Sabine, Eggmann (2002) Der Blick auf das Eigene. Ein kulturwissenschaftlicher Zugang zur Kulturwissenschaft. UNSPECIFIED. (Unpublished)
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Abstract
In meinem Referat für die Graduiertenkonferenz "Wissenschaftskulturen - Experimental-kulturen - Gelehrtenkulturen" möchte ich mich mit der grundsätzlichen Frage beschäftigen, welche Möglichkeiten und Potentiale in einem kulturwissenschaftlichen Blick auf (die) Kulturwissenschaft(en) selbst liegen. Von welchen Interessen wird ein solcher Blick geleitet und worauf lässte er sich richten? Auf welcher begrifflichen und theoretischen Basis baut ein solches Projekt auf?
Den Grund für ein derartiges Projekt legt sozusagen der Name selbst: Kultur - Wissenschaft. Ausgehend von einem weit konzipierten Kulturbegriff, der die gesamte menschliche Lebensweise in ihrer komplexen Dynamik, ihre Praktiken, ihre Deutungen und Symbolisierungen, ihre Kommunikation, ihre Produkte und Transformationen wie auch ihre historisch und materiell strukturierten Kontexte umfasst, erscheint auch Wissenschaft in diesem Blickfeld. Nimmt also Kulturwissenschaft ihren grundlegenden Begriff "Kultur" ernst, dann ist sie selbst als kulturelles Phänomen ein legitimes Forschungsobjekt von Kulturwissenschaft. Wissenschaft als Kultur eröffnet die Perspektive auf Wissenschafts-Kultur.
Konkretes Untersuchungsfeld für solch ein kulturwissenschaftliches Unternehmen zur Kulturwissenschaft bildet in meinem Fall die Disziplin der Volkskunde/ Europäischen Ethnologie, die sich als akademische Institution im deutschsprachigen Raum in einer spezifiellen Weise entwickelt und manifestiert hat. Das Fach zeigt sich auf institutioneller Ebene zwar als eine kleine Disziplin, die aber nichtsdestotrotz den "grossen" Anspruch vertritt, Kultur sowohl als Phänomen wie auch als theoretisches Konstrukt in ihren unterschiedlichen Dimensionen beschreiben, analysieren und reflektieren zu wollen. Vielfältige thematische, theoretische und methodische Interessen verbindet die Volkskunde/Europäische Ethnologie mit ähnlichen Disziplinen in anderen Ländern - seien dies die cultural anthropology, die ethnologie française oder die cultural studies - bzw. mit verwandten Fächern im deutschsprachigen Raum selbst (wo die Anbindungen und Überschneidungen von der Historischen Anthropologie über die Ethnologie und Geschlechterforschung bis zur Soziologie reichen). Dennoch hat sich die Volkskunde/Europäische Ethnologie im deutschsprachigen Raum mit gemeinsamen Dachverbindungen und institutionellen Verknüpfungen als eine eigene scientific community etabliert, die den wesentlichen Bezugspunkt (ob in konservierender, reflektierender oder sich davon absetzender Weise) für die geleisteten Forschungsarbeiten bildet.
Um sich einem solchen akademischen Bereich unter einem kulturwissenschaftlichen Interesse analytisch zu nähern, bietet sich das theoretische Konzept des Diskurses an. Dieses rückt unterschiedliche Dimensionen in den Untersuchungsfokus, die auf die Spezifik eines gesellschaftlichen Umfelds - wie es dasjenige eines akademisch-universitären Fachs darstellt - eingehen, in dessen Zentrum die Produktion von Wissen steht. Der Diskursbegriff ermöglicht es, eine wissenschaftliche Disziplin als Netz zu verstehen, in dem die AkteurInnen, die Produktion des Wissens, das generierte Wissen, die materiellen Grundlagen, welche die institutionellen Hintergründe bereit stellen, die RezipientInnen und die in diesem Komplex wirkenden unterschiedlichen Interessen rekonstruierend zu beschreiben und damit für eine analytische Interpretation zu öffnen. Ins Blickfeld gerückt werden mit diesem Vorgehen die wissenschaftlichen Problemstellungen, Forschungsfragen und theoretischen Zugänge des Fachs, die nicht in Bezug auf ihre eigene logische Kohärenz sondern in ihren je spezifischen Verbindungen zu den anderen oben skizzierten "Fäden" des Netzes hinterfragt werden.
