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Einleitung

Ein Philosoph neuen Typs

(Gebrauchsanweisung):

"Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K. "Und sorge, daß er ihm ähnlich wird." "Wer? Der Entwurf?" "Nein", sagte Herr K. "Der Mensch."(12/386. vgl. auch 12/468 und 20/168)

 

These 1:
Über Brecht bloß als Dichter und Stückeschreiber gibt es im wesentlichen nichts Neues mehr zu sagen.

Sicher haben wir dadurch, daß endlich ein Großteil seiner Briefe zugänglich gemacht ist, über Brechts Beziehungen, literarische und theatralische Pläne und Vorhaben etc. noch mehr Details erfahren. Aber schon das [Arbeits] journal und die Tagebücher und Aufzeichnungen haben die Literaturwissenschaft nicht mehr sehr aufgeregt. Es wird jetzt in der Forschung solid gearbeitet und die Beschäftigung mit Brecht wird eine so nichtsnutzige wie verdienstvolle Kärrnerarbeit von fleißigen Ameisen, die sich an das Jahrhundertprojekt einer Kritischen Gesamtausgabe heranmachen, womöglich nach dem Vorbild einer Nationalausgabe wie der Weimarer- der anderen beiden deutschen Klassiker.

These 2:
Der Philosoph Brecht muß erst noch entdeckt werden.

Dies wird hier als Grundthese aufgestellt und ich hoffe, sie im Verlauf der Arbeit begründen zu können, daß nämlich der eigentliche Impetus des Brechtschen Werks ein philosophischer ist und die Literatur bzw. das Theater Mittel des Philosophierens für Brecht darstellten und im ganzen genommen nicht Selbstzweck war.

Man verstehe mich richtig: ich will nicht den Autor der theoretischen Schriften – die sich im übrigen ja zu einem Gutteil mit Theatertheorie, Literatur und Ästhetik beschäftigen – gegen den Stückeschreiber und Lyriker, Erzähler und Romancier ausspielen, aus Lust am Paradoxen und in der Absicht, durch Originalität aufzufallen.

Ich schlage nur vor, die Aufmerksamkeit endlich einmal auf den Philosophen Brecht zu lenken und von da her eine neue Sichtweise auch für den Dichter und Stückeschreiber zu entwickeln, die auf vielleicht überraschende Art erlaubt, statt über Phasen und Brüche zu streiten, Brechts Werk in seiner Totalität vor Augen zu kriegen, (was nicht ausschließen soll, es als Steinbruch zu verwenden: jeder nehme sich was er braucht…)

These 3:
Brecht muß als Philosoph eines neuen Typs behandelt werden.

Ich habe oben vorsichtig formuliert: daß Literatur- bzw. das Theater Mittel eines Philosophierens für Brecht darstellen, und es muß tatsächlich erst herausgefunden und präzisiert werden, von welcher Art des Philosophierens hier, d.h. bei Brecht, die Rede ist, denn es liegt auf der Hand, daß darunter etwas anderes verstanden werden muß als herkömmliche Schulphilosophie. Etwas so anderes, daß es der Brechtforschung lange nicht aufgefallen ist...

Daß Brecht kein akademischer Philosoph, kein Systembauer, kein Erkenntnis- oder Wissenschaftstheoretiker war, bedarf keiner Erörterung. Daß er philosophische Interessen hatte, ist der Brechtforschung auch bisher nicht entgangen. (1) Als einer der ersten und (für mich) besonders fruchtbar hat sich Manfred Riedel in einem Aufsatz von 1971 darauf eingelassen, Brechts Verhältnis zur Philosophie näher zu untersuchen. (Vorher gab es die Kommentare von Walter Benjamin und einen Aufsatz von Ernst Bloch über Brecht: "Ein Leninist der Schaubühne", und natürlich wurde im Streit um den politischen Dichter Brecht schon hin und wieder Philosophisches behandelt (etwa von Hannah Arendt). Manfred Riedel hat in diesen Aufsatz (Brecht und die Philosophie) (2) auch versucht, den für Brecht spezifischen Begriff von Philosophie zu bestimmen. Er schrieb, "daß der dem Stückeschreiber Brecht eigene philosophische Gestus von einem Begriff von Philosophie getragen wird, der gegen dessen moderne Deformation gehalten das klassische Konzept des Weisen und der Weisheit zur Geltung bringt". Das ist eine diskutable These, die auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen sein wird. Riedel selbst vermeidet es, Brecht als Philosophen bis zu Ende ernst zu nehmen, indem er ihm "aus der Perspektive des Stückeschreibers gewonnene, originelle und treffende Einsichten" bescheinigt, ohne nach einem philosophischen Gesamtzusammenhang in Brechts Werk zu fragen. Dabei sieht er, "daß Brecht eine Problematik artikuliert hat, die heute im Zentrum philosophischer Auseinandersetzung steht" (Intellektuellenproblematik). Der Aufsatz ist auch, soweit ich sehe, für die philosophische Diskussion leider recht folgenlos geblieben. Manfred Riedel rehabilitierte inzwischen die praktische Philosophie (in umfangreichen Sammelbänden).

Behalten wir jedoch seinen Vorschlag, Brechts Philosophie als am klassischen Konzept des Weisen und der Weisheit orientiert anzusehen, weiter im Auge. Das wäre, auf obige These bezogen, allerdings ein negativer Bescheid: Wäre also Brecht ein Philosoph nicht neuen, sondern vielmehr (sehr) alten Typs, eines Typs, der nur ein Vergessenheit geraten und von Brecht wieder aufgegriffen worden ist?

Zwischenfrage 1:
Was ist ein Philosoph neuen Typs?

In der berühmten 11. These ad Feuerbach (man traut sich kaum noch, sie zu zitieren) sagt Karl Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern." (3)

Ein gewisser Herr K. könnte nun fragen: "Wen? Die Welt?" und Herrn Marx antworten lassen: "Nein. Die Philosophen. Oder besser noch: Beide!"

Die marxistische Tradition hat diese (wohl kaum zufällige) Doppeldeutigkeit überlesen, sich auf die Weltveränderung gestürzt und die Philosophen gelassen wie sie waren. So sehen sie denn auch aus heutzutage (Wer nicht glaubt, daß Marx beides gemeint hat, soll nur ruhig einmal die dritte These nachlesen). (4)

Der Weise, der Denkende, Herr Keuner, der Philosoph aus dem Messingkauf, Azdak, Me-ti (um nur einige zu nennen von Brechts Figuren) sind entstanden zu einer Zeit, wo Brecht bereits zum Marxismus übergegangen war, sich selbst als Marxist verstand; sein "das klassische Konzept des Weisen und der Weisheit zur Geltung bringen" (5) konnte wohl nicht einfach nur eine Rückkehr zu den alten Weisen bedeuten (um Mißverständnisse zu vermeiden: das hat Manfred Riedel nicht unterstellt; er weist im einzelnen auch auf die neuen Züge von Brechts Weisen hin). Die Unmöglichkeit dieser Rückkehr hat Brecht an sehr prominenter Stelle, will sagen in einem der berühmtesten Gedichte formuliert:

Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! (9/723)

Es ist für Brecht keine Frage der persönlichen Entscheidung, die Haltung eines Weisen einzunehmen, sondern eine Frage des historischen Bewußtseins, der Einsicht, die ihn von finsteren Zeiten sprechen läßt, die es unmöglich machen, auf die Art weise zu sein, wie es "in den alten Büchern steht". Der Weise im klassischen Sinn mag Vorbild sein für einen Philosophen neuen Typs, aber nur bedingt, hegelisch gesprochen als "aufgehobener".

Vielleicht hilft es, Brecht selbst zu Wort kommen zu lassen zur vorläufigen Beantwortung unserer Zwischenfrage (schließlich kann ja nicht alles schon in der Einleitung restlos geklärt werden):

Über die Art des Philosophierens

Habe ich das Stückeschreiben und Stückeaufführen zu einer Gepflogenheit des Philosophierens gemacht (sic!), ohne mich zu kümmern, was andere darunter verstehen mögen, so muß ich jetzt auch dieses Philosophieren in eigener Weise bestimmen, denn in unserer Zeit und seit lange schon bedeutet Philosophie etwas ganz bestimmtes, was ich gar nicht im Auge habe. Von Natur habe ich keine Fähigkeit für die Metaphysik; was alles man sich denken kann und wie sich die Begriffe miteinander vertragen, das sind für mich spanische Dörfer. So halte ich mich vornehmlich an die im niederen Volk umlaufende Art des Philosophierens, an das, was die Leute meinen, wenn sie sagen: "Geh zu dem da um einen Rat, er ist ein Philosoph" oder: "Der da hat wie ein echter Philosoph gehandelt." Und ich möchte hier nur eine Unterscheidung machen. Wenn das Volk einem eine philosophische Haltung zuschreibt, so ist es fast immer eine Fähigkeit des Aushaltens von was.

