ist." (86)

Das lange Zitat drückt mein Einverständnis mit der hier vertretenen These Knopfs, hoffe ich, hinreichend aus, obwohl ich auch hier noch eine prinzipielle Ergänzung anbringen will (Knopf selbst geht noch an mehreren Stellen auf den Begriff des Einverständnisses ein, besonders beim Galilei, wo es um seine Rücknahme geht, das: Nicht einverstanden sein, den Widerstand), die mich vielleicht auch in den Geruch bringt, dem Irrationalismus des Einverständnisses (freilich anders als bei Pietzker) das Wort zu reden. So ist es jedenfalls nicht gemeint.

Es war nicht bloß begriffliche Ordnungsliebe, das Thema des Einverständnisses zurück bis zum Baal zu verfolgen. Dort wird sichtbar, was ich für den Kern, wenn man genauer will: den materialistischen Kern der Lehre vom Einverständnis halte, den man etwas bombastisch auch: Brechts Hinabreichen zu den Großen Müttern nennen könnte. Im Choral vom Großen Baal ist es ganz deutlich:

Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal
War der Himmel schon so groß und still und fahl
Jung und nackt und ungeheuer wundersam
Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam.

...

Und das große Weib Welt, das sich lachend gibt
Dem, der sich zermalmen läßt von ihren Knien
Gab ihm einige Ekstase, die er liebt
Aber Baal starb nicht: er sah nur hin.

Und wenn Baal nur Leichen um sich sah
War die Wollust immer doppelt groß.
Man hat Platz, sagt Baal, es sind nicht viele da.
Man hat Platz, sagt Baal, in dieses Weibes Schoß.

...

Als im dunklen Erdenschoße faulte Baal
War der Himmel noch so groß und still und fahl
Jung und nackt und ungeheuer wunderbar
Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war. (1/3ff.)

Wenn schon nicht dazu, aber dazu passend als Erläuterung schreibt H. P. Duerr in "Traumzeit":

Diesen Nachtfahrenden sind wir nachgegangen, und wir haben ihre Anführerinnen bis zu jenen ‘Erdmüttern’ zurück verfolgt, in deren Schoß einstmals die Menschen ihre Individualität auflösten, – ‘starben’, um aus dem Ursprung als Wissende wiedergeboren zu werden." (87)

Nicht einer Marotte wegen hat Brecht das "Sterben lernen" zum Gegenstand nicht nur von einem, sondern eigentlich von vier Lehrstücken gemacht (bis zur Selbstauslöschung des jungen Genossen in der Maßnahme). Auch wenn er kritisch notierte (zum Badener Lehrstück):

Das Lehrstück erwies sich beim Abschluß als unfertig: dem Sterben ist im Vergleich zu seinem doch wohl nur geringen Gebrauchswert zuviel Gewicht beigemessen" (88)

wußte vielleicht nicht der Marxist Brecht, aber etwas in ihm, daß dem "Sterben lernen" vielleicht doch mehr Gebrauchswert beigemessen werden müßte.

Aber weiter Duerr:

Um zu sehen, was sie im Grund waren, mußten sie zu(m) Grunde gehen, mußten sie in den Uterus der Allgebärerin zurückkehren, in den Ursprung nicht nur der Menschen, sondern aller Wesen der Natur... (89)

Haben wir nicht oben von der beginnenden Selbsterkenntnis der Menschheit gehört, von der am Anfang des Badener Lehrstücks wie am Schluß des Ozeanflugs die Rede war?

Der Akt dieser Erkenntnis war zugleich ein Akt der Liebe, der einen Inzest mit der Mutter dargestellt hätte, wenn sich nicht im Ursprung mit den Inzestschranken auch der Inzest selber gelöst hätte. Der Ursprung ist sündlos. Wo es keine Normen mehr gibt, können auch keine Normen übertreten werden. Und Erkenntnis des Ursprungs hieß: Auflösung der Trennung der Dinge voneinander...
Denn was in späteren Zeiten, im klassischen Griechenland, in verdünnter Form ‘Erkenntnis als Erinnerung’ hieß, das bedeutete in archaischen Zeiten noch den tatsächlichen Rückgang aus der ‘Welt der Trennungen’ in den vereinheitlichenden Schoß der Dinge, der keine Erkenntnis und keinen Erkenntnisgegenstand, kein oben und kein unten, weder Tiere noch Menschen, weder Frauen noch Männer kannte." (90)

In einer Interpretation des Schwimmgedichts aus der Hauspostille von Hans-Thies Lehmann kommt der Interpret zum Resultat:

