Stiebert, Martin (1996) "Der Redner Gottes" - Betrachtungen eines heutigen Lesers über den Prediger und Seelsorger Herder. Tabula Rasa. Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken (12).
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Abstract
Im Text des "Redners Gottes" heißt es nach dem Lob des geschickten Lehrers: "Nun zeigen wir uns einander unser Gefundenes: es ist kostbar [...]." Der Pfarrer, der den lutherisch-pragmatischen Gedanken ernst nimmt, daß in der arbeitsteiligen Gesellschaft das allgemeine Priestertum nur von wenigen im Vollsinne wahrgenommen werden kann, der Pfarrer, der also mehr Zeit zum Meditieren der Texte, zum Nachdenken über das menschliche Leben haben muß, als die meisten seiner Gemeindeglieder, will diesen Gemeindegliedern helfen, die Erfahrungen des Alltags und die Texte der Bibel in einem neuen, unbekannten Lichte zu sehen, will ihren Horizont erweitern - aber er will sich von seiner Gemeinde, von ihrer Alltagserfahrung und ihrer Begegnung mit dem Bibeltext auch korrigieren lassen, er will lehren und belehrt werden, er will ein Anreger des Gesprächs der Gemeinde sein. Könnte es so gemeint sein, dies: "Nun zeigen wir uns einander unser Gefundenes", könnte es gemeint sein im Sinne einer "dialogischen Gemeinde", im Sinne eines Ideals, von dem auch heutige kirchliche Praxis oft genug weit - zu weit - entfernt ist?
Man ist - aus der Kenntnis vieler Herderscher Predigten und aus dem Kontext der Schrift vom Redner Gottes - versucht zu antworten: nichts weniger als das ist gemeint. Freilich: daß ein solcher Satz solche Assoziationen auslösen kann, zeigt, wie in Herders ja nicht immer präziser Sprache Keime anderer - oft gegenläufiger - Denkweisen verborgen liegen. Im Text vom Redner Gottes aber geht es - allein auf den Lehrer fixiert - weiter: "Ich freue mich, daß ich den Mann zur Seite habe, der mir, was ich nicht weiß, auflöset, mir allen Unterricht gibt, was es ist, und wozu ich's brauchen kann [...]".
Wir müssen - auch anhand von Predigten Herders - unseren Einspruch bekräftigen. Dieser Lehrer ist ein Aufklärer mit allem Für und Wider der Aufklärung: mit dem Für der sokratischen Methode, der Erhellung des Ungewohnten, Ungewußten, der Lust am Entdecken; mit dem Wider autoritärer Weise des Verkündens, mit dem Mangel der Erziehung des Erziehers (um den Gedanken aus Marx' dritter Feuerbachthese aufzunehmen). Sichtbar wird die problematische Kehrseite der Aufklärung: der Mensch, auf daß er zum Subjekt seines Handelns werde, muß erst einmal zum Erziehungsobjekt gemacht werden. Daß damit immer auch eine Überforderung des Lehrers, des Erziehers verbunden, wird wohl deutlich aus den folgenden Sätzen der Rigaer Abschiedspredigt:
Item Type: | Article |
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Uncontrolled Keywords: | Herder, Aufklärung |
Subjects: | Philosophie > Philosophische Disziplinen > Religionsphilosophie, Religionskritik Philosophie > Geschichte der Philosophie > e) 18.Jahrhundert |
Depositing User: | sandra subito |
Date Deposited: | 06 Dec 2020 12:19 |
Last Modified: | 06 Dec 2020 12:19 |
URI: | http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/2035 |