Im Faustkampf unterscheidet man Kämpfer, die gut im Nehmen, und Kämpfer, die gut im Geben sind, d.h. Kämpfer, die viel aushalten und Kämpfer, die gut zuschlagen, und das Volk versteht unter Philosophen in diesem Sinne die Nehmer; was von seiner Lage kommt. Ich aber will im folgenden unter Philosophieren die Kunst des Nehmens und Gebens im Kampf verstehen, sonst aber, wie gesagt, mit dem Volk in dem, was Philosophieren bedeuten soll, in Übereinstimmung bleiben. (15/252)

Worum es geht bei dem Versuch, Brecht als einen Philosophen neuen Typs zu beschreiben, wie ich es hier vorschlage, hat Brecht schon ganz gut ausgearbeitet hinterlassen, aber so recht ernst nehmen hat’s noch niemand wollen. (6) Die Herausgeber der Werkausgabe haben mit ihren Editionsprinzipien nicht zum wenigsten dazu beigetragen, den Blick auf den Theoretiker Brecht zu verstellen – so durch die oft willkürliche Aufteilung von Texten auf die von ihnen gewählten Bandtitel. Sie stellen diesen Text innerhalb der Schriften zum Theater unter die Kapitelüberschrift: "Der Philosoph im Theater". (15/252)

Halten wir also fest: Für Brecht ist Stückeschreiben und Stückeaufführen eine Gepflogenheit des Philosophierens. Das ist etwas neues. Hegel etwa hielt das Denken für die wichtigste Gepflogenheit des Philosophierens. Und wie er ausdrücklich verlangt hat, müssen einen beim Denken Hören und Sehen vergehen – von Anschauung und Vorstellung muß zum Begriff weitergegangen werden – und dessen Tätigkeit ist das Denken. (Es ist mir zu mühsam, jetzt das diesbezügliche Zitat in der Nürnberger Propädeutik – oder war’s in einer Gymnasialrede – nachzuschlagen, aber so ungefähr stimmt’s.) Und ich hoffe, man versteht, was ich meine: hier ist ein Unterschied. Theater zu verwenden fürs Philosophieren ist erst nötig oder möglich, wenn’s dabei um mehr als bloß ums Denken geht (Kopfschütteln und unwilliges Gemurmel der Hegelianer: Denken enthält doch beides: ich und eine Tätigkeit, es ist dieser spontane Akt etc. etc.) sagen wir neutraler, wenn es nicht nur ums Denken geht, sondern auch um etwas anderes. Ja, um was? Das kommt von so langen Zitaten. Unbemerkt tauchen da die Begriffe auf, aus denen schön langsam, Schritt für Schritt die Theorie doch erst gebastelt werden soll: Von philosophischer Haltung war die Rede.

These 4:
Der Philosoph neuen Typs ist als Verhaltenslehrer zu bestimmen.

Es ist also einfach ein Interesse an dem Verhalten der Menschen, eine Beurteilung ihrer Künste, durch die sie ihr Leben machen, also ein durchaus praktisches und auf das Nützliche gerichtetes Interesse und nur, soweit die Begriffe der akademischen und gelehrten Philosophie Griffe sind, an denen sich die Dinge drehen lassen, Dinge und nicht wieder Begriffe, können sie in diese Philosophie der Straße kommen, die eine Philosophie der Fingerzeige ist. Und wenn das Nützliche etwas Prosaisches haben sollte, so müssen wir das Prosaische mit neuen Augen ansehen und lieber auf das Poetische verzichten, als es ihm erlassen, nützlich zu sein. (15/253)

Soweit Brecht selber. Dies Selbstzeugnis sei hier erst nur zu Protokoll genommen, gegen die, die mir unterstellen könnten, ich unterstellte Brecht bloß ein philosophisches Interesse solcher Art, in erster Linie sei er nun einmal Stückeschreiber und Dichter. Dagegen hilft es allerdings nur wenig, oft genug ist ja schließlich Brecht unterstellt worden, quasi hinter seinem Rücken und gegen sein marxistisches Überich hätte sich das dichterische immer wieder durchgesetzt und den Sieg über die ideologischen Ansprüche davongetragen (vgl. Martin Esslin, an allen möglichen Orten (7)). Esslins These hat einer entpolitisierten Brechtrezeption im Westen den Boden bereitet und hält sich, trotz mannigfacher Erwiderungen in der Brechtforschung hartnäckig vor allem in Unterrichtsmaterialien: so kann Brecht "gefahrlos" als "reiner Dichter" konsumiert werden und der Philosoph taucht gar nicht auf.

Das Philosophieren geschieht also nicht nur in einer bestimmten Haltung (etwa der des klassischen Weisen, der sich heraushält), sondern wird definiert als Interesse (Dazwischen-Sein) am Verhalten der Menschen, der Beurteilung ihrer Künste, durch sie ihr Leben machen (Was für ein weiter Kunstbegriff, en passant bemerkt!), ein praktisches und nützliches Interesse wird betont. Vom Verändern menschlichen (bzw. unmenschlichen) Verhaltens und der Herstellung der Bedingungen für solche Veränderung ist vorläufig noch nicht die Rede: immerhin geht’s offensichtlich auch um Hinweise auf richtiges und falsches Verhalten in einer "Philosophie der Fingerzeige". Es geht auch ums Denken, um die Begriffe, aber mit der folgenschweren Einschränkung: soweit es (die Begriffe) Griffe sind, an denen sich die Dinge drehen und wenden lassen, wenn es Not tut, Dinge und nicht wieder Begriffe (solche plumpen Unterscheidungen, die außer acht lassen, daß ich, um von einem Ding zu reden, erst den Begriff des Dinges haben muß und so lange ich davon rede, nur den Begriff des Dinges verwende und nie das Ding selber, sind einem Philosophen so recht ein Greuel!) – aber Brecht will sie ja auch in eine Philosophie aufnehmen, die er selbst eine Philosophie der Straße nennt, die womöglich noch stolz darauf ist, solche feineren Distinktionen nicht zu kennen oder zu ignorieren.

Brecht will kein Denken, das einem Hören und Sehen vergehen läßt – ein Beispiel (aus "Mutter Courage"):

Der Feldprediger: "…Gott hat mir die Gabe der Sprachgewalt verliehen. Ich predige, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht."
Mutter Courage: "Ich möcht gar nicht, daß mir Hören und Sehen vergeht. Was tu ich da?" (4/1406)

Denken soll was mit Tun zu tun haben, es wird auf seine Brauchbarkeit, seine praktischen Folgen hin untersucht.

Im Me-ti, Buch der Wendungen, dem, wenn man so will, philosophischen Hauptwerk von Brecht, wird der Zusammenhang mit der Praxis so definiert:

"Denken ist etwas, was auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht." (12/443)

Was Brecht hervorhebt, ist die organisierende Funktion, die dem Denken in der Praxis nicht von selbst zukommt, aber zukommen soll, wenn es fürs Handeln, für die Praxis von Belang sein soll. Eine Keunergeschichte faßt dies unter dem Titel "Organisation" zusammen:

Herr K. sagte einmal: "Der Denkende benützt kein Licht zuviel, kein Stück Brot zuviel, keinen Gedanken zuviel! (12/375)

Ein in solcher Art organisiertes Denken nennt Brecht an anderen Stellen auch "eingreifendes Denken".

These 5:
Der Philosoph neuen Typs ist ein eingreifend Denkender.

In dieser Bestimmung ist die Differenz zum klassischen Weisen mit Händen zu greifen, um noch einmal mit Hegel zu reden, handelt es sich um die bestimmte Negation des alten Weisen. Statt "sich aus dem Streit der Welt halten" geht Brechts Begriff von Weisheit gerade darauf, eingreifend zu denken (es war ja schließlich kein Zufall, daß Brecht oben das Bild von Faustkämpfern für den Vergleich mit den Philosophen gewählt hat), d.h. aber auch nach einem jahrhundertelangen anderen Gebrauch des Denkens es nun so zu organisieren, daß es eingreifend wirksam werden kann.