Die Einheit des Ich ist eine Grenzscheide, aus welcher der Text Lust schöpft, indem er sie übertritt. Wenn aber Identität letztlich ödipal strukturiert ist, so sagt der Text damit, daß er seine Lust gerade aus dem Durchbrechen der Ordnung (der Sprache, der Geschlechter) zieht... Die Lust, die es im frühen Raum der Mutter-Kindbeziehung gab, verschafft sich Ausdruck ... Dazu erscheint das Subjekt in deutlicher Ambivalenz von Männlichem und Weiblichem ... ‘Das Subjekt der poetischen Sprache ist in gewisser Weise ein Mann, der sich als Frau weiß, aber es nicht sein will’ (Julia Kristeva).(91)

Entgegen dem, was heute die Philosophen lieben und was sie ‘kritische Selbstreflexion’ nennen, eine Technik, die es angeblich möglich macht, unseren Horizont von innen heraus, aus sich selber verständlich zu machen, hatten die archaischen Menschen noch die Einsicht, daß man seine Welt verlassen mußte, um sie erkennen zu können, daß man nur zahm werden konnte, wenn man zuvor ‘wild’ gewesen war, oder daß man nur dann in der Lage war, im vollen Sinne des Wortes zu leben, wenn man die Bereitschaft gezeigt hatte, zu sterben." (92)

Nicht nur in der ironischen Behandlung dessen, "was heute die Philosophen kritische Selbstreflexion nennen", würde Brecht mit Duerr übereinstimmen, ich habe die Differenz dazu, die im Lehren bzw. Einüben von Haltungen besteht, schon in der Einleitung andeutungsweise behandelt, auch in der Beurteilung des Sinnes des "Sterbens" läßt sich Brechts Einverständnis nicht nur vermuten: die Einübung des Sterbens, das "Sterben lernen" der gestürzten Monteure, das Einnehmen der "kleinsten Größe" ist, wie der archaische Initiationsritus damals, für Brecht Voraussetzung für die Neukonstituierung des Individuums im Kollektiv. So hängen die "unerbittliche Nachgiebigkeit" des Baumes Griehn, das "es kommt nicht auf euch an" und das "Überwinden des Sturmes" in der kleinsten Größe zusammen als Grade und Stufen des Einverständnisses: mit "wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein", als Voraussetzung für eingreifendes Handeln, umwälzende Praxis.

Wenn ich jetzt anfangen wollte, noch die Einsicht, daß man seine Welt verlassen muß, um sie erkennen zu können, zu interpretieren, fände ich mich unversehens, als käm ich auf Besenstielen geflogen, im nächsten Versuch: Verfremdung. So, als gäb’s Hexen.