An diesem Punkt setzt die Fragestellung an, der ich mich in meinem Diss.-Projekt widme, und in deren Mittelpunkt der Kulturbegriff steht, der die begriffliche und theoretische Grundlage des Fachs bildet und gleichzeitig dessen Untersuchungsgebiete profiliert bzw. die Forschungsinteressen anleitet. Die konkreten Fragestellungen lassen sich folgendermassen formulieren: Wie werden im institutionellen Kontext einer kulturwissenschaftlichen Disziplin, für die als konkretes Beispiel hier die deutschsprachige Volkskunde/Europäische Ethnologie steht, reale Phänomene über den Begriff der Kultur zu einem Objekt des Wissens transformiert und verdichtet? Daran schliesst sich die weitere Frage nach dem (gesellschaftlichen) Zweck und dem Publikum an, für die und in dessen Interesse diese Transformation geleistet wird. Ebenso interessiert, welche Infrastruktur zur Vermittlung und Umsetzung des produzierten Wissens hergestellt wird.
Der Einbezug des (gegenwärtigen) Kulturbegriffs selbst als - Materialisierung der volkskundlichen Theoriearbeit und ihrer Problemstellungen - in meine Forschung macht deutlich, dass eine so konzipierte Kulturwissenschaft der Kulturwissenschaft als Reflexion der eigenen Reflexionspraxis (bezogen auf ihre wissenschaftlichen Instrumente und ihre Forschungstätigkeit) angelegt ist. Daraus folgt ein zweites: Sowohl mein Forschungsobjekt - die fachlichen Interpretationsrepertoires, ihre institutionelle Verankerung und ihre RezipientInnen - als auch mein Forschungsprojekt - die diskursanalytische Beschreibung und Interpretation ebendieser Dimensionen - sind in ein und denselben zeitgenössischen (Fach-)Diskurs eingebettet.
Aus der oben dargestellten Position werden aber auch problematische Aspekte sichtbar, mit denen es sich auseinanderzusetzen gilt. Ein erster Punkt bezieht sich auf die Inhalte und fachlichen Deutungsmuster, deren kategorielle und theoretische Grundlagen oft näher in den Bereich einer völligen Dekonstruktion als einer Re-Konstruktion gerückt erscheinen: denn zur Diskussion steht eben derjenige Kulturbegriff, mit dem mein Projekt gleichzeitig arbeitet.
Eine zweite Frage stellt sich bezüglich des Blicks vom Diskurs auf den Diskurs: Ist ein solcher möglich oder produziere ich selbst gemäss der diskursiven Sinnkonstruktion weiteres Wissen in ebendiesem Sinn?
Der dritte Aspekt, den ich problematisieren möchte, gilt der personenbezogenen Machtdimension des Diskurses und schliesst in diesem Sinn an die zweite Frage nach der diskursiven Position des Projekts im Diskurs an: Meine Arbeit ist einerseits als Qualifikationsarbeit angelegt und muss deshalb disziplinär "dans le vrai" sein, wobei sie andererseits ebendiese fachliche Wahrheit in ihrer Evidenz analytisch hinterfragen will.
Ich möchte diese Punkte weniger als zu lösende Probleme verstehen, sondern eher als Anstösse zu einer weiteren Reflexion aufnehmen und die Problematisierung als Produktivität auffassen. In diesem Sinn schlage ich eine Verknüpfung des Potentials, welches eine diskursanalytische Perspektive in sich bereithält, mit demjenigen aus ethnomethodologisch erarbeiteten Ansätzen vor. Ich werde die Ansätze hier im Folgenden nur andeuten, um sie in meinem späteren Referat noch ausführlicher anzusprechen.