Zwischenfrage 2:
Wie aber läßt sich der Zusammenhang von Denken und Handeln praktisch vermitteln?

Die beiden letztgenannten Zitate sind nicht einfach Definitionen oder Feststellungen. Unschwer läßt sich ihr verborgener Postulatscharakter entziffern, ja ich konnte bei der Explikation nicht umhin, ihren Charakter als Sollensbestimmungen aufzudecken. Es sind bestenfalls vorweggenommene Resultate, Vorschläge für ein besseres Denken, denn auf Schritt und Tritt begegnet einem (besonders als Intellektuellem, d.h. unter seinesgleichen) ein Denken, welches, wenn es schon auf Schwierigkeiten folgt, noch lange nicht zum Handeln hinführt.

These 6:
Denken und Handeln werden durch Haltungen vermittelt.

Der Satz scheint kryptisch. Die einfache These verbirgt metaphysische Spitzfindigkeiten. Die dunkle Behauptung bedarf einer Erläuterung: Alles, was ich mache, muß ich notgedrungen in einer gewissen Haltung tun. Sie muß mir nicht als Haltung bewußt sein, sie kann mir von Altvorderen überliefert, meiner Umgebung abgeschaut sein, sie kann so gründlich eingelernt worden sein, daß ich nichts mehr davon weiß, daß ich sie auswendig gelernt habe (z. B. die Körperhaltung), aber auf Haltungen kann man nicht verzichten. Es ist möglich, sie sich bewußt zu machen, und hier kommt das Denken ins Spiel, wenn man eine ungewohnte Haltung einnehmen will, muß man nachdenken und oft mühsam ihre Elemente ausfindig machen (Lernschritte isolieren), um sie sich anzueignen.

Die alten indischen und chinesischen Philosophen hatten alle ihre strengen Rituale, in denen der Adept der Lehre zuerst Haltungen lernte (z. B. stundenlanges sich Nichtrühren: meditieren), bevor er für würdig befunden wurde, Inhalte der Lehre kennenzulernen. Tiefstes Mißtrauen herrschte (übrigens zumindest bis Hegel) gegenüber Meinungen – also gegenüber isoliert von der dazugehörigen Haltung übermittelten Denkinhalten. Meinungen kann man leicht nachplappern, sie verpflichten zu nichts. Sie sind das bloß meinige, ohne allgemeinen Geltungsanspruch. Haltungen sind, wie ich anfangs zu zeigen versuchte, demgegenüber per se etwas allgemeines, zum Subjekt so selbstverständlich gehörig wie jenes "ich denke, daß alle Vorstellungen begleiten muß können", (8) oder vielleicht noch mehr, als bereits vor dem Ich vorhanden. Haltungen findet man auch bei solchen, bei denen es "bereits eine Unverschämtheit ist, wenn sie Ich sagen" (Adorno). (9)

Aber ich greife vor. Adorno kommt später dran: im Kapitel TUI-Kritik.

Haltungen entstehen nicht zufällig. Sie entstehen durch Gewohnheit und Lernprozesse, enthalten also eine Geschichte. Nur sehr einfache Haltungen (etwa Strammstehen) lassen sich anbefehlen oder abstellen (und selbst da muß exerziert werden).

Hier hat vielleicht auch eine andere Keunergeschichte ihren Platz:

Zu Herrn K. kam ein Philosophieprofessor und erzählte ihm von seiner Weisheit. Nach einer Weile sagte Herr K. zu ihm: "Du sitzt unbequem, du redet unbequem, du denkst unbequem." Der Philosophieprofessor wurde zornig und sagte: "Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt dessen, was ich sagte." "Es hat keinen Inhalt", sagte Herr K. "Ich sehe dich täppisch gehen und es ist kein Ziel, das du, während ich dich gehen sehe, erreichst. Du redest dunkel und es ist keine Helle, die du während des Redens schaffst. Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht.". (12/375)

Der Titel der Geschichte lautet, und das gibt wieder eine nähere Bestimmung des Philosophen neuen Typs: "Weise am Weisen ist die Haltung". Unter Philosophieren versteht Brecht also das Studieren, Beurteilen, Kritisieren und Verändern von Haltungen. Philosophie soll wieder Verhaltenslehre: Schule von Haltungen werden. Wie schon angedeutet, entstehen Haltungen oft als Gewohnheiten vor und unterhalb von rationalen Überlegungen, sie sind etwas materielles; körperliches (wie heißt es bei Nietzsche: der Leib ist eine große Vernunft!), an ihnen ist der Leib vorrangig beteiligt, ihre Veränderung bedarf nicht nur bewußter Einsicht, sondern praktischer Einübung.

In der Kommunikation (im gesellschaftlichen Raum) erhalten sie ihre Konkretion und Verbindlichkeit. Um einen viel strapazierten Terminus von Habermas zu gebrauchen, bilden sie ein Grundmedium von Interaktion noch vor dem Sprechen (noch bevor einer das Maul auftut, wollte ich fast sagen). An ihnen erweist sich real, wie weit es her ist mit dem, was Hegel zur Voraussetzung seiner Philosophie machte, nämlich mit der Identität von Sein und Denken. An den Haltungen läßt sich konkret ablesen, wie weit sich bei einem der Kopf vom Leib getrennt hat, er auf dem Kopf steht oder auf den Füßen. (Es soll Leute geben, die es wundert, daß Leute, die auf dem Kopf stehen, leicht schwanken.)

These 7:
Der Philosoph neuen Typs greift ein in die Kämpfe der Klassen.

Jetzt kommt die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit Brechts Marxismus? Ein bisher noch nicht erwähntes Hindernis, besser gesagt nur nebenbei erwähntes, aber nicht erörtertes Hindernis, Brecht als Philosophen deutlich vor Augen zu kriegen, stellt paradoxerweise sein Bekenntnis zum Marxismus dar. Da der Marxismus vorwiegend als Ideologie rezipiert wird und (leider) zumeist so auftritt, wird nach ideologischen Zuordnungsmustern verfahren. Wozu noch nach Brechts Philosophie lange fragen: er hat sich ja selbst nicht nur zum Marxismus, sondern sogar ausdrücklich zum Kommunismus bekannt (Lob des Kommunismus, Lob der Partei, Zeilen wie: – "und nur bei Karl Marx und Lenin stand, wie wir Arbeiter eine Zukunft haben…", sogar Stalin wird gehuldigt: "Josef Stalin sprach von Hirse…, /sprach von Dung und Dürrewind, /und des Sowjetvolkes großer Ernteleiter /nannt die Hirse ein verwildert Kind"; und Lenin – über ihn gibt’s etliche Gedichte – wird im Me-ti ausführlich und wortwörtlich zitiert). Für Literaturgrößen wie Torberg und Weigel (Hans bitt’ schön!) hörte sich da der Spaß auf. Brecht wurde in der BRD jahrelang, in Österreich fast jahrzehntelang boykottiert. In dieser Situation war es schon mutig, wenn jemand schüchtern zu behaupten wagte, daß Brecht doch auch ein großer Dichter sei, trotzdem. Auf der anderen Seite gab es die DDR-Forscher, die dem die These entgegenstellten: Brecht war ein großer Dichter, weil er Marxist war (sicher hat er lange gebraucht zu seiner Hinwendung zum Marxismus, bis er linksradikale und mechanisch-materialistische Eierschalen abgelegt hat, aber so zwischen 1934 und 1938 war’s dann so weit).

Wo soll da Platz sein für die Frage nach der Philosophie von Brecht? Ich will hier nicht darüber rechten, ob Brecht zu einem Viertel, zur Hälfte oder fast ein ganzer Marxist war. Hier interessiert, was er damit und daraus machte. Auch den Streit um die jeweiligen Anteile verschiedener marxistischer Lehrer von Brecht (Karl Korsch, Fritz Sternberg, Asja Lacis, Sergej Tretjakow, Hanns Eisler etc.) will ich hier nicht wieder aufwärmen. Wichtig ist, daß Brecht, wie er einmal feststellte, auf "sozusagen kaltem Wege zu seiner marxistischen Einstellung gekommen ist."