Zum 2. Versuch


Anmerkungen

  1. Bertolt Brecht. Versuche. Reprint 1977. Ffm. 1977. Versuche 1 – 12. S. 6 <<
  2. Baal/Der böse Baal. S. 81 <<
  3. Klaus Heinrich. Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen. Ffm. 1964 <<
  4. Jan Knopf. Bertolt Brecht. Handbuch. Theater. Stuttgart 1980. S. 45 <<
  5. Baal/Der böse Baal. S. 109, auch Arbeitsjournal I. S. 30. Eintragung vom 11.9.1938 <<
  6. Baal/Der böse Baal. S. 97 <<
  7. Peter Paul Schwarz. Brechts frühe Lyrik 1914 – 1922. Nihilismus als Werkzusammenhang der frühen Lyrik Brechts. Bonn 1971 <<
  8. Brecht/Tagebücher. S. 154 <<
  9. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. I. S. 1096 (Morgenröte. 2. Buch. Aph. 120) <<
  10. Christof Šubik. Mann ist Mann – identitätsproblematische Gedanken bei Brecht. Referat. Gehalten auf dem XIII. Internationalen Hegel-Kongreß in Belgrad 1979. Erschienen im Hegel-Jahrbuch 1980. Hrsg. von Raimund Wilhelm Beyer. Köln 1980 <<
  11. MEW 23/779 <<
  12. Nietzsche, KSA, Band 4, Von der schenkenden Tugend, S. 101 <<
  13. Nietzsche, Briefe, KSA, Band 8/573 <<
  14. wer hilft mir, Brechts Vaterschaft dingfest zu machen? <<
  15. Reinhold Grimm. Brecht und Nietzsche. Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück. Ffm. 1979 <<
  16. Knopf/ Brecht Handbuch Theater. S. 203 f. S. 451 <<
  17. Schwarz. Op. cit. S. 43. Vgl. auch die Kritik Knopfs im Forschungsbericht S. 134 – 137 <<
  18. Wu Ch’eng-en. Der rebellische Affe. Die Reise nach dem Westen. Ein chinesischer Roman. Nach der englischen Ausgabe von Arthur Waley. Reinbek bei Hamburg 1961 <<
  19. Wu Ch’eng-en. Ebenda. S. 20 ff <<
  20. Hans Otto Münsterer. Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917 – 1922. Zürich 1963. S. 49 <<
  21. Brecht in Augsburg. Erinnerungen, Texte, Fotos. Eine Dokumentation von W. Frisch und K. W. Obermeier. Ffm. 1976. S. 101 f <<
  22. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. II. S. 1084. Vgl. Grimm/Brecht und Nietzsche. S. 158 und S. 238 (Anm. 10). <<
  23. Brecht in Augsburg. S. 111 <<
  24. 12/409. Vgl. auch die Gedichte "Rat an die Schauspielerin C.N." (8/331) und "Das Waschen" (9/606), sowie Brechts Äußerungen gegenüber W. Benjamin (Versuche über Brecht. S. 118) <<
  25. Nietzsche’s Werke (Förster-Nietzsche u. Gast). Bd. XIV. S. 174 f. Aph. 338, 339 u. 337 <<
  26. 8/366. Auf die hierin angesprochene Fragestellung bezüglich Brechts Utopismus wird am Ende Versuch 2. dieser Arbeit eingegangen. <<
  27. Benjamin. Versuche. S. 131 <<
  28. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 158 <<
  29. Georg Lukacs. Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik. Moskau 1934 (russ.). 1935 (deutsch), weiter ausgearbeitet im Nietzschekapitel seines Buches "Die Zerstörung der Vernunft". Berlin 1955 <<
  30. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 237 <<
  31. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 156 <<
  32. Christof Šubik. Einverständnis und Produktivität. Studien zur Philosophie Bertolt Brechts. Wien 1973. Diss. masch. <<
  33. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 48. Grimm selbst nimmt diese Beurteilung am Schluß (S 236) wieder zurück bzw. relativiert sie in dem von mir angesprochenen Sinn. <<
  34. habe keine Ausgabe der Werke von Hanns Johst gefunden; Das Grabbedrama Der Einsame entstand 1917; Brecht lernte den Autor im Seminar Prof. Kutschers in München kennen... <<
  35. Nietzsches Werke (Förster-Nietzsche u. Gast). Bd. XIII. S. 41. Aph. 98 <<
  36. Vgl. dazu Reinhold Grimms Aufsatz: Dionysos und Sokrates. Nietzsche und der Entwurf eines neuen politischen Theaters; in dem Sammelband: Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Acht Beiträge. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Königstein/Ts. 1978, der im übrigen meine These bestätigt, daß es sich um eine noch weithin ungelöste Frage handelt. <<
  37. Voigts. Theaterkonzeptionen. S 125 <<
  38. Vergleiche Anmerkung <<
  39. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 157 <<
  40. Grimm. Ebenda. S. 158 <<
  41. Friedrich Nietzsche. Umwertung aller Werte. München 1969. Hrsg.: Friedrich Würzbach. Bd. 1. S. 166. Aph. 267 <<
  42. Nietzsche/Umwertung (Würzbach). Bd. 1. S. 166. Aph. 268 <<
  43. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. III. S. 547 <<
  44. Nietzsche op. cit. Bd. II. S. 893 bzw. Bd. III. S. 882 <<
  45. Nietzsche op. cit. Bd. II. S. 1089< <<