Aus diskursanalytischer Sicht lassen sich die skizzierten Problembereiche in folgender Weise angehen: Mein Projekt zielt nicht auf einen logischen Nachvollzug der volkskundlichen Begriffe und Argumentationen, deren Ziel die kritische Dekonstruktion ebendieser Begriffe und theoretischen Arbeit darstellt. Sondern - sozusagen quer dazu - fragt die diskursanalytisch informierte Forschungsneugier nach den unterschiedlichen Elementen (wie Themen, Metaphern, Begriffe, rhetorische Muster usw.) im Diskurs, nach ihren aufeinanderbezogenen Verbindungen sowie nach den spezifischen Interessen und Strategien, mit denen der fachliche Sinn und Wahrheitsgehalt im Diskurs etabliert und über seine Infrastruktur verbreitet wird. Es geht also um das Transparentmachen der Konstruktion fachlicher Logik, die in diskursiver Praxis etabliert wird, um die disziplinären Theoriebestände ihrer prämissiven Evidenz zu entkleiden und sie damit für Weiterentwicklungen bzw. eine vertiefende Reflexion zu öffnen.
Der Zirkelschluss, der sich mit dem Blick vom Diskurs auf den Diskurs aufdrängt, lässt sich auflösen, indem der Diskursbegriff nicht als totaler Begriff aufgefasst wird, der auf ein geschlossenes System verweist. Er dient im Gegenteil zur methodischen Distanzierung, da sein Blick das volkskundliche Wissen als Produkt eines komplexen Prozesses (statt als unhintergehbaren - und damit höchstens dekonstruierbaren - Komplex) perspektiviert.
Für das Problem der persönlichen Nähe im und zum Diskurs (sowohl meiner Person und Arbeit zu der volkskundlichen Forschungsgemeinschaft als auch zwischen den verschiedenen VertreterInnen innerhalb des Fachs) gibt mir die diskursanalytische Perspektive eine weitere Distanzierungsmöglichkeit an die Hand, indem sie die Fokussierung auf persönlich-individuelle Aspekte zum Interesse an den unterschiedlichen Subjektpositionen (auch meiner eigenen) hinwendet, welche machtvolle Aussagen im diskursiven Sinn erlauben und diese Aussagen damit zur fachlich anerkannten "Wahrheit" werden lassen.
Zur Vertiefung und Gewichtung der Ergebnisse, welche anhand der obigen analytischen Schritte erarbeitet werden, möchte ich die diskursanalytische Perspektive mit einem Ansatz, der der ethnomethodologischen Arbeit entlehnt ist, verknüpfen. Im Einbezug von Irritationen im Verlauf des Forschungsprozesses, sollen diese (welche in Form eines Forschungstagebuchs festgehalten werden - angelehnt an das "Feldforschungstagebuch") für das Aufspüren von wichtigen Themen und Verdichtungen im fachlichen Diskurs fruchtbar gemacht werden.
Die Kombination dieser unterschiedlichen Blickwinkel aus diskursanalytischer und ethnomethodologischer Theorierichtung ermöglicht gleichzeitig eine grösstmögliche Distanz wie auch eine grösstmögliche Nähe zum Untersuchungsfeld bzw. zum Forschungsobjekt und antwortet in diesem Sinn auf methodischer Ebene auf die Position und Konzeption des Projekts als Diskursanalyse des europäisch ethnologischen Diskurses im zeitgleichen Kontext des volkskundlichen Diskurses.
Item Type: | Other |
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Uncontrolled Keywords: | Graduiertenkonferenz, Kulturwissenschaften |
Subjects: | Kulturwissenschaften, cultural studies > Graduiertenkonferenz: Wissenschaftskulturen - Experimentalkulturen - Gelehrtenkulturen |
Depositing User: | Caroline Gay |
Date Deposited: | 06 Dec 2020 12:32 |
Last Modified: | 18 Mar 2022 14:18 |
URI: | http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/2136 |