Argumente wirkten auf mich begeisternder als Appelle an mein Gefühlsleben, und Experimente beschwingten mich mehr als Erlebnisse. Dem Elend gegenüber reagierte ich als normaler Mensch mit Mitleid, aber wenn man mir sagte: Große Massen von Menschen hungern, dann fragte ich mich immerhin: Ist das nicht unvermeidlich? Über unvermeidliche Übel zu jammern schien mir nicht vernünftig. Bei dieser Einstellung war es klar, daß ich aufatmete, als mir Argumente dafür beigebracht wurden, daß dieses Hungern großer Menschenmassen vermeidlich ist, und als ich von Versuchen praktischer Art erfuhr, durch bestimmte Änderungen in der Art und Weise, wie die Menschheit das zum Leben Nötige beschafft, den Hunger aus der Welt zu schaffen, ich meine das große russische Beispiel. Ich begriff gern, daß es etwas Hinderliches, Unpraktisches in der Lebensweise der Völker gäbe, etwas Vermeidliches… (20/96)

Der Marxismus hatte für Brecht nichts von einer Ersatzreligion im Stil der expressionistischen Oh-Mensch!-Dramatik, einer Heilslehre, sondern er zog ihn als mögliche Wissenschaft von gesellschaftlichen Zusammenhängen an.

Aber in dem oben angedeuteten Sinn nennt Brecht im Me-ti Ka-meh (Karl Marx) und Mi-en-leh (Lenin) die größten Verhaltenslehrer ihrer Zeit, obwohl man bei ihnen nur wenig Fingerzeige für das Verhalten des Einzelnen findet (12/547, 548, 562)

Haltungen sind eben nichts bloß Individuelles – war er überzeugt – und gerade über die Haltungen von Massen bzw. Klassen von Menschen schienen sich mit den Methoden historischer Dialektik viel eher und viel genauer Erkenntnisse gewinnen zu lassen. (Man vergleiche etwa, was Marx über die Kapitalisten als Charaktermasken, als Funktionen des Kapitals im ersten Band seines Hauptwerkes ausführt. (10)

Brecht faßte also den Marxismus – die Lehren der Klassiker, wie er häufig umschreibend formuliert – operational auf. Er nahm den Vergleich mit der Naturwissenschaft, den Marx im Vorwort zum ersten Band verwendet, ziemlich wörtlich. (11) Er lernte bei ihnen (den Klassikern, wie er Marx, Engels und Lenin in Umfunktionierung des sonst Goethe und Schiller zugeschriebenen Terminus nennt) die Große Methode: die Dialektik.

Wie die Methoden der Naturwissenschaften: Beobachtung und Experiment in die Natur einzugreifen ermöglichen, d.h. erlauben, Gesetzmäßigkeiten festzustellen und sie im Umgang mit der Natur nutzbar zu machen, so sollte die Dialektik als Methode ermöglichen, Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen durchsichtig zu machen, um es, das Zusammenleben zu verbessern. (vgl. 9/616: Über induktive Liebe)

These 8:
Der Philosoph neuen Typs wendet die Große Methode an.

Zuerst wollte ich lakonisch formulieren ... ist Dialektiker. Aber weil der gewöhnliche Gebrauch des Begriffs Dialektik ebenso viele Tücken hat wie die Sache selbst, die er bezeichnet, folge ich lieber Brecht und verwende die von Brecht eingeführte Umschreibung.

Ganz glücklich bin ich mit dieser Formulierung aber auch nicht (weil nämlich "Dialektik anwenden" eine Trennung von Gegenstand und Methode suggeriert, die wiederum in die Irre führt).

Aber für die Feststellung "Brecht ist Dialektiker" gilt ähnliches wie bereits in der letzten These zum Marxismus von Brecht bemerkt: entweder wird das Faktum nicht zur Kenntnis genommen (oder höchstens im Sinn von ‘na und?’) oder wiederum nur speziell auf die Theaterarbeit bezogen, ohne die sich für den Gesamtzusammenhang ergebenden Konsequenzen ins Auge zu fassen, die allerdings auf Brecht als Philosophen führen müßten.

Jan Knopf hat in seinem "Kritischen Forschungsbericht, Fragwürdiges in der Brechtforschung" bereits darauf hingewiesen, daß viele Brechtforscher die Dialektik Brechts nur in der "Einheit von Theorie und Praxis" sahen, als eine zwischen den theoretischen Schriften und der praktischen Theaterarbeit. Dies, führt er aus "ist noch lange keine Dialektik, (sondern) ein weitverbreitetes Mißverständnis, das besagt, wenn eine überzeugende Einheit (Identität) von Theorie und Praxis konstatierbar sei, sei Dialektik erfüllt." (12)

Und nach einigem offensichtlich notwendigem Nachhilfeunterricht in Dialektik (aus Hegels Logik) fährt Knopf fort: "Wäre Brechts Theorie erst dann eine dialektische, wenn man sie mit der Theaterpraxis vermittelte und zeigte, daß sie ihr nicht widerspricht, dann wäre sie nicht dialektisch." Und dann wird’s boshaft (schon deshalb zitiere ich weiter): "Man wird auch in Zukunft Brechts Theorien … untersuchen dürfen, ohne von Nicht-Dialektikern mangelnder Dialektik geziehen zu werden. Niemand schreibt vor, daß Brechts Werk grundsätzlich nur dialektisch untersucht werden dürfte; aber wenn sich die Brechtforschung immer wieder auf Dialektik beruft, sollte sie doch endlich ihre Grundlagen zur Kenntnis nehmen und die Schriften Hegels und Marx’ wenigstens in ihr Literaturverzeichnis aufnehmen." (13)

Nach diesen vielleicht schon zu ausführlichen Präliminarien zurück zur Großen Methode. Ich habe diesen Sprachgebrauch Brechts einfach eine Umschreibung genannt, aber es ist natürlich mehr: zunächst einmal eine Verfremdung, ein V-Effekt, worüber ja noch ausführlich zu sprechen sein wird. Das heißt, der geläufige – ich will nicht sagen vertraute – Terminus wird umgangen, man kann dadurch einmal seine Verwendung als bloße Worthülse vermeiden, zugleich aber wird damit für die in ihrer heutigen Form relativ junge dialektische Methode (zur Zeit der Abfassung des Me-ti waren erst 100 Jahre seit Hegels und 50 Jahre seit Marxens Tod vergangen) gleichsam eine Tradition von Jahrtausenden in Anspruch genommen: Große Methode assoziiert die gleiche Selbstverständlichkeit wie der Begriff des TAO = Weg oder der große Weg in der chinesischen Philosophie.

Die "Umschreibung" enthält ein Programm: nämlich den Werken Dauer zu verleihen aus der Überzeugung von ihrer Nützlichkeit. Am Vorbild, den Werken des chinesischen Philosophen Mo-ti, und ihrer oft verblüffenden Aktualität nach über 2000 Jahren, ließ sich gerade das lernen. Das ist, abgesehen von allem Artistischen, der wichtigste Zweck der Sinisierung, die Brecht hier vornimmt. Damit benützt Brecht eine andere Form der Autorisierung seiner eigenen Gedanken als die gängige des Zitierens bestimmter Stellen aus den Werken von Hegel und Marx, die einem oft die Lektüre marxistischer Schriften langweilig macht oder vergällt.

Die Große Methode ist eine praktische Lehre der Bündnisse und der Auflösung der Bündnisse, der Ausnutzung der Veränderungen und der Abhängigkeit von den Veränderungen, der Bewerkstelligung der Veränderung und der Veränderung der Bewerksteller, der Trennung und Entstehung von Einheiten, der Unselbständigkeit der Gegensätze ohne einander, der Vereinbarkeit einander ausschließender Gegensätze. Die Große Methode ermöglicht, in den Dingen Prozesse zu erkennen und zu benutzen. Sie lehrt Fragen zu stellen, welche das Handeln ermöglichen. (12/475)

Diese von Brecht nur versuchsweise angebotene Definition will nicht erschöpfend Dialektik definieren (und sie vermeidet Schematisierungen, wie sie die Engels’sche Zusammenfassung der Gesetze materialistischer Dialektik im "Anti-Dühring" bei seinen Nachfahren zur Folge hatte), sondern stellt bestimmte Grundzüge dialektischen Denkens so dar, daß darin zugleich die Geschichte der modernen Dialektik von Hegel bis Lenin zusammengefaßt wird: er bringt sie auf den aktuellen Stand ihrer Entwicklung, und seine Definition ermöglicht, das eigene Verhalten zu dialektisieren.