  46. Knopf. Forschungsbericht. S. 159 ff <<
  47. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 193 f <<
  48. Grimm op. cit. S 175 f <<
  49. Brecht. Tagebücher. S. 30 <<
  50. Vgl. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 208 – 212 <<
  51. Grimm. Brecht und Nietzsche. Brechts Rad der Fortuna. S. 138 ff <<
  52. Die Ballade vom Wasserrad. 3/1007 <<
  53. Das Lied vom Wasserrad. In: Bertolt Brecht. Hundert Gedichte. Berlin 1951. Taschenbuchausgabe 1961. S. 7 (in der Werkausgabe nicht enthalten) <<
  54. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 151 <<
  55. Grimm op. cit. S. 202 ff; insbesonders S. 208 unten f <<
  56. Walter Benjamin. Geschichtsphilosophische Thesen. In: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort versehen von Herbert Marcuse. Ffm. 1965. S. 86 <<
  57. Benjamin op. cit. S. 91 <<
  58. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. I. S 779. Die erläuternden Einfügungen von Namen (Wagner, Schumann, Meyerbeer) sind von mir hinzugefügt <<
  59. Nietzsche op. cit. Bd. II. S. 1087 <<
  60. Bernard Guillemin. Was arbeiten Sie? Gespräch mit Bert Brecht. In: Erinnerungen an Brecht. Leipzig 1964. S. 47 <<
  61. Nietzsches Werke (Förster-Nietzsche u. Gast) Bd. XIII. S. 280. Aph. 680. <<
  62. Nietzsches Werke (Förster-Nietzsche u. Gast) Bd. XIII. S. 281. Aph. 682 <<
  63. Nietzsche Werke (Schlechta) Bd. III. S. 882 <<
  64. Nietzsche Werke (Schlechta). Bd. II. S. 271 <<
  65. Hanns Eisler. Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge. München 1976. S. 84f. <<
  66. Paul Celan. Gedichte in zwei Bänden. Ffm. 1975. Bd. 2. S. 239 <<
  67. Benjamin. Versuche. S. 123. Im Original heißt es: Kafka zu lichten. <<
  68. Gilles Deleuze. Nietzsche und die Philosophie. München 1976.
    Jean Wahl. L’avant-derière pensèe de Nietzsche. Paris 1961.
    Jacques Derrida. Sporen/Spurs/Sproni/Eperons. Venezia 1976.
    Pierre Klossowski. Un si funeste desir. Paris 1962.
    Ders.: Nietzsche et le cercle vicieux. Paris 1969.
    Michel Foucault. Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Von der Subversion des Wissens. München 1974 <<
  69. Gilles Deleuze. Nietzsche. Ein Lesebuch. Berlin 1979. S. 105 ff <<
  70. Deleuze. Op. cit. S. 114 <<
  71. Deleuze. Op. cit. S. 106 <<
  72. Benjamin. Versuche. S. 121 <<
  73. Paul Celan. Gedichte II. S. 385 <<
  74. Nietzsche (Schlechta). Bd. III. S. 1438 <<
  75. Nietzsche (Schlechta). Bd. III. S. 1440 <<
  76. Nietzsche. (Schlechta). Bd. III. S. 1440 <<
  77. Grimm. Brecht und Nietzsche. S. 159 <<
  78. Bertolt Brecht. Baal. Drei Fassungen. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. Ffm. 1966. S. 75.
    Bertolt Brecht. Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten. Materialien. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. Ffm. 1968 (Erstausgabe). 1969 verbesserte und ergänzte Ausgabe. S. 66 <<
  79. Nietzsche (Schlechta). Bd. I. S. 1279 <<
  80. Nietzsche (Schlechta). B. II. S. 152 <<
  81. Während der Arbeit an diesem Buch ist mir der Band: Robert K. Merton. Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt/M. 1980 in die Hände gefallen; und da mich die ausgesprochen amüsante, die vielfache Nutzlosigkeit des Wissenschaftsbetriebs praktisch vorführende Studie von der Arbeit abgehalten hat, soll sie nun wenigstens hier auch aufscheinen. <<
  82. Eine Ausnahme bildet wohl Ernst Bloch, der früh von Nietzsche beeindruckt, auch am Höhepunkt des linken Abrückens von Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ideologie in "Erbschaft dieser Zeit" (1935) Nietzsche gegen die Vereinnahmung von rechts wie gegen seine Verteufelung von links in Schutz nahm. <<
  83. Karl Marx. Pariser Manuskripte. In: Texte zu Methode und Kritik. Bd. II. Hrsg. von Günther Hillmann. Reinbek bei Hamburg 1966. S. 82 f <<
  84. Bertolt Brecht. Versuche (Reprint 77). Heft 1. S. 24 <<
  85. Jan Knopf. Handbuch. S. 77 <<
  86. Knopf. Op. cit. S. 77 <<
  87. Hans-Peter Duerr. Traumzeit. Ffm. 1978. S. 58 <<
  88. Bertolt Brecht. Versuche. Heft 2. S. 44. Vgl. auch 20/155 <<
  89. Duerr. Traumzeit. S. 58 <<
  90. Lehmann/Lethen. Bertolt Brechts Hauspostille. S. 168 <<
  91. Ebenda, S.168, die Autoren zitieren Julia Kristeva, La revolution du langage poetique, Paris 1974, S. 600 (das Zitat ist in der deutschen Ausgabe nicht enthalten) <<
  92. Duerr. Traumzeit. S. 58 <<

 

Zum 2. Versuch

 

Kritiken, Anregungen, Fragen an
Christof Šubik, Universität Klagenfurt