Mit einer solchen praktikablen Definition versucht Brecht zu verhindern, daß die Berufung auf die Dialektik bloß als Schibboleth verwendet wird, als Zauber- und Paßwort zum beliebigen Gebrauch. Er wendet sich damit gegen solche Theoretiker, denen die Dialektik nur dazu taugt, nachträglich Erklärungen fürs Geschehene zu finden.

Me-ti fragte: "Wird die Welt nicht schon dadurch verändert, daß sie erklärt wird?" Me-ti antwortete: "Nein. Die meisten Erklärungen stellen Rechtfertigungen dar."(12/549)

Solche Dialektiktheoretiker hielt Brecht für ebenso unnütz und schädlich wie den Philosophieprofessor aus der schon weiter oben zitierten Keunergeschichte "Weise ist am Weisen die Haltung". Was dort allgemein festgestellt wird, gilt spezifischer noch für die Lehre der Klassiker. So findet sich in Me-ti ein Gegenstück zu dieser Keunergeschichte:

Tu kam zu Me-ti und sagte: "Ich will am Kampf der Klassen teilnehmen. Lehre mich." Me-ti sagte: "Setz dich." tu setzte sich und fragte: "Wie soll ich kämpfen?" Me-ti lachte und sagte: "Sitzt du gut?" "Ich weiß nicht", sagte Tu erstaunt, "wie soll ich anders sitzen?" Me-ti erklärte es ihm. "Aber", sagte Tu ungeduldig, "ich bin nicht gekommen, sitzen zu lernen." "Ich weiß, du willst kämpfen lernen", sagte Me-ti geduldig, "aber dazu mußt du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen und sitzend lernen wollen." Tu sagte: "Wenn man immer danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz, wenn man nach Genuß strebt, wie soll man da kämpfen?" Me-ti sagte: "Wenn man nicht nach Genuß strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will und nicht die beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?"(12/576)

Der Schüler kommt mit dem abstrakten Entschluß, kämpfen lernen zu wollen, zu Me-ti. Der Lehrer unterweist ihn indirekt. Er stellt nicht den Willen des Schülers in Frage, aber er zeigt ihm, daß es nicht allein darauf ankommt. Er lehrt ihn zuerst Geduld, dann, daß der Wille zu kämpfen ein Ziel braucht – kein hochgeistiges, sondern ein scheinbar ganz privates, egoistisches, das allein imstande ist, dem überindividuellen als Grundlage zu dienen. Der philosophische "Witz der Sache" ist, daß die traditionell epikureische Haltung (nach Genuß streben), die einst das Sich-Zurückziehen des Individuums aus den Angelegenheiten der Polis begründete, nun gewendet wird zur Voraussetzung fürs Eingreifen in die Kämpfe der Klassen. Dem Genießen, den niedrigen Genüssen hat schon der junge Brecht ausgiebig das Wort geredet, gegen alle Morallehrer, die von den Trieben loskommen wollen, – oder es zumindest von den anderen fordern:

Nicht so faul, sonst gibt es nicht Genuß!
Was man will, sagt Baal, ist, was man muß.
Wenn ihr Kot macht, ist’s, sagt Baal, gebt acht
Besser noch, als wenn ihr gar nichts macht. (14)

Im "Choral vom Manne Baal", in dem das nach Genuß streben noch lange nicht mit dem Kampf der Klassen in Zusammenhang gebracht wird, spricht sich in der zweiten Zeile in nuce der gleiche Gedanke aus: Genießen wollen ist was ganz Egoistisches, es ist das, was den Willen zum Willen macht, weil man es tun muß.

These 9:
Der Philosoph neuen Typs hat eine niedrige Gesinnung – die Gesinnung der Niedrigen.

Verjagt mit gutem Grund

Ich bin aufgewachsen als Sohn
Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir
Einen Kragen umgebunden und mich erzogen
In den Gewohnheiten des Bedientwerdens
Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens. Aber
Als ich erwachsen war und um mich sah
Gefielen mit die Leute meiner Klasse nicht
Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden
Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich
Zu den geringen Leuten.

So
Haben sie einen Verräter aufgezogen, ihn unterrichtet
In ihren Diensten, und er
Verrät sie dem Feind.

(…)

Sie haben mich verwarnt und mir weggenommen
Was ich durch meine Arbeit verdiente. Und als ich mich nicht besserte
Haben sie Jagd auf mich gemacht, aber
Da waren
Nur noch Schriften in meinem Haus, die ihre Anschläge
Gegen das Volk aufdeckten. So
Haben sie einen Steckbrief hinter mir hergesandt
Der mich niedriger Gesinnung beschuldigt, das ist
Die Gesinnung der Niedrigen (9/721)

Brecht hat es immer abgelehnt, den Streit zwischen Idealismus und Materialismus als eine nur erkenntnistheoretische Frage zu behandeln, es war für ihn eine Klassenfrage:

BEI DEN HOCHGESTELLTEN gilt das Reden vom Essen als niedrig. Das kommt: sie haben schon gegessen… (9/633)

In den Flüchtlingsgesprächen machte er sich über die Tendenz lustig, den Materialismus als Idee zu behandeln und von den materiellen Genüssen abzutrennen:

Die Deutschen haben eine schwache Begabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machen sie sofort eine Idee draus. Ein Materialist ist dann einer, der glaubt, daß die Ideen von den materiellen Zu- ständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Materie nicht mehr vor. Man könnt glauben, es sind nur zwei Sorten von Leuten in Deutschland, Pfaffen und Pfaffengegner. Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, die alle philosophischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, die alle Weinsorten kennen. (14/1393f.)

Ich komme, je mehr die Thesen den "Philosophen eines neuen Typs" einzukreisen versuchen, immer mehr in Gefahr, nur mehr Brecht selbst zu Wort kommen zu lassen, und damit den Eindruck zu erwecken, ihn für das einzige Exemplar dieser Spezies zu halten. Diesen Eindruck möchte ich aber vermeiden, wohl aber das Exemplarische an Brecht dabei herausarbeiten, so etwa in die Richtung von "Schaffen wir zwei, drei, viele Brechts, will sagen, Philosophen neuen Typs", eingreifend Denkende, Verhaltenslehrer, Anwender der Großen Methode, die auch nach Genuß streben und ihrem Materialismus in ihrer Sinnlichkeit eine solide Basis geben. Materialist zu sein heißt so: die Welt von unten betrachten, aus der plebejischen Perspektive – und das wiederum hat mit Dialektik zu tun, wie schon Nietzsche bemerkt hat:

Die Dialektik ist plebejisch ihrer Herkunft nach: der Fanatismus Platos der einer poetischen Natur für ihr Gegenstück. Zugleich merkt er als agonale Natur, daß hier ein Mittel zum Siege gegeben ist gegen alle Mitkämpfer, und daß die Fähigkeit selten ist.

An der gleichen Stelle sagte Nietzsche über Sokrates, daß dieser im Verkehr mit Vornehmen immer merkt, "daß sie nicht sagen können warum (es gehört zur Vornehmheit, daß die Tugend ohne Warum? geübt wird –)." (15)

Zur plebejischen Perspektive gehört also das Fragen nach Gründen: "Prüfe die Rechnung, du mußt sie bezahlen. Lege den Finger auf jeden Posten, frage, wie kommt er hierher?"(9/463) Ebenso das Bestehen auf menschlichem Genuß (was auch das Tierische im Menschen nicht ausschließen darf):

Freunde, wenn ihr euch mir verschreibt
Und das könnte sich lohnen
Wißt, daß ihr dann nicht geduldet bleibt
Mehr in den höheren Regionen!

Denn die Götter von Ruf und Stand
Haben auf alle Fälle
Mich kleinen dicken endgültig verbannt
In die Schweineställe

Wer meiner Weine gedenkend schmatzt
Wer zum Bett ein Polster fordert
Wer an bestimmten Stellen sich kratzt
Wird aus der Stube der Guten beordert.

Wen ein gelungener Hintern entzückt
Was sind dem die frühesten Metten?
Wer sich so tief zum Irdischen bückt
Der ist schon nicht mehr zu retten.

Schon ein Lächeln kann mißliebig sein
Ein Gelächter ist immer verdächtig!
Wer nicht nach Sternen langt, ist ein Schwein
Wer da lacht, der ist niederträchtig.

Ich bin der Gott der Niedrigkeit
Der Gaumen und der Hoden
Denn das Glück liegt nun einmal, tut mich leid,
Ziemlich niedrig am Boden. (16/639)

Ich bin der Glücksgott,
Sammelnd um mich Ketzer
Auf Glück bedacht in diesem Jammertal.
Ein Agitator, Schmutzaufwirbler, Hetzer
Und hiemit – macht die Tür zu – illegal. (10/894)

Das sind zwar unsystematische Vorwegnahmen und nur so in den Raum gestellte Zitate aus den Liedern des Glücksgotts aber sie sollen fürs erste reichen.

These 10:
Der Philosoph neuen Typs übt "fröhliche Kritik".

Der Titel "Die fröhliche Kritik" findet sich als Untertitel in der Vierten Nacht des Messingkaufs, der im Stil der "Discorsi" des Galilei abgefaßten vollständigsten Darstellung von Brechts Theatertheorie, vollständig in dem Sinn, daß in diesen Fragment gebliebenen Streitgesprächen die Frage nach der Theatertheorie, nach dem Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters, hinausgetrieben werden zu versuchsweisen Definition dessen, was ich hier den Philosophen neuen Typs nenne; zur Bestimmung dessen, was Philosophie als aufgehobene sein kann, wie die Einheit von Theorie und Praxis sich innerhalb der Theorie auswirkt. (Das Kleine Organon von 1948, in der Form dem Neuen Organon des Francis Bacon verpflichtet, ist einerseits eine Zusammenfassung des Messingkaufs, aber wie im einzelnen zu zeigen wäre, auch eine Beschränkung seiner Thematik.)

Die "Fröhliche Kritik" – hier wird der Anklang an Nietzsches Fröhliche Wissenschaft (la gaya scienzia) unüberhörbar (16) – ist bei Brecht der Titel, unter dem eine mögliche Synthese von Wissenschaft und Kunst, Denken und Emotion vorstellbar wird, in der die alten Gegensätze zwischen Traum und Wirklichkeit, Ahnen und Wissen ihre starre Gegensätzlichkeit verlieren und als Momente menschlicher Praxis – eines das andere kritisierend und damit befördernd – vereinbar geworden sind. Wenn ich in dieser These von fröhlicher Kritik spreche, möchte ich für einen Moment die beiden Begriffe auseinanderreißen und getrennt betrachten. Sie passen nämlich genauso wenig fugenlos zusammen wie in Nietzsches Zusammenstellung mit der Wissenschaft. Kritik ist in unserem Alltagsverstand – man sehe sich nur Kritiker von Beruf an – keine fröhliche Angelegenheit, zumindest verbinden sich ebenso wie mit der Wissenschaft ernsthafte Ansprüche und Anliegen.

Das Epiteton "fröhlich" soll also nicht verwechselt werden mit einer Milderung, bzw. mit einer weniger ernsthaften Kritik. (Wie schon Ziffel sagt: "Eine gute Sache können’s immer auch lustig ausdrücken", worauf Kalle antwortet, daß einmal einer bei der Feuerbestattung gesagt hat: "Die Bourgeoisie hat nichts zu verlieren außer ihr Geld!" 14/1442)

Zu den Aufgaben des Philosophen neuen Typs gehört (schon seit Marx) die radikale Kritik des Bestehenden, insbesondere aber auch die Kritik an jenen Nachfolgern der alten Philosophen, die sich entweder noch immer als "reine Geister" gebärden, oder ganz offen und zynisch ihren Intellekt vermieten. Es handelt sich um radikale Ideologiekritik, oder wie Brecht einmal formuliert, Ideologie-Zertrümmerung. Dafür hat Brecht einen eigenen Ausdruck geprägt: er nennt die Intellektuellen unserer Zeit TUIs – Tellekt-Uell-Ins. Die Inversion des Wortes Intellektueller weist auf ihre Ver-rücktheit in der Zeit der Waren und Märkte, wo sie als Kopflanger (im Gegensatz zu Handlanger), Vermieter ihres Intellekts auftreten.

Ihr Hauptmerkmal – und damit Gegensatz zum Philosophen neuen Typs – ist die Grundform ihres Verhaltens – das "folgenlose Denken".

In der Auseinandersetzung mit dem Faschismus, in der Untersuchung der Ursachen seines Sieges, im Eingreifen in den Kampf gegen ihn, werden die Fragen gestellt nach der Verantwortlichkeit der Intellektuellen, die entweder mitmachen (als Gleichgeschaltete) oder zwar gegen die Barbarei des Faschismus auftreten, diese Herrschaft "der allerverlumptesten, korruptesten TUIs" (12/591) aber nicht als Konsequenz der Eigentumsverhältnisse begreifen; und zwar, weil sie immer noch an zerschlissenen idealistischen Vorstellungen von der Herrschaft des Geistes hängen und vorsätzlich die Augen davor schließen, wie sehr sie als parasitäre Komplizen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse tätig sind.

Zwischenfrage 3:
Aber was ist jetzt mit der Kunst?

Bis jetzt wurde der Philosoph eines neuen Typs beschrieben in einer Art, wie es auch irgendwo auf Brecht paßt. Das ist nichts prinzipiell Neues: das ist der Philosoph auf dem Theater, wie er im Messingkauf vorkommt. Daß Brecht sich für Philosophie interessierte, wissen wir schon: aber was ist mit seiner Kunst? Er hat in Wirklichkeit keine philosophischen Bücher geschrieben wie Bloch oder Adorno etc. (oder nur nebenbei, die meisten blieben in der Schublade), einiges Theoretisches, um sein Theater zu erklären, aber hauptsächlich durch Stücke, Lyrik, Prosa, kurz: er war Dichter und Stückeschreiber und kein Philosoph. Die hier vorgebrachte These ist doch überhaupt nur haltbar, so lang man absieht von dem, was sowohl quantitativ wie qualitativ den Hauptteil seines Werkes ausmacht. Soll hier nur die Theorie gelten? Oder sind seine Stücke nur die zufällige Form einer davon ablösbaren Philosophie, der das eigentliche Interesse von Brecht gegolten haben soll? So viele Fragen.

These 11:
Der Philosoph neuen Typs ist ein eingreifend Handelnder

Ich habe schon ausgeführt, daß ich den Typus, den ich hier vorstelle, nicht auf Brecht eingeschränkt wissen möchte, sonst hätte ich nur geschrieben: Der Philosoph neuen Typs ist ein Künstler.

Aber, wenn vieles anders wird, die alte Philosophie der nur Betrachtenden nichts mehr taugt, müssen eben die Philosophen auch anders aussehen. Noch immer sind sie mit Denken beschäftigt, aber wenn unter Denken jetzt etwas anderes verstanden wird ("Das Denken scheint mir jetzt einfach eine Art Verhalten, und zwar ein gesellschaftliches Verhalten. An ihm nimmt der ganze Körper mit seinen Sinnen teil" 16/639), eine bestimmte Art von Verhalten, die auf ein Handeln bezogen ist, müssen die Philosophen auch noch mehr oder anderes tun als nur denken. Das muß nicht Kunstmachen sein, obwohl gerade Dichter-Philosophen oder Künstler - Philosophen schon eine gewisse Tradition haben – denken wir an Renaissancemenschen wie Leonardo oder an Mathematiker und Philosophen wie Descartes und Pascal , oder etwa an Voltaire und seinem Candide, oder an des Enzyklopädisten Diderot Dialogromane. Und natürlich gehört dazu Nietzsche, damit wir endlich auch auf ihn zu sprechen kommen, den Altphilologen, der zur Philosophie wechselte und schließlich seine Philosophie nur mehr dichten konnte: im Zarathustra.

Dies alles waren Philosophen und als Philosophen waren sie auch mit anderem beschäftigt als mit dem reinen Denken. Und endlich kommen wir zu "den Klassikern" Brechts, zu Karl Marx und Friedrich Engels, der eine Journalist, weil niemand seine nationalökonomischen Studien finanzierte, der andere ein Fabrikantensohn und Teilhaber einer Fabrik, der als Kapitalist seine eigene sozialistische Publizistik und seinen Freund unterstützte; zuletzt W. I. Lenin, Revolutionär, Politiker, Organisator und Staatsmann, und Mao Tsetung, der Autor von "Über den Widerspruch" und "Über den langwierigen Krieg", Guerilleraführer, Organisator einer Bauernarmee und Staatsmann: für sie gilt besonders dies, daß sie eingreifend Handelnde waren und dies als Philosophen.

Nicht nur, wie Adorno behauptet, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt war (was sollte der sein: das Jüngste Gericht als proletarische Weltrevolution und das in einem Augenblick?), erhält Philosophie sich am Leben, (17) sondern in anderer Form – bzw. in verschiedenen anderen Formen, eben als aufgehobene existiert sie weiter.

Zu den Formen des Weiterlebens von Philosophie gehören aber auch jene, in denen die Philosophie bescheiden wird, den Absolutheitsanspruch der idealistischen Systembauer als Mythos verwirft und neuerdings sich verdingt: statt als ancilla der Religion (wie so lange Zeit in der abendländischen) Tradition) nun als Magd bei den Einzelwissenschaften, und nicht mehr sein will als eine Art Methodologie der Wissenschaft in verschiedenen Ausprägungen. Davon will ich hier vorerst absehen.

Ich habe Beispiele von Philosophen neuen Typs genannt, bei denen besonders deutlich wird, daß ihr Denken hauptsächlich darauf gerichtet ist, in die Wirklichkeit einzugreifen – und die Frage ist, ob ein Künstler in diesem Sinne eingreifend genannt werden kann.

In den Tagebuchaufzeichnungen Walter Benjamins über Gespräche mit Brecht im Jahre 1934 findet sich darüber eine bezeichnende Stelle:

Brecht, im Lauf des gestrigen Gespräches: "Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. Wie ist das? Ist es Ihnen eigentlich ernst? Ich müßte dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zuviel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich noch eine wichtigere Behauptung anschließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist."

Erläutert wird dieser Zweifel durch die fiktive Vorstellung: "Konfuzius habe eine Tragödie oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden, als ein ihrer nicht würdiges Verhalten." (18)

Ich werde auf dieses Gespräch noch zurückkommen, hier scheint mir nur wichtig festzuhalten, daß Brecht Zweifel daran hatte, ob das Produzieren von Kunst als eingreifendes Handeln sui generis gelten dürfe, daß er aber sein Verhalten: nämlich Kunst zu machen, für "erlaubt" hielt.

Im Messingkauf hat Brecht, in einer über Franz Mehring vermittelten Definition in Anlehnung an Kant "Kunst als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit" bezeichnet, "welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin."(16/645) Man könnte auch anders formulieren, nämlich daß für Brecht Kunst eine "anthropologische Konstante" darstellt: Die Menschen können gar nicht anders, sie müssen Kunst ebenso produzieren wie die Lebensmittel, d.h. im Zusammenhang mit der Produktion und Reproduktion der Gattung findet immer auch Kunstproduktion statt.

Diese Haltung, die an der Notwendigkeit von Kunst nicht zweifelt, hat Brecht schon früh eingenommen. Die nachhegelsche Diskussion über das "Ende der Kunst" war für Brecht eine Frage ihrer jeweiligen Form, ihr Fortbestehen stand für ihn außer Zweifel:

Die Liebe, der Krieg, die Kunst usw. sind Faktoren menschlichen Verkehrs und als solche von anderen Faktoren der jeweiligen Gesellschaftsordnung abhängig. Diese Praktiken sind voneinander wesentlich sehr verschieden und verschieden ist die Art ihrer Abhängigkeit. (16/645)

Und in einer Vorrede zu Mann ist Mann entgegnet Brecht Befürchtungen der Leute von links:

Das Proletariat steht auf dem schreckenseinflößenden Standpunkt, Kunst sei schädlich, da sie die Massen vom Kampf ablenke. Aber sie hat die Bourgeoisie von deren Kampf auch nicht abgelenkt, keine Minute. Das ist geradezu ein Vorwurf, den man ihr als Proletarier machen kann. Sie hat die Bourgeoisie mitunter hingelenkt zu diesem Kampf. Es ist verständlich, aber nicht angenehm, daß das Proletariat jetzt der Kunst den Befehl zu erteilen wünscht, die Masse auf ihren Kampf hinzulenken. (19)

Ausgehend von den Veränderungen des Philosophierens, wenn es als eingreifendes Denken und Verhalten verstanden wird, sind wir zur Kunst als einer Form menschlicher Praxis zurückgekehrt, die sich damit ebenso verändert:

"Kunst ist nichts Individuelles, Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung, als auch, was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches. Das Schlimmste, was durch eine solche Ansicht passieren könnte, wäre höchstens: daß ein ganzer Haufen bisher Kunst genannten Krempels von jetzt ab nicht mehr Kunst genannt würde. (15/65)

So der junge Brecht, in seiner damals betont schnoddrigen, provozierenden Art. Weiser und zugleich umfassender formuliert den gleichen Sachverhalt ein Gedicht aus dem "Messingkauf":

Über die kritische Haltung

Die kritische Haltung
Gilt vielen als nicht fruchtbar.
Das kommt, weil sie im Staat
Mit ihrer Kritik nichts erreichen können.
Aber was da eine unfruchtbare Haltung ist
Ist nur eine schwache Haltung. Durch bewaffnete Kritik
Können Staaten zerschmettert werden.

Die Regulierung eines Flusses
Die Veredelung eines Obstbaumes
Die Erziehung eines Menschen
Der Umbau eines Staates
Das sind Beispiele fruchtbarer Kritik
Und es sind auch
Beispiele von Kunst. (9/773)

Zwischenbemerkung und Einteilung

Ich hoffe, der Schluß der Einleitung wird nicht als Rückzug gedeutet, als Zurücknahme der vorneweg aufgestellten Behauptung, Brecht müsse als Philosoph verstanden werden; ich halte weiter dafür, daß dies die Voraussetzung bildet, ihn auch als Stückeschreiber und Dichter adäquat zu rezipieren. Wenn ich die Originalität meiner These in Anführungszeichen gesetzt habe, so auch deshalb, weil ich glaube, daß die besten Beiträge der Brechtforschung der letzen Jahre wenigstens implizit in die Richtung tendieren, die ich in meiner These nur zusammengefaßt habe.

So weist schon Reiner Steinweg darauf hin, daß

"zu fordern wäre eine Darstellung, die die Dialektik bei Brecht als dialektisches Werden seiner Methode beschriebe und dabei selbst dialektisch vorginge, den dialektischen Zusammenhang zwischen dem Subjekt Brecht und seinem Objekt der jeweiligen historischen Gesellschaftswirklichkeit beschriebe, im Hinblick, auf die er eine Äußerung zur Dialektik notiert hat und durch die allein sie ihre politische Relevanz und eigentliche ‘Bedeutung’ erhält." (20)

Diesem anspruchsvollen Programm wird meine Arbeit sicher nicht gerecht, auch wenn ich das hier formulierte Programm weitgehend unterschreiben kann.

Auch Heinz Brüggemanns "Literarische Technik und soziale Revolution", Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts (21) thematisiert (wie gesagt, implizit) die Frage nach dem Philosophen Brecht, wenn auch in zweierlei Hinsicht eingeschränkt: einerseits in der ästhetischen, literaturtheoretischen Fragestellung, andererseits in der spezifisch auf den Marxismus Brechts, seine Stellung und Rolle innerhalb der marxistischen Diskussion allein ausgerichteten Untersuchung.

Wenn Herbert Claas seine Studie: "Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Cäsar" (22) nennt, wird Brecht bereits als Philosoph angesprochen (Ästhetik als eine philosophische Disziplin). Claas läßt sich auf diese Streitfrage allerdings gar nicht ein: er bestimmt Brecht als literarischen Produzenten (wohl in Anlehnung an Benjamins Aufsatz "Der Autor als Produzent"). In der Definition von Politischer Ästhetik ganz am Anfang der Arbeit wird die Verschränkung von theoretischer und ästhetischer Produktion (auf die ich ja mit meiner These hinzuweisen versuche) in Erinnerung an Hegel als Grundbedingung ("der Gedanke und die Reflexion [habe] die schöne Kunst überflügelt") konstatiert:

Tatsächlich ist der ästhetische Produktionsvorgang ohne theoretische Legitimation nicht mehr anzutreffen. Spätestens mit der bürgerlichen Aufklärung und Romantik haben wir es in der Literatur mit dem poeta doctus zu tun, dem Poeten, der als Wissenschaftler die Herkunft seiner Arbeitsmittel und die Beschaffenheit seines Arbeitsgegenstandes überprüft, mithin auch seine Imagination…" "Nur wenige Autoren reflektieren die politische Bedeutung ihrer Produktion ähnlich kritisch wie Brecht und bezogen sie mit seiner Konsequenz in den historischen Prozeß und seine möglichen Zwecke ein." (23)

Dieser "theoretischen Legitimation" der künstlerischen Produktion Brechts geht auch Karl Heinz Ludwig in seinem Brechtbuch (24) nach, aber er begnügt sich mit "philosophischen Implikationen seiner Dramaturgie", statt diese als Medium seines Philosophierens zu begreifen. Die nun folgenden Versuche, die auf den in der Einleitung explizierten Thesen aufbauen, sind um die Kategorien Einverständnis, Verfremdung und Produktivität gruppiert. Diese Einteilung soll zunächst kurz erläutert werden.

Ich habe schon darauf hingewiesen: Brecht war kein Systembauer, aber er verstand es, "seine Interessen auf lange Dauer zu ziehen" ("Dieses ist die Fähigkeit der Klassiker. Sie erzielt Plastik" (25)).

Und so lassen sich so wie Themen auch Kategorien nennen, die für lange Zeit jeweils den Fokus der Interessen Brechts bezeichnen, oder jedenfalls a posteriori als gemeinsamer Nenner für oft scheinbar disparate Beschäftigungen Brechts herangezogen werden können. Es mag noch mehrere solcher Kategorien geben, mir erscheinen die im Titel genannten als die zentralen.

Der Sache nach bestimmt die Problematik des Einverständnisses das Jugendwerk von Brecht, lange bevor es im Titel eines Lehrstücks und damit explizit zum Gegenstand eines Versuchs wird. Aber es bleibt auch das Thema aller weiteren Lehrstücke; die Haltung des Ja-Sagens, des Einverständnisses wird getestet bis an die Grenzen der Brauchbarkeit, was nicht heißt, daß der Themenkreis damit erschöpft ist. Aufgehoben in umfassenderen Kategorien bleibt er der Sache nach präsent.

Was nun nicht heißen soll, daß eine Kategorie rein begrifflich aus der vorhergehenden herauskommt…

Verfremdung bleibt kein bloß technischer Terminus (wenn man eine einseitige, verkürzende Darstellung nur auf V-Effekt bezogen vermeidet) – es ist eine erst im Verlauf der praktischen Theaterarbeit gefundene, zentrale Kategorie, welcher die "Dialektisierung" der Kategorie des Einverständnisses vorhergeht, ohne daß sie aus ihr direkt hervorginge. Es gibt nur indirekte Verbindungen, auch wenn man den Gegenbegriff "Einfühlung" mitreflektiert.

Daher wird im zweiten Versuch: Verfremdung, die Erörterung der Theatertheorie ihren Platz haben samt ihren philosophischen Implikationen. Zugleich wird hier die Wendung Brechts zum Marxismus thematisiert als parallel zur Ausformung des epischen Theaters wie im Versuch übers Einverständnis Brechts Beziehung zu Nietzsche.

Wie zu zeigen sein wird, ist der Begriff des Einverständnisses ein negativer, oder, um es weniger paradox zu formulieren, es liegt ihm eine negative Bewertung des Individuums, seine Desillusionierung über seine Stellung in der Welt zugrunde. Demgegenüber wird im dritten Versuch: "Produktivität" eine Zielvorstellung formuliert, die aufs Individuelle bezogen auch Selbstverwirklichung heißen könnte. Diesem Begriff kommt sowohl bezogen aufs Individuum als auch hinsichtlich des Arbeitsbegriffs und der Ethik übergreifende Bedeutung zu; hier hat die Frage nach dem richtigen Leben, die Frage nach der "eudämonia" – nach dem "unvertilgbaren Glücksverlangen der Menschen" ihren Ort, nicht ohne daß vorher die Abrechnung mit den TUIs, den Intellektuellen dieser Epoche, geleistet wurde. "Ideologie-Zertrümmerung" und radikale Kritik an den TUIs, die als Agenten der herrschenden Eigentumsverhältnisse der Befreiung allseitiger Produktivität im Wege stehen, sind selbst schon Formen der Freisetzung von Produktivität. Das Ganze ist dann beileibe kein System von Brechts Philosophie, vielleicht ein an einigen Stellen geglücktes Nachzeichen der Bewegung seines Philosophierens mit unter anderem künstlerischen Mitteln. Ich hoffe, daß es mir gelingt, einige "Überzeugende Fragen" offenzulassen:

"Ich habe bemerkt", sagte Herr K. "daß wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, daß wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungeklärt erscheinen?" (12/382)

Zum Ersten Versuch

Anmerkungen

  1. Im Literaturverzeichnis ist die Literatur zum Thema Brecht und die Philosophie gesondert ausgewiesen <<
  2. Manfred Riedel. Brecht und die Philosophie. In: Neue Rundschau. 82. Jg. 1971. 1. Heft. S 65 ff. Ffm. 1971 <<
  3. Marx, Texte zu Methode und Praxis, Band II, Reinbek 1966, S. 192 <<
  4. Marx, a.a.O oder auch Ebenda, S. 190f. <<
  5. Manfred Riedel. Brecht und die Philosophie. a. a. O. Seite 65ff. <<
  6. Niemand – das ist eine meiner Übertreibungen (siehe Anm. 3). Den Intentionen meiner Arbeit am nächsten kommt vielleicht Karl-Heinz Ludwig: Bertolt Brecht. Philosophische Grundlagen und Implikationen seiner Dramaturgie. Bonn: 1975. Wie der Untertitel schon zeigt, schreckt der Autor zuletzt davor zurück, Brecht als Philosophen ganz ernst zu nehmen. <<
  7. Martin Esslin. Brecht. Das Paradox des politischen Dichters. 2. Aufl. München: 1972 <<
  8. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in Werke, hrsg. Von W.Weischedel, Wiesbaden, 1956, S. 136 <<
  9. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Ffm. 1964. S. 57 <<
  10. Karl Marx, Friedrich Engels Werke (MEW), Band 23. S. 16. Berlin: 1962 <<
  11. MEW 23/12 <<
  12. Jan Knopf. Bertolt Brecht. Ein kritischer Forschungsbericht. Fragwürdiges in der Brechtforschung. Ffm. 1974. S. 43 <<
  13. Knopf/Forschungsbericht. S. 44 <<
  14. Bertolt Brecht. Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien. Hrsg.: Dieter Schmidt. Ffm. 1969. S 12; in der Werkausgabe ist diese Strophe nicht enthalten, aber in den Anmerkungen S. 3+ abgedruckt. <<
  15. Nietzsche's Werke (Förster-Nietzsche, Gast). Bd. XIII. S. 5. Aph. 7 <<
  16. Friedrich Nietzsche, Werke, Hrsg. von Karl Schlechta. 6. Aufl. München: 1969. Bd. II <<
  17. Theodor W. Adorno. Negative Dialektik. Ffm. 1966. S 13 <<
  18. Walter Benjamin. Versuche über Brecht. Hrsg. Rolf Tiedemann. Ffm. 1966. S 118 f <<
  19. BBA. (Bertolt Brecht-Archiv), Mappe:: Schriften zur Philosophie und Wissenschaft II. Blatt 326/22; hier muß ich um Nachsicht bitten, daß ich die ursprüngliche Fundstelle angebe, ohne einen Abdruck in der Werkausgabe gefunden zu haben. <<
  20. Reiner Steinweg. Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972. S. 112. <<
  21. Heinz Brüggemann, Literarische Technik und soziale Revolution. Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts. Hamburg 1973. <<
  22. Herbert Claas. Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Cäsar. Ffm. 1977 <<
  23. Herbert Claas. Ebd. S. 10, 11 <<
  24. Karl-Heinz Ludwig. Bertolt Brecht. Philosophische Grundlagen und Implikationen seiner Dramaturgie. Bonn 1975 <<
  25. Bertolt Brecht. Tagebücher 1920 – 1922 und Autobiographische Aufzeichnungen 1920 – 1954. Hrsg. von Herta Ramthun. Ffm. 1975. S. 208 <<

 

Zum Ersten Versuch

 

Kritiken, Anregungen, Fragen an
Christof Šubik, Universität Klagenfurt